Nachdem ihre Wunde von den Notfallsanitätern des Rettungsdienstes versorgt und genäht worden war, fuhr Beate nach Hause. Das Angebot, sie in ein Krankenhaus zu bringen, hatte sie abgelehnt. Sie musste sich endlich um ihre Meerschweine kümmern – und auch um sich selbst. Am dringendsten brauchte sie ein ausgiebiges Bad, mit heißem Wasser und viel Schaum. Danach würde sie die Schmerztabletten nehmen, sich ins Bett legen und erst einmal ausschlafen. Sie fand ihre Wünsche im Großen und Ganzen bescheiden und hoffte daher, dass sie ohne Probleme realisierbar waren. Zum Arzt gehen konnte sie auch am nächsten Tag noch, falls nötig.
Reinold Spieß, der Mann, der sie angeschossen hatte, saß jetzt dort, wo er hingehörte: hinter Gittern. Den Mord an dem Direktor des Geschlossenen Jugendwerkhofs Karl Zinkner hatte er vor Zeugen bereits zugegeben. Das Motiv schien Beate auch einigermaßen klar. Die Details und alles Weitere würden sich durch die Vernehmungen des Täters noch aufschlüsseln lassen.
Sie dachte auch an ihren ehemaligen Kollegen Lehmann, der versucht hatte, sie durch Stasi-Tricks, sogenannte Zersetzungsmaßnahmen, in eine psychische Krise zu manövrieren. Die Idee kam ihr gruslig und kindisch zugleich vor. Vermutlich war es nicht einmal strafbar, dass Lehmann ihr eine Nixe ohne Kopf und die Attrappe einer Schlange in die Wohnung gelegt und außerdem noch ihre Eier geklaut hatte, damit sie an ihrem Verstand und sich selbst zweifelte. Nun ja, wenigstens existierte das MfS nicht mehr. Die Zeit der Zersetzung war vorbei. Hoffentlich für immer. Aber was wäre gewesen, wenn sich die Stasi nicht aufgelöst hätte? Wo wäre sie gelandet? Was gab es noch alles, das ihr Leben beeinflusst hatte, von dem sie nichts wusste?
Sie musste unbedingt mit Steffen darüber reden. Hatte er, der Spurensucher, nicht beim Fund der seltsamen Dinge in ihrer Wohnung angedeutet, dass Horch und Guck dahinterstecken könnte? Und sie war mehr als nur skeptisch gewesen, sie hatte ihm nicht geglaubt.
Als sie die Wohnungstür öffnete, fiel ihr ein, dass sie das Schloss immer noch nicht ausgetauscht hatte. Sie war in solchen Dingen absolut nachlässig. Offenbar hatte sie noch nicht mal richtig abgeschlossen, sondern einfach die Tür zugezogen. Jeder Einbrecher hätte leichtes Spiel bei ihr.
Sie trug die Kiste mit den Meerschweinchen vor sich her, die sich – was sie sonst nie taten – aneinanderkuschelten. War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Vielleicht konnten ja auch diese sensiblen Geschöpfe einen Schock erleiden? Sie glaubte einmal gelesen zu haben, dass Meerschweine die Nähe zueinander suchten, kurz bevor eines von ihnen starb. Aber eigentlich sahen sie noch putzmunter aus.
Beate setzte die Tiere in ihr Gehege, legte frisches Heu hinein und seufzte zufrieden. Sie hatte kaum noch damit gerechnet, sie zurückzubekommen. Manchmal geschahen eben doch Wunder.
Susi quiekte auf einmal laut, stellvertretend für die anderen Nager, verlangte nach Salat, Möhren oder was Beates Kühlschrank sonst so hergab.
»Ja, ist ja gut. Ich hab’s verstanden«, sagte Beate.
Als sie die Küche betrat, stand plötzlich ein Mann vor ihr. Sie stieß einen schrillen Schrei aus, wich einen Schritt zurück. Legte ihre Hand automatisch auf ihre Makarow. Wenigstens war die Waffe diesmal noch da. Von dem Eindringling sah sie nur einen Teil: seine Füße, seine Beine, seinen Bauch. Ein riesiger Blumenstrauß versperrte ihr die Sicht.
»Willkommen zurück«, hörte sie. Und dann sah sie, dass es Steffen war. Er tauchte neben dem Strauß auf und grinste verlegen. »Ich bin auf der Suche nach einer passenden Vase«, murmelte er.
»Eine Vase?«, fragte sie, als hätte sie das Wort noch nie gehört. Sie lächelte Steffen verwirrt an.
»Ich hatte versucht, dich zu erreichen, und im Büro angerufen, aber Moni hat mir gesagt, du seist auf dem Heimweg. Ich dachte, ich überrasche dich mal.«
Stimmt ja, sie hatte ihm einen Schlüssel überlassen. Dumm von ihr.
Aber über die Rosen und Margeriten und über sein verliebtes Lächeln freute sie sich dann doch. Er legte den Strauß auf dem krümligen Küchentisch ab und nahm sie behutsam und vorsichtig in die Arme. Sie musste sich eingestehen, dass es ihr gefiel. Mehr als nur das.
»Tut es noch weh?«, fragte er sanft und begutachtete ihren verbundenen Arm.
Sie hörte die Sorge, die er sich um sie machte, schüttelte den Kopf. »Nicht so sehr.«
»Ich bin für dich da, das weißt du?«, fragte er.
»Ja, das weiß ich.« Sie schmiegte sich an ihn und küsste ihn. »Die Überraschung ist dir gelungen.«
Vielleicht konnten sie am nächsten Morgen ja auch gemeinsam ausschlafen und den neuen Tag mit frischen Brötchen, Rührei und viel Kaffee beginnen.