Josef war mit seinem Opel auf dem Weg nach Halle an der Saale. Neben ihm saß Andreas, der sich geweigert hatte, sich zum Jugendamt der Stadt Leipzig bringen zu lassen.
»Ich gehe in kein Heim mehr. Auch nicht für ein paar Stunden. Überhaupt nie mehr !«
Seine Mutter arbeitete in der Spätschicht und bekam nicht frei. Als Josef sie angerufen hatte, musste er am Telefon ewig warten, ehe sie endlich im Büro des Braunkohlewerks an den Hörer ging. Sie hatte alles andere als erfreut gewirkt, von ihrem Sohn zu hören. »Wie stellen Sie sich das vor? Ich kann doch aus der Produktion nicht einfach weg! Wegen der Grippewelle sind wir sowieso schon zu wenige Leute. Und es finden gerade Entlassungen statt. Soll ich vielleicht meine Arbeit verlieren, nur um Andreas aus Leipzig von Ihrer Polizeidienststelle abzuholen? Außerdem habe ich auch kein Auto!«
»Ich könnte ihn bringen.«
»Hören Sie mir nicht zu? Ich hab Nachtschicht! In der Instandsetzungshalle kann ich nicht einfach mal bei der Maschine auf Stopp drücken und gehen!«
»Was schlagen Sie vor?«, hatte er gefragt, inzwischen ziemlich genervt.
»Können Sie ihn nicht erst mal betreuen? Wenigstens ein, zwei Tage? Oder Sie bringen ihn zu der Jugendfürsorgerin. Das ist doch schließlich ihre Aufgabe, sich um solche Kinder zu kümmern.«
Solche Kinder? Josef hatte ungewollt aufgelacht, obwohl ihm nicht nach Lachen zumute gewesen war. Kurz war ihm danach, sich zu streiten und der Frau die Meinung zu sagen über ihr unmögliches Verhalten. Aber er konnte Andreas nicht länger warten lassen. Und seinen Sohn Florian, der heute ein wichtiges Fußballspiel hatte, bei dem sein Vater zuschauen sollte, auch nicht.
»Na schön«, hatte er schließlich gesagt, »aber ich brauche eine schriftliche Genehmigung von Ihnen für die Betreuung von Andreas.«
»Bekommen Sie.«
»Mit Datum von heute.«
»Selbstverständlich, Herr Kommissar.«
Er hatte auf ein Danke gewartet. Aber das kam natürlich nicht. Mehr beunruhigte ihn jedoch der Gedanke, dass Frau Schwalbe ihren Sohn gar nicht bei sich aufnehmen wollte. Wie es aussah, musste er schnellstmöglich für den Jungen eine Lösung suchen.
Vorsichtshalber hatte er Arno Berg angerufen, um ihn über das Ergebnis des Gesprächs und den Wunsch der Mutter zu informieren.
»Ich nehme ihn jetzt mit zu einem Fußballspiel nach Halle. Da ist er ein bisschen abgelenkt.« Er hatte einen Moment gewartet, dass Arno Berg ihm erzählen würde, gegen welche dienstlichen Vorschriften er damit verstieß. Aber sein Chef schien ihm gar nicht zuzuhören. »Wir haben den Mörder«, sagte er, »das ist das Wichtigste. Aber …«
»Aber?«
»Der Entführer von Andreas und Tanja, Georg Bruckner, ist aus dem Krankenhaus getürmt.«
»Wie bitte?« Josef glaubte, sich verhört zu haben. »Da war doch ein Polizist vor der Tür, der ihn bewachen sollte.«
»Bruckner hat sich irgendwie einen Kittel besorgt und ist als angeblicher Arzt aus dem Krankenhaus marschiert.«
»Der Klassiker.«
»Sozusagen.«
»Ich denke nicht, dass er Andreas nachstellen wird. Wir wissen jetzt, wer er ist.«
»Passen Sie gut auf den Jungen auf!«
»Das werde ich.«
In dem Auto blieb Andreas fast die meiste Zeit still.
Josef versuchte, Gas zu geben, er war spät dran, aber die zahlreichen Schlaglöcher, Risse und Rillen im Asphalt bremsten ihn aus. Man könnte fast meinen, die Löcher sind absichtlich gegraben worden, dachte er. Damit er sich an die Straßenverkehrsordnung hielt oder die Fahrt nicht so langweilig war.
Mehr um sich von seinem Ärger abzulenken, erzählte er Andreas von seinem Sohn. »Er heißt Florian, ist zehn Jahre alt und wohnt in einem Internat der Gehörlosenschule. Er ist also gehörlos. Und er spielt gern Fußball. Heute findet sein bisher wichtigstes Spiel statt. Deswegen habe ich gedacht, wir fahren gemeinsam dorthin. Das ist doch in Ordnung für dich?«
»Klar.« Andreas sah zum Fenster hinaus. Es schien ihn nicht weiter zu interessieren, wohin sie fuhren.
»Das war sicher alles schwer zu verkraften für dich. Diese ganzen … Ereignisse. Erst die Zeit im Keller … in dieser Arrestzelle …« Josef merkte, dass er sich schuldig fühlte. Weil es ihnen nicht gelungen war, Andreas vor all dem, vor diesem Unheil zu schützen.
»Herr Jemand hat mir nichts Böses getan«, sagte Andreas. »Es war keine gute Zeit, aber er hat mir nichts getan.«
»Herr Jemand?«
Der Junge zuckte mit den Achseln. »Ich kenne seinen richtigen Namen nicht. Wir kannten zwar die Nachnamen der Erzieher in Torgau, aber nicht die der Leute, die da sonst noch gearbeitet haben.«
»Er heißt Georg Bruckner und er ist … dein Vater.« Josef wusste nicht, ob er befugt war, diese alles verändernde Information weiterzugeben. Aber von seiner Mutter würde Andreas die Wahrheit vermutlich nie erfahren. Und Andreas hatte ein Recht darauf, Bescheid zu wissen.
Andreas sagte eine Weile nichts. Er nahm seinen Daumen in den Mund und knabberte minutenlang an seinem Fingernagel.
»Warum hat er das getan? Mich da unten in der Zelle eingesperrt?«, fragte er dann.
»Ich kann es dir noch nicht genau sagen, aber ich vermute, er wollte dich schützen.«
»Vor dem Mörder?«
»Ja.«
»Ach so.« Andreas zuckte mit den Achseln, als wäre diese Auskunft nicht besonders wichtig für ihn.
»Er hätte besser zur Polizei gehen sollen«, meinte Josef.
»Und dann?« Andreas wandte den Kopf und sah ihn von der Seite an.
Josef wusste nicht, was er erwidern sollte. »Wie auch immer«, sagte er schließlich. »Er hat dich beschützt. Auf seine Weise. Aber dass er Tanja quasi auch noch entführt und sie schließlich sogar verletzt hat …«
»Verletzt? Scheiße! Wie geht es ihr?«, unterbrach Andreas ihn.
Josef erzählte ihm, was passiert war, das, was er bisher wusste. »Sie ist noch im Krankenhaus. Es geht ihr sicher schon besser.«
»Wann kann ich sie besuchen?«
»Bald«, antwortete er. »Lass ihr noch etwas Zeit. Wenn sie sich erholt hat, fahren wir sie besuchen, einverstanden?«
Andreas nickte.
»Es gibt noch etwas, das ich dir sagen muss.« Josef seufzte. »Georg Bruckner, also Herr Jemand, wie du ihn nennst, war auch im Krankenhaus und …«
»Ist er tot?«
»Nein. Er ist nicht tot. Er ist abgehauen. Wir wissen nicht, wo er sich derzeit befindet. Ich sage dir das nur, damit du Bescheid weißt.«
»Ach so. Aber jetzt muss er mich ja nicht mehr beschützen.«
»Stimmt.«
Das Spiel um die Schulmeisterschaft hatte zum Glück noch nicht begonnen, obwohl sie fünf Minuten zu spät kamen. Das Publikum stand schon am Sportplatz und wartete. Von den Mannschaften war noch nichts zu sehen. Josef umkurvte mit Andreas im Schlepptau eine Getränkebude, aus der es nach Glühwein roch, und ging auf Florians Klassenlehrerin zu, die er am Rand des Spielfelds entdeckte.
»Sie haben heute noch jemanden mitgebracht, wie schön«, sagte Juliane Siebenbach, lächelte Andreas liebenswürdig an und begrüßte beide per Handschlag.
Der Junge warf ihr einen erstaunten Blick zu, den sie gar nicht zu bemerken schien.
»Florian ist mit den anderen Spielern noch in der Umkleidekabine. Er wird sich so freuen, Sie zu sehen!«
»Ich hatte schon Angst, wir kommen zu spät«, sagte Josef.
»Es gibt eine kleine Verzögerung. Unser Schiedsrichter ist bisher nicht aufgetaucht.« Sie seufzte. »Leider ist der Bursche aus der Nachbarschule nicht so zuverlässig. Aber vielleicht ist er auch krank. Im Moment geht ja die Grippe wieder um.« Frau Siebenbach schaute auf die Uhr. »So langsam müssen wir loslegen, sonst werden alle, die Spieler und die Eltern, unruhig. Dann muss das Spiel eben ohne Schiedsrichter stattfinden.«
Andreas sah die Lehrerin an. »Ich kann das doch machen«, sagte er.
Josef warf ihm einen überraschten Blick zu. »Warum nicht? Gute Idee.«
»Kennst du dich mit Fußballregeln aus?«, fragte die Lehrerin.
»Klar! Ich war selbst in einer Mannschaft und hab später die Kleinen trainiert. Schiedsrichter war ich auch schon mal.« Dass er von einem Kinderheim sprach, erwähnte er nicht. Und Frau Siebenbach fragte nicht nach.
»Und du würdest das wirklich tun?«
Andreas nickte mit ernstem Gesicht, runzelte die Stirn und starrte die Lehrerin unverwandt an, als würde er darauf warten, dass doch noch eine Absage kam.
»Prima. Dann haben wir jetzt einen Schiri!«
Zehn Minuten später standen die beiden Mannschaften auf dem Platz. Josef winkte seinem Sohn zu, der auch einmal kurz in seine Richtung sah und ihm lässig zunickte. Natürlich winkte er nicht zurück.
An den Rändern des Fußballfeldes standen Eltern und Großeltern herum und warteten darauf, dass es endlich losging. Der Schiedsrichter fehlte noch. Josef sah zu der Umkleidekabine hinüber. Vielleicht traute sich Andreas ja doch nicht? Doch dann kam ein junger Mann in kurzer Hose und schwarzem langärmligem Trikot, das ihm ein bisschen zu groß war, mit federnden Schritten angelaufen und stellte sich in die Mitte.
»Wow«, sagte Josef leise. »Er sieht ganz anders aus.«
»Verwandtschaft? Ist der nette Junge ein Neffe von Ihnen?«, fragte die Lehrerin.
»Nein. Er ist ein Heimkind … im Moment nur … ohne Heim.« Er warf ihr einen schnellen Blick zu und stellte Betroffenheit in ihrer Miene fest.
Andreas hielt eine kleine orange-gelbe Flagge hoch, die offenbar die Trillerpfeife ersetzte, und das Spiel begann. Die Kinder der Gehörlosenschule spielten in Blau-Weiß, die gegnerische Mannschaft in Rot.
Die beiden Teams waren in etwa gleich stark, nach Josefs Einschätzung. Aber die Gehörlosen sahen ihre Chancen schneller kommen und verständigten sich problemlos auch auf größere Entfernung mit Handzeichen. Zur Halbzeit stand es 2:1 für die Blau-Weißen.
Andreas hatte eine gelbe Karte gezückt und einmal auf Elfmeter entschieden.
»Er ist richtig gut«, sagte Frau Siebenbach. Sie trat von einem Fuß auf den anderen. Entweder war sie nervös, oder sie fror.
»Ja«, antwortete Josef. »Das ist er.« Er war fast ein bisschen stolz: auf seinen Sohn, der mit Bravour über das Feld jagte, und auf Andreas, der sich sofort auf die besondere Situation eingestellt hatte.
»Der Junge, also Andreas, braucht Hilfe«, sagte er leise.
»Inwiefern?«
»Seine Mutter arbeitet in Schichten in einem Braunkohlewerk. Der Vater …« Er wollte jetzt lieber nichts von Georg Bruckner erzählen. » … ist nicht verfügbar. Andreas bräuchte eine Unterkunft. Wenigstens vorübergehend. Und er ist … heimgeschädigt. Sie haben ihn als Kind von einer Einrichtung in die nächste gesteckt. Er geht in kein Heim, weigert sich strikt. Er war zum Schluss im Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau inhaftiert.«
Er wartete darauf, dass sie fragte, was er denn verbrochen habe, um dort, in einer Disziplinierungsanstalt für Schwererziehbare, zu landen. Aber sie fragte nicht.
»Der Arme«, sagte sie bloß.
»Andreas hat wirklich schlimme Dinge erlebt.«
»Wir haben ein Gästezimmer. Da kann ich ihn unterbringen. Meinen Sie, das ist okay für ihn? Ein Internat ist zwar kein Heim, aber auch ein Haus mit Regeln.«
»Denke schon, dass ihm das recht wäre.« So wie er die Lehrerin angesehen hatte, dachte Josef und grinste. »Ein wenig Zuwendung wäre für ihn schon sehr viel.«
»Verstehe. Ich muss allerdings noch mit meinem Chef reden. Aber er wird sicher nichts dagegen haben.«
Josef nickte. »Danke.«
»Wir haben zu danken.«
»Wieso?«
»Dass Sie den Überfall auf Sie nicht zur Anzeige bringen. Obwohl mein Kollege oder ehemaliger Kollege das sicher verdient hätte. Es tut mir wirklich schrecklich …«
»Schon gut«, unterbrach er sie. »Ich bin froh, dass Florian so eine tolle Lehrerin hat.«
Juliane Siebenbach lächelte verlegen. Sie zog ihren Mantelkragen etwas höher. Es war ein windiger, wechselhafter Tag. Die Luft roch nach dem kommenden Winter, und sie fröstelte offenbar. Vielleicht wollte sie auch nur verbergen, dass ihr die Röte ins Gesicht stieg.
Josef legte kurz seine Hand auf ihren Rücken. »Sie frieren! Ich lade Sie gern auf einen heißen Tee oder auf einen Glühwein ein, wenn Sie möchten.«