Nachbemerkung

Die Handlung des Romans »Rabenkinder« und der Kriminalfall sind fiktiv, die Figuren sind ausgedacht. Den Geschlossenen Jugendwerkhof (GJWH) in Torgau gab es jedoch tatsächlich. Die im Jahr 1901 erbaute Arrestanstalt wurde in der Zeit des Nationalsozialismus 1937/38 durch einen Zellenbau ergänzt, diente ab 1945 in der Sowjetischen Besatzungszone dem NKWD, der sowjetischen Geheimpolizei, als Untersuchungsgefängnis und anschließend in der DDR zunächst bis 1963 als »Jugendhaus« (Jugendhaftanstalt), bevor das Gefängnis dann von 1964 bis November 1989 von der Jugendhilfe der DDR als Geschlossener Jugendwerkhof genutzt wurde. 4 Eingewiesen in die Disziplinaranstalt wurden Jugendliche zwischen vierzehn und siebzehn, die als »schwer erziehbar« galten, weil sie beispielsweise die Schule geschwänzt hatten, und die in einem der »offenen« Jugendwerkhöfe auffällig geworden waren, etwa durch mehrfache Flucht oder durch aufsässiges Verhalten gegenüber dem Personal und den rigiden Erziehungsmethoden. Der GJWH Torgau galt als gefürchtete Endstation für diese Jugendlichen. Gitter vor den Fenstern und zwischen den Etagen, meterhohe Mauern, Wachhunde und Stacheldraht machten das Areal zu einer ausbruchssicheren Festung. Schon in der Einweisungszeit sollte durch einen absichtlich herbeigeführten explosionsartigen Schock, durch Anbrüllen und körperliche Gewalt vonseiten der Erzieher, das Abschneiden der Haare sowohl bei Jungen als auch bei Mädchen, eine demütigende Leibesvisitation, tage- und nächtelange Haft in Isolationszellen die als rebellisch angesehene Persönlichkeit des Minderjährigen gebrochen werden, um den Jungen oder das Mädchen dann zu angepasstem Verhalten und Systemtreue zu zwingen und umzuerziehen.

Der Alltag der Insassen bestand im Wesentlichen aus Drillsport, harter Arbeit und Putzdiensten. Bestrafungen erfolgten bereits bei geringsten »Verfehlungen« – wenn beispielsweise bei der Arbeit oder beim Extremsport die Norm nicht geschafft wurde. Essensentzug und Essenszwang, Strafsport und Arreststrafen – auch Dunkelhaft – waren alltäglich. Oft wurde das ganze Kollektiv bestraft, wenn ein Einzelner sich nicht regelkonform verhielt. Es herrschte ein militärischer Befehlston, und es kam zu zahlreichen körperlichen Übergriffen durch Erzieher und Erzieherinnen, die mit Schlagstöcken, Handschellen und Knebelketten ausgerüstet waren.

Langjähriger Direktor war Horst Kretzschmar, der 1964 im Torgauer Jugendwerkhof eingestellt worden war, ab 1968 bis zum Frühjahr 1989 die Leitung übernahm und seine Macht uneingeschränkt ausübte. Betroffene berichten über körperliche und sexuelle Übergriffe als Machtdemonstration durch den Direktor. 5 Am Tag des Mauerfalls starb er an einer Krankheit.

Im November 1989 wurde der GJWH Torgau nach einer telefonischen Anweisung aus dem Büro der Volksbildungsministerin Margot Honecker aufgelöst, und die Jugendlichen wurden in ihre Stammwerkhöfe zurücküberwiesen. In der Folgezeit begannen bauliche Maßnahmen, bei denen man Gitter, Sichtblenden, Gefängnistüren entfernte und auch Akten vernichtete.

Zwar wurde der Zellentrakt 1996 zu Wohnungen umgebaut, doch blieben die Dunkelzellen und der Fuchsbau im Keller erhalten. Außerdem befindet sich im ehemaligen Verwaltungsgebäude eine Gedenkstätte mit einer Dauerausstellung. Oft kehren Betroffene noch einmal nach Torgau zurück, um jenen Ort zu besichtigen, in dem sie einst rechtsstaatswidrig weggesperrt wurden und den sie heute als freie Menschen wieder verlassen, auch wenn viele das Trauma von damals bis heute prägt.


(Grit Poppe, Juli 2022)