Und ich glaube trotzdem – statt eines Nachworts

Ich glaube an die Vernunft meines Volkes, glaube daran, dass die von der Propaganda verursachte Vernebelung des Verstands bei vielen meiner Mitbürger vorübergeht. Ich glaube daran, dass mein Land unausweichlich ein friedlicher, europäischer, demokratischer Staat wird. Ich sehe, dass die Menschen in Russland sich nicht grundlegend von meinen deutschen Bekannten unterscheiden. Sie alle gehören einer europäischen Kultur an. Und ich glaube an den Sieg der Kultur über Gewalt und Lüge der neuen Barbaren im Kreml.

Auf der Grundlage meiner Arbeit als Meinungsforscher und Politikberater mit Vertretern der politischen Elite bin ich zu der Schlussfolgerung gekommen, dass nur ein demokratisches politisches System in Russland stabil und von Dauer sein kann. Alle anderen Varianten führen in die Sackgasse. Weder ein autoritäres noch das oligarchische Regime können unter den modernen Gegebenheiten lange in meinem Land herrschen.

Entgegen eines populären Irrglaubens besteht die größte Schwäche des Putinismus im Fehlen eines starken Rückhalts in der Bevölkerung. Ich weiß noch, wie zu Beginn der 1990er-Jahre bei den »Informellen«, die sich zum Diskutieren der politischen Ereignisse am Stand des Nachrichtenmagazins Moskowskije Nowosti auf dem Moskauer Puschkinplatz und auf dem Neuen Arbat versammelten, immer wieder seltsame Figuren auftauchten, die mit lächerlichen Fälschungen herumwedelten – etwa mit dem von einem nationalistischen Schriftsteller selbst verfassten sogenannten Dallas-Plan. Ihre Absicht war es, das Publikum mit der ewigen westlichen Verschwörung gegen Russland (oder der europäischen Variante) zu erschrecken. Damals wirkten diese Leute auf uns wie durchgeknallte Randfiguren der Gesellschaft. Heute sind derartige »Ideologen« hochwillkommene Gäste in den staatlichen Fernsehsendern. Die abgedrehten Ideen sind zum ideologischen Mainstream des Kremls geworden. Aber wie fest haben sie sich wirklich in den Köpfen der Russen verankert?

In den 1960er- und 1970er-Jahren fand in der UdSSR ungeachtet der staatlich deklarierten moralisch-politischen Einheit des russischen Volkes ein harter Kampf zwischen der sogenannten russischen Partei (also den nationalkonservativen Russen) und den demokratischen Westlern statt. Dieser Konflikt entfaltete sich in der Kultur, in der Kunst, im Komsomol (der kommunistischen Jugendbewegung) und sogar im ideologischen Apparat. Wegen eines scharfen Artikels gegen die »Russisten« etwa verlor der zukünftige Ideologe der Perestroika, Alexander Jakowlew, seinen Posten im Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der UdSSR und wurde als Botschafter ins Ehrenexil nach Kanada geschickt.

Während Gorbatschows Reformen gelangten die »Russisten« unter dem Etikett »national-patriotische Bewegung« in die öffentliche Politik und widersetzten sich den demokratischen Veränderungen. Jedoch scheiterten alle ihre Versuche, mit den Demokraten zu konkurrieren, und bei den ersten freien Wahlen in Russland erlebten sie ein totales Fiasko. Die Kandidaten des Demokratischen Russlands gewannen überlegen gegenüber den National-Patrioten. Genau aus diesem Grund wurde Jelzin Russlands neues Staatsoberhaupt, und genau deshalb war das Los der UdSSR schon vorherbestimmt. Zur Zeit des August-Putsches 1991 stand die Mehrheit der »Patrioten« auf der Seite des Staatskomitees für den Ausnahmezustand. Der berühmte »Brief ans Volk«, der von einigen ihrer Leader unterschrieben wurde, wurde damals als ideologisches Programm der Putschisten bewertet.

Nachdem die national-patriotische Bewegung 1991 verloren hatte, kämpfte sie die gesamten 1990er-Jahre hindurch erfolglos gegen die jelzinsche Führung Russlands und die sie unterstützenden Demokraten. Zu dieser Zeit nannte man die Anhänger dieser Bewegung »Rot-Braune« wegen der Verbindung von Stalinismus, russisch-orthodoxem Fundamentalismus und aggressivem Nationalismus.

Man kann sagen, dass der Rückhalt der National-Patrioten in der Gesellschaft nie sonderlich groß war. 1999 war für gerade mal 16 Prozent* der Russen Patriotismus ein wichtiger Aspekt bei der Frage, für welche Partei oder Politik sie sich bei den Wahlen entscheiden würden. Wenn die »Patrioten« weder in der linken kommunistischen Maske (der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation) noch im Clownskostüm Schirinowskis – der nicht so sehr in seiner Eigenschaft als Patriot, sondern vielmehr als kruder Wahl-Rowdy gewählt wurde – bei den Wahlen antraten, erlitten sie meistens Misserfolge. Man erinnere sich nur an die erfolglose Teilnahme eines der Anführer der »Patrioten«, des ehemaligen Weltmeisters im Gewichtheben, Juri Wlasow, bei den Präsidentschaftswahlen 1996.

Bis zum Einsetzen der massiven antiwestlichen Propaganda unterstützte die relative Mehrheit der Russen ein westliches Modell der Entwicklung in liberaler oder sozialdemokratischer Weise (letzteres war den Umfragen nach das beliebteste Modell). 1997 wählten trotz der massenhaften Unzufriedenheit mit den Ergebnissen der liberalen Reformen 47,1 Prozent der Befragten als Modell für Russlands künftige Entwicklung einen »nach dem Vorbild der westlichen Länder marktwirtschaftlichen Staat mit demokratischen Strukturen, der die Menschenrechte respektiert« und nur 17,7 Prozent »einen Staat mit vollkommen eigenem Aufbau und einem eigenen Entwicklungsweg«. Im Jahr 1994 stimmten 71 Prozent der Befragten der Aussage zu: »Schluss mit der Abschottung; Russland sollte sich so schnell wie möglich an die internationale Wirtschaft, Politik, Kultur anschließen« (WZIOM).

Die Ideen von einer militärischen Revanche, die heute so modern sind, waren damals völlig unpopulär, stattdessen bauten die Menschen auf eine wirtschaftliche Renaissance. 1998 waren 76,3 Prozent der Befragten der Meinung, dass Russland sein wirtschaftliches Niveau steigern sollte, um sein Ansehen in der Welt zu festigen, und nur 10,6 Prozent hielten zu diesem Ziel eine »Stärkung der militärischen Macht« für notwendig.

Mitte der 2000er-Jahre orientierten sich zweimal weniger Menschen (16,7 Prozent) an patriotischen Werten als an linken oder sogar an liberalen.

Putin kam nicht als einer der »Patrioten« an die Macht, sondern als Nachfolger des von diesen so verhassten Jelzin. Aber er übernahm schrittweise ihre in der Gesellschaft nicht sonderlich populären Ideen und machte sie zur Grundlage seiner Staatsideologie. Auf diese Weise nahmen die National-Patrioten faktisch Revanche für ihre Niederlagen in den 1990er-Jahren. Allerdings gelang ihnen das nicht, weil sie die Sympathien der Bevölkerung errungen hatten, sondern weil sie die Machthaber unterstützten. Seit Beginn der 2010er-Jahre wird praktisch ihr gesamtes Gedankengut hartnäckig durch die staatliche Propagandamaschinerie verbreitet, fast wie die Kartoffel unter Katharina II. Aber trotz der gewaltigen Anstrengungen der Staatsmacht, bleibt der Einfluss der »patriotischen« Ideologie im russischen Bewusstsein recht oberflächlich.

In Umfragen bezeichnet sich die Mehrheit der Befragten zwar als Patrioten und reagiert positiv auf das Wort »Patriotismus«, setzt es aber ans Ende einer Liste der für sie wichtigsten Begriffe, in der auch »Familie« (65 Prozent), »Sicherheit« (46 Prozent), »Wohlstand« (38 Prozent), »Frieden« (34 Prozent) und »Gerechtigkeit« (30 Prozent) auftauchen. Zum Vergleich: »Patriotismus« 7 Prozent, »Macht« 5 Prozent und »Religion« 4 Prozent*. Das heißt, greifbare rationale Ziele sind für die Menschen auch unter Putin weit wichtiger als offizielle ideologische Prioritäten.

So ist die hurrapatriotische Hysterie, die infolge des neuen ideologischen Kurses der Regierung einsetzte, nur eine äußerliche Deformation des gesellschaftlichen Bewusstseins, die nicht die tieferen Schichten der sozialen Psyche berührt. Putins Propaganda garantierte ihm die Loyalität der Menschen hinsichtlich des neuen Kurses und der staatlichen Ideologie, aber sie machte sie nicht zu Fanatikern. Der Putinismus ist nur eine neue Fassade über dem alten Wertegerüst der Gesellschaft, das sich an zutiefst privaten, nichtideologischen Zielen orientiert. Diese Tünche kann im Fall von politischen Veränderungen ebenso schnell abbröckeln, wie sie aufgetragen wurde.

Man muss feststellen, dass der Schlüsselbegriff für die russischen National-Patrioten, das Herzstück ihrer Mythologie, immer der »rassistische Antisemitismus« war. Die Juden wurden gewohnheitsmäßig beschuldigt, dass sie Russland vom richtigen nationalen Weg abbringen, es westlichen Interessen unterwerfen würden. Gerade in den Juden sahen die National-Patrioten die wichtigsten Träger allen Übels auf der Welt, betrachteten sie als Volksverräter, Schuldige am Zerfall des Russischen Imperiums und der UdSSR sowie der Versklavung und Diskriminierung von Russen. Ohne Antisemitismus bricht ihr ganzes ausgedachtes, mythenartiges Konstrukt in sich zusammen, das ansonsten geradezu schülerhaft von Putins Agitprop in sein Arsenal aufgenommen wurde. Aber Putin ist kein Antisemit, er hat oft mit Juden zusammengearbeitet, darunter auch mit einigen von ihnen als Geschäftspartnern. Trotzdem war ihm die Politik immer wichtiger als die eigenen Vorlieben. Ohne einen mehr oder weniger ausgeprägten Antisemitismus ist seine neue Ideologie nicht lebensfähig. Es ist unmöglich, in sie den Großteil der Ideen der National-Patrioten einfließen zu lassen und dabei den zentralen Mythos auszuschließen. Ob Putin will oder nicht, er wird nach und nach den Antisemitismus in sein Waffenarsenal aufnehmen müssen. Es ist kein Zufall, dass schon jetzt antisemitische Töne von seinen glühendsten Anhängern zu vernehmen sind, etwa in den skandalösen Veröffentlichungen der Journalistin Uljana Skoibeda, die ihr Bedauern darüber äußerte, dass die Nationalsozialisten aus der Haut der Vorfahren der heutigen russisch-jüdischen Liberalen keine Lampenschirme gemacht hätten, denn dann hätte man der Ansicht der Autorin nach »weniger Probleme«.

Das Einpflanzen der nationalpatriotischen Ideologie in den Putinismus war eine regelrechte Vergewaltigung des kollektiven gesellschaftlichen Bewusstseins. Diese Ideologie ist nicht nur nicht verwurzelt im Volk, sondern widerspricht der Lebensart und den sozialen Richtpunkten der herrschenden Elite, die sich als hurrapatriotisch ausgeben muss, obwohl sie wirklich absolut konsumorientiert und an die westlichen Lebensstandards angepasst ist. Dafür gibt es weit handfestere Beweise als die Ergebnisse soziologischer Umfragen. Die Mehrheit der »Patrioten« an der Macht hat ihr Eigentum und ihre Geschäfte im »verdammten« Westen, wo auch ihre Kinder zur Schule gehen, wo sie sich medizinisch versorgen lassen und wo sie sich von dem »unversöhnlichen Kampf« mit ihm erholen.

Ja, und auch Putin selbst ist nur ein aufgesetzter National-Patriot und nationaler Leader. Am ehesten ist er der Vorsteher der Bürokratie, dem es nicht gelungen ist, sich von dem sozialen Milieu loszueisen, das ihn an die Macht gebracht hat, von der korrupten und prinzipienlosen herrschenden Elite.

Putins Karriere als Diktator begann vor gar nicht allzu langer Zeit, aber schon jetzt kann man davon ausgehen, dass sie aller Wahrscheinlichkeit schlecht enden wird. Erfolgreich nennt man Diktatoren, die lange herrschen und im eigenen Bett sterben. Solche Autokraten gibt es immer und überall. Von den antiken Tyrannen bis zu den Generalsekretären und Caudillos versuchten alle, sich als Beschützer des Volkes gegen Willkür der »Starken und Reichen« auszugeben. Sie terrorisierten nicht nur ihre persönlichen Feinde, nicht nur die einfachen Leute, sondern auch die herrschende privilegierte Oberschicht der Gesellschaft, darunter auch ihr eigenes Umfeld. Indem sie mit der vom einfachen Volk verhassten Erb- oder Parteiaristokratie abrechneten, verwirklichten sie des Volkes geheimen Wunsch nach Gerechtigkeit. Und das Volk war bereit, Entbehrungen und Mühsal zu ertragen, die ihm der ambitionierte Herrscher auferlegte, im Tausch gegen die Befriedigung über einen »rollenden Bojarenkopf«. Der durchschnittliche Bürger einer solchen Diktatur würde etwa äußern: »… ja, Väterchen-Zar (Führer, Caudillo, usw.) ist streng, aber gerecht und verschont niemanden, nicht mal seine engsten Bojaren.« Denn so sichert man die Stabilität in der Diktatur, die Loyalität der Bevölkerung.

Putin ist da anders. Er mauschelt offen mit den korrupten Beamten und Oligarchen in seinem Umfeld und lässt ihnen unrechtmäßige Bereicherung durchgehen. Selbst wenn aus irgendeinem Grund eine Untersuchung ihrer Vergehen ansteht, bleiben sie in der Regel unbehelligt und erhalten einen neuen Posten an der Macht oder im staatsnahen Business – wie es etwa dem ehemaligen Verteidigungsminister Serdjukow erging. Putin ist ein »Beinahe-Stalin«, ein brutaler Tyrann gegenüber seinen Feinden, aber ein guter Onkel gegenüber seinen Mitstreitern, deren Frauen, Kindern und Geliebten. Die Gesellschaft konnte sich viele Male davon überzeugen, dass er sich schützend vor seine »Bojaren« stellt und sie nicht im Stich lässt, auch wenn sie im ganzen Land verhasst sind.

Das System wird sich nicht lange auf totale Lüge und Fälschung stützen können, wenn sogar die herrschenden »Patrioten« keine echten sind und der Autokrat selbst falsch spielt und seine Rolle nicht so erfüllt, wie es das Volk von ihm erwartet. Da können bereits die ersten großen Misserfolge destabilisierend wirken.

Es gibt verschiedene Szenarien für die Entwicklung der Ereignisse in den nächsten Jahren. Eines davon ist absolut katastrophal. Während ich dieses Buch schrieb, hatten, wie bereits erwähnt, türkische Streitkräfte einen russischen Kampfjet abgeschossen, der den Luftraum der Türkei verletzt hatte. Dies ist ein neuer höchst gefährlicher Vorfall, den Putins militärische Abenteuerlust verursacht hat. Jedes beliebige Vorkommnis dieser Art kann zu einer Kette tragischer Ereignisse und zu einer Katastrophe führen. Leider ist das eine durchaus realistische Perspektive.

Aber trotzdem hoffe ich, dass es gelingen wird, das Schlimmste zu verhindern. Denn sogar Putin, da bin ich mir sicher, will keinen großen Krieg. Er handelt nur deshalb so dreist und unüberlegt, weil ihm die Welt alles durchgehen lässt. Sobald der russische Diktator auf harten Widerstand stößt, könnte er Angst um sein Leben und seine Macht bekommen. Dann besteht Hoffnung, dass er seine Aggressionen einstellt, am Rande des Abgrunds innehält und sich von einem »frühen Mussolini« in einen »späten Breschnew« verwandelt. In diesem Fall würde es nicht zur Katastrophe kommen. Aber dafür käme es im Land zur Stagnation, zum Diktat der Bürokratie in allen Lebensbereichen, zu einer zunehmenden Verarmung der Bevölkerung, zu weiteren Repressionen und einem sich dahinschleppenden kalten Krieg mit dem Westen. Von einer solchen Entwicklung profitierten nur Bürokratie und Silowiki (und auch das nur auf kurze Sicht). Sie bedeutet möglicherweise auch einen sich zuspitzenden Konflikt der Machthaber mit der Intelligenzija, dem Unternehmertum und der Mehrheit der Bevölkerung. Putins Popularität wird nachlassen, wenn er sie nicht länger durch neue militärische Triumphe befeuern kann, und die politische und wirtschaftliche Krise wird sich verstärken, bis sie das System in den Kollaps treibt.

Es gibt noch eine andere Möglichkeit. Sein Gesundheitszustand oder andere schwerwiegende Umstände zwingen Putin schließlich doch zu einem Rücktritt, ehe es zum politischen Zusammenbruch kommt. Sein Nachfolger übernähme dann ein schweres Erbe und hätte eine schwache Machtposition. Denn er wird nicht den Bonus der fetten Jahre mit hohen Ölpreisen bekommen, wie ihn Putin erhielt, der so einen regelrechten Personenkult um seine Präsidentschaft schaffen und wirkungsvoll Propaganda für seine Politik machen konnte. Der Nachfolger wird seine Arbeit unter den Bedingungen außenpolitischer Isolation, wirtschaftlicher Krise und der für ein Rohstoffland ungünstigen internationalen wirtschaftlichen Konjunktur aufnehmen müssen. Außerdem wird er die Scherben von Putins militärischen Abenteuern aufräumen müssen. In einer solchen geschwächten Situation muss der Nachfolger sich zwangsläufig auf eine der großen politischen Kräfte stützen: entweder auf die Oligarchen oder auf die Silowiki.

Das gefährlichste Zukunftsszenarium für Russland besteht in der letzteren Variante: Silowiki an der Macht. In diesem Fall wird sich die Politik im Land möglicherweise unter dem Einfluss der Ideen der russischen »Dschihadisten« vom Typ Dugin und Prochanow entwickeln, die schon längst als inoffizielle Ideologen der Silowiki figurieren. Es ist sinnlos, ein solches Szenarium in allen Einzelheiten auszumalen. Oder wie es ein besonders eloquenter Vertreter der postsowjetischen Bürokratie auszudrücken pflegte: »Wir werden schlecht leben, aber dafür kurz.« Aber selbst wenn die Silowiki die »dschihadistische« Ideologie nicht annehmen, werden sie doch in jedem Fall im Rahmen ihrer gewohnten sozialen Praktiken und Ideen herrschen. Das heißt, sie werden versuchen, Putins revanchistischen Kurs fortzusetzen, und sich dabei auf Gewalt und Lüge stützen. So hat man es ihnen beigebracht, anders kennen sie es nicht. Falls sie wirklich an die Macht kommen, ist – übrigens genau wie bei einer Fortdauer der putinschen Regierungszeit – ein Zusammenbruch des Systems in absehbarer Zeit höchst wahrscheinlich, da es der Bürde der für das Land titanischen, ehrgeizigen außenpolitischen Ziele, militärischen Abenteuer und der damit verbundenen sozialen und wirtschaftlichen Probleme einfach nicht gewachsen ist.

Wenn der Nachfolger sich auf die Oligarchen stützt, wird es gelingen, eine militärische Katastrophe zu verhindern. Die Oligarchen würden aller Wahrscheinlichkeit nach Putins aggressive Außenpolitik beenden. Denn die Großwirtschaft leidet unter den Sanktionen und ist auf internationale Zusammenarbeit angewiesen.

Aber aus innenpolitischer Sicht wird ein Wiedererstarken der Oligarchie der Mehrheit der Bevölkerung kaum etwas bringen. Stattdessen verbleibt sie in ihrer Lage der politischen Recht- und sozialen Schutzlosigkeit. Auch der Wirtschaft wird es wenig nützen, da sie vermutlich im Wesentlichen weiter der Kontrolle der Bürokraten und Silowiki unterstehen wird. (Damit kehren wir zu der Situation der 1990er-Jahre zurück, als die Silowiki noch nicht auf Augenhöhe mit den Oligarchen konkurrieren konnten, dafür aber allen Unternehmen, die nicht in Oligarchenhand waren, gegen Schutzgeld Sicherheit gewährten und sie dabei ordentlich zur Ader ließen.)

Jegliche ernsthaften demokratischen Wahlen würden einen Günstling der Oligarchie an der Spitze des Staates wegfegen. Deshalb wird auch ein Nachfolger, der sich auf die Oligarchie stützt, letztlich Putins Tradition der politischen Manipulationen und Gewaltanwendung folgen müssen, um sich an der Macht zu halten.

Allerdings ist eine oligarchische Revanche höchst unwahrscheinlich. Putins politische und persönliche Neigungen lassen darauf schließen, dass sein Nachfolger ein schwacher Politiker sein wird, der sich in der Hand der Silowiki befindet. Die Silowiki werden den Oligarchen nicht die Macht überlassen. Wahrscheinlicher ist es, dass sie diese letzten Endes ausplündern und von den Rohstoffeinkünften verdrängen.

Daher gilt, ganz gleich, welcher der heutigen Eliten Putins Nachfolger angehört: »Es kann uns kein Erlöser retten.« Die Bürokratie wird das Land auch ohne Putin in Richtung Krieg drängen, denn anders kann sie sich nicht an der Macht halten. Sonst würde sie in Widerspruch zur aktuellen strategischen Ausrichtung, zum imperialen Projekt geraten. Dabei ist es offensichtlich, dass es unmöglich ist, eine autoritäre Macht mittels Wahlen abzulösen.

Das Regime kann nur durch einen »Aufstand der Massen« beseitigt werden, ob uns diese Perspektive nun gefällt oder nicht. Denn nur als Folge von Massenprotesten der Bevölkerung werden echte demokratische Veränderungen zugunsten der Mehrheit der Bevölkerung möglich. Das ist die einzige Chance, in Russland eine stabile Demokratie zu schaffen. Nur dann ist die Zerstörung des korrupten Systems möglich, das chauvinistische Hysterie und die permanente Konfrontation mit dem Westen benötigt, um die Leute im Zaum zu halten.

Der berühmte russische Schriftsteller Anatoli Rybakow definierte sehr zutreffend, wie eine Revolution unter den Zuständen einer Diktatur aussieht: »Das Recht des Volkes auf Revolution ist nicht zu bestreiten. Die Beseitigung von Tyrannei, Absolutismus und Diktatur rechtfertigt die Revolution, denn eine demokratische Alternative gibt es nicht. So ist die Geschichte der Menschheit beschaffen. Wo das Volk sich nicht auf demokratischem Wege von einer Despotie befreien kann, erreicht es das auf revolutionärem Wege. Wenn in den Dreißigerjahren des letzten Jahrhunderts die Völker Deutschlands, Italiens, der UdSSR sich durch eine Revolution von Hitler, Mussolini und Stalin befreit hätten, würden wir das gutheißen. Die Revolution ist ein Übel, wenn sie sich gegen die Demokratie richtet, und ein Segen, wenn sie eine Tyrannei stürzt.«

Wenn die revolutionären Umwälzungen dem Entwicklungsstand einer Gesellschaft entsprechen, könnten sie friedlich und praktisch schmerzlos vollzogen werden. Dafür müssen wir nur an die sogenannte Glorreiche Revolution in England 1688/89 erinnern. Zuvor hatte England, wie Russland einige Jahrhunderte später, in dichter Folge die große Revolution und den Bürgerkrieg (1640–1660 in England, in Russland 1917–1921), eine blutige Diktatur (Cromwell in England, bei uns Stalin) und daraufhin die Restauration der vorrevolutionären sozialen Verhältnisse (feudal-kapitalistische Reaktion in England und wilder Kapitalismus in Russland) erlebt. In England endete die Restauration mit der »Glorreichen Revolution«, durch die schließlich fast fünfzig Jahre später endlich die Ziele der ersten englischen bürgerlichen Revolution realisiert wurden. Eine neue Entwicklungsstufe machte es möglich, dass dies ohne Blutvergießen und Opfer vonstattenging.

Auch die künftige russische »Glorreiche Revolution« wird auf friedlichem Weg die Ziele der früheren Revolutionen realisieren können, indem sie die Organisation der Gesellschaft demokratischer, gerechter und rationaler macht. Den heutigen Oligarchen, Bürokraten und sogar den Bossen der Silowiki fehlen die Wurzeln, die Leidenschaft und der Mut der weißen Offiziere aus der Zeit des Bürgerkriegs. Sie werden nicht kämpfen und ihr Leben aufs Spiel setzen. Wahrscheinlich werden sie einfach ins Ausland verschwinden, sobald die ersten Anzeichen einer Gefahr zu erkennen sind. Keine Nachbarstaaten werden mit Russland einen Konflikt anzetteln oder eine Intervention starten (wie es Russland nach der Revolution in der Ukraine tat). Daher sind ein Bürgerkrieg und großes Blutvergießen in Russland während und nach einer möglichen Revolution zum Glück eher unwahrscheinlich.

Ich werde versuchen, in Kürze das Szenarium des Zusammenbruchs des putinschen Systems und einer positiven Entwicklung der sich anschließenden Ereignisse im Land zu beschreiben. Stellen wir uns vor, wir halten ein Geschichtsbuch in der Hand, das in fünfzig Jahren in einem demokratischen und friedliebenden Russland verfasst worden sein wird.

Wie sich in Russland eine stabile demokratische Gesellschaft entwickelt

Die von Putin 2014 begonnene Aggression gegen die Ukraine stürzte das Land in eine tiefe wirtschaftliche Krise. Eine neue Welle von Sanktionen, die (nehmen wir an) nach der russischen militärischen Aggression gegen die Türkei einsetzte (oder nach mit Assad gemeinsam begangenen Verbrechen der russischen Streitkräfte gegen friedliche Bürger Syriens, oder nach der Veröffentlichung der für das putinsche Regime vernichtenden offiziellen Berichte über die Ursachen für den Absturz der malaysischen Boeing), führte Anfang 2016 zum Sturz des Rubels und gleichzeitig zum Einbruch des Wertpapiermarktes, was unter dem Namen »schwarzer Putin-Tag« in die Geschichte einging. Damals wurden umfangreiche internationale Sanktionen gegen die russische korrupte Elite verhängt. In der Folge verstärkte sich in allen sozialen Schichten die Unzufriedenheit mit dem Regime: bei den Eliten, die ihre ausländischen Aktiva verloren; bei den Städtern, die gegen den sinkenden Lebensstandard protestierten; bei den Unternehmern, die unter der Krise litten; bei Polizei, Militär und im Geheimdienst sowie bei den Beamten, denn auch die Kaufkraft ihrer Besoldung hatte stark nachgelassen. Unter dem Einfluss der wirtschaftlichen Schwierigkeiten verlor Putin zudem die Ressourcen, um einen Krieg zu führen, und war gezwungen, aus dem Donbass abzuziehen. Als Konsequenz flüchteten Tausende ehemaliger russischer Freiwilliger von dort, reihten sich in die extremistischen nationalistischen Organisationen ein und begannen Putins Rücktritt zu fordern, da er »den Donbass geopfert hatte«. Das alles führte zu einer starken Destabilisierung des Landes.

Putin beschloss unter dem Einfluss seiner in dieser Situation aufgeschreckten Umgebung vorzeitige Präsidentschaftswahlen durchführen zu lassen. Zum ersten Mal in der Geschichte konnte er nicht im ersten Wahlgang gewinnen, da ihm zur absoluten Mehrheit viele Stimmen fehlten. Die Wahlergebnisse der Stichwahl waren offensichtlich gefälscht. Das führte zu einer neuen Protestwelle. Gleichzeitig begannen Grubenarbeiter, Fernfahrer, Bauern und Arbeiter großer Industriebetriebe zu demonstrieren, da sie unter der Krise, den hohen Steuern und der Willkür des bürokratischen Kapitals litten. Sie legten das Land faktisch lahm.

Viele Vertreter der herrschenden Elite und viele Großunternehmer liefen zu den Protestierenden über, da sie unzufrieden mit Putins Politik waren, die internationale Sanktionen und den wirtschaftlichen Kollaps zu verantworten hatte. Die Verwaltung des Landes funktionierte nicht mehr. Polizei, Geheimdienste und Militär erhielten zunehmend widersprüchliche Signale von den übergeordneten Stellen und weigerten sich, Gewalt gegen die Protestierenden anzuwenden.

Die Wahlergebnisse wurden annulliert, und Putin flüchtete nach China. Die Macht auf örtlicher Ebene ging de facto auf die selbstorganisierte demokratische Bewegung über, die Räte der Bürgeraktivisten, die teilweise durch Abstimmung im Internet gewählt wurden.

Sie bildeten Übergangsorgane der Macht und führten Wahlen durch. Das Programm der neuen demokratischen Bewegung setzte sich aus liberalen, libertären und sozialdemokratischen Ideen zusammen, die für alle Bevölkerungsschichten von Vorteil waren, mit Ausnahme der herrschenden Bürokratie und der mit ihr verflochtenen Großunternehmer. Dabei brachte man die schweizerische Praxis von direkter Demokratie, Dezentralismus und Föderalismus unter einen Hut mit einer größtmöglichen Freiheit der Unternehmer gegenüber der Bürokratie, dem deutschen System einer sozialen Absicherung und speziellen Mechanismen zur Verteilung der Einkünfte aus Öl und anderen Rohstoffen zugunsten der ganzen Bevölkerung, so wie in Norwegen und Alaska.

Die demokratische Koalition gewann bei den Wahlen zur Staatsduma. Als Erstes wurde vom neu gewählten Parlament eine Verfassungsreform durchgeführt. Das Land wurde eine parlamentarische Republik. So konnte man für die Zukunft ausschließen, dass wieder ein diktatorischer Präsident an die Macht kam. Die Regionen erhielten in allen Bereichen wesentlich größere Unabhängigkeit vom Zentrum, mit Ausnahme bei der Wahrung der Rechte und Freiheiten der Bürger.

Das Parlament verabschiedete ein Lustrationsgesetz, das hohe Beamte und Vertreter von Geheimdiensten, Militär und Polizei von der Macht ausschloss. Personen, die früher in hohen Positionen in den Organen der Staatsmacht und im Geheimdienst gearbeitet hatten, war der Zugang zum Staatsdienst verwehrt. Die Kommunalverwaltung wurde reformiert und ihr Zuständigkeitsbereich stark vergrößert, wobei sie basisdemokratisch unter Einbeziehung von Internettechnologien organisiert wurde. Es wurden Beiräte gewählt, die die Arbeit der Rechtsvertreter und der Beamten auf allen Ebenen kontrollierten. Man führte eine Polizei- und eine Gerichtsreform durch, der Stab an Richtern und Mitarbeitern bei Polizei, Geheimdienst und Militär wurde komplett erneuert. Richter und Polizisten wurden der Kontrolle der Bevölkerung unterstellt. Der FSB wurde aufgelöst und zu einer verbrecherischen Organisation erklärt, seine Führung vor Gericht gestellt. An seiner Stelle wurde ein kompakter Sicherheitsdienst geschaffen, der verpflichtet war, vor dem Parlament regelmäßig Rechenschaft über seine Tätigkeit abzulegen.

Die neue Macht garantierte dem Handel und dem Unternehmertum vollständige Freiheit. Alle bürokratischen Genehmigungsverfahren wurden stark vereinfacht und können seither im Internet durchgeführt werden. Es wurde ein Gesetz zur Restituierung erlassen, aufgrund dessen man die korrupten Großunternehmer um die von ihnen auf kriminellem Weg erworbenen Gewinne enteignete. Man richtete den »Fonds Russland« ein (nach dem Vorbild »Alaska Permanent Fund« oder des Staatlichen Pensionsfonds Norwegens), um die Einkünfte aus der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen unter der Bevölkerung zu verteilen.

Auf der Grundlage des Lex Duvalier in der Schweiz und ähnlichen Gesetzen in anderen Ländern nahm die demokratische Staatsführung ihre Zusammenarbeit mit ausländischen Regierungen bei der Suche und Repatriierung des Kapitals hoher korrupter russischer Staatsbeamter und Oligarchen auf. Man verfolgte den Kurs einer friedfertigen Außenpolitik und Annäherung an die Europäische Union. Russland gab alle Ansprüche auf die Krim auf. Menschenrechte und freiheitliche Grundrechte sowie die Unabhängigkeit der Medien vom Staat wurden garantiert. Rücklagen des Landes aus Militär und Bürokratie wurden in die Entwicklung der Gesundheitsversorgung, Bildung, Wissenschaft und Technologie umgeleitet.

Ist das alles schwer vorstellbar? Nicht doch! Tatsächlich ist die heutige Situation widernatürlich, während die Perspektiven einer europäischen, demokratischen Entwicklung Russlands unübersehbar sind. Russland ist ein Land mit europäischer Kultur, das einen großen Beitrag zur Entwicklung Europas geleistet hat (es gibt zu viele berühmte russische Namen, als dass ich hier anfangen wollte, sie aufzuzählen). Das Land hat reiche liberale und demokratische Traditionen. Das Bildungsniveau in Russland ist sehr hoch und kann ohne Weiteres mit dem anderer europäischer Staaten mithalten. Nicht umsonst ist es die Heimat ungezählter Spezialisten für neue Technologien und von Wissenschaftlern, die über die ganze Welt verstreut leben. In den letzten Jahren hat sich in Russland eine etliche Millionen Menschen umfassende »Kreative Klasse« herausgebildet, die bereits ihre demokratischen Sympathien bekannt hat. Auch die Mehrheit der Bevölkerung hat nicht das geringste Interesse am Erhalt einer aggressiven Diktatur durch eine korrupte Bürokratie.

Erst wenn die totale Propaganda und die Angst verschwunden sind, wird die öffentliche Meinung in Russland sich wieder jenem Zustand aus der Zeit vor Putin annähern. Dabei wird dem Wiedererstarken der unabhängigen, politischen Intelligenzija voraussichtlich eine wichtige Rolle zukommen. Die neuen vom Putinismus ausgehenden Bedrohungen, also Kriegstreiberei, Obskurantismus und Repressionen, zwingen die Intelligenzija (und ihre neue Ikone, die »Kreative Klasse«) unausweichlich zum Übergang von reiner Lohn- und Brotarbeit zu ideell motiviertem Handeln, zum Kampf für politische Veränderungen.

Ich bin mir sicher, auch wenn das »Bewusstsein der Mehrheit der Russen vollständig vom Kreml kontrolliert wird« – wie es der Soziologe Wladimir Schljapentoch über das sowjetische wie auch über Putins Russland sagte –, letztlich nimmt die echte öffentliche Meinung in Russland Putins Politik nicht an. Und diese These ist nur auf den ersten Blick widersprüchlich.

Die Gesamtheit der Aussagen von Menschen, die unter dem Einfluss von Angst und Propaganda stehen, macht nicht die öffentliche Meinung eines Landes aus, sondern ist nur ein Spiegelbild der staatlichen Manipulation. So war es in der UdSSR, so ist es heute in Russland. Kann man die wahre – schließlich ist sie praktisch eine zukünftige – öffentliche Meinung in einem Land ermitteln, in dem die Ansichten der Bürger zu allen Ereignissen von der Staatsmacht aufoktroyiert werden? Eine Antwort auf diese Frage ermöglicht uns die Erfahrung eben jenes Wladimir Schljapentoch: »Jedoch erwiesen sich nicht alle Daten, die wir (in sowjetischer Zeit) erhoben hatten, als wertlos. So etwa die Materialien unserer Untersuchungen der Ansichten der liberalen Intelligenzija. Wir konnten das untersuchen, weil diese die Literaturnaja Gaseta las (…) die Leser der LG, deren Zahl Anfang der 1960er-Jahre zehn Millionen betrug, waren bereit, unter den vorgegebenen Antworten die liberalen Alternativen zu wählen. Unsere Respondenten aus der LG unterstützten die Liberalisierung der Wirtschaft, die Förderung eines kreativen Ansatzes in allen Bereichen des sozialen Lebens, was einer unverhüllten Herausforderung der Bürokratie gleichkam (…) Unsere Daten bewiesen ganz klar, dass ein bedeutender Teil der sowjetischen Intelligenzija die Liberalisierung der Gesellschaft befürwortete, was durch ihre aktive Unterstützung der Perestroika bestätigt wurde.«

Die Intelligenzija in der UdSSR – und hier beziehe ich mich nach russischer Tradition nicht auf alle Leute mit höherer Bildung, sondern nur auf jene, die nicht völlig in der alltäglichen Existenz aufgehen und gesellschaftlichen Problemen grundsätzlich einige Bedeutung beimessen – war in der Zeit von Chruschtschow und Breschnew die gesellschaftliche Schicht, die sich am besten dem propagandistischen Druck widersetzen konnte und verschiedene Informationsquellen zu nutzen wusste. Daher waren ihre Ansichten freier und kamen einer tatsächlichen »öffentlichen Meinung« deutlich näher.

Die Einstellung der Intelligenzija in einer autoritären Gesellschaft ist wie das Embryo einer freien öffentlichen Meinung dessen, was im Land wäre, wenn es nicht den staatlichen Propagandadruck und die Angst gäbe (das gilt natürlich nicht für stark totalitäre Länder wie Stalin-Russland oder die Koreanische Volksdemokratische Republik, wo die Intelligenzija genau wie die gesamte Bevölkerung vom Machtapparat unterdrückt wird). Wie man in der UdSSR anhand der Ansichten der Leser der Literaturnaja Gaseta die Richtung der bevorstehenden Perestroika prognostizieren konnte, so kann man die künftigen Veränderungen in Russland daran ablesen, wie sich das Publikum der Medien und sozialen Netzwerke, die besonders von der Intelligenzija genutzt werden, zur aktuellen Situation verhält (Facebook, LiveJournal, Echo Moskau, der Fernsehsender Doschd, Nowaja Gaseta und andere). Sogar in diesen für freie Menschen absolut nicht einfachen Zeiten hat sich, diesem Publikum und dieser Community nach zu urteilen, ein großer Teil der Intelligenzija in Russland seine demokratischen, antiimperialen, kosmopolitischen, liberalen Ansichten bewahrt. Und das stimmt optimistisch.

Ja, sicher gibt es auch die »patriotische«, treu ergebene Intelligenzija. Aber sie ist in der Minderheit, denn das Publikum der liberalen Medien für die Intelligenzija übersteigt bei Weitem dasjenige der patriotischen Medien. Es ist unübersehbar, dass die potenzielle Zuhörerschaft von Radio Echo Moskwy deutlich größer ist als etwa die des patriotischen Radio Radonesch und ähnlicher Sender. Putins staatliche Medien kann man bei dieser Betrachtung vernachlässigen, da sich diese Informationsquellen an Gott weiß wem, aber sicher nicht an der Intelligenzija orientieren.

Die Intelligenzija ist nicht so zahlreich, dass sie stark auf die Ergebnisse allgemeiner Umfragen einwirken könnte, und darüber hinaus beteiligen sich ihre Vertreter unter russischen Bedingungen nur selten daran. Dafür nehmen viele von ihnen an den Umfragen teil, die von »ihren« Medien oder von besonders beliebten Usern in sozialen Netzwerken durchgeführt werden. Solche Abstimmungen auf von der Intelligenzija genutzten Internetressourcen liefern mehr Information über die öffentliche Meinung in Russland als »methodisch korrekte« allrussische Umfragen – genau wie das in der UdSSR mit den Lesern der intellektuellen Literaturnaja Gaseta der Fall war. Wenn man diese Abstimmungen betrachtet, erkennt man, dass ein großer Teil des Publikums der auf die Intelligenzija abzielenden Medien Putins Politik im Großen und Ganzen nicht akzeptiert.

Die Intelligenzija hat, wie bereits erwähnt, schon zweimal eine entscheidende Rolle gespielt: bei der Vorbereitung der antiautoritären Revolutionen im Februar 1917 und im August 1991. Bei den ersten freien Wahlen im Jahr 1990 lehnten die Wähler, im Gefolge der Mehrheit der Intelligenzija, die pseudokommunistischen und national-patriotischen Ideen ab. Damals fand die Gesellschaft zu einer eigenen Meinung, nachdem sie sich vom staatlichen Druck befreit hatte. Diese Meinung wies viele Parallelen zu den Ansichten des intellektuell fortschrittlichsten Teils der Bevölkerung auf. Das Gleiche wird wieder stattfinden, wenn die Effektivität der derzeitigen Gehirnwäsche nachlässt. In der heutigen Welt mit Internet und anderen informellen Informationsquellen und Schlupflöchern ist es unmöglich, auf Dauer in vollem Umfang erfolgreich zu manipulieren. Morgen wird die Gesellschaft so denken, wie es jetzt die russischen Nutzer von Facebook tun. Die Meinung der Intelligenzija wird ganz zweifellos zur allgemeinen öffentlichen Meinung, nicht nur ein Großteil der Intellektuellen wird den Putinismus ablehnen, sondern auch die überwiegende Mehrheit der Gesellschaft.

Ich glaube nicht einfach nur, sondern bin aufgrund meiner Lebenserfahrung und meiner Kenntnisse über mein Land davon überzeugt, dass es nicht mehr allzu lange dauern wird, bis sich die Russen aus der Vormundschaft der Regierungspropaganda befreien, die Diktatur abschaffen und die Gesellschaft auf demokratischen und rechtlichen Grundlagen organisieren. Russland wird die Welt nicht mehr bedrohen und ein wichtiger Teil der europäischen Nationenfamilie werden. Das ist ganz unabwendbar die Zukunft des Landes, egal wie sehr sich der Hauptheld meines Buches dem widersetzen wird.

*  Daten nach FOM – Fond für öffentliche Meinung

*  Daten nach FOM aus dem Jahre 2013.