7.  Russland nach Putin

»Russland wird frei sein, Russland muss frei sein!«

EINE DER ZENTRALEN LOSUNGEN AUF DEN DEMONSTRATIONEN GEGEN PUTIN

Ich kann nur in meine Heimat zurückkehren, wenn in Russland radikale demokratische Veränderungen stattgefunden haben werden. Und ich glaube daran, dass sie unumgänglich sind. In den letzten Jahren ist zu spüren, dass sich das Regime mit Konflikten und Krieg ein Gewicht aufgeladen hat, dem es nicht gewachsen ist, weshalb ein Zusammenbruch nicht mehr in weiter Ferne liegt. Allerdings muss in Russland noch viel geschehen, damit die Veränderungen Wirklichkeit werden. So etwa wird zunächst eine starke politische Alternative zu Putin benötigt.

Wann wird die heute herrschende Gruppierung abtreten und wie sieht Russlands Schicksal nach Putin aus? Um auf diese Frage mögliche Antworten zu finden, muss man zunächst die Wechselbeziehungen der sozialen Kräfte im Land betrachten.

Die Bevölkerung Russlands teilt sich schon seit Langem in jene, die »auf den Öl- und Gaspipelines sitzen«, und alle übrigen Menschen. Das ist das Kernstück des russischen sozialwirtschaftlichen Systems. Die sozialen Interessen der wenigen, die extrem hohe Einkünfte aus der Ausbeutung der natürlichen Rohstoffe des Landes erzielen, und der Mehrheit der Bevölkerung stehen sich diametral gegenüber. »Die auf den Pipelines hocken« möchten dieses Recht für sich und ihre Nachfolger zementieren. Die übrigen Bewohner des Landes wollen dagegen die Einnahmen aus dem Rohstoffreichtum des Landes dem allgemeinen Vermögen zuführen.

Allerdings verfügen derzeit nur die Kräfte in Russland, die es schon »auf die Pipelines« geschafft haben, über ausreichend finanzielle Mittel, um tatsächlich auf die Lage im Land Einfluss zu nehmen. Dabei handelt es sich um die gehobene Bürokratie (vor allem die sogenannten Silowiki) und die private Finanzoligarchie. Die erste Gruppe besteht hauptsächlich aus Freunden und Bekannten Putins und kontrolliert die Unternehmen mit großer oder vollständiger staatlicher Beteiligung (Gazprom, AO RSCHD, Rosneft, Transneft, Sberbank, WTB und andere) wie auch private Unternehmen im Umfeld der Staatsstrukturen (etwa die von Timtschenko oder den Gebrüdern Rotenberg). Die zweite Gruppe kennt man von der Forbes-Liste der Milliardäre. Dabei handelt es sich hauptsächlich um Personen, die ihr Vermögen noch unter Jelzin gemacht haben. Sie besitzen Kontroll-Aktienpakete privater Unternehmen (Lukoil, Rusal, Nornikel, Sewerstal, AFK-Sistema, EWRAS, NLMK, MMK, Alfa-Gruppe usw.) und Minoritätspakete eben bei Gazprom sowie anderen Rohstoff- oder Energieunternehmen.

Wenn man eine historische Parallele zum feudalen Russland ziehen will, so erinnert die Finanzoligarchie an die fürstlichen Großgrundbesitzer, für die Ländereien und die dort lebenden Menschen ihr vollständiges, vererbbares Eigentum waren, während die Führung der Staatsunternehmen eher Ähnlichkeiten zum Dienstadel aufweist, der vom Herrscher persönlich und nur für die Zeit, die er im Staatsdienst verbrachte, bestallt wurde.

Die einen wie die anderen sind äußerlich loyal gegenüber Putin. Die staatlichen Oligarchen sind ihm je nach Amt direkt untergeordnet. Die Eigentümer der Großunternehmen versuchen Konflikten mit dem Präsidenten aus dem Weg zu gehen und »seinen Wünschen entgegenzukommen«, mit den Silowiki zusammenzuarbeiten. Diese beiden Gruppen sind natürlich nicht monolithisch, innerhalb einer jeden existieren verschiedene, unterschiedlich große Clans. Aber daneben besitzen sie gemeinsame Interessen. Die Bürokratie will die Geschäftswelt kontrollieren und die Finanzoligarchie den Staat (wie unter Jelzin). Der Bürokratie gelingt das, der Oligarchie zurzeit nicht. Bisher musste Letztere von ihren politischen Ambitionen Abstand nehmen.

Während Putins Regierungszeit verstärkte sich das staatlich-bürokratische Kapital gravierend. Unter Jelzin halfen die Beamten den Oligarchen für ein Bestechungsgeld, das Eigentum vererbbar zu machen und den Staat zu melken. Putins Vertraute wollten über eigenen Besitz verfügen und wurden zum »Dienstadel«. Das führte zu radikalen Veränderungen in den Wechselbeziehungen der beiden Gruppen, denen Russland gehört. Heute hängt die Finanzoligarchie vollständig von der Bürokratie ab (vor allem von den Silowiki) und fürchtet, dass ihr Imperium zerstört werden könnte (wie es Beresowski, Gusinski und Chodorkowski erging).

Putin steht als »Zar« offiziell über diesem Gegensatz von »Dienstadel« und »Erbadel«. Er verteidigt die Oligarchen sogar gegenüber seinen Mitarbeitern in Geheimdienst, Polizei und Militär sowie den Beamten. Aber faktisch gilt seine ganze Sympathie dem staatlich-bürokratischen Kapital, das von seinen treuen Gefolgsleuten vom Typ Juri Milner, Igor Setschin, Boris und Arkadi Rotenberg und Juri Kawaltschuk geführt wird. Deshalb gestattet er es den Silowiki nach und nach, den bürokratischen Druck auf die alten Oligarchen zu verstärken und damit allgemein auf die gesamte Privatwirtschaft des Landes.

Heute vertreten alle Dumaparteien, sowohl die regierende Partei Einiges Russland wie auch die pseudooppositionellen Parteien (KPRF, LDPR, SR) die Interessen der Bürokratie und der Staatsunternehmen. Die Finanzoligarchie ist in der Duma mit keiner eigenen Fraktion vertreten. Früher verteidigte das Bündnis Rechter Kräfte deren Belange, aber diese Partei wurde vor langer Zeit zerstört. Und alle Versuche, eine neue einflussreiche politische Kraft im Interesse der privaten Großunternehmer zu schaffen, wie sie der Milliardär Prochorow immer wieder unternimmt, scheiterten bislang. Daher verfügt die Gruppe mit extrem hohem wirtschaftlichem Status faktisch über keine Möglichkeit der politischen Einflussnahme und steht sogar ohne einen grundlegenden Schutz gegenüber dem Staat da. Diese Situation ist ein Beispiel für Statusinkonsistenz, die, wie man aus der soziologischen Theorie weiß, in jedem politischen System eine Gefahr für die innere Stabilität darstellt.

Ist es also im heutigen Russland realistisch, dass die in ihren Rechten beschnittene Finanzoligarchie sich aus dem Gehorsam gegenüber Putin befreit und damit eine Spaltung der Elite eintritt? Ich glaube nicht. Zum einen fürchten die Oligarchen nicht nur eine weitere Stärkung Putins, sondern auch seinen Abgang, der von gewaltigen sozialen Erschütterungen begleitet sein könnte. Denn sie begreifen durchaus, dass ein Scheitern des Systems für sie mit dem Verlust der unter seiner Protektion erworbenen Gewinne einhergehen könnte. Und was noch wichtiger ist, die gesamte Wirtschaftselite Russlands hat Angst vor Putin und seinen Silowiki, ist daher demoralisiert und nicht fähig zu irgendeiner Form von Gegenwehr oder Verschwörung. In Putins Russland sind weder Reformen von oben möglich noch eine Palastrevolution innerhalb der Elite.

In der Geschichte war die Spaltung einer Elite immer die Folge einer erfolgreichen Befreiungsbewegung. Die Finanzoligarchie kann sich nur dann gegen Putin wenden, wenn sie spürt, dass seine Macht schwindet und er ihr nicht mehr ganz so gefährlich ist wie zuvor. Und das kann nur in einer Situation des politischen Chaos stattfinden, wenn es zu massenhaften Aktionen gegen die Regierung kommt.

Ein weiterer Akteur, an den viele ihre Hoffnung auf demokratische Reformen knüpfen, ist die Intelligenzija und ihre neue Ikone, die sogenannte kreative Klasse. Im Hinblick auf Putin ist sie die oppositionellste soziale Kraft im Land. Sie bildet mit etwa 150 000 bis 250 000 aktiven Mitgliedern die Basis der demokratischen Bewegung. Und so hoch war auch in etwa die Gesamtzahl aller Teilnehmer an Aktionen der Opposition in den letzten Jahren. Die Mehrheit von ihnen sind Moskauer, junge Büroangestellte und nicht ganz so junge, noch von der Perestroika geprägte liberale Intellektuelle. Die Schwäche dieser Opposition ist ihre Abgehobenheit vom »Volk«, von der sozialen Unterschicht.

Die russische Intelligenzija hielt es traditionell für ihre Aufgabe, das Volk aufzuklären. Aber heute beklagen viele oppositionell eingestellte Russen, dass die »einfachen Leute« Putin unterstützen, und halten sie für unreflektierte patriotische Einfaltspinsel (wörtlich: Wattejackenträger – russisch: watnik – was auch als Synonym für hurrapatriotische Dumpfbacke verwendet wird), genau wie die Intelligenzija im 19. Jahrhundert die Bauern als konservative »Hinterwäldler« bzw. wörtlich als »Bastschuhträger« bezeichnete.

Die Verachtung für die soziale Unterschicht widerspricht nicht nur der aufklärerischen Tradition der russischen Intelligenzija, sondern führt in eine Sackgasse. Radikale demokratische Veränderungen fanden stets als Ergebnis eines Bündnisses von Intelligenzija mit dem »einfachem Volk« statt. So war es immer in der Geschichte. Die Armen und Hungernden waren gemeinsam mit den radikalen Intellektuellen die treibende Kraft aller Revolutionen.

Vorerst noch manipuliert die putinsche Staatsmacht die Unterschicht geschickt mithilfe der Fernsehpropaganda. Im Donbass war sie das Bauernopfer. Die Situation dort bewies, was für eine zerstörerische Kraft dieser Bevölkerungsteil entwickeln kann, wenn die Staatsmacht seine Energien lenkt. Dort brachte man die »einfachen Leute« anhand von Lügen dazu, sich zur Befriedigung von Putins Ambitionen ins Kugelfeuer zu begeben. Andererseits setzt – wie alle soziologischen Erhebungen immer wieder gezeigt haben – die Mehrheit der Russen in allgemeinen Lebensfragen völlig andere, absolut rationale Prioritäten. Da geht es um Wohlstand, Sicherheit, Frieden, Gerechtigkeit und Freiheit. Putins Regime kann ihnen nichts dergleichen bieten. Im Gegenteil, all diese Vorstellungen entsprechen den Zielen der demokratischen antiputinschen Opposition.

Die demokratische Bewegung hat nur eine Chance auf Erfolg, wenn sie sich dem »Volk zuwendet«, also den Interessen der nichtprivilegierten Mehrheit der Einwohner des Landes, die bei den Reformen in den 1990er-Jahren die großen Verlierer waren und unter Putin nicht dazugewonnen haben.

Die Perspektiven für zukünftige Veränderungen werden auch begreifbarer, wenn man Russlands Vergangenheit betrachtet. Bald feiert die russische Revolution, die den Zarismus besiegte, ihren hundertsten Geburtstag. Einige Politologen prophezeien zu diesem Jubiläum eine neue Revolution in Russland. Nawalny, Kasparow und andere Anführer der Opposition sprechen von einer bevorstehenden friedlichen und demokratischen Revolution.

Nach der Februarrevolution 1917 versuchten die neuen Machthaber die traditionellen liberalen Vorstellungen von Demokratie und Menschenrechten umzusetzen. Aber trotz ihrer Bemühungen um politische Gleichberechtigung existierte in der Bevölkerung ein nicht weniger starkes Bedürfnis nach sozialer Gleichheit und gerechter Verteilung der Vermögensverhältnisse, nach einem Schutz der Arbeiter gegen die Willkür der Besitzenden. Die Bolschewiken standen an der Spitze der Bewegung, die für die Umsetzung dieser Forderungen eintrat, was ihr letztlich im Oktober 1917 den Sieg eintrug.

Ohne hier auf Einzelheiten einzugehen, kann man wohl feststellen, dass die Kommunisten im weiteren Verlauf weder das im Februar 1917 geäußerte Verlangen nach Demokratie noch das Hauptziel der Oktoberrevolution, das Bedürfnis nach sozialer Gerechtigkeit, befriedigen konnten. Und genau das war der Grund für die vierte russische Revolution im Jahr 1991. Die nach heutigen Maßstäben geradezu lächerlichen Privilegien der kommunistischen Nomenklatura riefen allgemeine Missbilligung hervor (eigene Kantinen, Sonderzuteilungen, Datschen usw.). »Volk und Partei sind eins, nur das Futter ist verschieden« – lautete eine der beliebtesten Losungen auf den Kundgebungen damals. Ich weiß noch, wie ich Ende der 1980er-Jahre bei einer der ersten – wie die Machthaber es nannten – »antisowjetischen« Demonstrationen in Nischni Nowgorod teilnahm; seinerzeit hieß die wichtigste Parole: »Die Macht den Sowjets, das Land den Bauern, die Fabriken den Arbeitern«. Die Menschen begrüßten die Perestroika, weil sie ehrlich glaubten, dass mit ihr endlich nicht nur ihre demokratischen, sondern auch ihre sozialen Ideale realisiert würden.

Wie man weiß, wurden ihre Hoffnungen bitter enttäuscht. Die soziale Ungleichheit ist um ein Beträchtliches gestiegen, und die ersehnte Demokratie mit Mehrparteiensystem verwandelte sich alsbald in einen armseligen Abklatsch davon. Diese Situation macht eine zukünftige russische Revolution unter den Vorzeichen demokratischer und sozialer Anforderungen unvermeidlich.

Ihr erster missglückter Versuch, ein Fehlstart sozusagen, fand mit einer Serie gewaltiger Massenproteste Ende 2011 und Anfang 2012 statt. Das Symbol der Protestbewegung war ein weißes Band, weshalb sie in Russland als »Weiß-Band-Revolution« bekannt ist. Der wichtigste Grund für ihr Scheitern besteht darin, dass die von ihr vorgetragenen Forderungen in erster Linie die politische Liberalisierung betrafen, nicht aber die für die Mehrheit der Bevölkerung lebenswichtigen sozial-ökonomischen Fragen. Deshalb erhielt diese »Beinahe«-Revolution keine breite Unterstützung vom Volk.

Die Mehrheit der Russen wurde enteignet und hat keinen Anteil an den Einnahmen aus der Ausbeutung der außerordentlich reichen Rohstoffvorkommen des Landes. Wenn die Bauern 1861 bei der Abschaffung der Leibeigenschaft in Russland nur die persönliche Freiheit, nicht aber auch Land erhalten hätten, wären sie faktisch Sklaven der Landbesitzer geblieben. Zu Beginn der 1990er-Jahre gewährte man den Bürgern formell politische Rechte. Aber in wirtschaftlicher Hinsicht gingen die Menschen leer aus; da die Privatisierung nach kriminellen Mustern ablief, etwa mit Pfandauktionen, erhielten sie nichts davon. Die kriminelle und bürokratische Oligarchie etablierte ihre Kontrolle über die Produktionsressourcen und die Rohstoffvorkommen.

Die wichtigste Forderung der Teilnehmer der Oktoberrevolution von 1917 (und der vorangegangenen im Jahr 1905) war die Landreform. Heute ist das grundlegende soziale Problem dem von damals nicht unähnlich und besteht darin, dass die Menschen keinerlei Anteil am gewaltigen Reichtum ihres Landes haben. Sie sind enteignet. Die Besitzer und Direktoren der Monsterkonzerne und die mit ihnen verbundenen Beamten schleusen jährlich viele Milliarden Dollar aus dem Land, die sie aus dem Verkauf von Rohstoffen einnehmen. Und dabei hat die Mehrheit der Bevölkerung von der Ressourcenausbeutung keinerlei Vorteil.

Es gibt verschiedene Ideen, wie man die Menschen an den Gewinnen, die durch den Verkauf der natürlichen Ressourcen des Landes erzielt werden, teilhaben lassen könnte – so, wie es etwa in bemerkenswerter Weise in Norwegen oder in Alaska umgesetzt worden ist oder an anderen Orten der Welt. Das Wichtigste ist, eine Perspektive anzubieten, bei der die Bevölkerung erkennt: Wenn die Machthaber abgelöst werden, erhält sie ihren Teil vom gemeinsamen Kuchen. Rund um diese Forderung könnte sich eine neue demokratische Bewegung bilden, die in der Lage wäre, das putinsche Regime abzusetzen.

Die »orangenen Revolutionen« in der Ukraine und in Georgien in den 2000er-Jahren scheiterten aus dem einen Grund, weil es ihnen nicht gelang, die von der Oligarchie dominierten sozialwirtschaftlichen Systeme abzulösen. Die Finanzoligarchie behielt ihr Eigentum und die Ressourcen. So konnte sie die Politiker-»Revolutionäre« zermürben; die einen wurden gekauft, die anderen entfernt. Am Ende hatte sich im Grunde nichts verändert. Saakaschwili wurde dank der Anstrengungen des Oligarchen Iwanischwili und seiner Kollegen aus Georgien verjagt. In der Ukraine verhalfen die Oligarchen ihrer alten Marionette Janukowitsch an die Macht, und nachdem dieser gescheitert war, behindern sie jetzt aktiv die demokratischen Reformen.

Wenn nach der Entfernung Putins und seines Clans von der Macht das heutige System erhalten bleibt, das ein Ergebnis der Privatisierung und des daran anschließenden Übergangs des Kapitals an die Bürokratie ist, so wird sich am Leben der überwältigenden Mehrheit der Russen nichts Grundlegendes ändern. Die Oligarchie wird die neuen »revolutionären« Machthaber ebenso unvermeidlich einspannen und korrumpieren, wie es zu seiner Zeit das Umfeld Jelzins, Juschtschenkos und anderer tat.

Politische Internetrevolution in Russland

Das Internet wird möglicherweise eine entscheidende Rolle bei der Vorbereitung von Veränderungen in Russland spielen. Im 15. Jahrhundert ermöglichte die Erfindung der Druckerpresse und des Buchdrucks die Ausbreitung des Protestantismus und damit des, wenn man Max Weber glauben mag, Kapitalismus mit seiner protestantischen Ethik. Die Entwicklung des Internets zeitigt Veränderungen von vergleichbarer Bedeutung. Das Wichtigste, was dieser Prozess bereits hervorgebracht hat, ist die Bildung einer dialogorientierten, demokratischen Informationskultur, die jene bisherige elitäre und monologische Organisationsform des Informationsraums ablöst.

In der Vergangenheit waren die Eliten die einzigen Subjekte der Information, und die Masse war ausschließlich Objekt der informationellen Einwirkung. In der traditionellen Gesellschaft predigten die Pfarrer von der Kanzel, und die Beamten verkündeten die königlichen Dekrete. Die Untergebenen aber lauschten lediglich dem, was Kirche und Staat ihnen übermittelte. Auch im 20. Jahrhundert blieb das Publikum in der Rolle des passiven Konsumenten von Informationen der Medien.

Jetzt hat sich das völlig verändert. Mit der Ausbreitung des Internets haben die Massen eine Stimme bekommen. In den sozialen Netzwerken findet permanent ein offener Dialog statt. Jeder kann seine Meinung äußern und sogar zum beliebten Blogger werden, wenn er seiner Umwelt etwas zu sagen hat. Eine solche Situation verändert zweifellos die Gesellschaft in demokratischen Ländern. Aber sie provoziert besonders stark Veränderungen in unfreien, autoritären Staaten, die unter den Bedingungen eines freien Informationsaustausches einfach nicht existieren könnten. In solchen Gesellschaften wird das Internet zur wichtigsten Alternative zu jeder Art offizieller Information.

Putins Russland war eines der schreiendsten Beispiele einer solchen Situation. Hier war das Internet der letzte Zufluchtsort der Freiheit, ein virtueller Abguss der zerstörten Zivilgesellschaft.

Sobald die russische Internetcommunity entsprechend groß war, verwandelte sich das Netz für die Bürger in eine grundlegende Quelle zur Beschaffung unabhängiger Informationen und für die Opposition zum wichtigsten Werkzeug im politischen Kampf. In Russland begann eine politische Internetrevolution heranzureifen, die vergleichbar war mit den Umwälzungen, die in Tunesien, in Ägypten und in einigen anderen autoritären Staaten stattfanden. Für gewöhnlich durchlaufen solche Revolutionen mehrere Etappen: Formierung eines Internetmilieus für den freien Austausch politischer Informationen; Auftreten unabhängiger Anführer (Kontereliten); Einrichtung alternativer Zentren der Einflussnahme im Netz; Organisation realer politischer Kampagnen, also Massenaktionen, Wahlen, revolutionäre Veranstaltungen mithilfe dieser Zentren. Die erste russische Internetrevolution zu Beginn des 21. Jahrhunderts durchlief alle diese Etappen, um dann zu scheitern.

Kaum einer registrierte zu Beginn der 2000er-Jahre ein, wie es damals schien, wenig bedeutsames Ereignis: Einige beliebte russische Internetakteure begannen Blogs auf einer kleinen amerikanischen Website namens LiveJournal zu führen, wo sich bis dahin vor allem englischsprachige Teenager getummelt hatten. Etliche Jahre später hatte sich die Website zum wichtigsten Ort einer freien russischen politischen Diskussion entwickelt. Ein großer Teil der nur irgendwie bedeutenden politischen Akteure von den Anführern der unabhängigen Opposition bis zum damaligen Präsidenten Medwedew begannen Blogs auf LiveJournal zu schreiben.

Die politische Internetrevolution in Russland begann genau dort, im LiveJournal, mit einer Kampagne gegen Korruption und Unterschlagung von Staatsgeldern. Sie weist Parallelen zur Tätigkeit der Muckraker – also wörtlich »Mistkratzer« – auf, wie man zu Beginn des 20. Jahrhunderts jene Reporter und Publizisten nannte, deren investigativer Journalismus in Sachen Vetternwirtschaft, Filz und Korruption tief greifende Veränderung im amerikanischen politischen Leben bewirkte, darunter auch die Ära des Progressivismus. In Russland hat hundert Jahre später eine ähnliche Bewegung begonnen. Die Korruption hier war nicht geringer, aber um die Meinungs- und Pressefreiheit war es sehr viel schlechter bestellt als in den USA. Die Enthüllungen der russischen »Muckraker« waren nur dank des Internets möglich. Kaum einer hätte gedacht, dass der kleine Jurist, der bescheidene Funktionär der Partei Jabloko (russisch für »Apfel«), Alexej Nawalny, einige Jahre später der erste Mann der russischen Opposition sein würde. Er begann damit, auf seinem Blog Enthüllungen über Korruption in großen, mit dem Staat verflochtenen Unternehmen und Banken zu veröffentlichen. Dann organisierte er Projekte, die im Internet die Zusammenarbeit im Kampf gegen bürokratische Willkür koordinierten.

Parallel dazu entwickelten sich weitere gegen Korruption gerichtete Initiativen der Opposition. Boris Nemzow veröffentlichte Berichte, die Machtmissbrauch in Putins Umfeld enthüllten. Das Internetprojekt Dissert.net entlarvte Beamte, die sich ihre Dissertationen erkauft hatten. Besonders erfolgreich wurde eine Kampagne von Internetaktivisten, die sich gegen die Nutzung von Spezialsignalen in Autos der russischen Elite richtete, die sich damit über die Verkehrsregeln hinwegsetzen konnten.

Die Materialien gegen die Korruption bereiteten den Boden für den Übergang des Protestes aus der virtuellen Welt in die reale. Der Machtmissbrauch während der Wahlen empörte die Menschen ganz besonders. Der Tropfen, der das Fass schließlich zum Überlaufen brachte, waren die Fälschungen bei der Wahl zur Staatsduma im Jahr 2011. Damals wurden in den sozialen Netzen Videoaufzeichnungen gezeigt, Scans von Dokumenten und Hinweise von Beobachtern, die zahlreiche grobe Fälschungen der Abstimmungsergebnisse bewiesen. Beliebte oppositionelle Blogger begannen im Netz zu Aktionen des zivilen Ungehorsams aufzurufen. Daraufhin gingen die Menschen auf die Straße. Putins Behörden waren demoralisiert und überrumpelt. Man begann, Demonstrationen gegen die Regierung zu gestatten. Zehntausende von Menschen nahmen daran teil. Es sah aus, als ob das Regime wankte.

Bald setzte sich für die gewaltige Serie oppositioneller Aktionen in Moskau, die alle mithilfe des Internets organisiert worden waren, die Bezeichnung Revolution mit dem »Weißen Band« durch, nach dem Symbol der Bewegung, das ihre Mitglieder demonstrativ an der Kleidung trugen. Damals löste im Netz Facebook LiveJournal als Schnittstelle, wo die Protestierenden ihre Aktionen absprachen, ab. Hier wurde agitiert, die Sprecher für die Kundgebungen wurden gewählt, Losungen und Strategien der Bewegung diskutiert.

Anders als andere autoritäre Länder, etwa China und der Iran, entschieden sich die russischen Behörden gegen die totale Beschränkung des Internets. Man beschloss, der Internetrevolution eine Internetmanipulation entgegenzusetzen. Kürzlich entdeckten Hacker, die in den E-Mail-Briefkasten eines Mitarbeiters der Präsidialadministration eingebrochen waren, die Spur von Firmen, die die Tätigkeit einer ganzen Armee bezahlter Internettrolle koordinierten. Diese Trolle hatten die Aufgabe, für Putin zu agitieren und die Opposition zu stigmatisieren. Das Know-how bestand darin, das politische Netz mit einer Vielzahl von Trollen zu fluten und es dabei so zu verschmutzen, dass die Menschen aufhörten, dem Netz als Informationsquelle zu vertrauen.

Dieser Trick der russischen Machthaber lief jedoch ins Leere. Und das konnte auch gar nicht anders sein, widersprach er doch dem auf Dialog basierten Wesen der Internetkultur. Im Zeitalter des postmodernen Fernsehens dachte man, dass sich niemand mehr für die Wahrheit interessiert; das Fernsehbild war wichtiger als die Realität, die Verpackung wichtiger als der Inhalt, das Image wichtiger als der Mensch. Die Schaffung eines weltweiten Netzes hat diese Situation von Grund auf verändert. Das Internet gab den Menschen die Möglichkeit der Wahl. Und postwendend zeigte sich, dass Menschen, die ihre Information selbst wählen können, sich nicht manipulieren lassen. Sie brauchen keine schönen Märchen, sondern objektive und wahrheitsgetreue Information über die Realität. Genau diese suchen sie nämlich vor allem im Internet. Es ist kein Wunder, dass die vorgetäuschten Internetwesen, Kreaturen der russischen Machthaber, keine ernsthafte Konkurrenz für die »Muckraker« darstellten, deren Popularität weiter wuchs.

Nachdem derartige Manipulationen nicht gewirkt hatten, blockierten die Behörden den Zugang zu einer Reihe oppositioneller Internetressourcen. Aber auch diese Methode erwies sich als höchst unwirksam. Die Nutzer lernten, wie man die Blockade leicht umgehen konnte. Wie die Redaktion der Seite »kasparow.ru« des bekannten Oppositionellen und ehemaligen Schachweltmeisters Garri Kasparow mitteilte, diente die Blockade stattdessen als ausgezeichnete Reklame für die Seite. Die Besuchszahlen verdoppelten sich unmittelbar nach Ergreifen der Maßnahme.

Folglich führte die Opposition all die vergangenen Jahre mithilfe des Internets ihren Kampf gegen die Machthaber. Die oppositionelle Minderheit, die ihre Informationen vor allem aus dem Netz bezog, wurde immer zahlreicher. Das Regime Putin verlor langsam, aber sicher die Unterstützung der Bevölkerung. Und da griff der Diktator zum ultimativen Mittel, um seine Popularität wiederherzustellen. Er zettelte einen »kleinen siegreichen Krieg« an. Als Folge der Eroberung der Krim und des Kriegs im Donbass erlitt die Opposition eine empfindliche Niederlage im Kampf um den Verstand der Bürger. Reflexartig wurden längst in den Tiefen der Vergangenheit vergraben geglaubte imperiale Stereotypen des russischen Kollektivbewusstseins reanimiert. Nicht allzu vielen Menschen gelang es, sich der allgegenwärtigen patriotischen Hysterie im Land zu entziehen. Die »Heimkehr« der Krim, die Erneuerung des Imperiums, der sowjetische Revanchismus erwiesen sich für die meisten Internetnutzer wichtiger als Korruption und Machtmissbrauch. Zum ersten Mal versagte eine über Jahre gültige Gesetzmäßigkeit: Je aktiver sich eine Community an der Internetkommunikation beteiligt, desto geringer ausgeprägt ist bei ihr die Unterstützung für die Politik der Machthaber. Jetzt gibt es in der aktivsten Internetcommunity (junge Leute und Bewohner der beiden Metropolen) mehr radikale Anhänger des putinschen neoimperialen Kurses als durchschnittlich im ganzen Land.

Allerdings sind die kriegerisch-patriotischen Manipulationen des Regimes trotz ihres zeitweisen Erfolgs zum Scheitern verurteilt. Durch den Krieg mit dem ukrainischen Nachbarn und dem damit verbundenen Konflikt mit der westlichen Welt sowie die Intervention in Syrien droht Russland eine Vielzahl langfristiger Probleme, die sich unvermeidlich und auf zerstörerische Weise auf das alltägliche Leben der Russen auswirken werden bzw. bereits auswirken. Die russischen Internetnutzer werden sich wieder ans Internet wenden, um herauszufinden, wer die Schuld trägt an ihren neuen Nöten. Und dann wird es möglicherweise zu einer zweiten, dieses Mal aber erfolgreichen politischen Internetrevolution in Russland kommen.

Putins Katastrophenspirale

Schon vor einigen Jahren warnten die Anführer der russischen Opposition vor dem unvermeidlichen Konflikt zwischen »Fernsehen und Kühlschrank«, also zweier einander entgegengesetzter Vektoren der Einflussnahme auf das russische Bewusstsein: auf der einen Seite die staatliche Propaganda, auf der anderen Seite der sinkende Lebensstandard. Mit Beginn der aktuellen wirtschaftlichen Krise wurde dieser Konflikt Wirklichkeit. Nach Informationen der Soziologen hat die Mehrheit der Russen bemerkt, dass der Wohlstand der Bevölkerung gesunken ist, und rund die Hälfte der Bürger spürt das am eigenen Leib. Nichtsdestotrotz leugnet das Fernsehen diese Tatsache bislang erfolgreich. Ungeachtet der radikalen Verschlechterung des sozialen Wohlbefindens der Russen, ist Putins Popularität unverändert hoch.

Das liegt daran, dass es den Machthabern gelungen ist, die Verantwortung für die Krise gewissen feindlichen äußeren Kräften zuzuschieben. Wie die Untersuchungen des Instituts für Soziologie der Russischen Akademie der Wissenschaften zeigten, glauben drei Viertel aller Russen, dass die größten Gefahren für ihr Land vom Ausland ausgehen (noch vor etwa sechs Jahren dachten weniger als ein Drittel so). Das Bild des äußeren Feindes, der uns nicht »in Ruhe leben lässt«, ist die wichtigste Verteidigungslinie der Machthaber im Kreml.

Aber es gibt Anhaltspunkte dafür, dass sich die Lage gegenwärtig ändert. Zum einen hat die Vertrauenswürdigkeit des Fernsehens im vergangenen Jahr gelitten, obwohl es nach wie vor die wichtigste Nachrichtenquelle für die überwältigende Mehrheit der Russen bleibt.

Zweitens sinkt auch der Lebensstandard weiter, was die Loyalität der Russen gegenüber der Machtelite stark schwächen könnte. Patriotismus ist schön und gut, aber das Hemd auf der Haut ist einem – wie es so schön heißt – in der Regel näher. Die große Mehrheit der Befragten ist selbst zum Preis einer Erstarkung der russischen Position auf internationaler Ebene nicht bereit, dafür materielle Abstriche zu machen – also etwa der Anhebung des Rentenalters, Steuererhöhungen, dem Einfrieren der Löhne und Renten zuzustimmen. Und dabei sind die jungen, sozial aktiven Mitbürger am wenigsten geneigt, ihren Wohlstand »hohen patriotischen Zielen« zu opfern.

Vermutlich wird sich diese Tendenz weiter fortsetzen. Der Kursverfall des Ölpreises und seine aggressive Außenpolitik lassen Russland keine Chance, seine wirtschaftliche Lage zu verbessern. Der Schwanz kann nicht ewig mit dem Hund wedeln. Früher oder später wird die Realität über ihr verzerrtes Abbild auf den Fernsehbildschirmen siegen.

Im Streit zwischen dem Fernsehen und der Wirklichkeit eines leeren Kühlschranks wird sich immer häufiger ein dritter Mitspieler einmischen: der Gummiknüppel. In dem Maß, wie die Wirksamkeit der Manipulationen nachlässt, wird die direkte und gewalttätige Unterdrückung von Protestaktionen an Bedeutung zunehmen. Ende 2015 wurden neue repressive Gesetze verabschiedet. So hat ein Mitarbeiter des FSB unter bestimmten Umständen jetzt sogar das Recht, auf Frauen und Kinder zu schießen. Die Liste der politischen Gefangenen verlängert sich wöchentlich um weitere Namen: von Demonstranten, Bloggern, oppositionellen Aktivisten. Wenn sich die wirtschaftliche Lage verschlechtert, werden sich die Repressionen verschärfen. In den Augen der Machthaber gelten die Mittelklasse und die städtische Unterschicht als problematische Bevölkerungsgruppen. Die Armen sind auch jetzt schon weniger loyal gegenüber dem regierenden System (90 Prozent der materiell gut situierten Bürger vertrauen dem Präsidenten, aber nur 55 Prozent jener, die schlecht abgesichert sind). Diese Zahl wird weiter steigen. Denn die Krise trifft die Unterschicht am härtesten. Die Armen können in den Bereichen Versorgung, Wohnen und Medikamente nicht einmal ihre Grundbedürfnisse befriedigen. In einer solchen Lage wird der Kühlschrank deutlich wichtiger als der Fernseher, der nur mit schönen Lügen gefüllt ist.

Die Mittelschicht verlor im Jahr 2015 viel, hielt sich aber dank ihrer Ersparnisse aus den fetten Öljahren einigermaßen über Wasser. Ein zweites Krisenjahr könnte – wie der Ökonom Wladislaw Schukowski kürzlich schrieb – die Mittelschicht »ans Messer liefern«.

In der nächsten Zeit wird sich all das möglicherweise noch nicht in ernst zu nehmenden Massenprotesten äußern. Wahrscheinlich sind vielmehr Protestaktionen der verschiedenen sozialen, berufsständischen und regionalen Gruppen, etwa der Fernfahrer, Grubenarbeiter oder der »kreativen Klasse« in Moskau.

Das beste Mittel, um einer massenhaften Unzufriedenheit prophylaktisch entgegenzuwirken, besteht darin, diese Unzufriedenheit auf ein äußeres Objekt zu lenken, auf einen Feind im Ausland. Noch vor Kurzem war die Ukraine ein derart großer Feind, jetzt übernimmt die Türkei diese Rolle. Die konfrontative Politik der putinschen Führung in den letzten Jahren zieht immer neue Länder in den Strudel der Auseinandersetzung mit Russland. Wobei jeder außenpolitische Konflikt augenblicklich instrumentalisiert wird, um auf die russische öffentliche Meinung einzuwirken.

Der Staat beauftragt die Medien, die Bevölkerung mit Hass gegen einen weiteren »blutrünstigen Gegner« zu infizieren.

Vor nicht allzu langer Zeit unterhielten Russland und die Türkei noch absolut freundschaftliche Beziehungen. Türkisches Business war in vielen Schlüsselsektoren der russischen Wirtschaft wie im Bausektor und der Automobilbranche vertreten. Die verhältnismäßig günstigen türkischen Waren wurden in der Bevölkerung gut nachgefragt. Ein großes gemeinsames Projekt in der Gaswirtschaft war in Planung. Die Türkei hatte bei der russischen Mittelschicht den Status des beliebtesten Urlaubsziels.

Und dann löst sich das alles in Staub auf, buchstäblich innerhalb von wenigen Wochen und als Folge der russischen Sanktionen gegen die Türkei, die Putin als Antwort auf den Abschuss eines russischen Militärflugzeugs durch die Türken im türkischen Luftraum verhängt hatte. In einer Situation, in der die russische Wirtschaft ohnehin schon unter den Beschränkungen durch die Sanktionen der westlichen Länder leidet, war es offensichtlich völlig absurd, sich von einem so wichtigen außenpolitischen Partner abzuwenden. Der Zusammenbruch der russisch-türkischen Kooperation trug den Russen vermutlich nicht weniger, sondern möglicherweise eher mehr Probleme ein als den Türken.

Wozu war dieses seltsame wirtschaftliche Eigentor nötig? Natürlich gibt es dafür auch irrationale Gründe: der imperiale Dünkel der russischen Führung.

Aber das ist nicht das Wichtigste. Das »türkische Gambit« Putins ist Teil seiner kalkulierten Politik, im eigenen Land die Atmosphäre einer besetzten Festung zu schaffen. Man könnte diese Politik auch Putins »Katastrophenspirale« nennen: Um die Wählerschaft von den wachsenden materiellen Problemen im Land abzulenken, sind die Machthaber gezwungen, immer neue außenpolitische Abenteuer zu unternehmen, die wiederum zu einer Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage führen, was seinerseits neue militärisch-patriotische Ablenkungsmanöver verlangt.

Die russische Führung ist zur Geisel dieser Gesetzmäßigkeit geworden. Wenn sie diese unterbricht, verliert sie die Unterstützung der Bevölkerung und wird mit der massenhaften Unzufriedenheit der Menschen konfrontiert werden, die nach Beendigung des patriotischen Hurrageschreis endlich wieder zur Besinnung kommen. Deshalb muss die Führung immer neue Abenteuer unternehmen.

Dabei ist es nicht sicher, dass die Türken das Feindobjekt bleiben. Vielleicht söhnt sich die russische Regierung damit aus, dass es ihr nicht gelingt, die Türkei in die Knie zu zwingen. Jeder kann ihr neuer Feind werden. Eine einzige Tat auf internationaler Ebene, die der putinschen Regierung nicht passt, und schon kann jedes beliebige Land zum von den Medien »patentierten« Feind Russlands werden. Wenn man die aktuelle Propaganda betrachtet, heißen die potenziellen Kandidaten Polen, die baltischen Staaten und überhaupt jeder Bündnispartner der USA, die ja überhaupt das größte Übel der Erde im Weltbild Putins sind (schließlich wollten die Türken, nach Putins Worten, ja eigentlich nur die »Amerikaner lecken«). Das Volk forderte schon im antiken Rom »Brot und Spiele« von der Macht. Als den Regierenden das Brot ausging, kauften sie den Plebs mit neuen Spielen. Die Wirtschaftslage ist in Russland derzeit angespannt. Da man nicht für den materiellen Wohlstand der Menschen sorgen kann, ist es nötig, immer wieder »Gladiatorenkämpfe« mit neuen »Feinden« zu veranstalten.

Putins »TV-Kolosseum« ist immer voller erhitzter Gemüter. Mal werden heldenhafte Traktorfahrer und Grubenarbeiter gezeigt, wie sie die gemeinen »Drecksukrainer« vermöbeln, mal russische Pilotenhelden, die feige Islamisten bombardieren. Zwar herrscht regelmäßig Verwirrung, wenn sich die »örtlichen« Traktorfahrer als burjatische Panzerfahrer herausstellen und die Islamisten als friedliche Einwohner, aber die überreizten Fans nehmen es mit solchen Kleinigkeiten nicht so genau. Die Politik der russischen Staatsmacht erinnert an die Tätigkeit von Taschendieben. Während der Staat die Taschen seiner Bürger von überflüssigem Kleingeld befreit, lenken die staatlichen Medien deren Aufmerksamkeit mit gefühlsduseligen Reportagen auf den nächsten »kleinen siegreichen Krieg«. Aber solche Manipulationen wirken nur kurze Zeit. Das Publikum ständig in Anspannung zu halten, seine Aufmerksamkeit von den wesentlichen Problemen abzulenken, ist schwer und kostspielig. Neben der Polizeiknute, die man benötigt, um sich der Loyalität der zusehends verarmenden Bevölkerung zu versichern, bedarf es noch eines ideologischen Zuckerbrots, das die Menschen motiviert, sich mit den temporären Problemen um einer zukünftigen Blüte willen auszusöhnen. Die UdSSR hatte eine solche Idee. Die Menschen waren bereit, im Hier und Jetzt Armut zu ertragen, weil sie auf die Glückseligkeit in der zukünftigen kommunistischen »Gartenstadt« setzten. Nicht lange nachdem dieser Glaube starb, war auch die UdSSR am Ende.

Putin hat kein attraktives Projekt von einem »besseren Leben« in petto, kein positives Zukunftsbild. Die Erhabenheit der Macht und andere hurrapatriotische Demagogie scheint den Menschen, den Umfragen zufolge, nicht allzu viel zu bedeuten. Sie wünschen sich vor allem ein gutes und stabiles Leben für ihre Familien.

Putins Regime kann sich der breiten Unterstützung durch die Bevölkerung weder mit rationalen noch mit ideologischen Argumenten versichern. Die einzige Möglichkeit, sich zu halten, besteht in immer neuen »militärischen Triumphen«. Die propagandistischen Ressourcen der Annexion der Krim sind bereits erschöpft. Auch von der syrisch-türkischen patriotischen Zuspitzung wird das Publikum bald genug haben. In diesem Spiel muss der Einsatz, die Dosis des propagandistischen Rauschgifts permanent erhöht werden. Aber für eine neue militärische Show hat Russland einfach nicht mehr die wirtschaftlichen Mittel. Mit der Zeit könnte Putin sich in der Rolle des Zauberers präsentieren und versuchen, den längst entflohenen Hasen unter dem Hut hervorzuziehen. Das Publikum, das von ihm Siege und Wunder erwartet, wird ihn zunächst verblüfft ansehen und ihn dann auspfeifen. Einen solchen Reinfall fürchtet Putin mehr als alles andere. Deshalb ist die russische Staatsmacht dazu verdammt, komme was wolle, auch in Zukunft den Weg eines Aggressors einzuschlagen, bis sie endlich eine schwere militärische Niederlage einstecken oder einen wirtschaftlichen Kollaps erleiden wird. Erst dann wird die Spirale der Aggression, die zur Katastrophe führt, durchbrochen werden: Putin verliert das Charisma des Siegers, die Eliten entzweien sich, und die Bevölkerung befreit sich von der hypnotischen Wirkung der Propaganda.

Die demokratische Alternative

Viele Europäer sind davon überzeugt, dass es keine Alternative zu Putin und seinem System gibt, dass genau dieses System und genau dieser Präsident für Russland die organischste Lösung sind. Paradoxerweise überschneiden sich hier die Position von »Russophobie« und »Putino-(Russo-)philie«.

Aber ganz so einfach ist es nicht. Tatsächlich hat sich das putinsche Regime aus einer der strategischen Linien der russischen Geschichte entwickelt, denn in den vergangenen Jahrhunderten existierten in Russland zwei einander entgegengesetzte historische Traditionen: die imperial-autoritäre und die demokratische. Das imperiale Projekt, das sich stets auf eine mächtige staatliche Bürokratie stützte – auf die zaristische (Autokratie), die sowjetische (Stalinismus) und die putinsche (aktuelles Russland) –, stand und steht einer einerseits liberalen (häufig passiven) Intelligenzija und andererseits den elementar anarchistisch gestimmten breiten Massen, der sozialen Unterschicht, gegenüber. Diese zweite, demokratische Tradition hat ebenfalls tiefe historische Wurzeln in Russland, wo sich die Intelligenzija traditionell in Opposition zu Diktatur und Rechtlosigkeit befindet und die breiten Massen (»Bauern und Arbeiter«) jede Art von Macht und Obrigkeit hassen.

Jedes erneute Scheitern der nächsten Entwicklungsstufe der imperialen Expansion endet immer mit der Aktivierung der demokratischen antiautoritären Stimmungen in der Gesellschaft (wie es auch nach der Niederlage im Krimkrieg und im Russisch-Japanischen Krieg sowie nach der Erfolglosigkeit im Ersten Weltkrieg und im Kalten Krieg der Fall war). Zwischen der liberalen Intelligenzija und der anarchistisch gestimmten Unterschicht entsteht ein Bündnis, das zweimal in der russischen Geschichte den Untergang einer Diktatur provozierte, im Februar 1917 und im August 1991.

Wenn das Bündnis zerfällt, führt das wiederum zur erneuten Ausbildung eines autoritären Regimes. Kurze demokratische Phasen enden für gewöhnlich mit der Erniedrigung der liberalen Intelligenzija, die den Rückhalt der Bevölkerung verloren hat, und mit der Wiedererrichtung der Herrschaft der Bürokratie. So war es nach 1917, als die Bolschewiken die demokratischen Traditionen der russischen Befreiungsbewegung ablehnten und sich in autoritäre bürokratische Imperialisten verwandelten. So geschah es nach Gorbatschows Perestroika, als sich unter Jelzin die Herrschaft der Oligarchen etablierte, die später von der Diktatur Putins abgelöst wurde.

Allerdings ist diese Diktatur nicht so stabil, wie es auf den ersten Blick aussieht. Sogar im Verlauf der Umfragen äußern die Menschen indirekt tiefes Unbehagen über die Situation im Land. In den Regionen herrscht eine ausgesprochen negative Stimmung gegenüber Moskau, außerdem regionaler »Patriotismus« und Hass auf die Moskauer föderale Bürokratie. Noch auffälliger ist der Wunsch der Menschen nach sozialer Gerechtigkeit, der Hass auf die Beamten und Oligarchen. Ein bedeutender Teil der Bevölkerung orientiert sich an linken, sozialen Werten, die die Machthaber offen vernachlässigen.

Den Menschen gefällt es nicht, dass ihre Rechte als Arbeitnehmer nicht geschützt werden, die Renten niedrig und die Sozialleistungen minimal sind, dass die Kluft zwischen dem Lebensstandard der großen Bevölkerungsmehrheit und den Superreichen gewaltig ist. Ferner ist die Einstellung gegenüber der Polizei höchst negativ. Vor einigen Jahren stilisierte man einige junge Leute, die im Fernen Osten einen Polizisten getötet hatten, in den sozialen Netzwerken regelrecht zu Helden und nannte sie »Primorsker Partisanen«.

In den letzten Jahren wuchs nicht nur die Unzufriedenheit der Bevölkerung, sondern es kam auch zu einer politischen Aktivierung der Intelligenzija und zur Konsolidierung der liberalen Gegeneliten. Wie bereits beschrieben, entwickelte sich die demokratische oppositionelle Bewegung, bekannt aus der Revolution mit dem »weißen Band«, zunächst gut. In dieser Lage beschlossen die erschrockenen Machthaber, diesen für sie so gefährlichen politischen Trend mithilfe des Kriegs in der Ukraine und der Annexion der Krim zu brechen. Die patriotische Hysterie überlagerte für eine gewisse Zeit die oppositionelle Stimmung.

So war es schon einige Male in Russlands Geschichte. Aber zum Unglück für die Staatsmacht entzündete sich nach den ersten militärischen Missgeschicken der Hass der Bevölkerung auf sie stets mit neuer Kraft.

Der zum Scheitern verurteilte Versuch, das imperiale Projekt zu reanimieren, kann zum Sieg der demokratischen Tradition führen, wie das schon einige Male in der Geschichte passiert ist. Aber ein solcher Sieg wird nur von Dauer sein, wenn es der liberalen Elite gelingt, ein Programm zu formulieren, das ihr den Rückhalt der sozial abgespaltenen Bevölkerungsmehrheit garantiert. Dazu muss das Bild eines zukünftigen postputinschen Russlands nicht nur den Hoffnungen der liberalen Intelligenzija entsprechen, sondern auch denen der »einfachen« Russen, die nach sozialer Gerechtigkeit streben und die brutale, korrupte Polizei, die käuflichen Bürokraten und die verfressenen Oligarchen hassen.