Ein Nerd zu sein ist fein:
Warum man normal nicht definierenkann und sich das wahre Leben in Entenhausen abspielt
Dass ich möglicherweise ein sonderbares Kind war, hat mir nie jemand gesagt – und ich selbst empfand das erst recht nicht so. Das, was ich in meiner Freizeit tat, stellte mich rundum zufrieden. Ich wurde trotz meiner körperlichen Unterlegenheit – ich war wie gesagt wirklich immer der Jüngste – und meiner für Außenstehende womöglich eher schrägen Vorlieben nie gehänselt. Natürlich interessierte sich auch niemand, den ich kannte, für Chemie- oder Physik-Kästen. Da ich auch niemanden damit behelligte, war es also uninteressant. Oder wie mein Kumpel Klaus Fehling später sagte: »Nerds sind Spezialisten für etwas, das sie ganz allein, ohne die Hilfe anderer, beherrschen können.«
In der Schule lief es fröhlich und friedlich ab. Ich war wie erwähnt Klassen- und Schülersprecher, und kein Mensch fragte mich dabei jemals nach naturwissenschaftlichen Dingen. Durch ihre lässige »Et is wie et is«-Einstellung förderten meine Eltern, dass ihr jüngerer Sohn gerne dicke Bücher las, in seinem Zimmer chemischen Experimenten nachging und ihn sportliche Dinge nicht interessierten. Hyperaktivität oder Helikopter-Eltern waren damals in unserem Umfeld unbekannte Ideen. Meine Eltern arbeiteten beide und hatten und haben bis heute ein echtes Leben.
Insgesamt würde ich sagen, dass in den siebziger Jahren ganz gute Bedingungen herrschten. Es gab Anschläge der Roten Armee Fraktion, später große Angst vor Atombomben, die letzten Ausläufer des Kalten Krieges und dergleichen. Aber alles in allem war die Welt in unserem Mikrokosmos im Kölner Süden in Ordnung. Wir Pflänzchen konnten so heranwachsen, dass trotz und wegen der Wachstumswendungen eine bunte Erfahrungswiese entstand.
Gut, ich habe mein Essen schon immer gerne in genau gleiche Stücke geschnitten, bevor ich es gegessen habe. Ich war von klein auf lichtscheu, und meine selbsttönende Brille trug ich noch nicht aus Mode-Gründen – sie war auch nie modisch, wie ich später erfahren habe –, sondern als Schutz gegen die Helligkeit. Auch Hitze machte mir schon immer zu schaffen, wenn auch früher deutlich mehr als mittlerweile, wo ich zwangsläufig beruflich in Ländern arbeiten muss, in denen es um die 30 Grad warm ist. Aber als Kind hätte ich auf lange und heiße Sommer jederzeit verzichten können, und ich war froh um jeden Tag, an dem es kühl und schattig war. Ich liebe bis heute graue Wetterlagen, Regen in jeder Form – auch in den Tropen – und die ewige Dunkelheit oder besser gesagt das ewige Grau im Winter in Nordeuropa.
»Jeder Jeck is’ anders«, sagten die Kölnerinnen und Kölner so oder ähnlich zu alldem. Andere Kommentare zu meinem Verhalten gab es nicht. Oder ich habe sie einfach nicht mitbekommen.
Nur bei einem Thema hatten zumindest meine Mutter und ich verschiedene Meinungen: neue Klamotten. Ich weigerte mich beharrlich, Schuhe, Pullis oder Hosen kaufen zu gehen. Dummerweise funktionierte das nicht unendlich lange. So kamen etwa meine Wanderschuhe, die ich sehr gerne mochte, weil sie sich ausgesprochen bequem anfühlten und noch dazu universell einsetzbar waren, irgendwann an die Grenze ihrer natürlichen Haltbarkeit: Die Sohle löste sich an einigen Stellen vom Rahmen ab, die Zunge war locker, und die Absätze waren abgelaufen. Das hinderte mich aber nicht daran, sie weiterhin zu tragen. Wofür hatten wir denn ein kleines Schustergeschäft direkt um die Ecke? Der Mann wollte ja auch von irgendetwas leben. Doch irgendwann weigerte er sich, wie berichtet, die Schuhe ein weiteres Mal zu reparieren.
Wenn man Schuhe noch richten kann, braucht man sich nicht auf die Suche nach einem anderen Modell zu machen, an das man sich erst gewöhnen muss. Ich verstand und verstehe bis heute den Nutzen neuer Kleidung nicht, wenn die alte noch gut ist. Pullover hatte ich schon damals nur wenige – sie engen mich zu sehr ein, und heute trage ich sie gar nicht mehr. Ich wollte und trug auch nur eine einzige Hose, die ich – wie meine Schuhe auch – so lange anzog, bis sie beim allerbesten Willen nicht mehr zusammenhielt. Am Ende ihres Daseins war jede meiner Jeans so zerrissen wie heute manchmal diese Designer-Teile mit »vorgealterten«, abgenutzten Stellen.
Dass meine Hosen Löcher haben, kann übrigens auch heute noch passieren, selbst wenn ich seit einem Jahr wegen der vielen Reisen zwei Hosen besitze. Seit ich erst in Berlin und dann in Regensburg mal im Winter in Unterhose im Waschsalon saß, habe ich verstanden, wo auch meine Grenzen sind. Von den Leuten im Waschsalon mal ganz abgesehen … Wenn ihr mich also mal mit verschlissener Kleidung seht, dann trage ich diese nicht aus modischen Gründen. Heute färbe ich alles ohnehin schwarz nach, sodass kein Mensch mehr kleine Risse oder Ähnliches sieht. Und Riesenlöcher dulde ich auch nicht mehr, weil es sonst im Intercity Express zu kalt wird. Das letzte Mal versuchte ich di e Rettung einer unrettbaren Hose bei einem griechischen Änderungsschneider in Köln-Nippes, wo ich während des Studiums wohnte.
»Leider nein«, sagte der sehr freundliche ältere Mann mit ernster Miene. Er hatte Sympathie für die damals in Nippes noch reichlich lebenden »sozial schwächeren« Menschen und damit auch für wiederhergestellte Kleidung. Der Tag war gekommen, und selbst er sagte: »Ich nähe dir ein Stück Stoff hinter das Loch. Es wird aber nicht lange halten, weil der Stoff ringsherum zu dünn ist. Magst du dir nicht mal eine neue Hose kaufen?«
»Nö, ich brauche keine. Ich hab’ doch die«, antwortete ich wie gewohnt und bat ihn, es wenigstens noch einmal zu versuchen, während ich warten würde. Aber dann kam wie beim Schuster auch bei ihm der Satz, der mir nicht gefiel: »Mark, es geht nicht mehr. Ich kann die Hose nicht mehr flicken. Du musst sie abschneiden und als kurze Hose verwenden oder wegwerfen.«
Meine Mutter war, als ich kleiner war, schon während ihrer vielen vergeblichen Versuche, mich zum Kleiderkauf zu überreden oder mir modische Dinge (violetter Jogging-Anzug!) zu schenken, gescheitert. Sie gab es irgendwann auf. Manchmal war es aber einfach sehr kalt, und so musste beispielsweise eine wärmere Jacke her. Weil meine Mutter das Unheil kommen sah, beauftragte sie meinen Schulfreund, der auch das Chemielabor mit mir eingerichtet hatte, mich bei diesem Vorhaben zu begleiten. Sie gab mir Geld und schickte uns zusammen los in die Innenstadt.
Als wir in der Schildergasse, Kölns und auch Deutschlands meistbesuchter Einkaufsstraße, ankamen, war ich überfordert. Ein Geschäft reihte sich an das andere, und überall gab es: Jacken. Es war mir ein Rätsel, wie ich bei dieser gigantischen Auswahl ein passendes Teil für mich finden sollte. Ich versuchte, mich zu orientieren, so gut es ging, sah mir hier und dort ein paar Jacken an – und kam nicht weiter.
»Wie wäre es mit der?«, sagte mein Kumpel immer wieder.
»Nee, echt nicht«, antwortete ich und ging einfach weiter.
»Und die?«
»Die finde ich auch doof.«
»Und die?«
»Ich weiß nicht. Eher nicht.«
So ging das wirklich stundenlang. Am Ende hatten wir gefühlt hunderttausend Jacken angeschaut, die ich allesamt komisch fand. Nach einem halben Shoppingtag in der City fand ich doch noch eine Jacke, mit der ich mich anfreunden konnte, eine Art blauer Parka »ohne alles«.
»Ich glaub’, ich nehm die«, sagte ich und hielt meinem unfreiwilligen Einkaufsberater den einfarbigen Altherrenblouson mit einem komplett geraden Schnitt, Gummibündchen und ohne Verzierungen hin. Es war eine Jacke, die so altmodisch war, dass sie, zu Hause angekommen, selbst mein Vater zu langweilig fand.
Zugegeben, dieses Teil hätten wir vermutlich auch schon nach drei oder vier Minuten von einem x-beliebigen Kleiderständer nehmen und kaufen können. Aber es dauerte leider etwas länger, bis ich so weit war.
»Ich mache das nie wieder«, sagte mein entnervter Kumpel zu meiner Mutter, nachdem wir wieder bei uns zu Hause angekommen waren – obwohl er mich wirklich sehr mochte. Erst viele Jahre später habe ich verstanden, dass es für andere anstrengend sein kann, meine offenbar seltsamen Vorlieben mitzuerleben. Meine Frau sucht beispielsweise niemals in Restaurants den Platz aus. Sie denkt, dass ich genau diesen Platz ohnehin nicht annehmen werde. Das stimmt meistens auch. Es ist kompliziert! So habe ich beispielsweise das Restaurant gerne im Blick, aber nicht, wenn ich angestarrt werde. Ich sitze nicht gerne auf einer Polsterbank, weil sich die Höhe dort durch das Einsinken des Polsters oft ändert und man nicht genau weiß, wo die Sitzfläche seitlich anfängt oder aufhört. Und so weiter. Wie auch immer, mein Kumpel und ich gingen tatsächlich nie mehr zusammen einkaufen.
Das alles hat sich bis heute nur wenig geändert. Noch immer besitze ich sehr wenige Kleidungsstücke, weil ich keinen Sinn darin erkennen kann, einen vollen Schrank zu haben: Was bringen einem verschiedene T-Shirts in verschiedenen Farben? Viel praktischer finde ich es dagegen, wenn ich mir keinerlei Gedanken machen muss, was ich nach dem Aufstehen anziehe. Es sieht zum Glück eh alles gleich aus. Dazu kommt, dass ich Marken keine Bedeutung beimesse. Auch, ob die Sachen zusammenpassen – Wanderschuhe sind bis heute ein großer Stein des Anstoßes –, entscheidet vor allem deren Funktion und nicht deren Aussehen. Während meiner Doktorarbeit hatte ich wie gesagt noch, weil ich Socken nie zusammenlegte – wozu auch? –, oft verschiedenfarbige Socken an. Ich war erstaunt, dass so etwas Bemerkungen erzeugt. Heute verwende ich immer die gleichen Sockenpaare, eine Sorte für den Sommer, eine Sorte für den Winter. Auf diese Weise vermeide ich es, links vielleicht einen blauen und rechts einen grauen Strumpf zu tragen, weil ich nicht aufgepasst hatte. Nur auf einer Dienstreise nach Edinburgh musste ich mir mal mangels Alternative notgedrungen ein Paar bunte Wintersocken kaufen, weil es dort sehr kalt war und mein unifarbenes Hausmodell nicht warm genug. Aber das war echt die Ausnahme! Ich habe diese Socken dann zu Hause einfach verschenkt.
Abgesehen davon gehört mir ein weißes Hemd mit lauter Tieren drauf, das ich mir aus einer Laune heraus in einem kleinen Berliner Laden gekauft habe. Und für den Kölner Christopher-Street-Day habe ich mir die herrlich synthetische, von Nicki Minaj designte rosa Einhorn-Jacke aus Kunstfell gekauft, die es mal bei H&M gab. Ach so, und für die PARTEI, deren Vorsitzender ich in Nordrhein-Westfalen bin, habe ich mir für dienstliche Auftritte einen Hochzeitsanzug aus grauem Polyester gekauft. Das war es aber dann schon an modischen Besonderheiten. Der Rest meiner Klamotten ist unifarben schwarz. Ich besitze schwarze Jeans, schwarze Hemden, schwarze T-Shirts und schwarze Socken, und weil das immer ganz prima miteinander harmoniert, passen meine zwei schwarzen Jacken und zwei schwarze Gothic-Mäntel auch dazu. Die einzigen Ausnahmen neben dem erwähnten Tierhemd und dem Einhornteil sind unsere weißen Arbeitskittel im Labor.
Man sieht: Was andere Menschen über mein Äußeres dachten, kam bei mir früher vermutlich gar nicht erst an. Während meiner Doktorarbeit rannte ich vorwiegend im selbst verlängerten Arbeitskittel über irgendwelchen wahllos zusammengekauften, schwarzen Heavy-MetalT-Shirts und Sandalen durch das Institut. Die Sandalen waren ausgelatscht, und mein weißer Kittel reichte bis zum Boden, weil es unpraktisch war, dass die üblichen Kittel im Kniebereich aufhörten.
Was ich stattdessen konnte: mich in Sachverhalte sehr tief versenken, auch wenn sie für andere ermüdend und eintönig sind. Das fing offenbar schon in meiner Kindheit an, da meine Großeltern berichteten, dass ich öfter Tiere eingesammelt und mitgebracht habe, während andere miteinander spielten. Mein Mitautor an diesem Buch ist auch fest davon überzeugt, dass kein anderer Teenager freiwillig Chemiebücher in der Buchhandlung gelesen hat und Formelgleichungen für etwas ganz Normales hielt. Ob das stimmt oder ob die anderen Menschen mit Spezial-Interessen einfach unauffällig sind, weiß ich nicht. Ich vertiefe mich jedenfalls sehr gerne und sehr tief und frage mich nicht, ob etwas beliebt ist oder nicht. Das hat sich nie geändert. Messbare Tatsachen sind messbare Tatsachen.
Dazu ein Beispiel: Während meines Biologiestudiums lief bei uns im Zoologie-Kurs der damals allgemein bekannte Witz über das »Liebesleben der Weinbergschnecken« um. Schneckensex galt als Sinnbild für eine abstruse und tödlich langweilige Beschäftigung. Ich nahm es aber mal wieder wörtlich und fragte mich, was ganz genau am Liebesleben dieser schönen Tiere eigentlich so langweilig sein sollte. Also schaute ich es mir näher an. Und fand es bemerkenswert spannend.
Es gab nur wenige ausführliche Studien dazu. Das meiste erzählten unsere Kursleiter und -leiterinnen in der Zoologie mit einem Schmunzeln, und es war klar, dass selbst sie es für ein einschläferndes Randgruppenthema hielten. Ich staunte, denn immerhin war die Spezialisten- und Spezialistinnendichte für egal welches Sonderthema in den Naturwissenschaften seit jeher besonders hoch. Doch weit gefehlt – der Geschlechtsverkehr der Schnecken war außen vor.
Wie sich zeigte, besitzt Helix pomatia – so heißen diese Weinbergschnecken wissenschaftlich – einen Liebespfeil, den die Tiere sich beim Paarungsakt gegenseitig in den Fuß schießen. Die hohlen Pfeile gehören zum Geschlechtsapparat der Schnecken und liegen in einem Pfeilsack. Bei der Begattung wird der Pfeil von der muskulösen Wand dieses Pfeilsackes hervorgeschoben und dem Partner beziehungsweise der Partnerin – die Tiere sind Zwitter – wie eine Lanze in den Fuß gestoßen. Dort löst sich ein hormonhaltiger Stoff ab, der festlegt, wer Männchen und wer Weibchen ist. Das ist für die sich paarenden Tiere kniffelig, denn es kann einiges schiefgehen: Der Pfeil kann abbrechen oder das Gegenüber an der falschen Stelle treffen, was unangenehme Folgen haben kann. Es sind schon Liebespfeile aus Versehen im Kopf einer anderen Schnecke gelandet mit der Folge, dass sich danach einer oder beide Fühler nicht mehr bewegen ließen – für eine Weinbergschnecke das sichere Todesurteil, weil sie sich dann nicht mehr in ihrer Umgebung orientieren kann und ein leichtes Fressen für Vögel oder Kröten wird.
Ich stürzte mich in die Sache und führte Experimente durch, um herauszufinden, was ich in den Veröffentlichungen nicht fand. Ein Kollege sammelte entlang der Donau 60 schöne Weinbergschnecken ein, die ich in einem großen Glasterrarium hielt. Als sie starben, vermaß ich insgesamt 37 ihrer Liebespfeile, denn es erstaunte mich, dass diese wirklich bis zu zwei Zentimeter lang werden konnten. So stand es zumindest in einem Lehrbuch. Bei meinen Schnecken kam ich im Schnitt auf 8 Millimeter bzw. auf 11,2 Millimeter beim größten Exemplar.
Vor allem wollte ich wissen, aus welchem Material die Pfeile bestanden. Dazu gab es gar keine oder bestenfalls wie geraten wirkende Angaben. Also bat ich die Kolleginnen und Kollegen des Instituts für Kalk- und Mörtelforschung ( ja, das gibt es wirklich), die Pfeile zu untersuchen. Warum sie dazu ja gesagt haben, weiß ich nicht, aber mithilfe eines der teuersten Zerlegungsgeräte, die ich bis dahin gesehen hatte, fanden sie heraus, dass es sich um Aragonit handelte und nicht um Conchin, wie bis dahin gelegentlich behauptet wurde. Es steckte so viel Wissenswertes im »Liebesleben der Weinbergschnecken« – wenn das nicht interessant war, dann wusste ich auch nicht! Aber das sah keiner meiner Mitstudierenden so. Wie schon in der Schule bemerkte ich, dass es für alle viel angenehmer war, wenn ich keine Einzelheiten erzählte. Wer fragt, bekommt eine Antwort. Wer nicht fragt, mit dem rede über das, was die betreffende Person gerade bewegt.
Das Ganze beruht wie bei den von mir sehr verehrten X-Men darauf, dass zu jeder Superstärke – bei mir: Liebe zum Detail – auch eine Superschwäche gehört. Die Figur Rogue kann beispielsweise die Eigenschaften anderer durch Berührung übernehmen, entzieht ihnen dabei aber Lebenskraft. Meine Superschwäche liegt darin, dass ich schon als Kind keine sozialen Zusammenhänge erkennen konnte. Das fiel zwar nicht stark auf, aber ich begab mich wie mein Bruder möglichst nicht in Situationen, in denen viele Emotionen im Spiel waren. Ich beschäftigte mich beispielsweise nur sachlich damit, wie andere Menschen zusammengehörten oder warum und aufgrund welcher Bedingungen sie aufeinander standen. Das erlaubte immerhin ganz gute Vorhersagen dazu, wie lange die Beziehungen anderer Personen halten würden. Meine Beziehungen beruhen auf sachlichen Dingen wie der Anzahl der Gemeinsamkeiten, während andere Menschen so etwas blumiger und über Gefühle ableiten. Beides funktioniert !
Es fällt mir auch schwer, die Bewegungen oder Gesichtsausdrücke anderer zu deuten. Ich muss sie regelrecht auswendig lernen. Das betrifft das wahre Leben genauso wie Kinofilme. Die sachlichen Abläufe wie in Blade Runner konnte ich beschreiben, aber einen einfachen Liebesfilm begriff ich nicht, sobald mehr als drei Personen beteiligt waren. Noch heute muss mir meine Frau selbst bei kindgerecht gehaltenen Zeichentrickstreifen wie Alles steht Kopf erklären, wer was mit wem zu tun hat. Sie hat zwar dasselbe Problem wie ich, kennt aber die Bausteine besser und kann sie leichter zusammenpuzzeln.
Der Vorteil an meiner Superschwäche ist, dass ich fast alle Filme drei- oder viermal ansehen kann und immer noch etwas Neues darin entdecke, das alle anderen schon beim ersten Mal verstanden haben. Was ich nicht kann, ist, einen gefühlsmäßig sinnvollen Handlungsstrang aus einem Kinofilm nachzuerzählen. Meine Frau lacht mich regelmäßig aus, weil ich Filme entweder »gut« oder »weniger gut« finde, aber nicht mehr zum Feingewebe der Handlung sagen kann.
Wenn ich früher mal ein Mädchen kennenlernte, dann war es folglich deshalb, weil wir gemeinsamen Interessen nachgingen. Verliebtheit ist, rein wissenschaftlich betrachtet, nichts anderes als eine Mikro-Psychose, was mittlerweile auch in schönen Tests mit Studierenden nachgewiesen wurde. Diese gedankliche Einengung auf eine Person ist zwingend und kulturübergreifend, sonst gäbe es ja keine Nachkommen und damit keine Menschen mehr.
Anstatt das große Ganze und eben das Emotionale zu sehen, erkenne ich also eher die Details – und zwar gefühlsvermindert oder -verschoben, neutral und neugierig. Zumindest schildern mir viele, dass sie anders als ich ticken. Der Rest ist eine Gleichung: Da die meisten Menschen anders ticken, handelt es sich also bei mir um eine Besonderheit. Es fühlt sich für mich aber, das ist mir wichtig, nicht so an. Ich fühle mich völlig normal und durchschnittlich.
Für meine Arbeit ist die Liebe zum Detail natürlich ein Segen. Es ist auch eine Eigenschaft, die man nicht lernen kann. Zumindest zeigt mir das die jahrelange Erfahrung mit meinen Studierenden: Manche wollen sich etwas beweisen und strengen sich enorm an, Tatorte genauso nüchtern und unbefangen zu betrachten wie mein Team und ich. Aber das klappt meist nicht. Denn wer gefühlsmäßige Höhen und Tiefen hat, der wird in einem Spuren-Fall ganz schnell einen traurigen Fall sehen. Doch das ist eine gefühlsmäßige Bewertung, und die ist nicht unser Job. Ein bekanntes Gedankenbild dazu ist, dass ein Höllenschlund irgendwann zurückschaut, wenn man hineinstarrt. Das stimmt für Menschen mit der unverschobenen Gefühlsausstattung bestimmt. Zumindest habe ich bis heute noch kaum jemanden erlebt, der bei einem Fall kein Abenteuer erleben, sondern einfach in meine todlangweiligen Fußstapfen treten will. Das liegt nicht an der geringen Bezahlung und den langen Arbeitszeiten, sondern daran, dass sich Fälle aus der Ferne immer spannend anhören. Vor Ort schlägt einem dann aber das besagte Höllenfeuer ins Gesicht, genauer gesagt, in die Gefühlsbereiche des Gehirns. Oder es ist langweilig, weil es nur um Krümelchen geht. Oder beides.
Nehmen wir mal als Beispiel die »Body Farm«, die eigentlich »Anthropological Research Facility« heißt, also »Menschenkörperkundliche Forschungseinrichtung«. Durch viele Berichte, die über die »Body Farm« verfasst oder gedreht wurden, kennen inzwischen viele an Kriminalistik Interessierte das Gelände und verbinden damit eine persönliche Vorstellung. Da geht es dann manchmal um Szenen, wie man sie vielleicht aus Horrorfilmen kennt, um Nervenkitzel und den Blick durchs Schlüsselloch in eine fremde Welt. Für mich geht es dort um etwas anderes: Fäulnisversuche und daraus abgeleitetes Wissen für unsere Arbeit. Und um sonst nichts.
An sich ist das Gelände ein ganz unspektakuläres Freigelände der Universität von Tennessee in der Nähe der Klinik von Knoxville. Es ist größer, als man denkt, und war bis vor ein paar Jahrzehnten lediglich ein Teil der örtlichen Mülldeponie. Dann kam Bill Bass, ein auffallend freundlicher Wissenschaftler. Eigentlich wollte er Psychologe werden, aber während des Studiums in den fünfziger Jahren belegte er einen Kurs in Menschen- und Knochenkunde. Dabei nahm er aushilfsweise für fünf Dollar Aufwandsentschädigung an der Identifizierung einer bis zur Unkenntlichkeit verbrannten Frauenleiche teil. Das zog ihn so in den Bann, dass er das Studienfach wechselte. Nach dem Abschluss und seiner Doktorarbeit arbeitete er zunächst an der University of Kansas. Später wurde er dann Chef des anthropologischen Instituts in Tennessee, wozu heute auch die »Body Farm« gehört. Dort befasste er sich wie viele Anthropologen und Anthropologinnen vorwiegend mit Knochen, die er und seine Kollegen in allen Teilen der USA gefunden hatten. Er führte Ausgrabungen an den trockenen »Großen Ebenen« durch und förderte die Überreste amerikanischer Ureinwohner zutage.
Doch seit der Untersuchung der verbrannten Frau hatte ihn die Aufklärung von Kriminalfällen nicht mehr losgelassen. Also hatte er 1971 eine Idee, wie er sein knochenlastiges Forschungsgebiet und die Forensik zusammenbringen konnte: Er funktionierte das inzwischen ausrangierte Müllgelände zu einem Freiluftlabor um und ließ dort menschliche Körper unter Beobachtung verwesen. Es gab zwar schon Verwesungsversuche mit toten Schweinen und Berichte über ausgegrabene Leichen von Friedhöfen. Aber die reihenweise, gut aufgezeichnete und untersuchte Verwesung von Menschen hatte zuvor noch niemand durchgeführt. Es galt als zu gruselig und abwegig. Bis heute ist es innerhalb einer Universität fast unmöglich, ein derart angewandtes und doch so fremd wirkendes Vorhaben anzusprechen. Doch Bass setzte sich mit Verhandlungskunst und der schon erwähnten großen Freundlichkeit durch. Heute liegen auf der »Body Farm« ganzjährig Dutzende Leichen freiwilliger Spender und Spenderinnen.
Zum ersten Mal war ich im März 2002 auf der »Body Farm«. Ich flog aus Deutschland nach Knoxville – zusammen mit einem Fernsehteam, das eine Reportage über das »Leichengelände« oder den »Wald des Todes« drehen wollte. Dafür wünschte sich das Team ein bisschen fachkundige Begleitung. Gerade Reporterinnen und Reporter sind üblicherweise viel gewohnt, aber ich merkte schon, dass das Team nicht ganz sicher war, wie die vielen Leichen wohl wirken würden.
Überraschender als die Leichen war, dass die gesamte Einrichtung recht heruntergekommen wirkte. Das fing schon mit der Verwaltung und den normalen Labors an. Das Büro der »Body Farm« befindet sich in unter der Erde liegenden, alten Umkleideräumen des Baseballstadions, in dem an jedem Wochenende rund 60.000 Fans dem Uni-Team zujubeln. Als wir dann zum eigentlichen Gelände fuhren, sahen wir nicht etwa eine videoüberwachte Hightech-Anlage mit Stacheldraht und Scheinwerfern, die Serien-Fans vielleicht erwarten würden, sondern einen glanzlosen, gut über Kopfhöhe reichenden Holzzaun. Auf der Innenseite stand damals noch ein altes Hinweisschild, das der inzwischen im Ruhestand befindliche Bill Bass ursprünglich außen hatte aufhängen lassen. Darauf war seine Telefonnummer – für den Fall, dass jemand ein dringendes Anliegen hatte oder eine Beschwerde loswerden wollte. Das waren anfangs vor allem Sorgen über Fliegen auf dem benachbarten Parkplatz. Seit der Einrichtung der »Body Farm« fürchteten die dort Parkenden nämlich, dass alle Fliegen von Leichen stammten. Zwar sind Leichen weder giftig, noch übertragen Fliegen viele Erreger, aber die Gefühle der Parkenden waren hin und wieder stärker als die von Bill Bass vermittelten Tatsachen.
Es ist in Tennessee im Vergleich zu Deutschland länger heiß, weshalb manche Leichen zum Schutz vor Austrocknung abgedeckt oder in den Schatten gebracht worden waren. Als ich die erste Abdeckung anhob, staunte ich: Nicht wegen der vielen Fliegen, die mir gleich aufgescheucht entgegengebrummt kamen, sondern wegen der Tatsache, dass sie die große Hitze vertrugen. Die nächste Leiche war in erstaunlich gutem Zustand, weil sie voller Konservierungsmittel war, welche die aus deutscher Sicht übereifrigen Bestatterinnen und Bestatter dort oft in die Leichen spritzen. Abgesehen von solchen Formaldehyd-Leichen verwesten damals rund 35 andere Körper dort. Sie lagen auf dem Bauch im Gras oder auf Holzgestellen, unter Betonplatten oder waren flach begraben. Letzteres sollte Verscharrungen nachstellen, wie sie manche Täter und Täterinnen in Zeitnot, aus Angst oder Faulheit durchführen. Die Lagerung der Leichen hat vorwiegend wissenschaftliche Gründe, aber manchmal entsprach sie auch dem Wunsch eines nun toten Körperspenders .
Die Kollegen und Kolleginnen benötigen allerdings ständig neue Leichen, da die Körper bei schwülheißem Wetter durch Fliegenlarven und Bakterien schon binnen zweier Wochen nahezu komplett skelettieren können. Es kann je nach Lagerung und Temperatur aber auch viel länger dauern. Faustregeln gibt es dazu nicht, nur Einzelfälle.
Was mir besonders gefiel, war die Ruhe, die über dem ganzen Gelände liegt. Es gibt Vögel, und das Wasser des Tennessee River läuft nördlich an der »Body Farm« entlang. Das waren gute Bedingungen für ungestörtes Arbeiten. Ich war in meinem Element. Ich durchstreifte das Gebiet auch später gerne, weil es, auch schon vor seiner Ausweitung, einen kleinen Hügel gab, eine eher trockene und eine bewaldetere Seite – also lauter verschiedene Zonen, die unterschiedliche Bedingungen für die Leichenzersetzung boten. Manche Körper lagen offen herum, andere befanden sich zum Schutz vor Wildtieren wie Waschbären in selbst gebauten Käfigen. Einige Leichen waren wie erwähnt im Boden oder unter Betonplatten eingegraben, und wiederum andere waren mit Laub bedeckt, um unterschiedliche Lagerungsbedingungen nachstellen und untersuchen zu können. Auch wenn ich schon oft an Leichen gearbeitet hatte, war die Vielseitigkeit dieser eigentlich ganz schlichten Anlage außergewöhnlich und großartig.
Während die Leute vom Fernsehen mit gemischten Gefühlen den Beitrag drehten, sammelte ich – damals mit Bill Bass’ Nachfolger Murray Marks, der sich für Insekten nicht weiter interessierte – gleich die ersten Tiere ein. Uns allen war klar, dass man anhand der Insekten die Liegezeit viel besser bestimmen kann als durch den Zersetzungszustand der Leichen. Wir müssen die Hinweise bloß nutzen, welche uns die Insekten geben: Welches Tier in welchem Stadium ist das? Wie viele Generationen von Tieren waren vorher da? Wurde die Leiche umgelagert, also beispielsweise von einem Täter oder einer Täterin erst in eine Tonne gesteckt und dann vergraben? Welche Tiere leben eher in einer Tonne und welche in einem flachen Grab an einer Leiche? Zum Glück hatte ich einige Schnappdeckelgläschen mitgenommen, in denen ich die Tiere mit dazugepackten Zetteln in Alkohol aufbewahren konnte. Das war wirklich traumhaft.
Nach einigen wegen der Hitze für mich ziemlich anstrengenden Drehtagen hatte das Team alle Einstellungen im Kasten und ich ein paar Proben im Gläschen. Blöderweise hatte ich außer Acht gelassen, dass ich meine schönen Mitbringsel auch irgendwie wieder nach Hause bringen musste. Zwar gab es seinerzeit noch nicht das strenge Verbot, Flüssigkeiten aller Art mit ins Flugzeug zu nehmen. In Alkohol eingelegte Maden und Fliegen waren aber garantiert trotzdem nicht erlaubt – schließlich brennt Alkohol. In den Koffer wollte ich die Proben auf keinen Fall legen, da Gläser beim Herumwerfen des Gepäcks leicht brechen oder sich die Deckel ablösen. Das hatte ich beim Laboraufbau auf den Philippinen eindrucksvoll gelernt, als ich ein Tintenfässchen aus Glas ins Gepäck gesteckt hatte. Es hatte sich durch das Geruckel im Koffer geöffnet und seinen schwarzen Inhalt in meinen neuen Tropenanzug ergossen.
Ich packte die Gläschen diesmal also in die Seitentasche meiner Jacke. Abgesehen davon machte ich mir keine Gedanken über mögliche weitere Schwierigkeiten – die zweite, nun schon gute bekannte Superschwäche von mir. Am Flughafen von Atlanta, auf dem wir heimwärts umsteigen mussten, wurde ich dann prompt von einem ziemlich alten Sicherheitsbeamten kontrolliert .
»What is that?«, fragte er mich mit einer Ruhe, die nur erfahrene Soldaten, Soldatinnen, Psychiater oder Psychiaterinnen im Angesicht seltsamer Ereignisse verströmen.
»Oh – this is … that is …«, sagte ich und wusste nicht, was ich antworten sollte. Vermutlich hätte die Wahrheit, nämlich dass es sich um Fliegen handelte, die ich von toten Menschen sichergestellt hatte, Schwierigkeiten gemacht. Ich wollte auch nicht noch einmal darauf hoffen, dass ein Beamter Fan von Forensikfilmen und -kursen sein könnte, was mir am Flughafen Newark den Job gerettet hatte. Später lernte ich noch oft, dass bessere Vorbereitung hilft. So wurde ich beim nächsten Check auf dem Weg zur »Body Farm« – es war ein Training für das FBI – gefragt, wo ich eigentlich schlafen wolle. Ich wusste es nicht, denn das hatten ja die Kolleginnen und Kollegen für mich organisiert. Doch ein allein reisender, jüngerer Mann mit schwarzen Haaren, der angeblich als Trainer zum FBI-Training auf die »Body Farm« fliegt und nicht weiß, wo er dort schläft – das wirkte nicht genügend glaubwürdig und brachte mir erneut ein Stündchen in Warteposition ein. Zum Glück hatte ich ein Buch dabei.
Doch zurück zu unserem älteren Ex-Soldaten am Flughafen Atlanta.
»Is it medicine?«, fragte mich der Mann in diesem Moment. Ich nickte verblüfft.
»Okay« – und zack, war ich durch.
Ich glaube heute, dass der Mann vielleicht im Krieg in Deutschland stationiert war und dort gute Erfahrungen mit German Fräuleins, vielleicht in Bayern oder Hessen, gemacht hatte, und er wollte daher einfach nett zu mir sein. Ich werde nie erfahren, ob das so war oder er vielleicht selber Medikamente kannte, die in ähnlichen Gläschen verkauft wurden .
Wir flogen also zurück nach Deutschland, und ich freute mich wie ein Kind darauf, meine kleinen Reisebegleiter einerseits unter dem Vergrößerungsgerät näher begutachten und andererseits den Studierenden als kleine Rätsel zeigen zu können. Überall auf der Welt leben ja verschiedene Tiere auf Leichen.
»Wenn ihr jemanden braucht, könnt ihr mich ja mal anfunken«, hatte ich meinen amerikanischen Kollegen zum Abschied noch zugerufen – und nicht geahnt, dass sie schon bald darauf zurückkommen würden.
Einige Zeit später erhielt ich tatsächlich eine E-Mail aus Tennessee. Man teilte mir mit, dass die Verantwortlichen der »Body Farm« vor Ort einen Kurs für Ermittlerinnen und Ermittler des FBI halten wollten, wozu Trainer aus vielen kriminalistischen Feldern benötigt wurden. Für die Insekten auf Leichen sollte ich zuständig sein. Neben den in Grabungstechniken fitten Studierenden aus Tennessee war ein Knochen- und ein Zahnkundler für menschliche Gebisse mit dabei, ein Tiergebiss-Spezialist – Wirbeltiere erzeugen Fress-Scharten an Knochen –, ein Gesteinskundler und Murray Marks, der Chef der Außen-Anlage. Vorher wurden Leichen verbuddelt, die wir dann im Kurs gemeinsam Schicht für Schicht ausgruben und untersuchten. Wir hatten unsererseits ebenfalls Anschauungsmaterial aus unseren Fachgebieten mitgebracht: Zähne, in Ruanda eingeschlagene Schädel, Federstahl-Pinzetten und so weiter. Dieses gemeinsame Arbeiten vor Ort fand ich total cool.
Bei unserer Arbeit muss man vor allem ausblenden, was die meisten Menschen vermutlich nicht ausblenden können, wenn sie einen Ort wie die »Anthropological Research Facility« oder den Schauplatz eines Verbrechens betreten. Ich hingegen kann wie meine Kollegen und Kolleginnen auch in die Hölle hineinspazieren, während andere Menschen schon ein paar Kilometer vorher zu viel von der schon erwähnten Hitze abbekommen haben. Auf der »Body Farm« kommen zwischendurch sogar erfahrene Ermittler an ihre Grenzen, wenn sie – wie zum Beispiel bei unserem oben beschriebenen Training – Gräber mit nahezu bloßen Händen ausheben müssen, um die in die Erde eingestreuten Spuren nicht zu zerstören.
Ich verstehe, dass ein Park, in dem alle paar Meter eine Leiche liegt, zunächst einmal eine merkwürdig anziehende Wirkung ausüben mag. Oder dass es Leuten schlecht werden würde, sähen sie einen dunkelvioletten Leichnam, dessen Gesicht gerade von der Natur zurückerobert wird. Für mich aber ist das weder schillernd faszinierend noch ekelhaft, sondern eine riesige Spielwiese, auf der ich mein Wissen ganz praktisch anwenden und erweitern darf. Verwesung ist genauso wirklich und wahr wie Blumenwiesen, Vogelgezwitscher und ein strahlendes Kinderlächeln. Ich mag das alles. Nur kann ich eben auch im spurenkundlichen und seelischen Dunkel noch sehen, weil ich davor keine Angst habe.
Hinzu kommt: Wenn ich ein Detail betrachte, bekomme ich um mich herum kaum noch etwas mit. Ich bin dann ganz allein mit mir und meinen Beobachtungen, die ich mache. Und die müssen nichts mit Leichen zu tun haben: Es kam auch schon mal vor, dass ich die Aufnahme für meine seit nun fast zwanzig Jahren jeden Samstagmorgen live stattfindende Radiosendung nur deshalb durchführen konnte, weil ich nicht bemerkt habe, dass während des O-Tons neben mir ein Schneepflug vorbeifuhr oder im Hintergrund eine donnernd laute Durchsage der Bahn lief. Ich vertiefe mich in diesem Moment eben nur auf das Interview und nehme meine Umwelt gar nicht mehr wahr. Diese Festlegung und Einengung auf eine einzige Sache ist in manchen Momenten vielleicht ein Problem, beispielsweise, wenn ich bei einem Film im Kino auf einen Ausstattungsgegenstand anstatt auf die Handlung achte. In meinem Beruf ist es aber ein echter Vorteil.
Da mir die gefühlsmäßigen Ausschläge in den Momenten, in denen viele andere sie haben, fehlen, rege ich mich auch so gut wie nie über Politik, religiöse Vorstellungen, Kleidung oder Kunst- oder Musik-Geschmäcker auf. Nur wenn jemand wirklich stur eine Meinung als Tatsache verkaufen möchte, die sich aber durch Daten und Experimente widerlegen lässt, gefällt es mir überhaupt nicht. Wo es genügend messbare Belege für einen Sachverhalt gibt, da diskutiere ich nicht über das Gegenteil. Leidenschaftliche Debatten sind zwar leidenschaftlich – aber beruhen auf Gefühlen. Die sind zwar auch echt, aber müssen deswegen nicht die objektive Wahrheit darstellen. Fußballfans kennen das: Der am meisten geliebte Verein ist nicht der objektiv am besten spielende, der also messbar die meisten Spiele gewinnt. Umgekehrt ist auch der am wenigsten geliebte Verein nicht der messbar schlechteste. Daher darf jeder die Ansicht und Meinung haben, die er oder sie haben möchte. Ich mag Meinungen, aber ich möchte nicht dauernd darüber reden. Messbare Tatsachen finde ich interessanter.
Wenn mich jemand emotional unter Druck setzt, dann gehe ich einfach. Das ist vielleicht nicht die eleganteste Art der Konfliktbewältigung, für mich aber die beste. So halte ich es auch mit anderen Gefahrensituationen. Wenn ich irgendwo auf der Welt durch die Stadt laufe, wittere ich das Unheil schon auf zehn Meter Entfernung. Und dann bin ich schneller weg, als jemand bis drei zählen kann. Sehe ich beispielsweise einen wütenden Substanzverwender an der Straßenbahnhaltestelle stehen, wechsle ich sofort die Seite. Ich habe zu viele Erfahrungen mit Menschen gemacht, die irgendwelche Stoffe im Körper hatten, die ihnen und ihrer Umwelt nicht guttaten. Solchen Menschen werde ich mich nicht entgegenstellen oder sie maßregeln. Ich passe auch auf, wenn es um andere Situationen geht, die mich in Gefahr bringen könnten. Unter einem Baugerüst laufe ich ungern entlang, und um eine Leiter, die an einer Hausfassade lehnt, mache ich auch lieber einen Bogen. Ich habe schon zweimal Menschen samt Leiter umfallen sehen.
Außerdem bin ich in ganz winzigen Dingen auch abergläubisch. Das klingt angesichts meiner sonstigen strikt naturwissenschaftlichen Herangehensweise bestimmt widersprüchlich, aber ich werde niemals fünfmal hintereinander vor einem Spiegel das Wort »Candyman« aussprechen. Natürlich weiß ich, dass es sich dabei nur um ein Märchen handelt und dass die Geschichte vom Mann, der vom aufgebrachten Mob erst mit Honig übergossen und anschließend von einem Schwarm Bienen zu Tode gestochen wurde, nicht passiert ist – und selbst wenn, was hätte das mit meinem Spiegel zu tun. Aber man muss das Schicksal nicht unbedingt herausfordern, und ich lege es nicht darauf an, ob der unfreundliche Kerl mit dem Haken anstelle seiner rechten Hand nicht doch auftaucht. Es wird schon einen Grund haben, dass selbst Superman, der Mann aus Stahl, gegen Magie machtlos ist.
Ich halte auch die Dreizehn für meine Glückszahl, seit ich in New York den Spind mit der Nummer dreizehn zugewiesen bekam und im East Village, wo ich gewohnt habe, dreizehn Ein-Cent-Stücke auf der Straße fand. Allerdings steckt viel Gutes im Seltsamen. Beispielweise habe ich mir in New Orleans, bevor es durch einen Dammbruch überschwemmt wurde, das Symbol der bekannten Voodoo-Figur, Bawon Samedi, tätowieren lassen. Der Tätowierer hatte Angst davor, aber am Ende ist es doch gut gegangen. Und eine Freundin von mir hat sich in ein originales Liebeszauber-Bad gelegt, dass ich in einem alten Botanica-Laden, der nicht für Touristen gemacht war, gekauft hatte. Wer darin badet, ist angeblich für immer an die Person gebunden, an die man oder frau als Erstes im Badewasser denkt. Auch hier hat das Experiment gezeigt, dass die Wirkung weniger stark war als vermutet. Das war experimentelle Magie, sozusagen.
Im Kern bin ich also dort, wo andere jagen, meinen, kämpfen, hoffen und fluchen tiefenentspannt und habe, glaube ich, noch keinen anderen Menschen jemals absichtlich gestört: Ich wollte nie jemandem den Job wegnehmen, ich pfeife auf Posten in Vereinen oder Institutionen, wenn ich nicht darum gebeten werde, und Geld und Karriere sind mir egal. Lustigerweise hat gerade das dazu geführt, dass ich Vorsitzender der PARTEI in Nordrhein-Westfalen geworden bin oder früher Schülersprecher war: Ich will niemandem etwas wegnehmen, sondern lieber soziale Handlungen fördern. Genau diese Mischung ist manchmal der kleinste gemeinsame Nenner, der einen Haufen Menschen zusammenhält.
Was ich nicht mag, sind äußere Umstände, die von meiner Idealvorstellung abweichen, aber sehr leicht zu ändern sind. Als ich etwa in Manila war, um an der University of the Philippines das kriminalistische DNA-Analyse-Labor einzurichten, störte mich der Staub, der im Labor auf allen Geräten, Tischen, Gefäßen und Computern zu finden war. Nun muss man wissen, dass es auf den Philippinen damals wegen der gestampften Böden im Freien erstens sehr oft staubig war und zweitens solcher Staub im Labor wenig stört, weil sich genetische Fingerabdrücke ohnehin nur auf menschliches Erbgut erstrecken. Da beeinflussen ein paar Pollen, Sand oder Flusen die Ergebnisse zumindest im robusten Feldbetrieb nicht weiter. Trotzdem machte ich mich daran, erstmal alles zu putzen, weil ich es aus Deutschland gewohnt war, dass zumindest im Labor alles staubfrei glänzte.
»Ist etwas nicht in Ordnung?«, fragte mich meine Studentin zaghaft, nachdem ich drei Stunden lang wenig gesprochen und stattdessen mit Lappen und Reinigungsmittel erst mal alles gesäubert hatte.
»Ist etwas mit unseren Räumen nicht in Ordnung? Bist du wütend auf uns?«
»Nein, überhaupt nicht«, sagte ich und meinte es auch so. »Ich hab’ hier nur geputzt.«
Und damit war die Sache gut. Später haben mich meine philippinischen Kolleginnen und Kollegen in Deutschland besucht und ich habe ihnen alles Mögliche in Berlin und Köln – von Schwulenbars bis zu italienischen Restaurants, die es damals in Manila noch nicht gab – gezeigt. Die Welt ist bunt und wild, und nicht jeder, der Spaß am Putzen hat, ist wütend oder ein übertrieben die Ordnung liebender Mensch.
Je mehr ich um die Welt reiste, umso entspannter wurde ich. »Mir sin all nur Minsche«, sagt der Kölner: Wir sind alle nur Menschen mit Macken und Eigenarten. Meine Studierenden können davon ein Lied singen, wenn ich mit ihnen allen möglichen Unsinn anstelle, der ihnen zeigen soll, wie irre die Welt da draußen wirklich ist.
Zum Glück hatte ich mich an die tropischen Gegebenheiten – das sind vor allem Freundlichkeit und sehr kurzfristige Planung – schon angepasst, als ich in Vietnam an der Universität in Ho-Chi-Minh-Stadt ein weiteres DNA-Labor aufbaute. Dazu gehörten auch täglich sehr lange Vorlesungen vor dem Team und Studierenden. Nachdem ich am ersten Tag meine Unterlagen ausgepackt und mit der Vorlesung begonnen hatte, kamen zwei Männer mit einem Farbeimer und jeweils einem Abroller und fingen an, die Seitenwände des Vortragsraumes zu streichen.
»Was ist denn los?«, fragte ich verwundert. »Wir haben doch schon angefangen.«
»Das wissen wir«, sagte einer der beiden Maler. »Deshalb sind wir ja da.«
Und dann erklärte er mir, dass die Verantwortlichen sicherstellen wollten, dass alles möglichst schön aussah, wenn jemand bei ihnen zu Gast war. Dass die Verschönerungsmaßnahmen erst dann begannen, als es hundertprozentig losging und nichts mehr schiefgehen konnte, wunderte niemanden – außer mir. Aber was sollte ich machen? Also redete ich weiter, und die beiden Jungs strichen dabei.
Diese, nennen wir es mal, erfahrungsbedingte Ausgeglichenheit liegt aber nicht nur an meinen X-Men -artigen Superschwächen. Sondern es liegt auch daran, dass ich schon zu viel schweres Leid gesehen habe, als dass ich solch eigentlich harmlosen Dingen eine größere Bedeutung beimessen kann – und zwar Leid aufseiten der Opfer, der Angehörigen und auch der Täter. Dazu nur ein paar kleine Beispiele: Ich habe mal einen Mann im Gefängnis besucht, der wegen Mordes einsaß. Er erzählte mir, dass er aus den Akten entnommen hatte, dass er im Alter von sechs Monaten das erste Mal von seinen Eltern so stark verprügelt worden war, dass er ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. Wenn ein Leben schon so anfing, konnte ich mir in etwa vorstellen, was in den 30 Jahren danach passierte, bevor ich ihn traf. Oder die beiden Großeltern, die sich ganz ruhig und ernst an mich wandten, weil sie unbedingt ihren Enkel begraben wollten – das Kind war von seinem Vater umgebracht und in einem riesigen Waldgebiet verscharrt worden, bevor der Vater Suizid beging. Sie wollten den toten Jungen finden, um mit der Trauer zu beginnen. Aber es war klar, dass man die Kinderleiche mit herkömmlichen Methoden nie aufspüren konnte: Sie war erstens sehr klein und zweitens vermutlich nicht nur verwest, sondern auch von großen Tieren zerfressen worden.
Ein angeblicher Detektiv hatte diese armen Großeltern mit leeren Versprechungen – das Enkelkind war angeblich in Brasilien oder Thailand bei einer Sekte aufgetaucht – so richtig abgezockt. Dieser »Detektiv«, den ich selbst getroffen habe, hat mir gezeigt, was seelenruhige Niedertracht ist. Er war freundlich, nett, wirkte sogar ehrlich und verbindlich. Doch wenn er sprach, bogen sich nicht nur die Balken, sondern auch die Stahlträger, so frech log er. Vom Geld der Großeltern finanzierte er die Reisen seiner ganzen Familie. Doch das merkten wir erst, als wir die angeblich von dem Enkel stammenden Spielzeug-Spuren untersuchten. Glaubte er selbst an seine Märchen? Das Kind ist jedenfalls nie aufgetaucht, weder tot noch lebendig.
Ein anderes Beispiel: Das Auswärtige Amt hatte zusammen mit dem Bundeskriminalamt vor etwas mehr als zwanzig Jahren Teams zusammengestellt, die sich nach dem Ende des Bosnienkrieges mit den dortigen Massentötungen befassen sollten. Ich war bei der ersten Auswahlsitzung mit den Kolleginnen und Kolleginnen aus allen Fachrichtungen dabei. Es sollte insbesondere aufgeklärt werden, wie im Juli 1995 mehr als achttausend Menschen, vor allem männliche Bosnier, von serbischen Soldaten hingerichtet und verscharrt worden waren.
»Sie müssen das vorab unbedingt mit Ihrer Lebensversicherung klären«, sagte uns der Beamte beim Briefing. Er wollte zwar, dass wir bei den Ausgrabungen der Toten mitwirkten, kannte aber auch die Unbefangenheit von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen. Viele von uns waren, wie schon angedeutet, noch nicht einmal bei der Bundeswehr gewesen, die damals noch verpflichtend war und nur durch den Zivildienst ersetzt werden konnte.
Wie zu erwarten, enthielt meine Lebensversicherung keine Klausel, die meinen Tod durch eine Landmine abdeckte. Meine Kollegen hatten spätestens da keine Lust mehr auf den Einsatz. Ich aber nervte die Versicherung so lange, bis sie mir tatsächlich eine zeitlich begrenzte Erlaubnis gab, in einem ehemaligen Kriegsgebiet zu arbeiten: Die Lebensversicherung wäre meinen Angehörigen trotzdem ausgezahlt worden. Verrückterweise zerschlug sich der Einsatz für mich dann aber aus einem ganz anderen Grund: Der Internationale Gerichtshof beschloss, nur Medizinerinnen und Mediziner zum Einsatz einzuteilen, um die insgesamt einundzwanzig Massengräber auszuheben und die Leichen zu untersuchen.
Nun interessierte mich allerdings, wie es überhaupt zu solchen modernen Massentötungen kam. Ich kannte dazu bisher nur den Krieg in Bosnien und die im Nationalsozialismus durchgeführte Schoah. Nun las ich mich in die Thematik ein und stieß dabei auf den Genozid in Ruanda. Dieser Völkermord an der sozialen Gruppe der Tutsi hatte unmittelbar vor den Tötungen in Bosnien stattgefunden. Knapp eine Million Menschen waren in Ruanda getötet worden – mit den üblichen Gewalttätigkeiten und Sexualdelikten, vor allem aber ohne Schusswaffen oder Bomben. Fast alle Toten waren mit einer Machete, also aus nächster Nähe, getötet worden. Die Täter säbelten ihren ehemaligen Freunden oder Bekannten – anders war gar nicht zu ermitteln, wer zu welcher Bevölkerungsgruppe gehörte – die Gliedmaßen ab, vergewaltigten ihre Nachbarinnen und köpften kleine Kinder. Und all das nur, weil die Opfer einer anderen, kaum unterschiedlichen Menschengruppe angehörten. Davor und danach benahmen sich die Täter ganz normal. Sie machten sich sogar Tagespläne und »arbeiteten« von morgens bis nachmittags ihren Job ab. Wie ärgerlich konnte es angesichts solcher Taten sein, eine Vorlesung zu halten, während der die Wände des Hörsaals gerade frisch gestrichen wurden?
Ob es auch eine medizinische Ursache dafür gab, dass ich seit jeher so emotionsverschoben war – darüber machte ich mir keine tiefergehenden Gedanken. Erst, als meine Frau mich auslachte, weil ich bei Herr der Ringe , Titanic, Avengers Endgame und Corpse Bride weinte, ist mir das aufgefallen. Während meiner Kindheit war es nicht üblich, dass Eltern ihre Kinder auf irgendwelche Besonderheiten hin untersuchen ließen, auch wenn diese heute vielleicht sonderlich scheinen. Durch meinen Besuch in der Autismus-Bibliothek in London und durch Kurse, die ich für hochbegabte Kinder, in der Psychiatrie und so weiter gebe, kam ich langsam dahinter, was bei mir möglicherweise ebenfalls festzustellen war: Ich denke, dass ich selbst einen Schuss Autismus in mir trage. Der berühmte Nervenarzt Hans Asperger sagte mal, dass man eben diesen »Schuss« Autismus brauche, um sehr detailverliebt arbeiten zu können, während sich andere dabei langweilen würden. Für die Wikipedia, die ich gerne und oft bearbeite – ja, auch dort sind Kommas oder Pünktchen falsch gesetzt –, habe ich das alles einmal gründlich nachgeprüft und gestaunt, wie treffsicher Asperger und andere Menschen nervliche Vielfalt beschrieben haben, lange bevor sie mit heutigen Verfahren im Gehirn dargestellt werden kann.
Ich glaube nicht, dass ich schlau bin. Ungeschickt bin ich, wenn es um Sport oder Autos geht, aber mit einer ganz spitzen Pinzette kann ich unter einer Lupe gut arbeiten. Vieles, was Asperger beschrieb, trifft durchaus auf mich zu: Die scheinbar verminderte, vielleicht aber eher verschobene Gefühlswelt, veränderte Interessen in Gruppen von Menschen und eingenischte Sonderinteressen – ich bin vielleicht ein bisschen »Aspi«. Das hat nichts mit tiefgreifenden Bewusstseinsstörungen oder stark ausgeprägtem Autismus zu tun, der für die Betroffenen und die Angehörigen oft eine ernste und sehr anstrengende Sache ist. Ich fand die Erkenntnis interessant und beruhigend. Wie schön, dass viele Menschen verschieden sind. Sie wissen ja: Et is, wie et is.
Meine Frau Ines und eine meiner Mitarbeiterinnen meinen, ich würde sie an Sheldon Cooper aus der Serie The Big Bang Theory erinnern – einen verschrobenen und emotionsverschobenen Wissenschaftler, der schon in seiner Kindheit einen Kernreaktor bauen wollte, Schwierigkeiten hat, soziale Kontakte zu pflegen und Comics liebt. Gewisse Gemeinsamkeiten sind da zugegebenermaßen nicht von der Hand zu weisen, auch wenn ich bezweifle, dass Sheldon jemals die großartigen Tim-und-Struppi -Bände, das Popeye -Gesamtwerk von Elzie Crisler Segar, Watchmen , Will Eisners Spirit oder die Donald-Duck -Geschichten von Carl Barks und Erika Fuchs gelesen hat, die meiner Meinung nach für jeden Comic-Fan dazugehören. Ich habe mir Big Bang für diese Biografie angesehen und muss sagen, dass ich Ähnlichkeiten sehe. Der Tick, im Kino nur entweder auf perfekten Plätzen in der eindeutigen, nicht verhandelbaren Mitte des Saales ohne Leinwandverzerrung und bei bester Lautsprecher-Entfernung zu sitzen oder es eben lieber gleich bleiben zu lassen, ist beispielsweise auch meiner. Was ich allerdings nicht glaube, ist, dass ich klüger bin als irgendwer sonst. Ich schaue mir nur mehr Details an. Dafür verstehe ich vom Gesamtbild umso weniger.
Anders als Sheldon Cooper stehe ich zudem auf Tätowierungen. Ich lief früher immer am Schaufenster von »Elektrische Tätowierungen« in Köln-Mülheim vorbei – eines der ältesten Studios in Deutschland. Dort sah ich Fotos von Menschen, die mit Zeichnungen in der Haut verziert waren. Das war lange vor den oft fehlerhaften chinesischen Schriftzeichen (»Die Schildkröte liegt auf dem Rücken« anstelle eines angeblichen Sternzeichens, das es in China obendrein gar nicht gibt). Und auch das heute als »voll Neunziger« geltende Steiß-Tribal über dem Gesäß gab es noch nicht. Höchstens der schrecklich-schöne Knöcheldelfin (»Blaue Banane«) hatte sich schon seinen Weg gebahnt. Dazu muss ich allerdings sagen, dass ich selbst Träger einer Steiß-Fledermaus und eines Knöcheldelfins bin.
In den achtziger Jahren prangten in der Haut der Menschen noch zu tief gestochene und daher später unscharfe, ausgeblichene Jugendsünden – oder kunstvolle Malereien, die oft vom Seefahrerleben oder japanischen Überlieferungen beeinflusst waren. Als ich endlich achtzehn war, wollte ich mir auch ein Tattoo stechen lassen. Tätowierungen waren kein Ausdruck eines vorübergehenden Lifestyles, sondern eher ein Zeichen für Mut, so zu sein, wie man eben sein wollte. Ich aber wollte mich nicht von etwas abgrenzen, sondern mir gefielen einfach die verschiedenen Bilder, die Dieter und Anke mit ihren Nadeln erzeugen konnten. Meine Wahl fiel auf eine Echse. Ich besaß viele Bestimmungsbücher, darunter auch eines für Kriechtiere aus dem Mittelmeerraum. Es dauerte einen kurzen Moment, bis ich die beiden überzeugt hatte, dass ich auch wirklich ein Tattoo-Kandidat sei. Nach einer Anzahlung und Wartezeit ging es dann los. Meinen Eltern wunderten sich schon nicht mehr allzu sehr – sie hatten zuvor schon genügend über meinen ersten Ohrring gestaunt. Bis heute findet meine Mutter, dass es mit den Tattoos »so langsam« reiche. Ich hingegen fühle mich mit Tätowierungen richtiger und vollständiger.
Deshalb dauerte es auch nicht lange, bis die Echse auf meiner Haut nicht mehr allein war. Dabei spielten auch meine vielen Reisen eine Rolle. Während sich andere von ihren Aufenthalten im Ausland handgetöpferte Aschenbecher, Modeschmuck aus Strandmuscheln oder eine Kiste Rotwein mit nach Hause nehmen, lasse ich mir als Erinnerung gerne ein neues Tattoo stechen. Und da ich an über 300 Tagen im Jahr unterwegs bin, kam seit meinem ersten Besuch bei Dieter und Anke einiges zusammen. Inzwischen kenne ich weltweit viele Tätowierer und Tätowiererinnen, die ich mag und von denen ich viel über eine ganz andere Art von Vielfalt gelernt habe. Heute greift auch meine Frau Ines zur Nadel – sie macht das hervorragend, seit sie mit meiner Maschine ihr erstes Tattoo stach: ein kleines, rotes, kitschiges Liebesherz unterhalb meines rechten Knies. Was ich etwas unheimlich finde, ist, dass sie jedes Motiv auch auf dem Kopf oder seitlich tätowieren kann. Sie ist wie ich gesichtsblind, aber dass für sie einfach alles Linien sind, egal, wie das Gesamtbild aussieht, das halte ich für eine Superkraft, von der ich zuvor noch nie gehört hatte.
Motivmäßig bin ich bei Tätowierungen nicht festgelegt. Wie sonst im Leben auch gefällt mir, was gerade passt: Das kann ein stilisierter Frosch sein; in diesem Fall das Zeichen der Stadtwerke von Bogotá, das ich bei meinem ersten Besuch in Kolumbien auf den Gullydeckeln in der Hauptstadt entdeckte und als derart strange empfand, dass es sich danach auf meinem linken Oberarm wiederfand – übrigens auch von Dieter gestochen. Auch die Warschauer Kanalabdeckung mit blitzartig gezacktem Muster gehört zu meinem Körperschmuck. Überhaupt finde ich, dass Gullydeckel immer ein sehr interessantes Einzelbild jeder Stadt darstellen. Man muss nur mal nach unten schauen, anstatt auf das zu achten, was sowieso nicht übersehen werden kann.
Ein von mir schon früh geliebtes und auf meine Hand tätowiertes Symbol ist der Autobahn-Fink, der früher auf allen Mülleimern westdeutscher Autobahnraststätten zu Sauberkeit mahnte. Oder das verblüffende Bildchen einer längst pleitegegangenen Billig-Fluglinie, das mir auf der Menükarte an Bord auffiel. Ich schleppte die Karte jahrelang mit mir herum, bis die freundliche Comic-Stewardess – von Dieters Schüler Mätes in einem freien Moment gestochen – nun und seither auf meiner linken Wade ihre Getränke anbietet.
Ein paar meiner kleinen Kunstwerke haben auch eine tiefer erscheinende Bedeutung. Frau Holle trage ich, weil sie wie ich auch der Sonne nicht gerade freundschaftlich gegenübersteht. Mein »Firmenlogo«, also der Totenkopf, der offen in alle Richtungen blickt, steht dafür, dass man nie denken, sondern erst mal alles durch Experimente prüfen soll. Die schwarze Amsel auf meinem linken Oberschenkel ist wie alle schwarzen Tiere mein Freund und zwitscherte mir von einem echten Baum aufmunternd zu, als es mir mal besonders schlecht ging. Mein Lebensmotto »Sailing for Truth« auf dem Rücken erklärt sich hoffentlich von selbst. Die Buchstaben »H-O-L-D F-A-S-T« stehen auf meinen Fingern, weil ich die Seemannsweisheit, dass man die Taue in stürmischen Zeiten immer gut festhalten soll, ziemlich treffend finde. Und meine Frau darf mir als nackter, beflügelter Engel auf meinem linken Bein samt Leuchtturm Tag und Nacht den Weg weisen.
Außerdem sammle ich tätowierte Unterschriften von Persönlichkeiten, denen ich begegne und die ich mag. Zu meinen Tattoo-Unterschriften zählt Bela B. von den Ärzten , die ich schon als Jugendlicher geil fand und dessen Signatur sich oberhalb meiner geliebten veganen »Manner«-Schnitte aus Wien an der linken Schulter befindet. Oder Paul, Till und Flake von Rammstein , deren Gitarrenklang der beste ist, den ich kenne – obwohl meine Vorliebe eher bei elektronischer Musik liegt. Helge Schneider malte seinen 00 Schneider in einem Kölner Brauhaus, in dem ich mit meinen Studierenden gerade den Kursabend ausklingen ließ, lieber auf eine Serviette, bevor es später zu einem meiner Tattoos wurde. Manche dieser Menschen durfte ich später näher kennen lernen, und mit einigen bin ich sogar befreundet. Jörg Buttgereit, den weisen, ehemaligen Horrorfilmer, und Anatom Gunther von Hagens, zu dem wir später noch kommen werden, habe ich aus diesem Grund äußerst gerne und vermutlich auch als Einziger auf mir verewigt. Mit Cosma Shiva Hagen saß ich mal bei Joko und Klaas endlose Stunden im Backstage-Bereich herum und machte mit ihr Faxen, bis wir später gemeinsam auf einem eindrucksvollen Kunstwerk landeten – einer Weihnachtskarte von Cornel Wachter, die darauf hinweist, wie es Menschen geht, die dringend ein Dach über dem Kopf benötigen. Mit Kim Wilde saß ich ebenfalls im selben Backstage einer TV-Sendung, und Jason Dark, den Autor der trashigen John-Sinclair -Geschichten, traf ich bei der ersten John-Sinclair-Convention überhaupt in Köln-Nippes, wo ich ja früher gewohnt hatte. Ich war der Erste, der seine Unterschrift trug, aber Helmut Rellergerd, wie er bürgerlich heißt, kannte so etwas noch nicht und vergaß bei seinem Künstlervornamen glatt den letzten Buchstaben. Und weil ich im Nachhinein nichts zu einer Spur hinzufüge, steht nun eben »Jaso Dark« auf meinem rechten Oberarm. Stimmt doch auch: »Ja, so dark!«
Inzwischen habe ich bestimmt 150 Tattoos. Darunter ist als Hommage an die aus heutiger Sicht eher merkwürdigen achtziger Jahre, auch der schon angesprochene Knöcheldelfin. Der Tätowierer schwankte zwischen Lachen und Entsetzen, aber er hat ihn gestochen. Hier bin ich allerdings nicht der erste, sondern wohl eher der letzte Mensch, der dieses Motiv erhalten hat …
Nicht zu vergessen: Das Zeichen des »Dudeismus«, meiner Hausreligion (ich bin geweihter Dudeismus-Priester), der Schriftzug der PARTEI und das Logo einer donaldistischen Gruppe. Diese drei Motive stechen (Achtung: Wortwitz) nach Meinung meines Co-Autors besonders hervor, denn sie betreffen Dinge, mit denen ich mich einerseits gerne und ausführlich beschäftige, die aber nichts mit dem Tod im Allgemeinen oder Insekten, DNA-Spuren oder anderen Ermittlungsansätzen zu tun haben .
Das mit dem Dudeismus-Motiv – eine Mischung aus dem daoistischen Symbol für das Yin und Yang sowie einer Bowlingkugel – hat seinen Ursprung im Film The Big Lebowski . Wer den Film nicht kennt, der wird ihn auch nicht mögen, deshalb verzichte ich auf eine Beschreibung. Er ist einer meiner Lieblingsfilme – ach, was sage ich: Er ist mein Gottesdienst! Nicht nur, weil er verdrehte Anspielungen an die versoffenen Ermittler in Trenchcoat aus den vierziger Jahren enthält und äußerst lustig ist, sondern auch, weil darin meine Lebenseinstellung exakt beschrieben wird: Folgt man den Worten des »Dude«, der wunderschön von Jeff Bridges dargestellt wird, kann man alles über Duldsamkeit, Gelassenheit und Vielfalt lernen. Beispielsweise, die Meinungen anderer einfach mal stehenzulassen: »Yeah, well. That’s just, like, your opinion, man!« Und so alle möglichen anderen Leute zu akzeptieren, egal wer sie auch sein mögen: Pazifisten, feministische Freundinnen, Veteranen und tanzende Vermieter. Leben und leben lassen eben.
Die Zitate aus dem Film, den ich fast auswendig kann, sind für mich Gleichnisse. Der Dudeimus ist eine friedliche Weltreligion, der man auch als Vernunftmensch bedenkenlos folgen kann. Da ich dudeistischer Priester bin, ist es nur logisch, dass ich mich auf meiner Haut auch dazu bekenne.
Mit Donald Duck ist die Sache sogar noch ein bisschen einfacher: Als Kind hatte meine Mutter mir, wie eingangs schon erwähnt, einen hervorragenden Sammelband mit gut ausgesuchten Disney-Geschichten in der schönen Übersetzung von Erika Fuchs in meinen Koffer gelegt, damit ich während meiner Husten-Kur etwas Ablenkung hatte. Ich vertiefte mich in die Welten, die darin beschrieben waren: Entenhausen stellte, zumindest bei Carl Barks, ein in sich abgeschlossenes Universum dar. Viel später durfte ich es durch die Arbeit vieler anderer Donaldisten und Donaldistinnen umfassend erforschen und verstehen.
Als Kind kamen mir die kleinen Besonderheiten, die es neben den oft kauzigen Bewohnern Entenhausens zu entdecken gab, gar nicht besonders vor. Die Währung waren Taler und Kreuzer, es gab einen Gumpensund, und der Geldspeicher sah öfter mal anders aus als noch kurz zuvor. Da diese Welt mit dem Tod von Carl Barks geschlossen war – er ist der einzige ernsthafte Überlieferer der Tatsachen aus Entenhausen –, lässt sich nun alles auch auf eine wissenschaftliche Weise untersuchen: von der elektrischen Spannung über Radioaktivität, Verwandtschaftsverhältnisse, Zylinderhüte bis zu den Schuhen, die nur weibliche Figuren tragen. Es war für mich verblüffend zu sehen, dass geschlossene Welten immer zu verstehen sind, auch ohne soziale Abgründe zu erforschen. Alles dort ist schlüssig und nichts widerlegbar. Was für eine interessante Lehre! Und was für eine sehr gute Schule für alle Sachverständigen: Wenn ich erst einmal unbemerkt eine – vielleicht falsche – Grundannahme in meine Gutachten einschleuse, dann mag alles darauf Aufbauende ganz schlüssig und »logisch« sein. Es stimmt aber trotzdem nicht. Denn der Fehler ist nicht die Logik und der Zusammenhang, sondern die falsche Grundannahme. Im Donaldismus ist diese Annahme, dass es sich um wahre Überlieferungen handelt. Wir kennen dieses Problem aus allen Religionen und politischen Weltanschauungen.
Nebenbei fand ich natürlich, dass in Entenhausen stets die Einstellung herrschte, dass man die anderen so hinnahm, wie sie eben waren – selbst, wenn er oder sie noch so verschroben war und seinen Reichtum in einer Schubkarre durch die Gegend fuhr oder lernen musste, dass allzu lehrmeisterliche Vorträge mit Krachern unter dem Lehnsessel enden können. Seit einigen Jahren sickert meine Comic-Sammlung in die Kölner Stadtbibliothek über. Dankenswerterweise hat die lässige Chefin der zuständigen Abteilung beispielsweise das von mir gestiftete Gesamtwerk von Carl Barks bereits offiziell unter die Werke der Weltliteratur eingeordnet. Recht so!
Mit der PARTEI verhielt es sich anders. Als ich im Jahr 2010 in einem Krefelder Kneipenhinterzimmer mit 100 Prozent der Stimmen zum neuen Landesvorsitzenden gewählt wurde, ließ ich mir erst mal nur das »P« aus dem PARTEI-Logo tätowieren, und für jeden Wahlkampf sollte ein weiterer Buchstabe dazukommen. Bald waren alle Buchstaben vollzählig.
An sich bin ich ein unpolitischer Mensch. Meine Eltern haben mich unvoreingenommen erzogen. Ich schaue mir erst mal alles an und bewerte niemanden – nicht einmal einen Verbrecher, denn das ist die Aufgabe der Gerichte und sozialer Einrichtungen. Das heißt jedoch nicht, dass ich keine aus Daten abgeleitete Überzeugung habe, im Gegenteil. Mein Standpunkt zum Umgang mit der Natur ist klar, weil es genügend Messungen dazu gibt, dass Tiere leiden und das Klima sich ändert. Es ist daher lustig, wie wichtig Menschen ihren Standpunkt manchmal bilden, obwohl er nicht sauber und ruhig aus Messungen abgeleitet ist. Vor vielen Jahren war ich mal zu Gast bei hart aber fair zum Thema »Tiere sind mir Wurst«. Während der Sendung musste ich mir dann so viel Unsinn über die angeblich so herausragende Bedeutung von Fleisch für unsere Gesundheit oder die Kultur anhören, dass ich zusammen mit der Schauspielerin Barbara Rütting beinahe das Studio verlassen hätte. Mich bringt wenig aus der Ruhe, aber durch Messungen widerlegte Aussagen oder Verdrehungen sind mir zu blöd und langweilig. Wir blieben dann doch – aber es tat weh. Seitdem rede ich nur noch öffentlich mit Menschen, wenn wir uns darauf einigen können, dass manche Dinge messbar sind. Alles andere sind Weltanschauungen, über die wir privat und bei einer Limo gemütlich plaudern können.
Wenn schon Blödsinn, dann mit Verstand und Wirkung, beschloss ich. Deshalb bin ich in der PARTEI gut aufgehoben, auch wenn ich selbst keine Satire kann, sondern einfach nur mein kölsches Ding durchziehe. Dass ich zu dieser bunten Truppe stieß, war Zufall. Ich las das Mutterschiff der PARTEI, die TITANIC, schon immer und hatte sie sogar in New York abonniert, wo sie stets erstaunlich pünktlich ankam.
Bei Dreharbeiten in Berlin lernte ich nun die Frau von Martin Sonnenborn kennen, der fünf Jahre lang Chefredakteur der TITANIC war. Er hatte die PARTEI 2004 gegründet. Unser Programm ist ernst: Ausgleich sozialer Unterschiede und ein sorgsamer Umgang mit unserer Umwelt zum Beispiel. Aber eben auch die Wiedererrichtung der Mauer zwischen Ost und West. Martin und ich liegen auf einer Wellenlänge lagen.
Mit der Mitgliedschaft in der PARTEI betrat ich eine völlig neue Welt mit eindrucksvollen Typen, die jeden PARTEItag ins Chaos zogen, und irrwitzigen Ideen, die wir uns gemeinsam ausdachten und umsetzten. So war schnell klar, dass ich – nachdem das Wissenschaftsministerium in unserem Schattenkabinett bereits durch einen Molekularbiologen besetzt war – Gesundheitsminister werden sollte und fortan auf jedem Wahlplakat Pfeife rauchend abgebildet wurde. Dieter, der Tätowierer, wurde als Kandidat für das Außenministerium eingeführt, weil er nach eigenen Worten »korrupt ist und gerne reist«. Die Sache entwickelte eine gewaltige Eigendynamik. Als Wahlkreis bekam ich zunächst Köln-Mühlheim zugeteilt, und für die Bundestagswahl 2013 wurde ich Listenführer in Nordrhein-Westfalen. Das erste Mal in meinem Leben machte ich Straßenwahlkampf. Wir verteilten wochenlang Bier, Taschenrechner, Schnaps und Plüsch-Handschellen an die Leute und merkten, dass es den meisten Menschen tatsächlich nicht um Inhalte ging – sondern bloß um Geschenke. Am Ende holten wir in NRW fast 38.000 Zweitstimmen und hatten Blut geleckt. Eine der Folgen war, dass ich bei der Kölner Oberbürgermeisterwahl 2015 als OB-Kandidat antreten sollte.
Dafür entwickelten wir ein Programm, das leicht zu erklären und ebenso leicht zu verstehen war: Ich forderte stilettofreundliches Straßenpflaster, Glitzerdinge für alle, Klüngeln nur nach Anmeldung, Straßenreinigung mit dem Parfüm 4711, freie Sicht auf den Dom von überall, den bunten Anstrich der Schäl Sick (also der rechten – und damit für den Ur-Kölner »falschen« – Rheinseite), die Ausweisung von Glühweinpanschern ins verhasste Düsseldorf sowie einen neuen Feiertag am 6. Januar zu Ehren des Kölner Dreigestirns.
Um unsere Botschaften an den Mann und die Frau zu bringen, musste ich natürlich Reklame machen. Zum Glück erinnerte ich mich an einen meiner Mitschüler, der Sohn des Gründers von Ströer Media war. Die Firma gehört inzwischen zu den größten Werbeanbietern Deutschlands. Ich schrieb also den Leuten von Ströer und erklärte ihnen, dass die ganze Stadt erfahren sollte, was ihr neuer Oberbürgermeister vorhatte .
»Was schwebt dir denn genau vor?«, fragte einer der pfiffigen Mitarbeiter.
»Am liebsten würde ich die ganze Stadt vollplakatieren. Was kostet das denn?« Er lachte.
»Das wird teuer. Aber erstens kann ich dir einen Kulturtarif für Stromkästen und wenig gebuchte Ecken auf Litfaßsäulen geben. Und zweitens habe ich noch eine andere Idee«, sagte der clevere Mann und bot mir die riesigen, beleuchteten Reklametafeln am Neumarkt an, die Ströer ebenfalls vermarktete und die man vermutlich sogar von der Raumstation ISS aus sehen würde, lägen sie nicht unterirdisch an den Bahnsteigen.
Ein freundlicher Comiczeichner entwarf nun das Wahlplakat, eines, wie es Köln noch nicht gesehen hatte. Er feilte mit Liebe an den kleinsten Bestandteilen und zeichnete mich angelehnt an Spirit -Comics der dreißiger bis fünfziger Jahre, wie ich als Superheld die meiner Frau nachempfundene, gefesselte Colonia rette. Diese Zeichnung, in der viele kölsche Besonderheiten zu finden waren, hing bald an Hunderten Stellen in der ganzen Stadt und wie versprochen riesengroß und durchleuchtet am Neumarkt, der wichtigsten Umsteigehaltestelle der Stadt. Damit bekam der bis dahin einschläfernde Wahlkampf einen Kick. Kein Mensch konnte fassen, was da gerade geschah. Unsere Kampagne hat es sogar ins Stadtarchiv geschafft. Die dortige Mitarbeiterin hielt das Ganze für historisch bedeutsam genug, und ich kam aus dem Lachen nicht mehr heraus. Die Kölner und Kölnerinnen hatten mal wieder bewiesen, dass es wirklich so kommt, wie es kommt.
Mich kostete die Maßnahme zwar höllisch viel Geld, denn ich bezahlte damals wie heute alles selbst und habe bis heute keinen einzigen Cent von der PARTEI erhalten. Unsere Aktionen gingen aber gerade deswegen immer weiter. Wer sollte mir schon reinreden, wenn ich alles selbst bezahlte? Meine vielen Mitstreiterinnen und Mitstreiter veranstalteten öffentliche Gesangsstunden, in denen wir mit zufällig vorbeilaufenden Menschen das Lied der PARTEI (»Die PARTEI, die PARTEI, die hat immer recht«) sangen oder traten in Mannschaftsstärke bei Podiumsdiskussionen auf. Ich eröffnete mit dem Kölner Team der PARTEI den ersten Coffeeshop Deutschlands. Dort verkauften oder verschenkten wir massenhaft Gras. Und damit meine ich Gras – also Wiesengras, einkeimblättrige, krautige Pflanzen, wie sie auf jeder Wiese wachsen. Die coole Innenstadt-Polizei tat uns den Gefallen, war trotzdem da und völlig gelassen. Als irgendwer einen Luftballon an ihren Streifenwagen klebte, lächelten sie nur müde. Die Kölner Innenstadt-Beamtinnen und -Beamten sind eine ganz besondere Sorte Polizistinnen und Polizisten, aber das ist eine Geschichte, die vielleicht ein andermal erzählt werden soll.
Es tauchten auch einige Rechtsanwälte und Checker von Drogendealern auf, die von uns verlangten, wir sollten unseren Gras-Verkauf abbrechen, um ihren Mandanten nicht das Geschäft zu verderben. Kein Witz! Das Fernsehen und die sozialen Medien fanden es super. Der Innenstadt-Bürgermeister gab ein Interview, traute sich aber nicht in unseren Laden. Mehr ging nicht. Am allerlustigsten waren die harten Jungs, die unser Wiesengras mit Kennermiene rauchten. Trotz eines riesigen Schul-Posters mit Abbildungen der »Gräser Deutschlands« begriffen sie nicht, was vor sich ging. Ein schöner Moment.
Leider wurde am Tag vor der Wahl meine Mitbewerberin, Frau Reker, von einem Verrückten in den Hals gestochen. Zum Glück überlebte sie. Weil die Kommunalwahl in NRW nur beim Tod eines Kandidaten verschoben werden konnte, fand sie wie geplant am 18. Oktober 2015 statt. Ich war, wie alle anderen auch, geschockt über die Tat, und soviel ich weiß, der erste Politiker, der ihr öffentlich in den sozialen Netzwerken mit einem großen, selbst gemalten Herzen gute Besserung wünschte. Als sie mit 52,7 Prozent der Stimmen zur neuen Oberbürgermeisterin der Stadt Köln gewählt wurde, lag sie noch betäubt im Krankenhaus. Ich freute mich für sie – und auch darüber, dass ich mit 7,22 Prozent auf dem dritten Platz landete. In der Feinauswertung zeigte sich, dass viele Menschen aus den sozial schwächeren Ecken Kölns mich gewählt hatten. Wir waren dort nicht nur in Dönerbuden und auf öffentlichen Plätzen herumgezogen, sondern hatten auch allen mitgeteilt, dass ich der Babo sei, also der Anführer, der Boss.
Wo das alles noch hinführen wird, ist schwer vorherzusagen. Martin und Nico Semsrott sitzen mittlerweile im Europaparlament, und viele PARTEIler und PARTEIlerinnen deutschlandweit in Stadtparlamenten. Unser Bürochef meldete kürzlich, dass er mit den Mitgliedsanträgen nicht mehr hinterherkommt. Vielleicht lande ich ja wirklich eines Tages im Landtag oder werde Ministerpräsident. »Landesvater der Herzen« bin ich in den sozialen Netzwerken ja schon.
Ich lege es aber nicht darauf an. Da einige meiner Freunde und Freundinnen schon länger im politischen Geschäft arbeiten, habe ich miterlebt, dass sie zunehmend darauf achteten, wie jedes ihrer Worte oder eine harmlose Handlung nach außen wirken. Für einen von ihnen ist es auf einmal unerwünscht, mit mir eine Bro Fist – Fäuste zur Begrüßung aneinanderhalten – zu machen. Auf solche überempfindliche Unehrlichkeiten habe ich keine Lust. Und auch nicht darauf, wie die angebliche »Macht« manchen vor meinen Augen verändert hat. Andererseits – vielleicht zeigt sich beim sozialen Aufstieg manchmal auch bloß, was schon vorher in dem betreffenden Menschen schlummerte. In der PARTEI bekommen alle Größenwahnsinnigen sofort den Dämpfer ihres Lebens. Und es gibt auch in anderen Parteien coole Kolleginnen und Kollegen, die wissen, dass es ein echtes Leben jenseits des Klüngels gibt. Besonders mit jungen Politikerinnen und Politikern aus anderen Volks- und Sonderlings-Parteien habe ich schon gemeinsam die schönsten Faxen gemacht, ich im grauen PARTEI-Polyester, sie in Angora und Jackett.
Wenn ich dauerhaft Fachpolitiker wäre, würde ich einiges ganz sicher durchsetzen, beispielsweise das »Forensic Nursing« in Deutschland einführen. Das ist ein Konzept aus den USA, bei dem Krankenschwestern und -pfleger angelernt werden, um mit Opfern von Sexualdelikten zu sprechen und die Spuren rasch zu sichern. Das bringt allen viel: So können schnell, professionell und vor allem menschlich die Spuren gesichert werden, durch die der Tatablauf viel besser als durch Zeuginnen und Zeugen dargestellt werden kann. Das wiederum hilft den Opfern und Angehörigen, die Klarheit erhalten, und auch den Tätern und Täterinnen, die bei eindeutiger Spurenlage – auch vor sich selbst – schlecht Ausreden erfinden können. Solche Programme kann ich aber auch ohne politisches Amt unterstützen und voranbringen. Es zählt die schon erwähnte Streichholzbreite.
Wie dem auch sei: Das vollständige Logo der PARTEI ist nach mehreren Wahlen – für jede Wahl kam wie gesagt ein tätowierter Buchstabe dazu – nun dauerhaft und vollständig unterhalb meines linken Schlüsselbeins zu sehen .
Neuerdings sind meine Tattoos sogar museumsreif geworden. Das Leipziger Grassi-Museum für Völkerkunde ließ meinen unsportlichen Körper im Jahr 2017 für seine schöne Ausstellung über Tätowierungen fotografieren und katalogisieren. In einer wissenschaftlichen Tattoo-Ausstellung aufzutauchen empfand ich als große Freude.
Noch schöner war, dass ich viele Menschen im Museum interviewen durfte. Deren tätowierte Geschichten liegen seither offiziell und als Video-Daten dort im Archiv. Ich freue mich schon darauf, diese Interviews in dreißig oder vierzig Jahren noch mal anzuschauen. Wie werden die Menschen bis dahin wohl mit Tätowierungen umgehen?
Manchmal sind meine Hautbilder natürlich auch hinderlich. Wenn ich mit dem Zug an irgendeinem Bahnhof in den strengeren Regionen Deutschlands ankomme, kann ich die Uhr danach stellen, bis mich die Bundespolizei filzt, weil sie mich für einen Substanzverwender oder sonstwas hält. Selbst in Nordrhein-Westfalen bin ich wegen der Nähe zu den Niederlanden, wo viele Drogen über die Grenze gehen, nicht sicher vor übereifrigen Menschen. So haben die Kollegen schon mal einen ganzen Zug angehalten, um mich komplett durchzufilzen. Am Ende durfte ich sogar noch meinen Personalausweis vom Boden aufheben, nachdem ein Beamter ihn mir vor die Füße geworfen hatte.
Sosehr es nervt, es ist gut, auch so etwas zu erleben. Ich kann dann bei meinen Vorträgen in Polizei-Fachhochschulen oder bei Fortbildungen für langjährige Beamtinnen und Beamte erklären, wie Schmuggler wirklich aussehen.
Außerdem gab es mir die Möglichkeit, mit einigen Vorurteilen aus der Steinzeit großflächig aufzuräumen. In der wichtigsten kriminalistischen Zeitschrift durfte ich beispielsweise einen Überblick über die Forschung zu Tätowierungen geben. Es ist schon seit über hundert Jahren auch in der kriminalistischen Fachliteratur bekannt, dass Hautbilder zwar nicht immer sichtbar, aber oft quer durch alle Berufsschichten vorhanden sind. Lustigerweise sind Polizisten und Polizistinnen heutzutage sogar eine der am häufigsten tätowierten Berufsgruppen.
Solange noch Platz auf meiner Haut ist, wird es erst mal weitergehen mit den Bildchen. Ich trage auch unter der Haut schon seit etwa zehn Jahren ein paar Veränderungen. Just for fun habe ich zwei Magneten und einen RFID-Chip einsetzen lassen, mit dem man ähnlich einer Bankkarte berührungslos Informationen speichern und austauschen kann. Es wäre ungeheuer praktisch, wenn man eines Tages keine Hausschlüssel, keinen Pass und keine anderen Papiere mehr mit sich herumtragen müsste, sondern einfach den Arm an ein Lesegerät halten könnte. Die Technik dazu steht und funktioniert.
Ebenfalls vor langer Zeit ließ ich mir die Haare an meinem Körper weglasern – außer die am Kopf. Das hat keine Schönheitsgründe, auch wenn so nun endlich keine Gefahr mehr besteht, dass meine zahlreichen mit Tinte gestochenen Damen unfreiwilligen Bartwuchs bekommen. Es ist vielmehr total praktisch, weil damit Herbstgrasmilben und andere zwickende und saugende Insekten keine Chance mehr haben, einen Spaziergang auf mir zu unternehmen, wenn ich wieder mal eine Waldleiche untersuche – wo diese Milben manchmal zu Tausenden vorkommen. Keine Haare, keine Bisse: Das war die acht Sitzungen zu je eineinhalb Stunden wert, auch wenn ich – wie beim Tätowieren – mega empfindlich bin, was körperliche Schmerzen betrifft .
Da mein Co-Autor all das merkwürdig findet, hier mein Rat an alle, die aus der Sicht der anderen irgendeinem Mittelwert nicht entsprechen: Ich habe keinen Rat! Macht einfach euer Ding, macht, was ihr könnt, und nutzt die Möglichkeiten, die ihr habt. Dazu ist es erst mal wichtig herauszufinden, was man kann – und sich einzugestehen, was man nicht kann. Ich habe mich nie gefragt und frage mich auch heute nicht, ob mein Interesse anderen gefällt – ich wurschtele dort rum, wo es mich interessiert, und gehe dort weg, wo es mich nicht interessiert – egal, wie cool oder uncool es wirken mag, und egal, wie komisch es andere Menschen möglicherweise finden. Man muss nur seinen Arsch hochkriegen und in sich hineinhorchen. Dann kommt der Rest von allein. Jede freundliche Spezialtätigkeit nützt auch dem Rest der Menschheit, im Großen oder im ganz Kleinen.