5.2. Die Wiedergeburt der Politik

Der Neuanfang in “Passau” ist auf eine ähnliche Art mit Anachronismen1 versetzt, wie die Fabeln der “ Kyberiade”:

>    Ein Anachronismus ist vor allem die gesamte Existenz der Stadt und der Gesellschaft Passaus.

>    Auch die Existenz von Lois und seiner politischen Vorgeschichte zählt zu den Anachronismen; durch sie beeinflußt er Marte ideologisch, denn er kann aufgrund seiner Biographie auf Erfahrungen zurückgreifen, die Marte als Kind der Neuen Welt erst noch machen müßte: “Er hatte eine neue mitteleuropäische Politik eingeleitet - und doch nur eine schändlich alte: die alte Politik der Wölfe und Schafe.” (Passau, S. 115). Schließlich macht sich Lois noch Gedanken darüber, wie er und die Geschehnisse um ihn herum von einer zukünftigen Geschichte gesehen werden würden -dafür muß er aber das alte traditionelle Geschichtsdenken auf die neue Situation übertragen, obwohl sein Volk noch keine Geschichtsschreibung kennt.

>    Schließlich verteilen noch die subtileren Anachronismen über den Text wie der “marxistischdialektische Pfeil- und Bogenjäger” (Passau, S. 116), ein satirisches Element, denn ein Proletariat kann es unter den Reiternomaden nicht geben.

Im Unterschied zu Lem, der die Handlung auf ein bis zwei Charakteren basiert, legt Amery Wert auf das psychologisch-individuelle Moment. Dabei sind die Protagonisten plastisch gestaltet, nicht als bloße Funktionsträger; eine persönliche Entwicklung allerdings durchlebt nur Marte, der einfältige Bauernfünfer, der sich schließlich als zum Anführer bestimmt entpuppt. Marte, “das Kind der stillen neuen Erde” (Passau, S. 11), ist unter den wichtigsten Protagonisten zunächst der “edle Wilde”, unschuldig und naiv, da nicht wie Lois durch das Wissen um das “Vorher” belastet.

Am Schluß wandelt er sich unter Verzicht auf seine frühere Unschuld zu der oben genannten Führungspersönlichkeit:    er hat sich von Marte

instruieren lassen und tritt damit ein Erbe aus der Zeit vor der Seuche    an. “Vor einem hartnäckigen

Trugschluß, der wohl bis in die Zeit des Schwärmens für den edelen    Wilden zurückgeht, sei hier

ausdrücklich gewarnt. Was erforderlich ist, ist kein natürliches Programm” (Amery 1994, S. 150)2. Leider kann auch Amery den Imperativ der Verantwortung nur mit    einem Konjunktiv beantworten:

“Wären wir 400 oder 500 Millionen Menschen auf Erden…” (Amery 1994, S. 151). An dieser Stelle beginnt schon SF.

Bezeichnend ist, daß es in “Passau” wiederum die Kirche ist, die die offizielle Geschichtsschreibung übernimmt und damit die moralische Grenze zwischen Siegern und Besiegten ziehen kann3. In der Geschichtstheologie des Egid ist die “Wiederherstellung der natürlichen Dinge” (Passau, S. 14) ein Schlüsselbegriff; der Krieg und die sich abzeichnenden politischen Konflikte mit den Reiternomaden werden allerdings nicht als Widerspruch zur Natürlichkeit gedeutet.

Die Schlacht, die am Ende des Romans entbrennt, wird ausgetragen zwischen den “gottlosen” Passauern und den frommen Rosmern. Diese Information erhält der Leser aus der Quelle der Chronik des Egid, die aus dem Lateinischen, das Ähnlichkeiten mit dem Latein der Merowinger aufweist, übersetzt wurde. Diese Quelle und die Erklärung der Ursache der Seuche, die in “MAMUS” versteckt ist (vgl. 5. 1.) sind das rationale Element, mit dem die Katastrophe auch für den Leser dokumentiert und begründet wird.

Der Anachronismus der lateinischen Quellendokumentation spricht der Geschichte die Eigendynamik ab: alles wiederholt sich zur Erfüllung eines schicksalshaft vorgezeichneten Weges. Nach der mittelalterlichen Periode wird sich die Neuzeit entwickeln und damit wird auch wieder das Problem der Überbevölkerung aktuell. Würde Amery den Roman fortsetzen wollen, müßte er erneut Kunstgriffe anwenden, um dem Handlungsablauf eine überraschende Wendung zu geben.

Die Natur des Menschen ist es, nur im Widerspruch mit der ihn umgebenden Natur zu existieren; diese Ansicht ist der Ausgangspunkt der philosophischen Anthropologie von Amery. Aus dieser Prämisse folgert der Religionsphilosoph Georg Picht: “Wir stehen also vor der Paradoxie, daß wir denselben Prozeß befördern müssen, von dem wir wissen, daß er die Menschlichkeit des Menschen zerstören und damit auch sich selbst aufheben könnte.” (Picht in: Apel/Böhler/Berlich 1980, S. 457). In Passau werden die Selektionsbedingungen, denen die Menschen unterworfen sind, auf eine naturharmonische Basis zurückgewendet.

“Und tatsächlich waren die ersten Weisheiten, die ersten skills der Menschheit keineswegs das, was wir Produktionszuwachs nennen würden. Ihre ersten Weisheiten bezweckten die möglichst flexible Anpassung an die Ressourcen aus laufenden natürlichen Einkommen - ohne sogenannte ‘Veredelungs-Prozesse’” (Amery 1985 a, S. 349).

Auf dieser Basis bewegen sich die Rosmer am Anfang der Novelle; die Wende wird aber schon früh in einer Bemerkung Lois’gekennzeichnet: “Man muß wieder politisch denken.” (Passau, S. 12). Die Unorganisiertheit eines Personenverbandstaates ist für politische Aktionen nicht geeignet. Amery hat in seinem Roman Fragen aufgeworfen, die gerade in unserem Jahrhundert an Dringlichkeit zunehmen; niemand kann absehen, ob der Mensch noch weiter degeneriert, wie die Bewohner Passaus, oder ob er sich weiterentwickelt zu “etwas”, was momentan noch nicht absehbar ist. Die Frage, ob die Entwicklungen in Passau zwangsläufig waren wie in “A Canticle for Leibowitz“, oder ob die Rosmer eine Chance für einen Neuanfang hatten, kann nicht geklärt werden. In Millers Vorlage sind die Menschen durch die Erbsünde belastet, so daß der Brudermord unausweichlich ist. Amery sucht die Ursachen näher am Tatsächlichen: “Die zwei sind reingefallen, beziehungsweise, diese Nachkommen sind reingefallen. “ (Amery-Interview 1995, S. 3). Der Neuanfang war eine reale Chance, doch sie wurde nicht genutzt, weil traditionelles Denken auf eine veränderte Situation übertragen wurde, diesmal mit verkehrten Vorzeichen: nicht der technologische Fortschritt überfordert die politische Verwaltung, sondern der plötzliche “Rückschritt”, dessen Möglichkeiten von Lois erkannt werden. Doch auch er hat sich von der Vergangenheit nicht gelöst.

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5.3. Inkonsequenter und ökologischer Materialismus

“Indem sich Science Fiction um jede Bestimmtheit des Gesellschaftlichen herumdrückt, vertreibt sie alle Geschichte. Jenseits des Kapitalismus existiert nichts als die Abenteuer von Technik, Wissenschaft und entfesseltem Geist.” (Pehlke/Lingfeld 1970, S. 66). Die SF-Romane Amerys sind besonders geeignet, den umfassenden und einseitigen Vorwurf von Pehlke und Lingfeld zu widerlegen.

Amery ist Vertreter eines “ökologischen Materialismus”4, mit dem er sich eine Basis schafft, von der aus er sowohl Entwicklungen des Kapitalismus als auch des Marxismus kritisch beleuchten kann. Heute würde er nach eigenen Angaben den Begriff nicht mehr so nennen, obwohl sich das Problem nicht aufgelöst hat:    “Der Kapitalismus ist vorläufig

übriggeblieben, weil er geschmeidiger ist. Eine Auflösung gibt es nicht. Die Frage weicht auf im biosphärisch-ökologischen Kontext” (Amery-Interview 1995, S. 11).

Das kapitalistische System ist im Text eindeutig in der Stadt Passau realisiert: das Konsumverhalten erschöpft die Ressourcen, woraufhin die Agressivität der Expansionsbestrebungen zunimmt. Die Stadt Passau vertritt durch den Versuch, das Industriesystem zu reanimieren, die Position, die Amery als “inkonsequenten Materialismus” bezeichnet (Amery 1985 a, S. 365); ein besonderes Kennzeichen ist die Kurzsichtigkeit der Planung.

“Die Dialektik heißt: Der Mensch kann überleben als Spezies, als Krone der Schöpfung, wenn er weiß, das er sie nicht ist. Nur das distinguiert ihn, daß er das weiß. Der Löwe oder der Ameisenbär weiß daß vermutlich nicht. Was also durchaus im Zugriff der Einsicht liegt, daß wir also nicht die Krone der Schöpfung sind in dem Sinne, daß wir machen können, was wir wollen. Diese MetaÜberlebenstaktik, das ist das Entscheidende und das unterscheidet grundsätzlich vom Kapitalismus.” (Amery-Interview 1995, S. 12).

So aktualisiert Amery 1995 seinen Begriff vom ökologischen Materialismus mit der Forderung einer langzeitigen Planung, die nicht durch eine anthropozentristische Sicht beherrscht wird.

Der kapitalistischen Gesellschaft steht in der Erzählung allerdings nicht die marxistische gegenüber, sondern zunächst eine Gesellschaft nach den Prinzipien des ökologischen Materialismus (vgl.: Amery 1985 a, S. 364 - 367), die nach der Katastrophe ihre große Chance hat:

“Die sinnvolle Alternative zum Großprojekt ist das Kleinprojekt.”5 (Amery 1985 a, S. 357). Die Rosmer produzieren ausschließlich für den Eigenbedarf und nur innerhalb ihrer Möglichkeiten; zudem zeichnet sie aus, daß sie in egalitären Strukturen leben und ihnen auch die Feinheiten politischer Strategien6 fremd sind; sie haben sie ersetzt durch eine naive Mündigkeit im Umgang mit ihrer Lebenswelt. Der “Scheff” begeht den Fehler, Einfachheit mit Dummheit zu verwechseln und unterschätzt dadurch Lois von Grund auf. “Zukunftsschrott ist meine Bezeichnung für eine kulturelle Situation, die durch eine schnell fortschreitende Erosion der kollektiven Intelligenz gekennzeichnet wird. … Zukunftsschrott ist genau das, was nach dem Zukunftsschock kommt.” (Postman 1988, S, 186). Huxley’s Schöne Neue Welt erscheint 1932, als sowohl in Deutschland, Italien, aber auch in der Sowjetunion auf verschiedene Art und Weise “intellektueller Selbstmord” begangen wird. 1960 erscheint “ Wiedersehen mit der Schönen Neuen Welt” und es zeigt sich, daß die Neuauflage des Themas zeitlos ist. Im Unterschied zu Orwell werden bei Huxley die Menschen nicht durch Schmerzen, sondern durch das Vergnügen kontrolliert.

Der Geist einer Kultur kann vor allem durch zwei Arten zugrunde gerichtet werden: indem man die Kultur zum Gefängnis macht und/oder indem man die Kultur zum Variete macht. Die erste Variante wird von Amery bereits im “Königsprojekt” durch den Hermetismus einer klerikalen Gruppe vorgestellt. Kultur als Variete, das bunter und angenehmer ist als ein naturangepaßtes Leben wird in diesem zweiten Roman besprochen (auch in Lems “Kongreß” steht der Aspekt einer ablenkenden und unterhaltenden Kultur im Vordergrund).

“Stolz und Vertrauen. Das habe ich geschaffen. EliteBewußtsein. Und - daraus vielleicht eine Tech - eine Tech - nologie, die von Dauer ist. Mittelalterliches

Niveau ungefähr. Barockes, vielleicht.” (Passau, S. 76). So offenbart sich Lois’ der betrunkene “Scheff”. Ziel ist also wieder eine elitäre und technologiegestützte Zivilisation, die sich unweigerlich wie die vergangene verhalten wird.

Seit dem Verfassungskreislauf nach Platon ist bekannt, wie leicht anarchische Zustände in eine Tyrannei münden können7. Eine Besserung ist nach Platon nur zu erhoffen, wenn die wahren Philosophen an die Macht kämen, oder die politisch Mächtigen zu Philosophen würden. Tatsächlich sind in den Anfängen von Passau und Rosenheim die “politisch Mächtigen” Vertreter von Vorseucheideologien, die alte Theorien auf die neue Situation anwenden.

6. Stanislaw Lem: “Der Futurologische Kongreß”

In Costricana findet der achte futurologische Kongreß statt, der die Überbevölkerung der Welt und ihre Bekämpfung thematisiert. Der Kongreß beginnt unter schlechten Vorzeichen: in den Straßen um das Hilton, das die Kongreßgäste beherbergt und eine geschlossene Welt für sich ist, tobt der Bürgerkrieg zwischen der Militärregierung und Putschisten. Auch neuartige chemische Kampfstoffe, “Gutstoffe” und Benignatoren, die Reue, allumfassende Liebe und Güte induzieren, kommen zum Einsatz. Schließlich müssen sich auch die Teilnehmer des Kongresses in die Kanalisation des Hotels zurückziehen, wobei sie den Kampfstoffen aber nicht ganz entfliehen können. Die Wirklichkeitsebenen verschieben sich durch die

Überlagerung immer neuer halluzinatorischer Erlebnisse; auf einer dieser Erlebnisebenen wird Tichy so schwer verwundet, daß man ihn einfrieren muß, bis sich die Medizin seines Falles annehmen kann. Die folgenden Erlebnisse in der Zukunft des Jahres 2039 sind das Kernstück der Erzählung: Tichy ersteht von den Toten auf und findet sich in der Gesellschafts-ordung der Chemokratie wieder (Tichy erwacht erstaunlicherweise geheilt aus dem Kälteschlaf - eine Erklärung für seine Genesung wird nicht gegeben). Alle Sinneswahrnehmungen und die Reaktionen der Menschen werden bis in die kleinsten Entscheidungen durch die Einnahme chemischer Mittel gesteuert. Tichy, der dieser Kultur mißtraut, gelingt es mit Hilfe des ehemaligen Futurologen Professor Trottelreiner, der ihm ein chemisches Antidot verschafft, die Mauern der “Maskone” zu durchbrechen. Zunächst eröffnet sich Tichy durch die Einnahme des Mittels der Eintritt in die erste Hölle einer hoffnungslos überbevölkerten Welt; diese wird aber noch gesteigert durch die Existenz weiterer Antidote (jedes vorhergehende war seinerseits mit Maskonen versetzt), die immer schlimmere “Wirklichkeiten” zeigen. Wie eine Zwiebel verliert die simulierte Welt ihre Schichten, so daß sich Tichy kaum traut, das vorläufig letzte Mittel einzunehmen.

Zum Schluß entlarvt Tichy Symington, einen Bekannten, der sich mit der Produktion von “Bösem” zur Triebentlastung in der chemisch kontrollierten Welt beschäftigt, als Drahtzieher bei der Produktion und Verteilung der “Maskone”. Er ist der heimliche Diktator, der letzte, der um die Wirklichkeit Bescheid weiß und seinen Vorteil (unter altruistischem Vorwand) für sich nutzt. Wutentbrannt ringend stürzen Tichy und Symington aus einem Fenster - und Tichy erwacht in der Kanalisation unter dem Hilton aus seinem Alptraum. Die Revolution ist inzwischen beendet und der Kongreß geht seinem zweiten Tagungstag entgegen 8.

6.1. Die “Erlebnisebenen” in der Erzählung Tichys

Tichy, der Protagonist der Erzählung, ist wie Pirx ein “intuitiver” Held, der als solcher den Spezialisten überlegen ist. “Seit einiger Zeit hat sich die Auffassung herausgebildet, daß die Bedingungen der modernen und zukünftigen zivilisatorischen Evolution nicht perfekt spezialisierte Individuen begünstigen werden, sondern vielmehr äußerst flexible’, nicht in Routine erstarrte, die zur Anpassung an die veränderlichen zivilisatorischen Bedingungen fähig sind.” (Jarzebski in: Berthel 1976, S. 80)

Die menschliche Schwäche und Unvollkommenheit, die der Leser hautnah miterlebt, wird zum Vorteil für Tichy, der um den Erhalt seiner Menschlichkeit kämpft9. Lem läßt Tichy10 in der “Ich”-Form erzählen, die er sonst nur sehr selten verwendet. Dadurch wird der Leser in das Wechselbad der Erlebnisebenen stärker eingesogen.

“Annahmen des Lesers, es handle sich nur um Traum, Wahnsinn oder Halluzination sind letztlich Auflösungsversuche im Interesse der Rationalität, wenn auch unter negativem Vorzeichen. Kompliziert ist die Hinterfragung der Wahrnehmungsperspektive des Helden in der Ich-Erzählung, die von phantastischen Autoren nicht umsonst bevorzugt wird.” (Penning in: Thomsen/Fischer

1980, S. 36).

Lem bevorzugt sonst als untypischer SF-Autor eine die Objektivität bewahrende “Aufsicht” auf die Taten seiner Protagonisten, doch in diesem Kurzroman macht er eine Ausnahme.

Im “Kongreß” ist die Perspektive Tichys der einzige Angelpunkt, an dem sich die Orientierung des Lesers festmachen kann. So muß er dem Protagonisten folgen, wenn dieser immer wieder durch die verschiedensten Umstände in absurde Erlebnissituationen gezogen wird: durch chemische Kampfstoffe, Unfälle mit klinischem Tod, Kälteschlaf, chemischer Einwirkung in der Chemokratie und schließlich durch die Möglichkeit, daß alles nur ein Traum war. Bis zu diesem Erwachen allerdings wird nicht nur das Bewußtsein, sondern vielmehr die ganze Person Tichys bis zur Hirntransplantation in fremde Körper demontiert, so daß eine Definition des “Ich” immer unmöglicher erscheint. “… ich streckte mich; mein Blick fiel auf den Spiegel, an der Gegenwand. Bandagiert und im Rollstuhl saß dort eine hübsche Negerin mit verdutztem Gesichtsausdruck. Ich berührte die eigene Nase. Das Spiegelbild tat desgleichen.” (Kongreß, S. 49). Ein wichtiges SF-Motiv wird hier variiert: Die Dividierung eines Individuums. Dabei ist mehr die Wahrnehmung wichtig, wie sie sich dem Leser über Tichy mitteilt, als die psychologischen Zustände des Protagonisten.

TRAUM oder drogeninduzierte HALLUZINATION (???)

3. medizinischer Eingriff: Tichy wird vitrifiziert. Diagnose: reaktive Psychose

“GROßER TRAUM”    ^^-^\\\\\\\\^:

(als Rahmenkonstruktion)

In Abbildung 2. wird der Versuch gemacht, die Erlebnisebenen Tichys durch die im Text präsentierte Reihenfolge und durch eine Bindung an Orte zu ordnen (zur besseren Übersicht wurden die Übergänge von einem Zustand in den anderen durchnummeriert). Dabei können nicht annähernd die Unsicherheiten berücksichtigt werden, die sowohl Tichy als auch den Leser befallen, auf welcher Ebene er sich tatsächlich befindet: das Schaubild bezieht sich einzig auf die Beschreibungen, die Tichy aus seiner jeweiligen Situation für wahr hält. Aus diesem Grund wird auch auf eine Hierarchiesierung von Wahrheitsebenen verzichtet, obwohl aller Wahrscheinlichkeit nach der Kanal den höchsten “Wahrheitswert” hat: in ihm erwacht Tichy nach allen Träumen (oder Halluzinationen?; der Text läßt diesen Punkt offen.).

Einzig vor Tichys Vitrifizierung hat der Leser einen scheinbaren Wissensvorsprung vor dem Protagonisten: während Tichy das Krankenhaus, in dem er nach seiner

Verwundung erwacht, aufgrund der Erfahrungen, die er gemacht hat, für eine Halluzination hält, ahnt der Leser, daß diesmal die Halluzination Wahrheit ist - und wird für den Rest des Romans in diesem Glauben gelassen, bis Tichy erneut im Kanal erwacht! Hier könnte eine psychologische Deutung der Auflösung des “Ich” ansetzen, die aber den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde; im Vordergrund soll die Funktion der Auflösung und Remontage des Protagonisten in einer neuen Welt stehen.

Lem benutzt den Wechsel von Erlebnisebenen, die sich ablösen und überschneiden können, um den Gehalt an empirischer Textwirklichkeit so gering wie möglich zu halten. Damit baut er eine unerhörte Spannung auf, denn der Leser muß darauf gefaßt sein, aus jeder Situation plötzlich fortgerissen zu werden, um mit Tichy woanders/als etwas anderes wieder aufzuwachen. Die vier Monate Erzählungszeit legt Lem über den Traum und die Halluzination zwischen zwei Tagen fest und gibt den verschiedenen Erzählebenen so auf der letzten Seite einen verbindenden Rahmen. Jedes rationale Element, das zwischenzeitlich im Text als Erklärung für ein Phänomen herangezogen wird, wird durch eine andere Erlebnisebene ad absurdum geführt. Eine rationale Erklärung findet sich natürlich immer in dem permanenten Einsatz von Halluzinogenen, doch entgleitet dem Leser diese Basis, da er nicht beurteilen kann, wann die Wirkung des einen Mittels anfängt und die des anderen aufhört; dazwischen liegen die Träume, in denen wiederum ebenfalls Drogen existieren.

Robert Philmus (vgl.: SFS Juli 1986) sieht im “Kongreß” die logische Fortsetzung von Wells “The Time Maschine”; ein Mensch versucht im Alleingang, die bedrohliche Zukunft zu wenden, deren Konturen er schon in seiner Gegenwart entdeckt. Lem thematisiert die Zeitreise in seinen Kurzgeschichten und Romanen allerdings nur ungern; er bedient sich dieses SF-Motivs nur zur Veranschaulichung der selbstdefinierten “Phantomologie”:

“Lem nennt die Disziplin, die sich mit dergestalt zustandekommenden fiktiven Wirklichkeiten beschäftigt, Phantomologie und die Technik, welche es ermöglicht, eine Welt der totalen Illusion zu erzeugen, Phantomatik.” (Thomsen/Fischer 1980, S. 359).

Durch die subversive Tätigkeit der Phantomatik11 wird die Beziehung des Menschen zur Welt pervertiert. Sie schließt nämlich einen Test aus, der die Wirklichkeit von der Illusion trennt12.

In der Figur Tichys schimmert die pessimistische Grundhaltung Lems durch, die dieser am Anfang der siebziger Jahre einnahm, so daß er seinen Helden nicht mehr so leichtfertig mit dem Universum jonglierend darstellen konnte (immerhin wird Tichy auf der zwanzigsten Reise der    ”Sterntagebücher”    zum

Schöpfer unseres gegenwärtigen Universums).

Zu Beginn der Erzählung sind die parodistischen Elemente reich vertreten:    im    Spott    über das

Diskussionsverhalten der Futurologen, in der starken Überzeichnung der “befreiten Schriftsteller”, die zur gleichen Zeit im Hilton tagen. 13 Das zentrale SF-Motiv ist die Zeitreise durch den Kälteschlaf. Nach seinem Erwachen präsentiert sich Tichy eine zukünftige Gesellschaft, für die es Basisprobleme wie Hunger, Armut, Überbevölkerung und Krieg nicht mehr zu geben scheint. In dieser Phase der Erzählung werden die parodistischen Elemente immer seltener, abgesehen von der linguistischen Theorie Trottelreiners.

Alternierend wechseln sich Satire und Parodie im “ Kongreß” ab. Im Unterschied zur Parodie, die durch die Nachahmung einer vorgegebenen Gattung wirkt, ist die Satire nicht an eine Gattung gebunden.

Zu den unabhängigen satirischen Elementen gehören die Anspielungen auf:

1.    Auswüchse von Kultur - und

Dienstleistungsbetrieben; ein Spezialist für Attentate wirbt in einer Anzeige:    ”…    im Zeitalter der

hochgezüchteten Spezialisierung tue man nichts auf eigene Faust; man vertraue dem Berufsethos und den Kenntnissen gewissenhafter Fachleute.” (Kongreß, S. 14).

2. Verwaltungshierarchien und -strukturen; Tichy findet, nach einer Totaloperation allein zurückgelassen, ein Formblatt neben sich: “Werter Patient (Vor- und Zuname), … Die herzliche Benachrichtigung, die Du hiermit liest, soll Dir helfen, Dich den neuen Gegebenheiten Deines Lebens bestmöglichst anzupassen. Wir haben es Dir bewahrt. Gleichwohl entfernten wir Dir notgedrungenermaßen Arme, Beine, Rücken, Schädel, Genick, Bauch, Nieren, Leber, Sonstiges (Nichtbenötigtes streichen!)” (Kongreß, S. 51)

3.    Konkurrenzdenken und Vetternwirtschaft (beispielsweise in der Hemmungslosigkeit der Reporter zu Beginn des Kongresses)

4.    Versammlungs- und Sitzungsabläufe; in diesem Zusammenhang auf Wissenschaftstheorie und -sprache, aber auch auf die Abkürzungspraxis14 (wie sie besonders in den sozialistischen Ländern zu dieser Zeit Mode war).

5.    Charakterzüge veschiedener Personen durch eidetische Namensgebung (zum Beispiel der Futurologe Trottelreiner)

Somit umfaßt der “Kongreß” gleichzeitig eine Satire auf die Gattung, als auch auf aktuelle kulturelle Riten. “In dem Kurzroman ‘Der Futurologische Kongreß’ fehlen … die parodistischen Elemente und die Satire beschränkt sich im wesentlichen auf die einleitende Beschreibung des Kongresses.” (Marzin 1985, S. 18). So ernst, wie Marzin es beschreibt, hat Lem den “ Kongreß” nicht gestaltet; auch stimmt die Beschränkung auf die Einleitung nicht, wie im folgenden Kapitel belegt werden wird. Tatsächlich nehmen die potentiell komischen Elemente zum Schluß des Romans immer mehr ab; das Spielerische wird reduziert zugunsten der Alptraumatmosphäre, die sich durch die Vielfalt von aneinandergereihten Erlebnisebenen verdichtet.

Im folgenden Kapitel soll die Untersuchung des Verhältnisses von Kognition und “Wahrheit” auf den sprachlichen Aspekt konzentriert werden. In einem Dialog zwischen Trottelreiner und Tichy offenbart Lem dem Leser exkursartig seine Sprachtheorie, indem er sie durch Trottelreiner parodieren läßt.

6.2. Die Linguistische Prognostik Trottelreiners

Durch die sogenannte “kognitive Wende” am Anfang der siebziger Jahren werden die Grenzen einer Forschungsrichtung gesprengt, die sich nur auf das Verhältnis von Reiz und Reaktion konzentriert: die Untersuchung mentaler    Prozesse verdrängt    den

Behaviorismus. Damit    wird Gegenstand    der

Forschung, was im Menschen beim Sprechen und Hören vorgeht. Das allgemeine Problem der Wahrnehmung, das in 6.1. veranschaulicht wurde, soll nun für Lem in der Beziehung von Sprache und Wahrnehmung exemplifiziert werden. Lem hat bereits 1965/66 begonnen, sich mit linguistischen Fragestellungen auseinanderzusetzen (nach seinem gescheiterten Versuch,    in “Phantastik    und

Futurologie” eine umfassende empirisch begründete Theorie des literarischen Werkes zu schaffen). In Form eines Dialoges fügt Lem seine Auffassung über das Verhältnis von Sprache, Wahrnehmung und Wirklichkeit in seine Erzählung ein.

Im “Kongreß” versucht der ehemalige Futurologe und streckenweise Gefährte Tichys Professor Trottelreiner, die Sprachwissenschaft zum Instrument einer neuartigen Prognostik zu machen, indem er nach grammatikalischen Gesetzen neue Worte bildet und anschließend versucht, ihre mögliche semantische Bedeutung in der Zukunft abzustecken. Daß es zu diesen Begriffen keine mentale Repräsentation geben kann, stört ihn dabei nicht. Die Chiffregestalt der Umwelt wird bei Trottelreiner zum Spiel mit selbstreferentieller Semantik; Wirklichkeit wird durch ihn einer Welt unterworfen, in der das Zeichen wichtiger ist, als der Inhalt. Lem kann hier der Kunst seiner Sprachschöpfungen freien Lauf lassen, gleichzeitig hat er in ihnen ein Medium für Satire. Die Diskussion der linguistischen Prognostik ist kein notwendiger Bestandteil der Erzählung - vielmehr ist sie ein Exkurs zu einem Gedankenexperiment, das er lose an den Text angefügt hat.

In Vollkommene Leere stellt Lem fiktive Rezensionen zu fiktiven Werken zusammen. Den Gedanken, den er im Kongreß mit Trottelreiner auf der Wortebene hat beginnen lassen, wird dort auf der Werkebene vollendet. In Nichts oder die Konsequenz” klagt Lem über die Bodenlosigkeit der “grammatischen Maschine”, der “Mühlsteine der Substantive” und der “Treibräder der Syntax” (Lem 1973, S. 89). Damit bezieht er Position zu dem Vorwurf Barnows, der wie Lem selbst in den Science Fiction Studies” veröffentlicht: “Contemporary SF … has failed to invent a new syntax adequate to the cognitive potentiality of our social and scientific experience.” (Barnow in: SFS Juli 1979, S. 154). Das Problem ist also, wie diese “neue Syntax” gestaltet sein muß: bislang entziehen sich die Mechanismen natürlicher

Sprachen noch erfolgreich jeglicher vollständigen Formalisierung.

Der “frühe” Wittgenstein, den Lem sehr bewundert, dessen Sprachhermetismus er aber kritisch gegenübersteht, versucht, das Wesen und die Grenzen der Welt in das Wesen und die Grenzen der Sätze zu verlegen. Die Realität der von Trottelreiner analysierten Worte ist nicht existent; ein Wort oder Satz kann ohne Referenzbereich keine Bedeutung erlangen. Also muß im Sinne des “späten” Wittgensteins die Sprache selbst die Realität schaffen.15

Zwei Regeln für Sprache und Information werden für die Welt im “Kongreß” aufgestellt:

1.    Die Bedeutung wird von der Wirklichkeit getrennt und bleibt verborgen.

2.    Die Sprache kreiert eine Wirklichkeit, die den ausschließlichen Rahmen von Bedeutungsrelationen definiert.

In dem folgenden Dialog zwischen Tichy und Trottelreiner will letzterer ihm diese Theorie erläutern:

“- ‘…Bitte ein anderes Wort.’

-    Bein.’

-    ’ Gut. was geht mit dem Bein? Beinler. Beinmal, allenfalls Beinmal eins. Beinigel. Beinzelgänger. Beinzeln und sich beinigen. Beingängig. Verbeinert. Bein dich! Beinste? Beinerlei! Beingeist. Beingeisterei.’

-    ‘Was heißt denn das alles? Die Worte haben doch gar keinen Sinn?’

-    ‘Noch nicht. Aber sie werden einen haben, das heißt, sie können unter Umständen Sinn gewinnen, sofern sich

Beingeisterei und Beintum durchsetzen. Das Wort ‘Roboter’ hat im 15. Jahrhundert nichts bedeutet, aber wenn die Leute damals die linguistisch orientierte Futurologie gekannt hätten, dann hätten sie beim Robotern die Automaten vorhersagen können!’” (Kongreß, S. 104).

Lem spottet bevorzugt an den Stellen, an denen er selbst eine Grenze nicht überschreiten kann. Er macht sich auf der einen Seite über Sprachhermetismus lustig und weist zugleich auf die Probleme der Wirklichkeitserfahrung und der Medial-Theorie (Wirklichkeit ist nur über das Medium zu erfahren; Brechungen und Verzerrungen in der Erfahrung sind somit die Wirklichkeit) hin. Er sperrt auf der einen Seite Sprache und Welt in ein gemeinsames geschlossenes System ein, will sich auf der anderen Seite aber im literarischen Experiment über die selbstdefinierten Grenzen hinwegsetzen. Trottelreiner wird (ähnlich wie Trurl und Klapauzius) zum mittelalterlichen Sprachmagier, der Gegenstände und Ereignisse “herbeizaubert”, indem er ihnen Namen gibt. Denn: was hätte die Erfindung des Wortes “Roboter” im 15. Jahrhundert bedeutet? Und: warum hätte man genau dieses Wort aus einer unendlichen Zahl anderer Wörter auswählen sollen? Trottelreiner ist wie Lem in dem Teufelskreis gefangen, daß die Semantik neuer Wörter wie auch die Entdeckung einer neuen Perspektive nur eine Verlängerung/ Modifizierung dessen sein kann, was bis zum Augenblick der Gegenwart erfahrbar ist.

Aus der “Beingeisterei” entwickelt Trottelreiner eine Denkrichtung, in der sich der Mensch aus platzsparenden Gründen zum “Homo sapiens monopedes” weiterentwickeln soll. Hintergrund der Gedanken ist aber ein Problem seiner empirischen Gegenwart, nämlich der Platzmangel durch Überbevölkerung. Was hätte der mittelalterliche

Mensch unter “Beingeisterei” verstanden, der das Problem der Überbevölkerung nicht kannte? Ebenso könnte der zukünftige Mensch unter dem semantisch nicht belegten Begriff etwas ganz anderes verstehen (beispielsweise ein zweites, in das Bein ausgelagertes Gehirn). Lem läßt den Leser durch seine doppelbödige Ironie im Unklaren über den Anspruch von Trottel-reiners Thesen:

1.    Zum einen hat Ironie bei Lem einen abschwächenden Charakter: da er manche Themen um seiner wissentschaftlichen Glaubwürdigkeit willen nicht direkt bearbeiten möchte, schreibt er fiktive Rezensionen zu fiktiven Bücher über genau diese Themen (z. B. über eine universelle Statistik der Menscheit in “Eine Minute der Menschheit”). Dem Vorwurf der Absurdität kann Lem damit immer wieder durch den Verweis auf die Uneigentlichkeit der Texte entgehen; wie in der Theorie der Romantiker kann er dabei seine Sehnsucht nach dem Absoluten in dem Wissen ausführen, letzteres nie erreichen zu können.

2.    Zum anderen nutzt Lem die Ironie, um seine Gegenposition zu einem Standpunkt klar zu machen “Sprach- und Kulturimmanenz, notwendiges Resultat eines Rückgangs hinter die Gegenwelt des Phantastischen, heißt bei ihm: Konzentration auf eine aus den uns zur Verfügung stehenden Zeichen zusammengesetzten Wirklichkeit…” (Piechotta in: Marzin 1985, S. 141).

Lems Thesen lassen sich, bezogen auf die seiner Romanfigur Trottelreiner, so zusammenfassen:

1.    Die Welt des Zeichens ist die einzige uns zugängliche Welt.

2.    Eine innersprachliche Beziehungswelt muß an eine außersprachliche Instanz gebunden sein.

Diese Thesen scheinen im Widerspruch zueinander zu stehen. Einen Sinn erhalten sie, wenn sie auf Lems schriftstellerisches Ziel übertragen werden: durch literarische Experimente sucht er Wege nach neuen Perspektiven, indem er versucht, das Noch-nicht-mögliche innerhalb der Grenzen der Wahrscheinlichkeit zu umreißen. Zur Verfolgung dieses Zieles gehört ein gewisser Hochmut, den er mit den Versuchen Wittgensteins, mit der Philosophie gegen das Gefängnis der Sprache anzugehen, teilt. “I am not interested in so-called linguistic poetry which creates an autonomous world that does not refer to anything existing outside this poetry.” (Interview mit Lem in: SFS 1983, S. 5). Der Übertragbarkeit der Modelle kommt damit eine entscheidende Funktion zu: Schemata der Wirklichkeit sollen ausdehnt werden, soweit, wie diese es zuläßt. Wie gegen den Strukturalismus entscheidet sich Lem schließlich gegen den linguistischen Ansatz, nicht aber ohne mit dessen verlockenden Möglichkeiten gespielt zu haben. Trotz des natavistischen Sprachansatzes ist für ihn die natürliche Sprache nichts weiter als ein von Menschen erprobtes und mit Bedeutung beladenes Kommunikation s- und Signalsystem. Dem Vertrauen, daß Philosophen wie Husserl oder Heidegger in die Sprache setzten, steht er mißtrauisch gegenüber: “Ich hege großes Mißtrauen gegen die Verabsolutierung von Informationswissen, das man aus dem bloßen Sprachbereich ableiten kann.” (Lem 1986, S. 316).

Im nächsten Kapitel wird dieses Mißtrauen expandiert auf das Problem der Informationsverarbeitung im allgemeinen und die möglichen gesellschaftlichen Konsequenzen. Lem entwirft eine Gesellschaftsform, die in die Linie Orwells, Huxleys und Samjatins eingereiht werden kann.

Als Anmerkung zu diesem Kapitel läßt sich noch anfügen, daß die Sprachkritik Lems sich auf die natürlichen Sprachen konzentriert. Der Mensch selbst ist nicht fähig, über seine eigene Sprache hinaus eine Metasprache zu entwickeln, die eine Verbesserung der ethnischen Sprachen ermöglicht. Dagegen ist nach Lems Ansicht der biologische Code eine mächtige Sprache, die man zumindest teilweise in den Dienst nehmen kann für menschliche Fragestellungen. Diese Problematik wird im “Kongreß” aber nicht mehr ausgeführt.

6.3. Chemokratie und Psivilisation

“Auf der Erde leben 29,5 Milliarden Menschen. Es gibt Staaten und Grenzen, aber keine Konflikte. Der Hauptunterschied zwischen einstigen und jetzigen Menschen ist mir heute mitgeteilt worden. Grundbegriff ist jetzt die Psychemie. Wir leben in einer Psivilisation.” (Kongreß, S. 66). In dem Kriminalroman “Der Schnupfen”16 (1977) entwickelt Lem bereits die Grundidee der Psychemie: durch ein aus verschiedenen Komponenten zufällig entstehendes Halluzinogen kommt es zu einer Reihe unerklärlicher Unfälle auf einer Autobahn. Aus dieser Idee, in Verbindung mit einer Anleihe aus einem anderen, früheren Roman, entstand die Chemokratie des “Kongresses”: in “Transfer” kehrt der Weltraumfahrer Hal Bregg zu einer Erde zurück, die infolge des Einsteinschen Zeitparadoxons bereits in einer für Bregg fernen Zukunft lebt. Die Gesellschaft, die er antrifft, ist “betrisiert”, das heißt: den Menschen werden von Geburt an alle aggressiven Triebe genommen. Nach langem Ringen gelingt es Hal Bregg, sich in die

Gesellschaft einzufügen; mit diesem Schluß war Lem später nicht mehr zufrieden.

“Lem untersucht die Gesellschaft als System von Elementen, zwischen denen Informationsströme verlaufen. Dieses System wird von schweren, krankhaften Störungen geschüttelt, wenn der Informationsfluß auf Hindernisse stößt, oder absichtlich blockiert wird.” (Jarzebski in: Berthel 1976, S. 66).

Die Gesellschaft, in der sich Tichy nach seiner Einfrierung wiederfindet, ist gleichzeitig Alptraum und Paradies. Durch die Beliebigkeit des Lebens und den Verlust jedes teleologischen Strebens ist die Mündigkeit der Bürger reduziert auf die Wahl zum Wetter von morgen. Politik, Philosophie, sämtliche Objekte intellektueller Betätigung beschränken sich auf pharmazeutische Mittel, mit denen das Individuum nur sich selbst erlebt. Neil Postman glaubt in seinem berühmt gewordenen zeitkritischen Werk “Wir amüsieren uns zu Tode” eine Parallele dieser Tendenz im Fernsehverhalten - besonders in Bezug auf die jüngeren Generationen - zu erkennen: “Das Ungefährlichste am Fernsehen ist der Quatsch, den es produziert.” (Postman 1985, S. 193). Weit gefährlicher ist seiner Ansicht nach die Tatsache, daß das Fernsehen auch zum wichtigsten Informationsträger für Politik, Religion und Kultur geworden ist; jedes dieser Themen aber vorwiegend nach seinem Unterhaltungswert präsentiert und beurteilt wird.

Eine Forderung Lems ist, daß die Menschen emotional lebendig bleiben müssen; so kann Tichys Verlobte sich ohne Chemie nicht für oder gegen ihn entscheiden 151;

nur Tichy ist noch in der Lage, ohne “Furosil” wütend zu werden. “Spontanen Gefühlen darf nichts überlassen bleiben; das wäre unanständig.” (Kongreß, S. 66) Die Kultur der Gesellschaft hat aus der Not eine Tugend gemacht; die chemischen Krücken werden nicht als notwendiges Übel betrachtet, sondern als Überlegenheit gegenüber dem “Vorher”. Deswegen wird auch Tichy in verschiedenen Situationen verächtlich als “Tauling” beschimpft.

Wie in Lois steckt in Tichy noch ein Erbe, das ihm hilft, die Zukunft gegen den Strich zu lesen. Beide sind in der Lage, Vergangenheit und Zukunft miteinander zu vergleichen 17; hier verbinden sich sowohl in “Passau” als auch im “Kongreß” utopische und antiutopische Elemente.

Die Parallele mit der uns umgebenden Welt ist eindeutig:    “Die Informationstechniken haben die

Situation eines Paradieses geschaffen, worin angeblich jeder, der nur will, alles erkennen kann, aber das ist eine komplette Verfälschung.” (Pospieszalska in: Berthel 1976, S. 126). Auf diese Verfälschung geht Neil Postman18 ein, wenn er auf die Komplikationen hinweist, die sich ergeben, wenn eine Gesellschaft der “Informationselite” zu einer neuen Klassengesellschaft umgeformt wird. 19

Diese Elite ist nicht darauf angewiesen, zwischen Gut und Böse im Sinne Orwells zu unterscheiden - sie hält beide Pole fest in der Hand: “Wir haben das Böse gezähmt, wie die Krankheitskeime, woraus Arzneien bereitet werden. Kultur, mein Herr, das bedeutete früher, daß der Mensch dem Menschen einredete, der Mensch müsse gut sein.” (Kongreß, S. 93). Symington, Angestellter von “Procrustics”, einer Firma, die sich mit der Produktion von “Bösem” zur (chemischen) Triebbefriedigung befaßt, klärt Tichy über die neue Gesellschaft auf. Am Ende zeigt sich, daß er zur Informationselite der “Sachsichtigen” gehört, die die Wahrheit von den Menschen fernhält - wie er sagt, aus humanitären Gründen. Doch auch die scheinbar perfekt simulierte Gesellschaft hat ihre Schattenseiten: trotz allgemeinem Reichtum gibt es die “Schmierarchie”, eine gebräuchliche Bezeichnung für bestechliche Funktionäre. Es läßt sich vermuten, daß die Funktionäre die letzten tatsächlichen Ressourcen für sich beanspruchen.

Durch die allgemeine Betäubung wird eine Lösung der Probleme einer totalen Überbevölkerung endgültig verhindert. Die Konsequenzen sind im “ Futur ologischen Kongreß” leicht zu erkennen: kulturelle Stagnation und Unmündigkeit der Gesellschaft, die für die einfachsten Entscheidungen in dieser Gesellschaft ein chemisches Mittel benötigt 20.

“Seit Platon in seiner Politeia die Welt der wirklichen Dinge im Rahmen einer ontologischen Setzung als Schatten der Ideen bezeichnet hat, ist es eine Frage des erkennenden Subjekts, in welcher Form eine epi-stemologische Definition der Außenwelt möglich ist.” (Marzin 1985, S. 19). Lem präsentiert sich als Vertreter des Solipsismus, stellt diese Position aber auch gleich zur Diskussion, denn er läßt dem Leser den berechtigten Zweifel an der Welt, die sich ihm durch die Augen Tichys präsentiert: Ist alles nur ein drogeninduzierter Traum, sind Teile wahr und andere falsch, oder ist die Erzählung aus dem Munde Tichys so hinzunehmen, wie er sie präsentiert?

“Lem’s approach to tyranny would seem to indicate that he’s neither pro-West nor pro-East…” (Ziegfeld 1985, S. 22). Tatsächlich hält sich Lem aus einer solchen Parteinahme heraus; so richtet sich seine Kritik sowohl gegen das kapitalistische als auch das kommunistische System, denn die Chemokratie kann in beide Richtungen gedeutet werden. Das falsche Paradies könnte sich ebenso auf die Verspechungen des “real existierenden Sozialismus” als auch auf die Überflußgesellschaft am Rande des Ruins, so wie Amery sie beschreibt, hindeuten21.

In “Stimme des Herrn” führt Hogarth, Held des Romans und Wissenschaftler, aus, daß der Menschheit im Umgang mit Technologie nur zwei Möglichkeiten bleiben: entweder muß sie “den Himmel stürmen”, oder sich abkapseln und die Technologie zur eigenen Bequemlichkeit nutzen. Sowohl in “Transfer” 157 als auch im “Kongreß” hat sich die Menschheit für letzteres entschieden. Die Anwendung von Atomkraft sieht Lem dagegen an sich positiv, wenn ihr Gebrauch in den Händen verantwortungsbewußter Experten liegt22.

Lem spricht meiner Ansicht nach mit dem “Kongreß” eine Absage an die szientistisch-humanistische Zivilisations-Utopie aus: die menschliche Kultur ist nur in der Lage, mit den Mitteln der Technologie die Mängel und Unstimmigkeiten, in diesem Fall die brutale Wahrheit der totalen Überbevölkerung zu überdecken, nicht aber zu beheben. Schwonke beschreibt das gleiche Problem so:

“Utopie als ‘Leitbild des Handelns’, als ‘Wurf des Willens’-diese Charakterisierung trifft das utopische Denken des 19. Jahrhunderts, den Ausdruck des ungebrochenen Selbstbewußtseins des Menschen, der es unternimmt, die Welt aus eigener Kraft und Macht zu gestalten.” (Schwonke 1957, S. 2).

Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts wurden die meisten kritischen Gesellschaftsentwürfe im Stil “Utopias” von Thomas Morus entworfen. Doch auch der Stil des gegenutopischen Denkens ist von Amery und Lem weiterentwickelt worden. Waren es bei Orwell oder Huxley, in Bradburys “Fahrenheit 451” oder Kornbluth/Pohls “The Space Merchants” nahezu perfekt funktionierende Herrschaftssysteme, deren primäre Absicht es war, die eigene Verewigung anzustreben, so positionieren Lem und Amery in ihren “cautionary tales” (Amery-Interview 1995, S. 3) ihre Herrschaftssysteme vor dem Hintergrund nahezu apokalyptischer Entwicklungen 23.

1982 lädt die Projektgruppe INSTRAT der Freien Universität Berlin Lem zu einem Kolloquium ein, in dem interdisziplinär das Potential von Informationsund Kommunikationssystemen für individuelle und gesellschaftliche Problembewältigungen untersucht werden soll. Um dieses Potential auch für die Zukunft abschätzen zu können, werden die Konfrontation von spekulativer Literatur und verschiedenen Wissenschaften gesucht. Zu diesem Zweck entwickelt Lem die Vision der “Ethosphäre”, in der

“eine fiktive Zivilisation aus der Gefahr des Kollapses der internalisierten Werte heraus sich eine ‘physikalische Ethik’ geschaffen (hat), die jegliches unethisches Verhalten antizipiert und als ‘Wolke’ verhindert. Diese Vereinigung von Physik, Ethik, Technik und Logik stellt ein Reich der vollständigen Ordnung dar.” (Hennings 1983, S. 7).

Die Idee der “physikalischen Ethik” findet sich sowohl in “Kyberiade” wieder, als auch in der Chemokratie -jeweils aus der Perspektive der Schöpfer und der “Opfer” einer solchen Ethik. Schon im Ansatz unterscheidet Lem die Denkbarkeit und die Wünschbarkeit der “Ethosphäre”. Die Denkbarkeit dieses Modells basiert für Lem auf der These, daß die Techno-Evolution die Bioevolution zwangsläufig ablösen wird. Dementsprechend wird sich auch die Ethik nicht mehr an den biologischen Bedürfnissen allein orientieren, sondern sie muß beispielsweise auf ein ganz anderes evolutionäres Tempo reagieren können.

Nach einem Exkurs ihrer Methoden sollen im folgenden die Visionen der beiden Autoren zu zukünftigen Systemen untersucht werden, sowohl in Bezug auf ihre Denkbarkeit, als auch auf ihre Wünschbarkeit.

7. Stanislaw Lem und Carl Amery im Vergleich

“Der ‘Stil’ von Science-Fiction ist Realismus; denn das Ungewöhnliche und Phantastische muß als selbstverständlich, also quasi realistisch präsentiert werden.” (Hasselblatt in: Berthel 1981, S. 194/195.) Eine Gattung der Verfremdung bedient sich also des Stils des Realistischen, um das Verfremdete umso deutlicher werden zu lassen? “Gewiß, ich betrachte mich als realistischen Schriftsteller, denn ich befasse mich mit realen Dingen. Mich interessiert nicht die Eigenschaft der Welt, die sie nicht besitzt.” (Lem 1986,

S. 110). Mehr noch als für Lem gilt dies für Amery, verbunden mit seinem politischen Engagement; in diesem Sinne muß das SF-Realismuskonzept von Hasselblatt korrigiert werden.

Beide schaffen auf ihre persönliche Art und Weise an sich nicht-realistische Situationen, in denen dann auf Mechanismen der Realität hingewiesen wird.

In den vier Werken wurden unterschiedliche Ansätze der Verfremdung als “Verfremdung in der Zeit” vorgestellt

>    in der Zeitreise mittels einer Zeitmaschine im “Königsprojekt“,

>    in der Schaffung einer zeitentgrenzten Galaxis, die einzig durch rudimentäre Hinweise an den Menschen gebunden ist (” Kyberiade”),

>    in der Einführung einer gleichzeitig zukünftigen und vergangenen Welt, die durch eine von der

Wissenschaft induzierte Katastrophe entstand (“Passau”),

> in der halluzinatorischen Reise in eine zeitlich nicht zu weit entrückte Zukunft dieser Welt (“Kongreß”). Beide Autoren transportieren folglich “reale Dinge”, Vorstellungen, die sich aus dem realen Erfahrungsbereich gebildet haben, in einen imaginären Rahmen, der über einen fixen Parameter, ein Motiv aus dem SF-Bereich, gebildet wird. Daneben steht es ihnen frei, die “Variablen” zu besetzen, die ihnen für die Ausgestaltung des imaginären Raumes nützlich erscheinen (beispielsweise daß Trurl und Klapauzius in der 7. Fabel in der Lage sind, Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit miteinander zu vertauschen). Der freie Raum um das SF-Motiv wird von den beiden Autoren recht unterschiedlich genutzt. Bei Amery hat das SF-Element nur funktionalen Charakter, es dient dem Spiel mit historischen Elementen, deren Gesetzlichkeiten untersucht werden. Lem dagegen setzt zusätzlich die Gesetze der Physik, der Biologie, der Wahrscheinlichkeit und andere außer Kraft. Seine Welten unterscheiden sich viel weitgehender von der Erlebenswelt, da auch die Ideen, die “realen Dinge”, die Lem dem eingangs erwähnten Zitat zu Folge beschreiben möchte, wesentlich weniger konkret umrissen sind, als die Amerys. Im folgenden Kapitel soll auf die verschiedenen Methoden der beiden Autoren, ihren imaginären Rahmen zu setzen, eingegangen werden. Anschließend sollen die vermittelten Ideen auf zwei Aspekte hin untersucht werden, den kulturkritischen und den transzendentalen Aspekt, wobei die Wechselwirkung beider entscheidend ist. Beide Autoren stellen den Verlust des Transzendentalen als kulturstabilisierenden Faktor oder allgemeine Defizite im kulturellen Gefüge fest. Aus diesem Grund können alle vier Werke als “cautionary tales” bezeichnet werden; auf die Charakteristik der Mahnung wird in 7. 4. eingegangen werden.

7.1. Verschiedene Methoden der Abstraktion

In “Das hohe Schloß” erzählt Lem autobiographisch aus seiner Kindheit; sein liebstes Spiel war, sich durch “geheime Dokumente” und “Sondervollmachten” eine symbolische Welt aufzubauen. Mit dieser “bürokratischen Liturgie” (so Lem) gelangte er an eine Schwelle von Kunst und Absolutem: “Später wird man im Werk Stanislaw Lems den Taumel des Spiels an der Grenze des Heiligen und des Grotesken wiederfinden -das Spiel mit dem Absurden und dem Absoluten.” (Sila in: Berthel 1981, S. 57). Es läßt sich deuten, daß Lem schon damals etwas literarisch zu beherrschen suchte, was de facto außerhalb seiner Möglichkeiten lag.

In seiner Kritik an Todorovs “Theorie des Phantastischen24 (1972) spricht sich Lem entschieden gegen die strukturalistische Methode aus. Strukturalismus ist seiner Ansicht nach nichts weiter “als der erste Versuch, Literaturwissenschaft mit naturwissenschaftlicher Strenge zu beschreiben.” (Lem 1981 b, S. 9). Lem orientiert sich als Autor am literarischen Experiment: “… ich ging immer nach der

Methode von trial and error vor” (Lem 1986, S. 53). Dieser “literarische Behaviorismus” richtet sich bei Lem nach seinem subjektiven Empfinden - schließlich gibt es keinen Maßstab für Literatur. “Der Strukturalist erkennt die semantischen Skelette, doch die Schönheit der Werke ist keine ausschließlich von solchen Skeletten abhängige Variabel.” (Lem 1986, S. 75). Besonders in der Kritik an Todorov bekennt sich Lem zum Subjektivismus. Todorov erklärt, daß er alle Fragen der Ästhetik übergehen müsse, da sie zu komplex für seine Untersuchungsmethode seien; gerade an dieser Feststellung stößt sich Lem, ebenso wie an dem Versuch, Kunstwerke in ein System einzufügen. Nach Lems Verständnis wird ein Werk um so mehr zum Kunstwerk, je origineller es ist (vgl. Lem 1981 b, S. 10). Demzufolge entgehen Todorov nach Lem gleich zwei der wichtigsten Elemente der phantastischen Literatur: das Spielmoment und das ästhetische Moment. Im Gegenzug stellt Lem eine Theorie der empirischen Literatur auf; in “Phantastik und Futurologie” (1984) baut er ein umfassendes theoretisches Gebilde auf, schafft es aber nicht, es zu einem konkreten Abschluß zu bringen. Lem unterscheidet zwei Arten der Phantastik:    eine

“vorübergehende” und eine “endgültige” Phantastik. Zur ersteren gehört beispielsweise die Metamorphose eines Menschen in ein Insekt, wie sie bei Kafka verwendet wird. Kafka funktionalisiert dieses Motiv, um eine sozio-psychologische Situation zu veranschaulichen.

“Die merkwürdigen Phänomene bilden also nur die äußere Schicht dieser Welt; sie hat einen inneren Kern, der einen guten, nicht phantastischen Sinn hat. Die Objekte werden also als semantisch aufzeigende Zeichen benutzt.” (Lem in: Quarber Merkur 1979, S. 21). 25

Die “vorübergehende” setzt die Regelwerke der Wirklichkeit nur partiell außer Kraft; zur “endgültigen” Phantastik zählt er beispielsweise das Märchen und SF mit einem weitgehend eigenständigen Regelsystem. Amerys Werk aber fällt nach Lems Definition in die gleiche Kategorie wie das oben genannte Werk Kafkas, da es die Gesetze der Geschichte sind, die in einer Extremlage untersucht werden.

Die Methode, wie SF-Motive und “Sonderregeln der Testwirklichkeit” bei Lem und Amery ihre Verwendung finden, ist verschieden. Unterschiedlich ist vor allem der “Grad” des phantastischen Gehalts. Auf der Ebene der Darstellung divergieren die Welten von Amery und Lem weitgehend; auf der denotativen Ebene dagegen konvergieren sie in der Kulturkritik einer real existierenden Welt - und ihren Entwicklungstendenzen: “Ein literarisches Werk kann also die Welt beschreiben, wie sie ist; oder es kann sie deuten. … Gewöhnlich aber kann ein Werk beides zugleich tun.” (Lem in: Quarber Merkur 1979, S, 21). Sowohl Amery als auch Lem versuchen, Beschreibung und Deutung in ihren Werken zu vereinen. Dabei ist auffällig, daß Lem sich ungern mit der Beschreibung aufhält und daher seine Welten in einem “freien Raum” positioniert; dort kann er mit Gesetzen der Wirklichkeit “spielen”, so daß der Aussagewert der Spiele sich auf philosophische Theorie konzentriert. Besonders deutlich wird dies in der fünfzehnten Fabel der “Kyberiade” in den vergeblichen Versuchen der Konstruktion von Glück. Die Regeln der Physik und der Biologie sind längst überwundene Grenzen, dennoch ist es nicht möglich, den Sinn für die eigene Existenz empirisch zu belegen. Die Betonung liegt also auf der Deutung, die ins Abstrakte entwächst.

“Ja, Lem denkt viel kosmischer als ich, der geht hinaus, zum Beispiel in Solaris’. Ich halte mich an die Pfarrei, was vielleicht ein bißchen bayrisch ist.” (Amery-Interview 1995, S. 14). Amery bemerkt zu Lem, daß dieser planetarische Alternativen ganz anderer Art organisiert als er. Seine “Pfarrei” ist die Geschichte dieses Planeten, so daß der Beschreibung, der genauen Analyse viel mehr Gewicht zukommt, als bei Lem. Dementsprechend ist die Deutung auch viel stärker interessengeleitet. Amery geht es nicht um das Spiel mit abstrakten Ideen.

Die Probleme, um deren Diskussion Lem bemüht ist, setzen sich aus zwei Klassen zusammen:    ”    -

Immanente Probleme der internen Logik, der Geschlossenheit des theoretischen Konzepts, ihrer Vereinbarkeit mit unserem Stand der Erkenntnis von Naturgesetzen.” (Henning 1983, S. 26). In seiner Belletristik neigt Lem dazu, diese erste Klasse von Problemen als gelöst zu betrachten, um sich gleich der zweiten zuzuwenden: “- Fragen, die die technischnaturwissenschaftliche Entwicklung transzendieren, z. B. ethisch-moralischen Charakters. Die entworfene Situation dient dann nur als Vehikel … “ (Henning 1983, ebd.) In diesem Zusammenhang kommt es Lem vor allem auf die Aufdeckung der Probleme an, weniger auf die Abschätzung der Wahrscheinlichkeit zukünftiger Entwicklungen wie im diskursiven Werk. Die Funktionalisierung der Phantastik, die Lem Kafka “vorwirft”, zieht sich schließlich durch sein eigenes Gesamtwerk; auch wenn Prognostik 26 und Phantastik bei Lems Texten im Fokus stehen, so repräsentieren sich in ihnen philosophische Modelle, die ein Teil der bereits bestehenden Welt sind (in dem Moment, da sie gedacht wurden, sind sie zumindest ein Teil der Gegenwart). Lem steckt sowohl für sich als auch für andere Schriftsteller die Ziele der SF-Literatur zu hoch, indem er eine Meta-Literatur schaffen möchte, die den Rahmen des nur-literarischen schon wieder verläßt. Die Existenz des “erzählerischen Novums”, das Suvin als notwendige Bedingung für SF ansieht (vgl. 2. 1. 2.), kann sehr zu Lasten der Verständlichkeit ausfallen27.

Lems hauptsächliche Suche ist ausgerichtet auf eine neue Perspektive, der er sich durch neuartige literarische Experimente zu nähern sucht. “New form is always the artist’s source of hope, because innovative form is the vehicle for fresh insight into eternal human puzzles.” (Ziegfeld 1985, S. 89.) Wie Amery hat auch Lem erkannt, daß eine neue utopische Literatur nicht nur mit der soziologischen Perspektive agieren kann. Die Welt ist zusammengerückt, sowohl faktisch durch die Transportwege, als auch über die Medien. Deswegen muß sie als Ganzes betrachtet werden. Als Konsequenz der Komplexität der Aufgabe bevorzugt Lem die Uneigentlichkeit der Darstellung, die es ihm erlaubt, nicht mit den eigenen Ansprüchen der Wissenschaftlichkeit zu kollidieren.

“Ironie und Unernst bestimmen dagegen eine zweite, reicher bestückte Hauptlinie, die etwas später, 1957, von der älteren abzuzweigen beginnt. Sie reicht von den Sterntagebüchern über die Robotermärchen, die Kyberiade, die Erzählungen vom Pilot Pirx und die Jagd zum Futurologischen Kongreß von 1971.” (Lachat in: Berthel 1981, S. 45)

Die beiden in dieser Arbeit besprochenen Werke markieren den Anfangs- und Endpunkt einer Schaffensphase Lems, in der er sich besonders mit dem Uneigentlichen beschäftigt hat. Lachat verweist zu recht darauf, daß Lems Ratio sich in dieser Phase klarer und reiner ausdrückte, als im unvermittelten Ernst anderer Werke, der dem Leser “ziemlich romantisch angekränkelt erscheint.” (Lachat in: Berthel

1981, S. 45).

Darko Suvin dagegen interpretiert Lems Experimente an den Grenzen des Erfahrbaren positiv: zunächst muß der Mensch seine Begrenztheit feststellen; ist der Mensch dann in der Lage, seine Grenzen zu akzeptieren, so ist er auch fähig, sich zu einer “höheren Existenz” aufzuschwingen (vgl. Ziegfeld, 1985, S. 53). Diese Deutung ändert allerdings nichts daran, daß auch

Lem den ersten Teil dieses Zwei-Stufen-Plans nicht überwinden kann.

Sowohl Amery als auch Lem stützen ihre Theorien auf das wissenschaftliche Moment in der SF. Dabei gehen beide von verschiedenen Wissenschaften aus: Amerys Basis sind Theologie, Soziologie und Geschichte, aus denen er Tendenzen isoliert und über die Verfremdung zum Modell komplexer Zusammenhänge macht, die bis an die gegenwärtige Zeitgrenze heranreichen. Auch wenn er sich in “Passau” der Zukunft bedient, zeigen seine Gesellschaftsmodelle in den besprochenen Romanen keine Züge einer völlig neuen Zivilisation. Im Unterschied zu Lem verläßt sich Amery auf die Überzeugungskraft des Bekannten, Wiedererkennbaren, das vermischt wird mit Fiktivem. Nach eigener Aussage lehnt Lem Spekulationen über die Zukunft auf der Basis der Quellen der Vergangenheit ab: “Ich bin Antihistorist wie Popper, der meint, die Geschichte sei unvorhersehbar wie der Verlauf der natürlichen Evolution der Arten.” (Lem 1981 c, Vorwort II.) Damit lehnt er als SF-Autor nicht nur die historische Methode für die Vergangenheit ab; sondern seiner Ansicht nach ist auch die Geschichte der Zukunft noch weniger voraussagbar als die Evolution, da der kulturelle Faktor und die technologische Variabel als unbekannte Variablen mit einbezogen werden müssen. Einzig mittels der Methoden der Kybernetik lassen sich philosophische Problemstellungen auch bezogen auf die Zukunft diskutieren (vgl.: Lem 1986, S. 60/61). Damit widerspricht er den eingangs analysierten Theorien der Fiktiven Geschichte und leugnet gleichzeitig -unabsichtlich - den Wert der Deutung Amerys, die mit ihrer Methode viel näher an aktuellen Diskussionen ist. Der Münchener Soziologe Uwe Beck beschreibt die apokalyptische Vision Amerys auf eine ihm ganz ähnliche Weise - allerdings nicht belletristisch und ohne religiöse Vorzeichen. In “Risikogesellschaft” (1986) geht er auf die Probleme der “Postmoderne” ein; dabei verwendet er einen ähnlichen essayistischen Stil wie Amery in seinem theoretischen Werk: “Mit dem üblichen akademischen Abwägen ist der Schwerkraft des alten Denkens nicht zu widerstehen.” (Beck 1986, S. 12). Beide, sowohl Amery als auch Beck, haben einen Weg gewählt, der von den akademischen Richtlinien abweicht, um eine größere Freiheit in der Darstellung zu erlangen. Lem dagegen sucht die Nähe der Wissenschaften so sehr, daß er das Risiko auf sich nimmt, stellenweise unlesbar zu werden. Persönlich ist ihm die Anerkennung durch Wissenschaftler wichtiger als der Erfolg bei den Kritikern und seiner Leserschaft. Im Schlußwort zu “Dialoge” hebt er sein theoretisches Schaffen gegenüber seiner Belletristik ab, die für ihn letztlich nur eine Kompromißlösung war. Seine eigene “Spielfreude” straft ihn dabei Lügen, denn sie nimmt vielzu großen Raum neben den philosophischen Kerngedanken ein, als daß sie nur als “Abfallprodukt” gewertet werden könnte.

Im Vergleich dazu erscheint sowohl das theoretische als auch das belletristische Werk Amerys weitaus gradliniger und zielgerichteter. Bei ihm steht nicht das Experiment im Vordergrund, sondern die Deutung, die aus dem “Gegen-den- Strich-Lesen” von bekannt geglaubtem entsteht.

In einer Übersicht über die Entwicklung der essayistischen Schriften kann man beobachten, wie sich der Referenzbereich von der Beziehung zu Kirche und Welt zur ökologischen Verantwortlichkeit ausdehnt, bis schließlich alle Aspekte zusammengefaßt werden unter seine apokalyptische Vision vom Ende der Geschichte; in den Weltraum hinaus will er nicht.

Parallel dazu entwickelt sich auch das belletristische Schaffen über das    ”Königsprojekt”    zur

mitteleuropäischen Geschichte in “An den Feuern der Leyermark” bis hin zur Weltkatastrophe in “Passau”. Das Motiv der Verzauberung und Entzauberung (als Verlust oder Gewinn des Wunderbaren) der Gegenwart ist bei Amery zentral: “Wurden im 19. Jahrhundert ständische Privilegien und religiöse Weltbilder, so werden heute das Wissenschafts- und Technikverständnis der klassischen Industriegesellschaft entzaubert…” (Beck 1986, S. 14). Die Zeitmaschine MYST, das technische Wunder vergangener Zeiten, entsteigt der Geschichte oder die Weltseuche wird als Deus ex Machina eingeleitet. Schließlich folgt bei Amery auf das Erscheinen einer “wunderbaren” Situation in beiden Romanen die Entzauberung: MYST verschwindet folgenlos in einer unbestimmten Vergangenheit, die Gesellschaft nach der Weltkatastrophe greift auf bereits gemachte Fehler der Geschichte zurück und nutzt die Chance eines Neubeginns nicht.

Der naturwissenschaftlich orientierte Lem dagegen steht der Verzauberung näher als Amery, dessen “Anleihen” vorwiegend auf bekannte keltische Sagenkomplexe zurückgreifen:    “Ich    sehe meine

Traditionen eher im westlichen Bereich, also im nordwestlichen keltischen Bereich…” (Amery-Interview 1995, S. 4) Das mythologische Element ist somit auf einen Kern eingegrenzt.

In “Kyberiade” gibt Lem den technischen Zauberern Trurl und Klapauzius unbegrenzte Möglichkeiten in einer Welt, die voller “Wunder” ist; damit lehnt er sich nicht an einen bestimmten Sagenkreis mit einer festgelegten Referenz an, sondern er nutzt in kindlicher Verspieltheit fast alle Mittel des Märchens zur Darstellung des Wunderbaren (z. B. Ritter, Hexen, fremde Königreiche) in einer Weise, die stark an die eingangs erwähnten Spiele der Kindheit erinnern. Die Abneigung vor dem Historischen läßt sich in diesem Zusammenhang durch die Ambivalenz der Zukunft erklären, die zwar Gefahren birgt, die aber auch das Versprechen ungeheurer Veränderungen beinhaltet, die als faszinierende Möglichkeiten erkannt werden. In diesem Sinn sind die Werke Amery s viel stärker als “cautionary tales” konzipiert, denn er entdeckt die Versprechen der Zukunft als Fehleinschätzungen. Für ihn wäre es kaum eine befriedigende Lösung (wie in Millers Roman) einen Teil der Menschheit im All siedeln zu lassen.

Lem dagegen ist auf die Zukunft konzentriert; dafür sprechen seine Werke, aber auch sein privates Engagement, beispielsweise in der Mitbegründung der polnischen Gesellschaft für Astronautik. Er erkennt die Bedeutung der Geschichte für die Interpretation der Gegenwart an, interessiert sich aber weniger für die antizipierbaren historischen Tendenzen. Die Zukunft selbst lockt ihn als das Versprechen ungeheurer Veränderungen, in denen beispielsweise die (fehlerhafte) biologische Evolution durch eine technische ersetzt wird. Diese hochfliegenden Hoffnungen werden durch Lems Skepsis und die Gebundenheit an existierende Wissenschaft revidiert.

In den nächsten beiden Kapiteln soll vor allem die in den Texten verborgene Beschreibung der Wirklichkeit bezogen auf eine Kulturkritik thematisiert werden; die Deutung und die Konsequenz der Deutung ist Gegenstand des Kapitels 7. 4. .

Nach Lem konzentrieren sich die Ursachen des Zerfalls von Zivilisationsnormen in zwei Phasen: Das erste Moment ist der Verlust von “Sakralität” in der modernen Gesellschaft - eine erstaunliche Äußerung, wenn man bedenkt, daß er sich zum Atheismus bekennt: “Mir scheint, daß die Verflüchtigung des Sacrum aus dem Geistesleben nur einer der Faktoren ist, diese liquidatorischen Bemühungen zu erwirken…” (Lem 1986, S. 264). Ziel dieses Kapitel ist es, das unterschiedliche Verständnis des “Sacrums”, das bei beiden Autoren eine wichtige Position als kulturstabilisierender Faktor einnimmt, genauer zu analysieren.

Das zweite Moment knüpft an das erste insofern an, als daß es das Vakuum beschreibt, das durch den Verlust des Sacrums entsteht: “Wenn aber dieser Zuwachs anhält, wird es immer schwieriger, höchste Autoritäten oder Leute zu finden, die auf einem Gebiet alles über dieses’ wissen!” (Lem 1986, S. 256/266). Die höchste Autorität der Interpretation der Welt lag lange Zeit in den Händen der Kirche - die diese Macht nicht selten mißbrauchte. Dennoch ist durch den Verlust des Sakralen eine Orientierungshilfe verlorengegangen, deren Abwesenheit durch die zunehmende Komplexität der Moderne immer offensichtlicher wird. Die Frage nach dem Sinn der Existenz ist noch nicht beantwortet.

Lem hat seinen Glauben auf die Wissenschaft der Kybernetik verlagert:

“Die Kybernetik stellt Lem zufolge die Menschlichkeit des Menschen wieder her, seine Würde, seinen Wert in der Welt ohne Rückgriff auf das Übernatürliche. Der Glaube an die Seele ist eine schimpfliche Kapitulation des Intellekts.” (Kandel in: Barmeyer 1972 S. 314; vgl. auch: Lem 1981 c, S. 302)

In seiner Suche nach dem Absoluten ähnelt der “literarische Konstrukteur” Lem selbst Trurl in “Kyberiade”28. Ein wesentlicher Unterschied ist, daß Trurl bereits den Beweis für die Endlichkeit des Universums in der Nachricht von seinem eigenen Ruhm hat, die den Kosmos umrundet. Entgegen der Interpretation Kandels lehnt Lem die Existenz einer “Seele” im oben genannten Sinne einer “entwickelten Persönlichkeit” durchaus nicht ab; der Vorstellung von Gott als “gutem Vater”, der seine “Kinder” nach der Reinheit ihrer Seelen beurteilt, steht er dagegen skeptisch gegenüber. Religiöse Fragestellungen nehmen einen großen Raum in den Werken Lems ein. Die “Summa technologiae” ist eine Anlehnung an “Summa theologiae” von Thomas von Aquin, der die Seele beredt verteidigt. Lems “Summa technologiae” ist nicht als Satire, sondern als atheistische Antwort auf Thomas von Aquin zu verstehen.

Die einzige Art von Gott, die Lem als existenzialistischer Denker akzeptieren kann, ist ein Gott, der ohne Zweck und Ziel existiert29. “This God

offers an effective response to Sartre’ s dilemma about man’s spirituality. Sartre denied the traditional God.” (Ziegfeld 1985, S. 54). Statt an Gott glaubt Lem an die Existenz einer absoluten “Wahrheit” als ultimativem Wert. Um die Wahrheit konsequent zu suchen, bedarf es einer Gläubigkeit, die die Differenz von Amery und Lem in diesem Punkt schwinden läßt: beide handeln aus ihrer Überzeugung heraus, wobei der eine Glaube feste Richtlinien (beispielsweise die christliche Nächstenliebe) hat, der andere frei und suchend ist. Die Suche Lems orientiert sich an einer Maxime: den Glauben an die Vernunft, verbunden mit einem inhärenten moralischen Anspruch: “Es gibt schließlich keinen Grund dafür, warum diese Vernunft nicht ein -sagen wir - Sendungsbewußtsein habe sollte.” (Lem 1986, S. 127). Eine Erklärung für das Konzept altruistischer Vernunft muß Lem allerdings schuldig bleiben30. In “Experimenta Felicitologica” versucht Trurl eine Begründung ex negativo, es sei sinnlos, Leiden zu produzieren, daher ist Gutes tun sinnvoll (Kyberiade, S. 129). An welchem Maßstab das Sinnvolle gemessen wird, bleibt ungenannt. Lem wählt eine Alternative zu der Art Atheismus, wie Sartre31 ihn beispielsweise vertritt: er bezieht sich zur Zeit der Publikation der “Kyberiade” auf die Idee des unvollkommenen Gottes32. Die Existenz eines Sinnes, der in diesen Gott hineinprojeziert wird, ist auf die menschliche Eigenschaft zurückzuführen, daß Sinnleere nur schwer zu verstehen und zu ertragen ist. Marzin beschreibt in diesem Zusammenhang die Gläubigkeit Lems so:

“Irgendwo weit weg im Kosmos ist jemand - vielleicht Gott -, der die Lösung für alle Rätsel bereithält, doch Lem ist nicht bereit, ihm zu begegnen, und beläßt den Menschen in einer eigenartigen Art von erzwungener Nabelschau.” (Marzin in: Marzin 1985, S. 53)

Damit entlarvt er ihn treffend als nicht-bekennenden Agnostiker, der auch auf dem Höhepunkt von Erzählung Antworten schuldig bleiben muß, wie die, auf die er in “Kyberiade” selbst hinweist: Die Frage nach der Existenz von Glück in seiner seltsamen Abhängigkeit vom Leiden. Worin besteht der Sinn der Existenz, wenn das absolute Glück eine Unmöglichkeit ist? Alleiniger Fixpunkt ist das Bedürfnis Lems nach einer durch Ethik geordneten Welt, in der auch das Christentum seinen Platz hat. Dahinter stehen zum einen

“positive Erfahrungen mit dem Christentum und seinem Moralkodex, zum anderen negative Erfahrungen mit dem Marxismus ebenso wie mit der Konsumkultur: beides Systeme die der externalisierten Steuerung bedürfen. Lem wollte versteckt in seiner visionären Technik davor warnen, daß die das Über-Ich steuernden Kräfte der Institutionen aus dem Gefüge der religiösen Weltanschauung hinausgelagert und verweltlicht würden.” (Hennings 1983, S. 80)

Wie Amery erkennt Lem den Wert der “wunderbaren alten Werkzeuge” der christlichen Religion als internalisierte ethische Steuerung. Modelle der externalisierten Steuerung hat er selbst immer wieder ad absurdum geführt, in “Kyberiade” aus der Sicht des Schöpfers, der vergeblich versucht das Glück zu institutionalisieren, im “Kongreß” aus der Sicht des chemisch versklavten Subjekts. Der Kontrast zwischen der Wünschbarkeit und der Denkbarkeit von Zukunftsvisionen läßt sich so verdeutlichen, daß eine internalisierte Steuerung (durch das Christentum oder -für Lem - durch die Vernunft) wünschbar ist, die Möglichkeit einer “physikalischen Ethik” aber so sehr im Bereich des Denkbaren ist, daß man sich ihr stellen muß. Seine Extremvision externalisierter Ethik ist die in 6.3. bereits erwähnte “Ethosphäre”, die künstliche Umwelt, in der die Gebote die Gestalt von physikalischen Gesetzen bekommen; diese Gebote sollen nach Lem in einer solchen Gesellschaft so selbstverständlich werden wie heute die Gesetze der Schwerkraft. Die Freiheit des Individuums müßte in einer derart gestalteten Umwelt anders interpretiert werden, denn Verstöße gegen eine Ethik wären nicht möglich. Die Fähigkeit, “Böses” zu tun, wäre dem Menschen schlichtweg genommen. Die Frage nach dem positiven oder negativen Utopismus kann nicht mehr beantwortet werden; statt dessen gilt die Frage nach dem “denkbaren Utopismus”: “Das gesamte utopische Denken - hier subsumiert Lem auch den Marxismus - baue auf einem irrealen Menschenbild auf, das Verantwortlichkeit, Weisheit und Vernunft stillschweigend voraussetze.” (Hennings 1983, S. 61). Zwischen dem Paradies und der Hölle auf Erden sucht Lem quasi im Experiment eine denkbare Lösung, die im bestmöglichen Falle auf Prinzipien der Vernunft basiert. Da er sich deren Fehlerhaftigkeit aber durchaus bewußt ist, sind die Darstellungen in den besprochenen Werken (wie auch bei Amery) vorwiegend ironisierend.

In seiner “dritten Phase” wandelt sich das “Gottesbild” Lems: “Gott würfelt nicht mit der Welt, sondern er spielt auch ehrlich - mit vollkommen identischen Würfeln -, allerdings nur in der kleinsten Größenordnung, der atomaren.” (Lem 1983 b, S. 23). Gott, ein Begriff, den Lem häufig braucht, zu dem er sich aber nicht bekennt, wird in die Lemsche Spieltheorie integriert. Sila bemerkt zu diesem Würfelspiel: “Lem stellt sich also anscheinend auf die Seite der Probabilisten und gibt den Deterministen unrecht, die mit Einstein erklären: ich weigere mich zu glauben, daß Gott mit dem Universum Würfel spielt.” (Sila in: Berthel 1981, S. 57). Für Lem ist die Existenz an sich ein Spiel, entweder im Rahmen eines Spieles mächtiger kosmischer Spieler, oder als blindes Spiel des Universums. Seiner Ansicht nach läßt sich mit der Hilfe der Spieltheorie

“im Grunde jede Art von Verrichtung untersuchen. … Faßt man nun die Philosophie und Theologie als Spiel auf, dann zeigt sich, daß sie in logischer Hinsicht homogen sind. Es geht bei ihnen um dasselbe: um die Entdeckung der Regeln des Spiels ums Dasein, zu dem die Welt auffordert und ferner um die Bestimmung der optimalen Strategie ihnen gegenüber.” (Lem 1981 b, S. 79).

Als Strategie der Religion bezeichnet Lem die Erlösung, während die der Philosophie die Erkenntnis ist. Diese Unterteilung ist insofern willkürlich, als daß es auch in der Religion keine Erlösung ohne Erkenntnis gibt, denn die Theologie muß nicht auf dogmatische Überlegungen konzentriert sein, wie Lem behauptet: “Wenn nämlich ein Glaube dogmatisch die Unausweichlichkeit des Konfliktes zwischen Mensch und Welt leugnet … dann drängt dieses Dogma de facto zu einem anderen Spiel …” (Lem 1981 b, S. 79, 80). Amery beispielsweise läßt sich in seinen theologischen Überlegungen nicht durch Dogmen hindern: “… wenn die Attitüde der katholischen Überzeugung mich daran hindert, ein möglichst vollständiges Bild von meiner Lage in Zeit und Raum zu erlangen, geht es mich nichts an.” (Amery-Interview 1995, S. 10). Damit hält er sich frei, seine katholische Überzeugung und seine Erkenntnisfähigkeit zu verbinden, ohne daß sie sich gegenseitig behindern. Viele moderne Schriftsteller, die den Naturwissenschaften kritisch gegenüberstehen,

523

stimmen darin überein, daß eine technische Gesellschaft auch eine deterministische ist; dadurch werden allerdings auch die Alternativen, die sie anzubieten haben, eingeschränkt. Erweitert sich auch Amerys Perspektive von der klerikalen zur Weltperspektive, so sieht er doch die Möglichkeiten, die sich der Menschheit bieten, immer eingegrenzter; entscheidet sie sich nicht für das Leben, geht sie der Katastrophe entgegen. Für die Kirche ist das Ende der Welt ein konstitutives Element der Lehre, das sie schon von Beginn an für sich beanspruchte; aus diesem Grunde sind ihr Schriftsteller wie Amery unbequem. “Es war ein Herrschaftsprinzip der Römischen Kirche, alle ihre Visionäre unter ihre Kontrolle zu bringen. Visionen der Zukunft erforderten zu ihrer Verkündung, wie noch das 5. Laterankonzil (1512 bis 1517) beschloß, eine kirchliche Autorisation.” (Kossellek 1979, S. 23). Solange das Ende der Zeit von der Kirche “verwaltet” wurde, blieb die Geschichte der Kirche die Geschichte des Heils. “Diese Tradition wurde durch die Reformation in ihrer inneren Voraussetzung zerstört.” (Kossellek 1979, S. 23)33. Amery versucht die Verbindung zwischen einer kritischen religiösen Überzeugung und einem politischen Engagement wieder herzustellen. Unter dem bereits besprochenen ökologischen Materialismus läßt sich das politische Engagement Amerys weitgehend subsummieren. “Eine ökologisch korrekte, oder halbwegs korrekte Beziehung zur Umwelt hat es ohne … religiöses Interpretationsmuster nicht gegeben.” (Amery 1985 a, S. 363). Auf diese Weise fügen sich Religion, Politik und Kunst zu einer harmonischen Einheit zusammen, die Lem fehlt. Die Erwartung einer Endzeit, früher selbstverständlicher Bestandteil christlicher Lehre und kirchlicher Mahnung, nimmt nach Amery jetzt Formen an; sie wurde durch eine neue Gläubigkeit an die unerschöpflichen Möglichkeiten der Technologie ersetzt. “Indem Bodin die Sakralgeschichte, die menschliche und die Naturgeschichte voneinander trennte, verwandelte er die Frage nach der Endzeit in ein Problem astronomischer und mathematischer Berechnungen.” (Kossellek 1979, S. 25). Doch gibt es in dieser Endzeittheorie noch eine Heilserwartung? Amery stellt das zunehmende Verschwinden von Gott in der Gesellschaft ab 1900 fest. Das 20. Jahrhundert ist zudem das erste Jahrhundert, in dem sich die Frage nach der weiteren Existenz der Menschheit stellt. Die Entwicklung bis dahin sieht Amery in der “Botschaft des Jahrtausends” in drei Stufen:

1.    In der “magischen Frühzeit” ging es in erster Linie um eine Versöhnung mit der Natur;

2.    im Zeitraum von 1500 bis 550 Jahren vor Christus hatte sich die Welt dann entscheidend verändert: “Lange vor den exakten Wissenschaften verschob sich das religiöse Interesse.” (Botschaft 1994, S. 164). Nicht mehr die Versöhnung mit der Natur stand im Mittelpunkt, sondern die “seelischen und gesellschaftlichen Gefährdungen” des Menschens. Dieser Übergang ging natürlich nicht nahtlos vonstatten; so wurde der Katholizismus später von Traditionen beeinflußt, die heute noch von bayrischem, irischem, italienischem, usw. Katholizismus sprechen lassen. Schließlich schließt Gott mit den Menschen einen Pakt: im Osterereignis feiern wir den endgültigen Sieg über den Tod. Dieser Sieg scheint uns bereits gesichert, ein Kampf um das Überleben mußte nicht weiter gesichert werden.

3. “Nun, der letzte Schritt in die Weltlichkeit schien den Aufklärern zunächst nichts anderes als der Abschied vom Aberglaube zu sein; …” (Botschaft

1994, S. 167). Damit wurde nach Amery die Sinnsuche oberhalb einer “Bedürftnisdeckung” für das Säugetier Mensch eingestellt. Die Fähigkeit zur Reflexion, die den Menschen erst zu einem solchen macht, trat innerhalb dieser Entwicklung in den Dienst der animalischen Bedürftnisse. Die Kirche, zu Beginn noch kritisch gegenüber diesen Entwicklungen, integrierte sich alsbald als (gesellschaftliche) Institution.

Die nichtmenschliche Schöpfung tritt nach Amery in diesem Jahrhundert erstmalig wieder in den Blickpunkt der Religion.

“Das Christentum bietet dem Menschen die Hoffnung auf Erlösung, selbst wenn er versagen sollte. Die Utopie hingegen ist auch in ihrem letzten Stadium grundsätzlich innerweltlich, und die Folgen eines endgültigen Versagens der Menschheit vor ihren Zukunftsaufgaben kann für sie nur ihr Untergang sein, dem keine Auferstehung mehr folgt.” (Schwonke 1957, S. 144)

und: “Das Fehlen echter Transzendenz trennt die Utopie von christlicher Religiosität, verbindet sie jedoch mit dem Mythos, der das Göttliche in den Widerspruch und den Wechsel des Bedingten hineinzieht.” (Schwonke 1957, ebenda). Amery ist (Anti-)Utopist und kritischer Katholik zugleich, doch auch er kann sich nicht dem Aspekt der Bedingtheit des Göttlichen entziehen: stellvertretend für Gott stellt er in der “Botschaft” die Menschheit vor die Wahl

zwischen Leben und Tod, kann aber auch keinen praktikabelen Ausweg anbieten. 170 Amery schließt den historischen    Kreis seiner

Religionsgeschichte so, nachdem fast 2500 Jahre lang die anthropozentrische Perspektive    alle anderen

verdrängte: “Die nichtmenschliche Welt bis tief hinab in die Welt der Rohstoffe und Resourcen tritt plötzlich und sozusagen überfallartig auch    ins religiöse

Bewußtsein.” (Botschaft 1994, S. 169.) Nachdem der Mensch der biblischen Aufforderung nachgekommen ist und sich die Erde untertan gemacht hat, muß er nun auch die Verantwortung für sie übernehmen. Die Frage nach der Zukunft ist damit für Amery eine religiöse Frage. “Die Prognose produziert die Zeit, aus der heraus und in die hinein sie sich entwirft, wogegen die apokalyptische Prophetie die Zeit vernichtet, von deren Ende sie gerade lebt.” (Kossellek 1979, S. 30). In diesem Sinn sind weder Amery noch Lem apokalyptische Propheten, denn beide sehen den Sinn ihrer finsteren Zukunftsbilder darin, die Katastrophe vielleicht doch noch abwenden zu können: “Nur diese äußerste Gefahr kann jenen ungeheuren Wandel des Bewußtseins erzwingen, der aus der Menschlichkeit des Menschen eine neue Gestalt der geschichtlichen Vernunft hervorgehen läßt.” (Picht in: Apel/Böhler/Berlich 1980, S. 459) Der Religionsphilosoph Picht faßt damit zusammen, was sowohl Amery als auch Lem indirekt andeuten: angesichts des Ausmaßes einer möglichen Katastrophe kann sich auch eine positive Wende in der Geschichte der Menschheit ergeben.

1

gerade dadurch, daß die Rudimente einer vergangenen Zeit omnipräsent sind.

2

   Keine der handelnden Personen behält in “Passau” die unschuldige Reinheit der Person wie “Sonne-von-links” in “An den Feuern der Leyermark”, der Indianer, der nach Bayern ausgewandert ist.

3

   In der “Magnalia Dei per Gentem Rosmeriorum” läßt sich verfolgen, wie die Selbstverteidigung der Rosmer in einen “Heiligen Krieg” umgedeutet wird: (in Frakturschrift) “Und als Werkzeug des Zornes war das Volk der Rosmer auserwählt, weil von Anfang an Feindschaft gesetzt war zwischen ihnen und dem Babylon Passau.” (Passau, S. 7) Wie im “Königsprojekt” übernimmt die Kirche säkulare Verantwortung durch ihre Parteilichkeit. In Passau wurde auf die stützende Rolle einer Religion bewußt verzichtet; Geschichte wird durch die Bürokratie in den Händen Eva Piczien verwaltet.

476

4

In der Biographie des Lois Retzer wird bemerkt, daß dieser bereits vor der Katastrophe in seiner Studentenzeit plante, eine Arbeit mit dem Titel “Grundriß des ökologischen Materialismus” zu veröffentlichen (vgl.: Passau, S. 98). Im Text kann er als Sprachrohr Amerys gelten; indem Lois am Ende scheitert, gibt auch er seine Ratlosigkeit gegenüber der gegenwärtigen Situation zu.

5

Auch in Amerys Europa-Konzeption beispielsweise bevorzugt er die “kleine Lösung”: “Amery schlägt für Europa eine Föderation aus vierzig Bundesstaaten mit eigenen Aufgaben und regionalem, auch historischem Profil vor.” (Kurtz 1992, S. 21)

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6

“Lois erklärt Malte den Begriff “Politik” so: “Du sitzt auf was und gibst es nimmer her, auch wenn du selber gar net alles brauchst.” (Passau, S. 104)

7

Das Terrorregime der “Dreißig Tyrannen” hatte ernüchternd auf ihn gewirkt, nachdem er seine Hoffnung auf die Oligarchie von 404/03 v. Chr. gesetzt hatte.

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8

   Der erste Kongreßtag endet schon auf Seite 38; der Rest der Erzählung konzentriert sich auf die Traumhandlung.

9

   Amery erwähnt diesen Aspekt ebenfalls in “Die Botschaft des Jahrtausends“, allerdings in einem anderen Zusammenhang: “Wenn die zukünftige Welt bewohnbar sein soll, muß sie fehlerfreundlich sein…” (Amery 1994, S. 158) Die Alternative Amerys zur “Spezialistenmonokultur” ist die multikulturelle Gesellschaft, in der die Vielfalt der Traditionen immer neue Lösungsansätze für zukünftige Probleme bieten kann.

10

   “Tichy” bedeutet polnisch: “Der Schweiger”, eine ironische Anspielung auf seine Fabulierlust; im “Futurologischen Kongreß” wird diese allerdings auf eine ungewohnt nüchterne Art reduziert.

484

11

   Die Phantomatik läßt sich wiederum bei Lem unterscheiden: die zentrale Phantomatik bezieht sich auf den Verlust der Wahrnehmungsfähigkeit zum Beispiel durch Drogenexperimente; die periphere Phantomatik dagegen beschreibt die Wechelwirkungen zwischen einem Empfänger und einer künstlichen Realität, zum Beispiel in der Interaktivität von Massenmedien und Publikum (vgl.: Hennings 1983, S. 31) Im “Kongreß” überlagern sich beide Arten der Phantomatik, so daß der Leser Subjekt und Objekt nicht voneinander unterscheiden kann.

12

   In “Solaris” gelingt es dem Protagonisten Kelvin, sich selbst über einen Computer zu beweisen, daß er nicht wahnsinnig ist; diese Möglichkeit hat Tichy im “Kongreß” nicht (vgl.: Lem 1984, S. 185).

13

Die Darstellung von Sexualität und Weiblichkeit allgemein in den Werken Lems wäre eine eigene Untersuchung wert. Verkürzt läßt sich sagen: Frauen haben bis auf wenige Ausnahmen nur funktionalen Charakter, da Lem seinen Protagonisten nicht von dem von ihm gewählten Hauptproblem ablenken möchte. Sexualität schildert Lem häufig in einer Kombination aus kaum verholenem Abscheu und Spott.

14

“Stanley Hazelton aus der Abordnung der USA schockierte sofort das Auditorium, denn er wiederholte nachdrücklich: 4, 6, 11 und somit 22; 5, 9, ergo 22; 3, 7, 2, 11, und demzufolge wiederum 22!!” (Kongreß, S. 24) Um Zeit zu sparen, verweisen die Futurologen mit Zahlen auf die Abschnitte ihrer Referate; “22” bedeutet, wie Tichy später nachschlägt, die endgültige Katastrophe.

15

“Unsere Sprache beschreibt zuerst einmal ein Bild. Was mit dem Bild zu geschehen hat, wie es zu verwenden ist, bleibt im Dunkeln. Aber es ist ja klar, daß es erforscht werden muß, wenn man den Sinn unserer Aussage verstehen will. Das Bild aber scheint uns dieser Arbeit zu überheben; es deutet schon auf eine bestimmte Verwendung.” (Wittgenstein 1971, S. 219).

493

16

Der Roman blieb lange bei Lem in der Schublade; obwohl früher geschrieben, erschien er erst nach dem “Kongreß”.

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Eine der vielen kleinen, durchaus komisch-satirischen Situationen, die Marzin nur am Beginn des Textes entdecken kann, die sich aber über die ganze Erzählung verteilen, auch wenn

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sie häufig mit Unheimlichkeit gepaart sind (vgl. Marzin 1985, S. 18).

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   “Im übrigen lernt fast niemand Geschichte; die Schulen bieten statt dessen ein neues Fach namens Zukunde, die Lehre von dem, was erst in der Zukunft geschehen wird.” (Kongreß, S. 86) Kritisch befaßt sich Lem hier mit dem kulturellen Umdeutungs-/Ablenkungsprozeß, obwohl er selbst als Autor eine ahistorische Haltung einnimmt.

18

gefährlichsten Situationen auf, der sich der Mensch in der “Moderne “stellen muß. Orwell fürchtete jene, die dem Menschen Informationen vorenthalten; Huxley die, die die Öffentlichkeit mit Informationen so überhäufen, daß man sich vor ihnen nur in Passivität und Selbstbespiegelung retten kann. (vgl.: Postman 1985 S. 9,10).

19

In “Kyberiade” geht Lem in der 11. Fabel scherzhaft mit den Konsequenzen einer Informationsüberflutung um um Mäuler, den Informationsräuber zu besiegen, konstruieren Trurl und Klapauzius einen Dämon II. Ordnung, der den Piraten so sehr mit unnützen Informationen versorgt, daß dieser buchstäblich von ihnen gefesselt wird: “Doch da schloß er die Augen und erstarrte, erdrückt von der Informationslawine …” (vgl.: Kyberiade, S. 173).

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20

Ziegfeld behandelt den “Kongreß” nur sehr stiefmütterlich (vgl.: Ziegfeld 1985, S. 123-127). Es scheint, als habe er seine Bedeutung nicht recht einordnen können. Er beschreibt ihn als handwerklich gut, doch müsse die Zukunft erst eröffnen, ob ihm eine tiefere Bedeutung zukomme. Seine Interpretation ist einseitig festgelegt auf “an elaborate spoof on modern man’s dependence on drugs” (Ziegfeld 1985, S. 123). Es sieht Lem nicht ähnlich, seine Erzählung auf ein solch vordergründiges, wenn auch fundamentales Problem zu stützen. Meines Erachtens liegt eine Interpretation des Textes im postmanschen und beckschen Sinn näher, da zu Le ms Schwerpunktthemen das Nichtzustandekommen von Kommunikation gehört.

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   In “Eine Minute der Menschheit” (Lem 1983 a, S. 10) stellt Lem fest: “Die Werbung ist als Neue Utopie Gegenstand eines Kultes.” Der Einsatz von Werbemitteln steigt seiner Ansicht nach umgekehrt proportional zur Qualität der Ware. Die Betäubung der Gesellschaft durch Überinformation im Sinne Postmans und die (tatsächliche) partielle Betäubung in der chemokratischen Gesellschaft weisen deutliche und nicht zufällige Parallelen auf.

22

Bevölkerung … sondern Sie gehen zu einem guten Facharzt.” (Interview in: Marzin 1985, S. 68). In Ansichten wie diesen werden Amery und Lem zu Antagonisten.

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der Zukunft, da es abzusehen ist, daß auch die überlebende Menscheit eines Tages wieder vor dem gleichen Problem stehen wird (vgl. 5. 5. Die Wiedergeburt der Politik).

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Die Übersetung Todorovs ins Deutsche 1972 hat die Diskussion um das Phantastische entschieden angeregt; allerdings überwog die kritische Distanz zu seinen Thesen die Akzeptanz derselben. Parallel zu Todorov erschienen Werke von Vax, Castex oder auch besonders Roger Callois, die aber erst spät oder auch garnicht übersetzt worden sind und hier nicht weiter beachtet werden sollen.

25

Dieser Aufsatz entstand fünf Jahre nach “Die Philosophie des Zufalls”.

26

von mir, auch so engagiert, ein Physiker, der hat in einer Rede mal gesagt - er hatte gerade eine Tochter bekommen, die war so zwei Monate - er werde aufgrund seiner Berechnungen schon für sie in zwei Jahren einen Strampelanzug von zwei Meter Länge bestellen.” (Amery-Interview 1995, S. 6) Amery steht den Möglichkeiten der Prognostik sehr kritisch gegenüber und konzentriert sich aus diesem Grund auf historische Begebenheiten, um über die Montage doch wieder Tendenzen für die Zukunft sichtbar zu machen.

27

Lems persönliches Lieblingsbuch (vgl. Suvin in: Berthel 1976, S. 168) ist “Don Quijote” von Cervantes. Eine gewisse Ähnlichkeit im Stile der Bemühung um Reinheit und Wahrheit mit ihm selbst ist nicht zu verkennen: so ist von ihm bekannt, daß er zehnmal mehr geschrieben als veröffentlicht hat, immer auf der Suche nach einer besseren Version und mit der Sorge, ein anderer Autor könnte schon etwas ähnliches geschrieben haben. Zu seiner Figur Tichy stellt - unabhängig von Suvin - Warrick fest: “Typical is a tale about Ion Tichy, a Lem protagonist appearing in numeros stries who has been called a cosmic Don Quixote” (Warrick 1980, S. 192) Die Methode, mit der Lem die letzten Wahrheiten sucht, gleicht in manchen Fällen dem Kampf mit den Windmühlenflügeln.

28

   “Das Programm der künstlichen Anfertigung des Menschen stellt in unserem Kulturkreis eine Gotteslästerung dar. Der Schöpfungsakt soll vom Menschen wiederholt werden; es handelt sich also um eine Karikatur, um den menschlichen Versuch, dem Gotte gleich zu werden.” (Lem in: Barmeyer 1972, S. 166)

29

und Snaut ist der Planet Solaris, der sich als bewußtes Wesen herausstellt.

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Nelly Pospieszalska untersucht diese Problematik für ein anderes Werk, “Die Stimme des Herrn” (Pospieszalska in: Berthel 1976, S. 130). Menschen und Tiere werden als “algedonisch gesteuerte endliche Automaten” aufgefaßt; die algedonische Steuerung bedeutet ein Oszillieren des Verhaltens zwischen Strafe und Lust, wobei der Protagonist des Romans, Hogarth, davon ausgeht, das höchstens zehn Prozent aller Individuen mit einer ausgeglichenen Steuerung ausgestattet sind. Nach Hogath - in der Interpretation Pospieszalskas - ist damit Gutes tun für den Menschen eine Befriedigung aufgrund seines psychologischen Indeterminismus, vorausgesetzt, daß man “Böses” mit Triebbefriedigung und “Gutes” mit Verzicht belegt. Die bloße Befriedigung psychologischen Indeterminismusses reicht aber nicht aus, die menschliche Motivation zum Guten, die bis zur Aufgabe der eigenen Existenz gehen kann, vollständig zu beschreiben.

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   Sartre sieht im Menschen ein unvollkommenes Wesen; “Gott” steht für den vollkommenen Zustand, den der Mensch anstrebt. Deswegen manifestiert sich Bedeutung für den Menschen darin, daß er sich Ziele steckt, die er niemals erreichen kann. Ein menschliches Wesen, das einen Zustand der Perfektion erreichen würde, wäre somit ein Widerspruch in sich. Deswegen leugnet er die Existenz Gottes, doch: “Sartre is then faced with the problem of explaining mans’s spirituality and the persistence of the belief in the existence of a God.” (Ziegfeld 1985, S. 54.)

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   Eine andere Version ist die Gleichgültigkeit Gottes: in dem Roman “Die Stimme des Herrn” geht es um den vergeblichen Versuch, eine Botschaft aus dem All zu entschlüsseln. Der Titel ist doppeldeutig: er kann als Stimme Gottes oder auch als Stimme einer überlegenen Rasse interpretiert werden.

Die gleiche Doppeldeutigkeit ist auch in “Solaris” zu finden; dort geht es ebenfalls um den Kontakt mit dem Planetenwesen, der nicht zustande kommt. Das Planetenwesen wird von vielen Kritikern als Metapher für Gott gewertet, wobei offen bleibt, ob dieser Gott die Kreaturen, die auf ihm gelandet sind, nicht versteht (der unvollkommene Gott) oder ihnen gleichgültig gegenübersteht, weil sie, wie in der “Stimme des Herrn” einfach noch nicht so weit sind.

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In der folgenden Zeit waren Friede und Einheit der Religion nicht mehr identisch; das neue Prinzip der politischen Spekulation setzte sich in den nächsten Jahrhunderten durch, ohne die Kircheninteressen in den Vordergrund zu stellen.

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Als Möglichkeit verweist Amery beispielsweise auf den 1972 entworfenen Plan “Blaupause für das Überleben”, der inzwischen schon von der Zeit überholt worden ist (Amery-Interview 1995, S. 6).