7.3. Kulturkritik durch Geschichte, Zukunft und fiktive Welten

In der Engagierten SF wird die Referenz des Textes über die bloße Abenteuerhandlung hinaus auf Tendenzen der Wirklichkeit betont. Kernstücke kulturkritischer Ansätze sind dabei die zur Diskussion freigegebenen Wertvorstellungen der Autoren. Auf die Grundlage der Wertvorstellungen beider Autoren, in ihre unterschiedliche Auffassung vom Sinn der Existenz, ist im vorigen Kapitel eingegangen worden. In diesem Kapitel sollen die Konturen dieser Werte in bezug auf die Gegenwart umrissen werden, um dann im nächsten Kapitel in einem Fazit zusammengefaßt zu werden. Kulturkritische Elemente sind Amery und Lem gemeinsam:

>    In “Passau” trifft eine Kultur, die technologiegestützt lebt auf eine andere, die ihre “Wurzeln” gefunden hat, d. h. die in den Grenzen ihrer Möglichkeiten lebt. Schließlich verläßt sie diese wieder in einer Wiederbelebung der untergegangenen Kultur.

>    In “Kyberiade” diskutiert Lem spielerisch abstrakte Werte wie das institutionalisierte Glück in bezug auf ihren Relativismus, auf eine Transzendenz, auf Verantwortung und Selbstbestimmung.

>    In “Königsprojekt” wird ein besonderer Teil der Kultur, dessen Aufgabe die “Verwaltung der Transzendenz” ist, in seiner Fehlfunktion beschrieben.

>    Im “Kongreß” wird die Medienkultur kritisiert, die mit einer Informationsflut über bestehende Probleme hinwegtäuscht.

Die Mehrzahl der SF-Literatur versucht Fragen einer Kulturkritik weitgehend zu vermeiden: Demokratisch regierte Staatswesen beispielsweise kommen selten vor und funktionieren meist nicht recht; ihre Regierungen

und Parlamente erweisen sich in der Regel als zu dumm oder zu schwerfällig, um die anstehenden Krisen zu meistern:    “Die weitaus häufigeren

Diktaturen und Oligarchien sind nicht nur leistungsfähiger, sondern erfreuen sich auch allgemeiner Wertschätzung seitens ihrer Bürger.” (Jehml ich/Lück 1974, S. 30). Viele SF-Autoren machen es sich dadurch leicht, daß sie ihre Helden in oder gegen eine feudal organisierte Gesellschaft positionieren. In diesen Gesellschaften setzt sich der Stärkere viel leichter durch; somit ist auch die Identifikation mit dem Helden, der sich über das (selten vorhandene) Rechtssysten hinwegsetzt, für viele Leser sehr reizvoll. Die Begründung einer Demokratieform bedarf analytischen Denkens, das auch beim Leser die Gefahr der Langweile verursacht, denn nicht nur der Autor bevorzugt schnelle und unkomplizierte Lösungen1. Amery und Lem lehnen beide die schnelle und unkomplizierte Lösung ab und stellen sich Fragen höchster Komplexität, wenn sie versuchen, Strukturen der gegenwärtigen menschlichen Kultur zu analysieren.

Der Begriff der Kultur bezieht sich auf die Gesamtheit der geistigen und künstlerischen Lebensäußerungen einer Gemeinschaft. Die politische Kultur kann sich zum einen auf aus der Gemeinschaft hervorgehende Bestrebungen beziehen, die sich auf die politische und soziale Gestaltung des Lebens beziehen (beispielsweise Bürgerinitiativen); auf der anderen Seite können mit diesem Begriff auch Wertvorstellungen im Hinblick auf Kultur beschrieben werden, die im Gegensatz zu alten Wertvorstellungen stehen. Dieser letzte Aspekt ist entscheidend für die

Kulturauffassung beider Autoren, die beide nicht von der Kultur einer Gemeinschaft, sondern von der menschlichen Kultur überhaupt ausgehen.

In “Philosophie des Zufalls” unterzieht Lem den Begriff der Kultur einer umfangreichen Analyse. Parallel zu Amery stellt er dabei fest, daß es keinen Menschen ohne Kultur gibt, daß aber im Gegenzug der Mensch nicht nur ein kulturelles Geschöpf ist, sondern ein biologisches. Eine Kultur ist notwendig für das Überleben der Gattung Mensch, doch werden ihr durch biologische Schranken im Rahmen eines autoregenerierenden Mechanismus Einhalt geboten. Amery und Lem weisen darauf hin, daß mit überzogenem Anthropozentrismus die regenerative Eigenschaft der Biozönose unterbunden wird, denn heute ist es der Mensch, von dem sich die Natur erholen muß. Daraus ergeben sich Konsequenzen für die Natur: wenn sie, so Lem, in der Lage ist, lebenserhaltend im umfassenden Sinn zu sein, so bedarf es einer Übernahme von Verantwortung durch eine Selbstregulierung der Zivilisation. Dazu ist die industriell geprägte Kultur noch nicht in der Lage, da sie selbst von den Ereignissen überrollt wurde und tradiierte Politik auf veränderte Verhältnisse anwendet.

In der SF wird diese Entwicklung durch eine Vielzahl katastrophischer Visionen wiedergegeben, eine Tendenz, die Lem als schädlich ansieht “wie jede Tätigkeit, die zur Nihilisierung der Werte beiträgt.” (Szpakowska in: Barmeyer 1972, S. 297). Lems Position zwischen Konvention und Innovation läßt sich am besten so beschreiben: “Lem sees some opening of the cultural space as necessary for a culture to evolve; but too much space destroys the norms that define culture.” (Hayes in: SFS Juli 1986, S, 296). Wesentlich weniger moderat ist die Position Amerys, der den Ausweg in einer radikalen Umkehr sieht; vor der anderen Möglichkeit, der Flucht “nach vorne” in eine falsche Freiheit, wird er nicht müde zu warnen. Es ist seines Erachtens kaum zu erwarten, daß die technische Evolution ihre Selbstregulation von sich aus vornimmt. Dazu bedarf es wertgeleiteter Normen, die die Entwicklungen steuern.

Für das Spannungsverhältnis, in das der Mensch als kulturelles und als biologisches Wesen gestellt ist, sieht Amery folgende Problematik: der Mensch steht der übrigen Schöpfung gegenüber, die er versucht, sich zu unterwerfen. Er orientiert sich zunächst dabei an Werten, die beispielsweise aus dem Christentum stammen. Diese Werte werden schrittweise zurückgedrängt (vgl. 7. 2. und Botschaft 1994, S. 167), bis eine Sinnsuche oberhalb der Bedürfnisdeckung des Menschen eingestellt wurde (Amery läßt diese Entwicklung in der Aufklärung beginnen). Auf kultureller Ebene hat sich also die Menschheit so weit zurückentwickelt, daß sie auch die Fähigkeit zur Reflexion in den Dienst dieses einfachen biologischen Programms gestellt hat:    “Aber    was    mir    der

ökologische Materialismus zu verheißen scheint, ist kein eschatologisches Jenseits …    . Es ist die

Wiederherstellung der Kultur.” (Amery 1985 a, S. 368). Bei Amery bezeichnet der Begriff “Kultur” ein menschenwürdiges Verhältnis zum Leben wie auch zum Tod. Seiner Ansicht nach verschwendet die Menschheit zur Zeit ihre Erkenntnisse in einem biologischen Programm, das “der Bierhefe 2 oder des Schimpansen” (Amery-Interview 1995, S. 7) würdig ist, nicht aber des Menschen - denn dieser ist paradoxerweise dafür zu erfolgreich. “Die Todespanik ist dasjenige, wo die Biologie über zwei- bis dreitausend Jahre Philosophie gesiegt hat. Diese Niederlage gilt es rückgängig zu machen…” (Amery-Interview 1995, S. 7).

An dieser Stelle divergieren die Vergleichspunkte von Amery und Lem: Amery untersucht die Kausalitäten möglicher geschichtlicher Ereignisse, auch wenn die Geschichtszeit dafür aus der Zukunft rückwärts laufen muß; Lem dagegen bleibt in der Zukunft, die sowohl Erlebenszukunft, als auch zeitlich völlig entrückt sein kann. Die Werte dieser neuen Welt wachsen mit den Anforderungen, die diese an sie stellt: “Lem has rejected traditional values and structures and is utilizing his rich imagination to cope with the problem of needing new values and to create a new world.” (Ziegfeld 1985, S. 19). Im Unterschied zu Orwell beispielsweise, der eine finstere, aber stabilisierte Zukunft beschreibt, sieht Lem sie als dynamischen Prozeß, in dem die technische Evolution eine unbestimmte Variabel der Zivilisation ist. Die Gefahr für die kulturellen Werte sieht Amery in der technologischen Falle, wenn traditionelle Politik und moderne Massenvernichtungsmittel, beispielsweise im Mißbrauch der Atomkraft aufeinandertreffen.

Im Unterschied zu Lem ist Amery ein erklärter politischer Schriftsteller3; die politischen Aussagen seiner SF-Romane korrespondieren deutlich mit den politischen und kirchenkritischen Essays. Im “Königsprojekt” wird (auf humorvolle Weise) das Machtstreben der katholischen Kirche zum Ziel der Kritik. Parallel dazu erschienen Amerys kritische Essays zur katholischen Kirche und zur Politik. “Was man einer angelsächsischen Demokratie ohne weiteres zumutet, nämlich die Atmosphäre der permanenten Selbstkritik auch in der Gebrauchsliteratur, das wäre hierzulande unerträglich.” (Amery 1967, S. 133). Schreibt Lem am liebsten für ein “erlesenes Lesepublikum”, so möchte Amery eine möglichst breite Öffentlichkeit erreichen; Ambitionen für eine bestimmte Gattung hat er im Unterschied zu Lem dabei nicht.

Mitte der siebziger Jahre wendet Amery sich dann der ökologischen Frage zu; in diesem Sinn wertet Gottwald die Weltkatastrophe in “Passau” als ökologische Katastrophe 4. Diese Interpretation geht am Kern des Kurzromans vorbei: die Weltkatastrophe reduziert die Bevölkerung, greift aber nicht die Umwelt an. In den Satiren über MAMUS (Amery 1985 b, S. 129 - 144) gibt Amery in posterior in einer Fußnote Anhaltspunkte über die Ursachen der Katastrophe, in der er sich direkt auf seinen früheren Roman bezieht. Dort wird in der Form einer wissenschaftlichen Diskussion die Möglichkeit besprochen, die Menschheit mittels einer künstlich induzierten Seuche vor der Überbevölkerung zu retten.

Für Lem ist das SF-Motiv der Katastrophe unfruchtbar; das Prinzip der Selbstbeschränkung, das für Amery so zentral ist, hat für ihn keinen Wert. Die menschliche Vernunft muß und wird weiterstreben, nur muß sie dabei so vernünftig bleiben, sich nicht selbst zu zerstören:

“Mich interessiert, ob es überhaupt einen Faden der Ariadne gibt, ein Ende des Tunnels. Es gibt eine gewaltige Bibliothek der Science Fiction, in der lauter verschiedene Begräbnisse der Menschheit, wie das armselige Leben nach einem Atomkrieg, beschrieben werden.” (Interview in: Marzin 1985, S. 59/60).

Noch 1984 äußert sich in diesem Interview Lem positiv zum Prinzip der atomaren Abschreckung: “Nun, ich glaube, daß wir ohne atomare Abschreckung schon seit Jahren tief in einem neuen Weltkrieg stecken würden. Das ist durchaus möglich, denn es gibt da schon eine Schwelle, die niemand zu überschreiten wagt.” (Ebd., S. 65) In diesem Problemfeld werden Amery und Lem zu ideologischen Antagonisten; beide haben aus dem erlebten Krieg völlig unterschiedliche Konsequenzen gezogen, was zur Vermeidung einer Wiederholung beitragen kann. Aus der Perspektive desjenigen, der einer Besetzung seines Landes zusehen mußte, ist die Haltung Lems verständlich - aber auch, wenn man seinen Glauben an die Vernunft berücksichtigt. Wie oben erwähnt, sieht Amery gerade in der Entwicklung der menschlichen Vernunft das Problem: auch die Fähigkeit zu Reflexion wurde in den Dienst der einfachen Bedürfnisdeckung gestellt. Im “Futurologischen Kongreß” läßt Lem wie Amery zwei kritische Massen verschmelzen: die Probleme einer “Informationsdiktatur” und die völlig übervölkerte Welt der Zukunft. Die erste kritische Masse steht im Fokus, während die zweite nur als “Kontrastmittel” konzipiert ist, das die Kluft zwischen dem schönen Schein der Chemokratie und der apokalyptischen Wirklichkeit darstellen soll. An diesem Punkt entgleitet Lem der Text:    der

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Eigenproblematik der zweiten kritischen Masse kann er mit Argumenten der Vernunft nicht mehr begegnen. Anders als die Katastrophe Amerys ist diese Katastrophe tatsächlich apokalyptisch; diese Menschheit kann sich nicht mehr selbst helfen. Nur durch die Traum-Rahmenstellung des Textes kann Lem diesen Fragen entgehen.

7.4. Zwei Mahner

“Lem has been careful since the 1950’s to disguise his critisism of the communist regime in the East, but anyone writing material as critical as his lives dangerously” (Ziegfeld 1985 S. 10). Ganz so einseitig war die Beziehung zwischem Lem und dem Kommunismus nicht, wie Ziegfeld es hier darstellt: in “Gast im Weltraum“, einem der frühesten Werke, beschreibt Lem die Reise kommunistischer Helden durch das All, die auf verabscheuungswürdige Reste amerikanischer Kultur in einer verlassenen Raumstation treffen. “Gast im Weltraum” (1955) erscheint nur als DDR-Ausgabe in deutsch. Der Roman enthält streng kommunistische Tendenzen, in denen die Amerikaner als Kriegstreiber dargestellt werden (vgl.: Marzin in: Marzin 1985, S. 44). Später distanziert sich Lem von diesen Werken, obwohl sich in diesem Roman schon Züge einer Futurologie ab zeichnen, die erst in Lems “dritter Phase” herausgearbeitet werden. Sein Interesse für ein direktes oder auch persönliches politisches Engagement scheint seit dieser Zeit erloschen zu sein. Rottensteiner interpretiert den Roman als eine Überreaktion Lems auf die Erlebnisse des II. Weltkrieges, denen er sein Bild sozialer Gerechtigkeit entgegenstellen wollte (vgl.: Rottensteiner in: Marzin 1985, S. 82/83).

Im Unterschied zu Lem ist Amery immer auch ein erklärt politischer Schriftsteller geblieben (zur Zeit engagiert er sich besonders in der Energiepolitik, vgl. Amery- Interview 1995, S. 8). Abgesehen von seinem direkten Engagement bei den Grünen haben die Theorien, die er in seinem diskursiven Werk entwickelt - beispielsweise der ökologische Materialismus, oder der “Tod des Todes” - einen mehr oder weniger konkreten Hintergrund (sie sind auf mehrere Kontexte übertragbar). Dabei ist es erstaunlich, daß ein der ökologischen Bewegung nahestehender Schriftsteller sich selbst als Konservativer bezeichnet. Amery selbst unterscheidet seine besondere Art des Konservativen von einem “Neo-Konservativismus”, der den unrealistischen und bornierten Charakter der Unveränderlichkeit trägt (und dem aus diesem Grund der Übergang zum Faschismus leicht fällt):

“Der Konservativismus dieser Art hatte aus seinen romantischen Anfängen eine Hypothek übernommen, die wesentlich zu seiner Sterilität und seinem späteren Verfall beitragen sollte; die Fixierung auf das Mittelalter, seine normative Verwendung gegen die Moderne.” (Amery 1991, S. 32)

Zum anderen grenzt sich Amery damit auch gegen eine linke Gesellschaftspolitik ab, die sich in einer “fröhlichen Besserwisserei” (Amery 1991, S. 32) mancher fortschrittlichen Linken wiederfinden läßt (das ökologisch-politische Programm ist verzahnt mit einer Kritik an der Sozialdemokratie):

1. Methodisch bleibt Amery bei seiner oben genannten normativen Verweigerungshaltung gegenüber der Moderne (in diesem Punkt unterscheidet er sich auch am deutlichsten von Lem); zu diesem Zweck muß er sich historisch orientieren. Die Koalition des Geldes, der Technik und der Profitwirtschaft übernimmt - so Amery - nach dem Krieg die Geschicke der Nation

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ohne dabei ein erkennbares theoretisches Fundament zu entwickeln (abgesehen von der Opposition zum Kommunismus). Amery formuliert die Frage nach den tatsächlichen Bedürfnissen neu und liest die offizielle Anti-Philosophie gegen den Strich.

2. Ideologisch-religiös beharrt er auf “einer gewaltigen metaphysischen Last” (Amery 1991, S. 32), der Erbsünde, die sich im unvermeidlichen Zustand der Unzulänglichkeit der Menschheit ausdrückt. Anders als Lem verzweifelt er nicht über die “Makel” in der Schöpfung, er kann den biologischen “status quo” durchaus akzeptieren und wendet sich ausschließlich den ethischen Problemen zu. Im Gegenzug weist Amery auf die allgemeine Entlastungsfunktion von Ideologien hin: ein ökologischer Zivilisationsentwurf ohne religiöse Ordnung ist daher seiner Ansicht nach nicht sehr wahrscheinlich. Durch diese “Rückkoppelung” kann die “metaphysische Last” die Unzulänglichkeit des Menschen gleichzeitig wieder kompensieren.

Lem, sowohl den ethisch-philosophischen, als auch den biologischen “Problemen” zugewandt, präsentiert sich dem Leser durch seine Werke als enttäuschter Weltverbesserer. Seine ersten Romane sind naive Utopien, weil er eine so friedliche Welt erwarten wollte, wie er sie beschrieben hatte. Nach der zweiten Periode der “Flucht in den Weltraum” kehrt er mit seinen Werken auf die Erde zurück. Michael Kandel unterscheidet - parallel existierend - eine pessimistische und eine optimistische Position Lems: der Optimismus gründet sich auf die Hoffnung der kybernetischen Evolututionsfähigkeit, der Pessimismus auf die Skepsis dem gegenüber, was Amery unter dem Begriff “Natur” in das Zentrum seiner Gedanken stellt. “Dieses kybernetisch garantierte Menschsein existiert in einem Weltall, das von Grund auf mangelhaft ist.” (Kandel in: Berthel 1981, S. 69).

Während Amery vom gerechten Urteil der Erdmutter GAIA5 überzeugt ist, hält Lem dieser Hypothese zwei (anthropozentrische) Vorwürfe entgegen: das menschliche Bewußtsein ist sowohl terminiert, als auch in seiner Kapazität begrenzt. Aus diesem Grunde persifliert er immer wieder die Schöpfungsgeschichte. Lem mahnt gegen drei mögliche Arten der Tyrannei, die die Menschen in ihrer Freiheit begrenzt: die Tyrannei der Physik, die Tyrannei der Biologie und zuletzt auch die politische Tyrannei - aus der er aber keine besonderen Konsequenzen zieht. Wie Pascal oder Swift beklagt Lem die menschliche Sterblichkeit und Animalität. Seine Liebe dagegen gilt der Mathematik, dem absoluten Spiel: mit ihrer Hilfe besiegen Trurl und Klapauzius den politisch und physisch viel stärkeren König Grausam (6. Fabel). Lems Hoffnungen stammen aus dem 18. Jahrhundert, als man auf die reine Vernunft hoffte; diesen Ansatz verteidigt er voll gläubiger Überzeugung und muß dabei feststellen: Glück und Intellekt stehen sich oft als Antagonisten gegenüber (wie Trurl in “Experimenta Felicitologica” erfahren muß). Auf diese Weise erklärt sich auch Lems Feindseligkeit gegenüber der Sexualität: könnte sich der Mensch seiner biologischen Abstammung entledigen, würde er vielleicht zu einer höheren Ebene der Vernunft heranreifen.

“Man ist genötigt, mit der Menschenumwelt zu spielen, und mit der Natur; und wenn auch die ungezähmte Natur mit Technologien aus der Gesellschaft verbannt wird, wird dieser künstliche Ersatz allmählich zum Schadensstifter, und selbst dann läßt sich die Natur nicht total verbannen, weil sie weiterhin in unseren Körpern steckt…” (Lem 1987,

S. 30)

… , muß auch Lem schließlich bedauernd zugeben.

Der Glaube an Allmacht der Vernunft macht aus dem Menschen einen Anwärter auf die Göttlichkeit. Auf der einen Seite macht sich Lem diese Position zu eigen, wenn er die Hoffnung auf die Entwicklungsfähigkeit des Menschen setzt. Die andere Seite aber, daß die Existenz des Menschen kein Zufall ist, daß der Glaube an den Zufall überhaupt ein Sakrileg ist, kann Lem nicht akzeptieren. Durch die Anlehnung an die Vernunftsidee der Aufklärer ließe sich auf der anderen Seite die konservative und zögerliche moralische Position Lems erklären. In den Naturwissenschaften hat sich etwas von dem Glauben an die Göttlichkeit des Menschen erhalten. Lem orientiert sich also lieber an ihnen und in die Zukunft, als auf die Gewinner und Verlierer der Geschichte zurückzublicken. Dieser “unvollkommenen” Menschen nimmt sich Amery an. Amery ist ein Mahner, der seine Werte a priori definiert; seine Religiosität ist kritisch hinterfragt, aber doch präsent und unumstößlicher Bestandteil seiner

Ansichten. Ebenso fixiert sind Amerys Positionen ge-gegenüber Kultur, Technik und Natur. In diesem Rahmen exemplifiziert er seine Ansichten in den Romanen, zeigt Gefahren auf und mahnt mit “cautionary tales” vor der Apokalypse. Lem dagegen ist auf der Suche nach neuen Werten, die die alten ergänzen, doch ist er sich auch seiner Ohnmacht bewußt mit der er zu kämpfen hat. Daher schwankt auch die Einschätzung der eigenen Person bisweilen zwischen Größenwahn und Minderwertigkeitskomplex, wie die folgenden beiden Zitate aus “Dialoge” (1957) belegen: “Im besten Falle war ich schließlich ein Johannes der Täufer, ein Künder der Richtung, die einzuschlagen ist, um zur “Wahrheit einer künftigen Zeit zu gelangen…” (Lem 1980, im Nachwort von 1979, S. 318), aber auch: “Es ist möglich, daß das Tragen der Narrenkappe mit den Buchstaben SF’, die ich mir selbst aufgesetzt hatte … mir eines Tages unerträglich wurde.” (Lem 1980 S. 309/310).

Lems ambivalentes Verhältnis zu Technologie verursacht Unklarheiten in der Deutung seiner Werke: auf der einen Seite ist sein Faible für technische Möglichkeiten unverholen (schon als Kind hatte er eine Schwäche für mechanisches Spielzeug), auf der anderen Seite ist er nicht geneigt, über die Gefahren hinwegzusehen: “He pulls up short of unqualified enthusiasm because, ever the trenchant observer of human behavoir, he perceives that there is a dark side to scientific advances” (Ziegfeld 1985, S. 97/98). In diesem Zusammenhang definiert er die Kultur als Mechanismus, der negative Werte (wie die Nebenwirkungen der Chemokratie im “Kongreß”) in positive umbenennt und die Menschen damit über Mißstände hinwegtröstet. Bei aller Kritik sieht sich Lem selbst, im Unterschied zu Amery, als unpolitischen Menschen, den philosophische und erkenntnistheoretische Probleme viel mehr reizen (vgl.: Rottensteiner in: Berthel 1976, S. 179). Deutlich werden bei Lem die Gegenpositionen gekennzeichnet, nicht aber, für welche politische Anschauung er selbst eintreten würde. “I don’t want that political irony to be the sole subjekt of what we call the model that is given by a novel.” (Interview in: SFS März 1983, S. 4) Der politische Aspekt ist also nur einer unter vielen, aus denen sich seine Modelle zusammensetzen.

Lem fühlt sich in einer Zeit zum Philosophen geboren, in der sich durch die Philosophie keine neuen Systeme mehr erstellen lassen (Vgl.: Marzin 1985, S. 54.; vgl. auch: Nachwort zu “Dialoge” 1980). So brechen seine Weltentwürfe oft mitten im Ansatz ab; zurück bleibt nur, was vorher schon da war, vielleicht aber ergänzt durch eine neue Facette.

Im “Kongreß” wacht Tichy aus einem Traum auf, nachdem er den Schlüsselbetrug der Zukunft aufgedeckt hat. Lem bietet keine Lösung für das Problem der Überbevölkerung an, im Gegensatz zu Amery, der einen erstaunlichen Mut beweist; seine Theorien des “planet management” schrecken auch vor der Notwendigkeit einer Reduktion der Bevölkerungszahl nicht zurück.

Amery begründet seine umfassenden Forderungen damit, daß die sonst so vorrangige Wohlfahrt des Menschen nicht unbedingt im Einklang mit dem Erhalt der irdischen Heimat steht (Amery 1994, S. 16). Dennoch: “Wenn es auch nur die geringste Möglichkeit gibt, daß unser geringster Gedanke zu solchem Überleben beiträgt, ist der Ausweg der Resignation untersagt.” (Amery 1994 S. 18). Amery stützt sich auf die GAIA-

Theorie6: Es existiert ein fließendes, stabilisierendes Gleichgewicht zwischen den belebten und unbelebten Dingen. Der Mensch entwickelt sich dabei zur “Katastrophe”, die dieses Gleichgewicht stört, zum einen durch seinen maßlosen Energiekonsum, zum anderen durch seine Vermehrungsrate.

Der “Tod des Todes” und die damit verbundene Apokalypse ist Amerys “Botschaft des Jahrtausends”, die Warnung seines jüngsten diskursiven Werkes. Dabei warnt er gleichzeitig vor jeder Form von religiösem Fanatismus: “Brauchen wir eine solche Religion oder Religiosität überhaupt? Ist es nicht ökonomisch sinnvoller, alle anstehenden Gefahren und Möglichkeiten aus der ehrlichen Weltsicht heraus anzugehen?” (Amery 1994, S. 174). Künftige Religiosität muß nach Amery wieder zu einer Demut zurückfinden, in dem Wissen, nicht zur Krone der Schöpfung zu gehören; gleichzeitig darf diese Demut nicht zu einer Aufgabe der Souveränität der Gläubigen führen. Unter diesen Voraussetzungen können die “wunderbaren alten Werkzeuge” (Amery-Interview

1995, S. 10) ihre Wirkung entfalten:

“… wenn wir uns eine Vielfalt von künftigen Kulturen der Nachhaltigkeit wünschen, ist das überwölbende Dach einer gemeinsamen Religiosität von höchster Wirksamkeit. Und es ist gleichzeitig - übersehen wir das nicht! eine der wirksamsten, vielleicht die einzig wirksame Sperre gegen die große uns schlüssige Barbarei, die als Kennzeichen des XX. Jahrhunderts nicht wegzuleugnen ist.” (Amery 1994, S. 178)

Ein Äquivalent dazu gibt es bei Lem nicht; die Vernunft, auf die er sich beruft, hat keineswegs nur altruistischen Charakter, sondern trägt in gleichem Maße zu der erwähnten Barbarei bei.

Aber auch die zweite Basis Amerys, das Lernen aus der Geschichte, gibt den Theorien Amerys eine Geschlossenheit, die man bei Lem vermißt. Dieser konzentriert sich auf die Verarbeitung von Theorien der Naturwissenschaften, die an sich eine passende Metapher für die Zukunft zu sein scheinen, zum einen, da die Technologie ein nicht zu revidierender Faktor geworden ist, zum anderen, weil er in der an Natur und Kybernetik orientierten Technologie eine Chance für die Zukunft sieht. Der Begriff der Technoevolution, der für Lem zentral und seiner Ansicht nach für die kulturelle Zukunft bestimmend ist, läßt sich durch drei Axiome charakterisieren:

1.    Die technische Evolution wird vorausgesetzt, eine Begründung ihrer Existenz wird von Lem nicht eigens expliziert.

2.    Der Bezugspunkt der technischen Evolution ist die gesamte Menschheit, nicht Klassen oder Nationen.

3.    Der Fortschritt der technischen Evolution ist determiniert, ein Stop oder ein Zurück ist unwahrscheinlich und nach Lem auch nicht wünschbar.

Dennoch fehlt Lem eine Basis durch den Verzicht auf historische Dimensionierung. Das Problem, das sich ihm stellt, definiert sich durch die Dynamik der Entwicklungen. Wie er selbst feststellen muß, wächst der Wert der technischen Variabel schneller, als ihn die moralischen und ethischen Werte begleiten können. Darüberhinaus wird der Gehalt durch eine Flut von Informationen so komplex, daß er nicht mehr angemessen verarbeitet werden kann. (Im “Kongreß” zeigt sich, daß Lem das Problem erkannt hat, aber dennoch keine bessere Lösung als eine verantwortete technische Evolution anzubieten hat.)

Schrittweise bemüht sich Amery, aus der Vergangenheit Werte für die Zukunft zu deduzieren, beziehungsweise auf die Aktualität verlorener Werte hinzuweisen, indem er Elemente, deren historisches “Verhalten” bekannt ist, durch verfremdende Kunstgriffe in einen neuen Kontext stellt (auf jeden Fall konzentriert er sich in seinen ersten drei Romanen auf diese Methode, wodurch sich diese Werke als SF definieren lassen; in späteren wird dies komplizierter, oder sogar unmöglich); leichter als Lem kommt er dabei in eine “Kassandra-Situation”, da der Rückgriff auf Altbekanntes nicht so attraktiv ist, wie der Vorstoß ins unbekannte Neue.

Im Unterschied dazu bleibt der Blick Lems gerade nach vorn gerichtet, auch wenn er historische Anleihen macht: “…, darum interessiert ihn die Zukunft aufs äußerste, die Vergangenheit aber nur insofern, als sie beitragen kann jenes Wissen von den kommenden Dingen herbeizuführen.” (Rottensteiner in: Marzin 1985, S. 88). Elemente der Vergangenheit haben nur die Funktion des Bühnenbildes; so werden beispielsweise tyrannische Systeme nicht direkt erkennbar an bestehende Systeme angeleht.

Als Fazit läßt sich zusammenfassen, daß beide Autoren “cautionary tales” verfassen, in denen sie auf die Wirklichkeit hinweisen. Die Warnung ist ein Wesenszug dieser Erzählungen, so daß “cautionary tale” nicht als eine Untergattung der SF aufzufassen ist

- ebensowenig wie SF eine Fortsetzung der Utopie ist, sondern nur die des utopischen Denkens.

Die Warnung ist ebenfalls ein Merkmal der Engagierten SF (vgl. 2.4.), denn über die Gefahren des Abenteuers wird auf analoge Gefahren der Wirklichkeit hingewiesen. In den letzten drei Kapiteln wurde die Basis untersucht, von der aus die beiden Autoren ihre “Warnungen” aussprechen; dabei wurde deutlich, daß Amery sich auf eine fundiertere Basis stützen kann als Lem, da das rationale Element weniger von Spekulation abhängig ist, als bei Lem.

8. Schlußbemerkung und Ausblick

Die aktuellen Entwicklungen im SF-Markt zeigen ein neuerliches Ansteigen im Interesse an kybernetischen Themen, da KI und virtuelle Realitäten immer greifbarer werden. Ein Beispiel dafür sind die “Neuromancer” -Romane William Gibsons. Neben diesen Romanen erscheinen die Mahnungen Lems naiv: die Welt Gibsons ist voller Gewalt und Korruption, multinationale Konzerne kämpfen um Software, Hormone und Bioimplantate; sie werden wie die heutigen Drogen gehandelt. Diese “Cyberpunk”-Gesellschaft7 zeichnet sich durch ein zunehmendes Wertvakuum aus, das sich fast auf den Grundwert “Leben” (in diesem Fall “Überleben”) reduziert. Gibsons Romane sind im Lemschen Sinne kein Aufbruch zu neuen Wegen, vielmehr zeigt sich in ihnen der Trend zu gewalttätigem Pessimismus, der sich auf dem SF-Markt durchzusetzen scheint8.

Eine Perspektive, wie es besser werden könnte, eröffnet Gibson seinen Lesern nicht, vielmehr überzeichnet er Probleme der Gegenwart und läßt sie unhinterfragt im Raum stehen. Zum utopischen Denken gehört aber auch die Absicht, Perspektiven zu

eröffnen 9:

“… die alten Anliegen der Utopie, nämlich die kritische Darstellung der eigenen sozialen und politischen Wirklichkeit, ihre Kritik anhand erfundener Welten - sie sind heute restlos unter das Etikett der SF subsummiert … “ (Amery 1991, S. 277).

Das Öffnen von Perspektiven entspricht der in 2.4. erwähnten Möglichkeit der SF, Analogien zur Wirklichkeit über die Konstruktion von Modellen zu schaffen. Dabei geht es nicht darum, prognostische Aussagen über die Zukunft zu treffen (obwohl Lem gerne auch eine Spekulation wagt), sondern um die Veränderung und Erweiterung bestehender kognitiver Schemata (beispielsweise die Überwindung der anthropozentrischen Perspektive zu einer globalen Perspektive bei Amery und einer kosmischen Perspektive bei Lem). Vor allem in den Modellkonstrukten, deren Nähe zur Wirklichkeit direkt (wie bei Amery) oder abstrakt (wie bei Lem) sein kann, entwickelt sich eine didaktische Potenz für Engagierte SF. In 7.4. wurde versucht, diese eng bezogen auf die charakteristischen Merkmale der beiden Autoren darzustellen. Die Grundvoraussetzung für das Erkennen der didaktischen Potenz ist allerdings die Bereitschaft des Lesers, sich auf die Regeln und damit auf den Spielcharakter der SF einzulassen. Derjenige, der Fragen an die SF (auch an die Engagierte SF) stellt, wird schwerlich konkrete Anregungen für eine “Zukunftsbewältigung” bekommen. Vielfach findet er statt dessen konstruierte Konflikte und bizarre Theorien vor, die durch blinden Aktionismus um des Abenteuers willen gelöst werden. Die konkrete Utopie widerum hat sich überlebt, da sie viel zu schnell von der Wirklichkeit überholt wird. Den Forderungen von Pehlke und Lingfeld, SF müsse Widerstände gegen die Befreiung des Menschen als konkrete gesellschaftliche Kräfte entlarven (negative SF) und deren Überwindung schildern (positive SF) kann in diesem Umfang nicht entsprochen werden (Pehlke/Lingfeld 1970, S. 149), zumal dies auf Kosten des fiktionalen, spielerischen Charakters der Gattung geschehen müßte. Besser beschreibt der Begriff der “ausmalenden Prophetie” von Jehmlich und Lück (vgl. Jehmlich/Lück, 1974, S. 38) die mögliche Aufgabe innerhalb der Grenzen der Wahrscheinlichkeit, die auf SF übertragen werden kann.

Der Begriff der “Engagierten SF” ist vorwiegend innerhalb dieser Arbeit als Arbeitshypothese gültig, denn schließlich wurde er nur an insgesamt vier Werken verifiziert. Sicherlich läßt sich aber Engagement in der SF auch bei anderen Autoren und in anderen Werken finden, so daß prinzipiell einer Übertragung möglich ist. Mit dem Kriterium des Engagements, das die Konzentration auf das Abenteuer um des Abenteuers willen aus dem Fokus eines SF-Romans verdrängt, kann die zum Teil fruchtlose Diskussion um Literatizität und Trivialität der Gattung umgangen werden, zumal sich diese Frage nicht restlos klären läßt. Neben der Variationsgattung ist SF zusätzlich eine Sammelgattung, in der die Grenzen zum Schauerroman, zum Kriminalroman fließend sind; aus diesem Grund empfiehlt es sich, Strömungen innerhalb der Gattung zu isolieren und gesondert zu untersuchen, anstatt die gesamte Gattung in die Grenzen einer einzigen Definition zu binden. Die Engagierte SF ist in dieser Arbeit mit Vorsatz weniger definiert, als charakterisiert worden, denn durch den Sammelcharakter lassen sich zu jeder Regel gleich mehrere Ausnahmen finden.

Elemente, die in der SF existieren, hielten in die verschiedensten künstlerischen Bereichen Einzug, so zum Beispiel im Film, in der Musik und in der Malerei. In der Malerei sind Künstler wie Hutter, Fuchs und Hauser bereits über Kunstkalender und Bildkarten einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich; sie bedienen sich allerdings eher phantastischer Motive als solcher aus dem SF-Bereich. Der Vergleich von Literatur und Malerei bietet sich vor allem durch die Verwandschaft der Techniken an: sowohl in der einen als auch in der anderen werden verschiedene Bildebenen übergeblendet, Bedeutungsebenen durchdringen sich gegenseitig und verschiedene Realitätsgrade und Zeitmaße werden eingeführt. “Das riskante Spiel mit Zeit, Kunst und Leben vollzieht sich hier wie da als Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, als Vertauschung von Künstlichem und Lebendigem, als ein Verschwimmen von Schein und Realität.” (Thomsen/Fischer 1980, S. 5). In diesem übergeordneten Rahmen zeigt sich, daß das Interesse an einer neuen Transzendenz des Erfahrbaren sich nicht auf eine Untergattung der “Großgattung” SF beschränkt, vielmehr ist umgekeht die Entwicklung in Teilen der SF ein Symptom von vielen für den Versuch einer kulturellen Mängelbewältigung.

Als Leitprinzip für die Untergattung “Engagierter SF” im Gefüge der Literaturproduktion kann gelten, was Dürrenmatt über seine Neigung zum Kriminalroman gesagt hat: “Die Literatur muß so leicht werden, daß sie auf der Waage der heutigen Literaturkritik nicht mehr viel wiegt: Nur so wird sie wieder gewichtig.” (Dürrenmatt 1966, S. 131). Das absolute Gewicht, das durch die Gesamtheit der Leserschaft bestimmt wird, kann dennoch groß sein.

Ein Aspekt konnte aufgrund des Umfanges und des Zusammenhanges in dieser Arbeit nicht mehr berücksichtigt werden:    die Verbindung von

romantischem Denken und SF. Anhaltspunkte für eine Verbindung fanden sich vielfältig in den in dieser Arbeit untersuchten Werken: der Versuch einer ständigen Entgrenzung in der Gattung, die Melancholie über nicht erreichte Träume und die ironische Darstellung von Ideen als Befreiung von den Grenzen der Wirklichkeit, die Ähnlichkeiten von Märchen und SF, schließlich der sozialutopische Aspekt an sich. Lessing sagt über den romantischen Schwärmer: “Er wünscht sich diese Zukunft beschleunigt - und wünscht, daß sie durch ihn beschleunigt werde. Wozu sich die Natur Jahrtausende Zeit nimmt, soll in dem Augenblick seines Daseins reifen.” (Lessing 1980, S. 26). Gleiches kann auch auf den SF-Autoren übertragen werden; diesem Vergleich könnte eine eigene Untersuchung gewidmet werden.

1

So lebt die Gesellschaft Perry Rohdans in einem “permanenten Ausnahmezustand” in dessen Rahmen alle Aktionen der Helden im voraus legitimiert sind.

2

“Und die Geschäfte dieser Welt sind die Geschäfte der Bierhefe, die blind und hartnäckig alles Genießbare ringsum auffrißt, um folgerichtig an den eigenen Exkrementen zu ersticken.” (Botschft 1994, S. 171). Amery weist mit dem Zitat auf seine Theorie des “B.& S.-Programmes” hin, die er in seinem jüngsten diskursiven Werk entwickelte.

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“… ich bin jetzt in der Energiepolitik. Das halte ich für sinnvoll. Das ist nämlich gleichzeitig auch ein philosophischer Ansatz. Die ungeheure Macht, die über uns ausgeübt wird!” (Amery-Interview 1995, S. 8). Amery ist mehr als ein politischer Schriftsteller, er beteiligt sich direkt am politischen Geschehen, ohne dabei Realpolitiker werden zu wollen. Auch für ihn geht die Faszination von der Idee, dem philosophischen Ansatz aus, der hinter den politischen Entscheidungen steht.

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“Da von Krieg oder Industrieunfällen nicht die Rede ist, kann man mutmaßen, daß es sich um die Auswirkung irgendeiner ökologischen Entgleisung handelt… “ (Gottwald 1990, S. 111)

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“Das ist die Idee von der selbstreferentiellen, sich selbst organisierenden, autopoetisch sich organisierenden, sagen wir ruhig organischen Intelligenz als Ausdruck für die gesamte

Biosphäre…. Zum Beispiel, das Erdklima blieb auf eine Weise

konstant, die “natürlich” vom Vulgärdarwinismus nicht zu erklären ist. Der Vulgärdarwinismus würde ansetzen: Eine Kugel, und auf der krabbeln oder laufen Lebewesen herum, die müssen sich nun auf irgendeine Weise an ihre Umgebung gewöhnen. In Wirklichkeit bauen sie mit, die organisieren ihre Umgebung mit.” (Amery-Interview 1995, S. 13, 14) Amery geht von einer “intelligenten Schöpfung” aus, die zur Selbstorganisation fähig ist. Bei Lem ist Evolution auf die Entwicklung von Bewußtsein konzentriert. Das Medium des Bewußtseins ist dabei für ihn nebensächlich; die Idee einer kollektiven “Intelligenz” im Sinne einer natürlichen Selbstorganisation nimmt er nicht an, da er die Kultur des Menschen der Natur gegenüberstellt.

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Der Begriff ist angelehnt an die Sage der griechischen Erdgöttin GAIA, aus alles Leben wurde und wird; der Name der Theorie wurde dem Erfinder Edward Lovelock von William Golding gegeben; ein wichtiger Kernpunkt ist, das der Evolutionsprozeß eine unteilbare Einheit darstellt: “Es waren die lebenden Organismen selbst, die den Planeten stets bewohnbar für das Leben erhielten und erhalten. Im Gegensatz dazu steht die bisher gängige Ansicht, daß sich das Leben an unausweichliche physikalische und chemische Bedingungen und ihre Veränderungen anpassen mußte.” (Amery 1991, S. 224/225)

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Menschen leben bereits mit kybernetischen Implantaten; jedes dieser Implantate nimmt ihnen ein Teil ihrer menschlichen Empfindsamkeit. Mit ein wenig Phantasie könnte man hier das “Missing Link” in der Evolution zur Gesellschaft Klapauzius’ und Truls entdecken.

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   Neben den “Neuromancern” gibt es auch eine aktuelle Trendrichtung der “Humanists” (beispielsweise vertreten durch Lucius Shepard und Richard Paul Russo), die sozialkritische und pazifistische SF schreiben, ohne dabei auf die Naturwissenschaften zu verzichten. Die “hard-boiled”-SF erfreuen sich jedoch in den Fangemeinden größerer Beliebtheit durch die Akzentuierung des Abenteuers.

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   Als Beispiel für seine Behauptung führt Amery die Zeit des McChartyismus in den fünfziger Jahren an, als das Genre eine Fluchtstätte für “linke” Autoren und ihre Kritik wurde.

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