Der Verstand als Steuermann

Stanislaw Lem 12.11.1998

Überlegungen zum Stand der Cerebromatik

Gegen die Welle der allgemeinen Begeisterung über das Internet habe ich auch immer die Gefahren thematisiert, die durch globale Computernetze entstehen. Ich glaube, daß diese Ermahnungen und Warnungen einstweilen reichen, und kann nur hinzufügen, daß aus der Weltpresse ein Chor beunruhigter, sogar panikartiger Stimmen von Institutionen und Personen zu hören sind, die über gesetzlich garantierte Veröffentlichungsrechte verfügen, weil zur Zeit jeder ein beliebiges Buch, Musikstück oder ein anderes kreatives Produkt in das Weltnetz so einspeisen kann, daß jeder Netzbenutzer das Werk kostenlos nutzen könnte. Man bezahlt lediglich die Verbindung mit dem Internet und nicht das, was uns mitgeteilt werden kann.

Momentan sieht man keine größeren Gefahren, aber Folgen des Internet können überraschend auftreten, wie dies überall da der Fall sein kann, wo es aktive Menschen gibt und eine unbegrenzte Freiheit herrscht. Andererseits hat sich bereits herausgestellt, daß etwa Pornographieverbote sofort unerwünschte Probleme entstehen lassen, weil z.B. viele Werke berühmter Maler menschliche - nicht nur weibliche - Nacktheit zeigen. Wenn man das Verbot zu ernsthaft befolgt, könnte man sogar die Bibel für ein Werk halten, das in potentia Abbildungen mit pornographischem Beigeschmack enthält. Mit einem Wort, das Problem der Abgrenzung zwischen dem, was Pornographie ist, und dem, was nicht pornographisch ist, erscheint wie ein wieder herbeigerufenes Gespenst. Im übrigen denke ich, daß man entweder zuviel oder zuwenig verbieten wird, weil es eine “graue” Zone geben muß, die für einige künstlerisch begründet und für andere schlüpfrig ist. Der Fragenkomplex der Tabuisierung ist breiter und ernster als alle Internets, Computer und Modems, weil deren Ausmaß in verschiedenen Kulturkreisen äußerst unterschiedlich ist. Für uns ist beispielsweise das für “sehr islamische” Länder eindeutige Verbot, das weibliche Gesicht zu entblößen, geradezu eine Absonderlichkeit. Zusammenstöße des technologischen Fortschritts mit den kulturellen und religiösen Traditionen halte ich daher für unvermeidlich. Bereits die Alten waren hier liberaler als viele Zeitgenossen.

In vielen nur halbwegs wissenschaftlichen Magazinen, wie dem populärwissenschaftlichen englischen Magazin NEW SCIENTIST oder dem französischen SCIENCE ET VIE, kann man in letzter Zeit oft Ankündigungen eines baldigen Einsatzes des denkenden menschlichen Gehirns finden, das einen “Kurzschluß” zwischen diesem Gehirn mit seinen Willensakten und den Effektoren in Form eines Autolenkrads, eines Flugzeugsteuers, eines Antriebs und Lenkrads eines Rollstuhls und auch Geräten, die unvergleichbar komplizierter sind, erlauben soll. Zuletzt haben sich die Japaner auch mit dem Bereich der “Kurzschlüsse” des Gehirns mit den außerkörperlichen Apparaten beschäftigt.

Man schreibt in den als Beispiel aufgeführten Zeitschriften sogar über die Möglichkeit, völlig blinde Menschen, die über ein nicht beschädigtes Sehzentrum (fissura calcarina) verfügen, das Lesen und auch Sehen in Form eines “Raster”-Typus zu ermöglichen. Wie will man dies realisieren? Wenn man den Hinterkopf elektrisch reizt, kann man sogenannte “Phosphene” als Lichtpunkte erzeugen, die vom Menschen bewußt als Ergebnis der direkten Einwirkung auf die Großhirnrinde wahrgenommen werden. Und obwohl niemand diese Blitze zur Zeit zu einem sinnvollen Muster als Buchstaben zusammenstellen kann, glaubt man, daß in ein paar Jahren die Buchstaben so zusammengestellt werden können, daß der Blinde zuerst mit dem Gehirn die Buchstaben der Brailleschrift und dann auch eine gewöhnliche Zeitung lesen können wird. Ich sage nicht, daß man solche Prognosen zwischen Märchen oder Mythen stellen soll, wie jene über Herkules, der auf den Schultern ein Kalb nahm und nach einem Jahr bereits einen Bullen tragen konnte, aber es kann nicht schaden, bei solchen Vorhersagen zurückhaltender zu sein, insbesondere wenn man über das Lenken von Fahrzeugen und Flugzeugen mittels Gedanken schreibt. Das ist falsch und gefährlich.

Wenn das Gehirn bei geschlossenen Augen, einfach formuliert, nicht mit einer Wahrnehmung oder einem Problem beschäftigt ist, kommen freie Entladungen von Neuronen (ALPHA-Rhythmus) vor, und wenn man die Augen öffnet und über etwas aktiv nachdenkt, verändert sich der Alpha- in Hochfrequenz-BetaRhythmus (es gibt noch andere Frequenzen wie den Theta-Rhythmus, auf die ich aber nicht eingehen will, weil dies bereits eine andere Frage ist). Vorerst ist die Idee, daß der Mensch durch Öffnen und Schließen der Augen und der dadurch entstehenden Veränderung der EEG-Rhythmen seines Gehirns direkt über entsprechende Verstärker zum Beispiel auf das Lenkrad einwirkt. Ich würde keinem raten, Passagier eines auf diese Weise gesteuerten Vehikels zu sein und ihm seine Gesundheit und sein Leben anzuvertrauen. Die Rhythmusveränderungen sind weder identisch noch in der Geschwindigkeit sicher bei jedem Menschen. Und wenn man sich auch noch vorstellt, worüber uns enthusiastisch eingestellte “Science Writers” unterrichten, die jedoch hinsichtlich der “Rücksteuerung” in der Biologie und Medizin Laien sind, daß über die elektrische Stimulation von geistigen Prozessen durch steuernde Einwirkung auf das Gehirn mittels entsprechender Geräte (schon dies riecht nach S-F, aber nach einer, die mit der Wahrheit der Fakten nicht übereinstimmt), so stellt sich all das als ein Märchen heraus.

Der springende Punkt ist, daß man bis heute nicht genau weiß, wie und wo das Gehirn die Gedächtnisdaten speichert, und man weiß auch nicht, was im EEG das Ergebnis der Gehirnarbeit ist, die das Bewußtsein hervorbringt, oder welche Prozesse das Bewußtsein erzeugen, stützen und leiten. Ich sah selbst in einem Labor, daß Bilder, die durch das arbeitende Gehirn erzeugt werden (man untersucht z.B. die Zustände seiner lokalen Durchblutung, die sich je nach dem verändert, welcher Gehirnbereich mit welchen anderen zusammenarbeitet), bei verschiedenen Menschen unterschiedlich sind. Ein identisches Problem, mit dem sich eine Person beschäftigt, sieht etwa auf den PET-Bildern anders aus, wenn wir die Gehirnarbeit eines Mannes oder einer Frau beobachten.

Der Streubereich der Unterschiede zwischen beiden Geschlechtern ist im allgemeinen größer als innerhalb des Personenkreises des gleichen Geschlechts, aber das bedeutet ungefähr soviel, wie anzunehmen, daß wir bereits alles dank der Feststellung wissen, daß die Frauen größere Brüste als Männer haben. Keine Steuerung ist möglich, “weder hin noch her”, ohne sehr schwere und erhebliche chirurgische Eingriffe. Und das ganze Erzählen über die gehirnkompatiblen “Interfaces” stellt nur Gerede dar, weil alle Codes, deren sich ein Individuum mit seinen Neuronen bedient, wenn es die gesprochene oder geschriebene Muttersprache benutzt, wenn es diese Sprache oder eine fremde, aber gelernte Sprache liest, noch wesentlich individueller als beispielsweise Fingerabdrücke oder auch die genaue Struktur der Gefäße in der Netzhaut jedes Auges sind. Nota bene wird die Struktur der Blutgefäße in der Netzhaut bereits dank ihrer Verschiedenheit als charakteristisches Merkmal der Identität statt der Fingerabdrücke empfohlen, weil etwa Verbrecher aus einer höheren Klasse die Fingerabdrücke ändern (meistens chirurgisch entfernen) können. Die Verzweigung der Arteriole des Augengrundes kann man dagegen nicht verändern, es sei denn, daß man Augen entfernt und für diesen Eingriff mit Blindheit zahlt. Es kann also über das direkte “Gedankenlesen” mittels einer unerhörten Apparatur keine Rede sein, auch dann wenn man nur feststellen und erkennen möchte, in welcher Sprache ein Mensch denkt und in welcher er nicht viel oder gar nichts versteht.

Das Gehirn verfügt bei einem Neugeborenen über eine sprachliche Potenz, es übernimmt die Sprache, mit der es in Berührung kommt. Bis zum 3. oder 4. Lebensjahr kann man sogar drei Sprachen mit der gleichen automatischen Leichtigkeit erlernen. Später lernen wir Fremdsprachen schon mit einiger Mühe, und es wird möglich werden, Zentral- und Lokalisierungsregionen für die ursprünglich von der menschlichen Umwelt übernommene Sprache zu bestimmen und gleichzeitig zu entdecken, wo bei ihrer Anwesenheit die fremdsprachlichen Ressourcen lokalisiert sind. Es wird irgendwann möglich sein, das allgemein zu bestimmen, aber nicht heute und auch noch nicht morgen. Hingegen gibt es jedoch kein Lesen von Gedanken, weil man zu diesem Zwecke über die noch in 50 und auch in 100 Jahren unmögliche Technologie der zerebralen Architektur verfügen müßte. Dazu wäre es notwendig, das arbeitende Gehirnmodell eines Menschen bauen, in dem es elektronische Entsprechungen für seine Neuronen (ca. 14 Milliarden) und auch für die aktuell aktiven Dendriten- und Axonverbindungen mit anderen Neuronen (bis zu 200.000 pro Neuron) gibt. Doch selbst dann würden wir keine Sicherheit haben, daß dieses künstlich konstruierte Gehirn ein “Schema” darstellt, aus dem wir lesen können, was der Inhaber des “Gehirnoriginals” denkt. Im Grunde können alle iterativ verarbeitenden Computer, wenn sie ein identisches Problem lösen, durch andere ersetzt werden, denn alle sind perfekte Automaten im Sinne der “Nachkommen” der Turing-Maschine. Mit den erst krabbelnden Parallelcomputern wäre das schon schwieriger, aber ein Identitätstest läßt sich sowohl hier wie auch dort durchführen.

Die von ihren Körpern getrennten und in irgendeiner Nährflüssigkeit schwimmende Gehirne, die zum Denken fähig sein sollen, auch wenn sie nicht sinnlich mit ihrem Körper und durch die Sinne des Körpers mit der Welt verbunden sind, sind Märchen. Wenn Gehirne eine derart totale “sensorische Deprivation” erfahren und die Verbindung mit dem Rückenmark und durch das Geflecht des Plexus solaris (“Bauchhirn”) mit dem Körper getrennt wird, so werden sie in einen typischen Koma-Zustand fallen, woraus man sie höchstens vielleicht durch chemisch-elektrische Reize reißen kann, die ihnen “Bewußtseinsbrüche” in Form von merkwürdigen Träumen erzeugen. Aber diese makabre, phantastische Vision, die man in einem (schlechten) Science Fiction Roman finden kann, hat weder etwas mit dem billigen, da fiktiven Dämonismus der Gehirne gemeinsam, die zwangsweise auf dieselbe

Weise der Gedankenkontrolle und der elektronischen “Steuerung” unterworfen sind, noch mit dem umgekehrten Weg, sie “im Kurzschluß” mit den Systemen der außerkörperlichen Umgebung zu steuern. Dies könnte man nur auf eine so primitive und grobe Weise realisieren, daß es der Mühe nicht wert wäre.

Ich meine allerdings nicht, daß Menschen nicht versuchen werden, auf diesem Weg von Gehirnen zu Gehirnen vorzudringen, weil sie dazu neigen, verschiedene mehr oder weniger verrückte Dinge zu tun. Die Ergebnisse solcher Versuchungen können allerdings weder wirklich lohnend noch sozial gefährlich sein. Jemand bemerkte einmal bissig und menschenfeindlich, daß man zwar eine “synthetische Liebhaberin”, die von einer “natürlichen Frau” kaum zu unterscheiden wäre, bauen können werde, aber daß so ein Spiel der Mühe nicht wert sei, und wenn auch nur aus dem sehr trivialen Grund, daß man eine lebendige, für solche Dienstleistungen bezahlte Frau für einen hundertmillionsten Teil der Kosten einer “synthetischen Konkubine” finden kann. Im übrigen schafft die androide “Homunkulisierung” von Anfang an eine ganze Menge schwerwiegender Dilemmata als Bettprobleme, weil eine “künstliche Person” die gleichen Rechte wie eine “natürliche” Person verlangen könnte - und dann müßten sich die Gesetzgeber, Philosophen, Geistliche und Juristen ihre Köpfe zerbrechen. Dies ist jedoch eine Fiktion jenseits der aufblasbaren Puppen, die sexuellen Praktiken dienen, und nicht das Thema, dem ich mit diesen Bemerkungen dienen möchte.

Die Absicht meiner Überlegungen ist, daß eine scharfe Abgrenzung zwischen den technisch und technobiotisch möglichen Errungenschaften und den irrealen Ideen für immer schwierig bleiben wird, weil sich die “graue Zone” zwischen beiden nur mit großer Mühe feststellen läßt, zumal in einer Epoche so schneller Fortschritte wie der unseren. Noch kein Lebender trägt im Brustkorb ein Schweineherz, aber diese Errungenschaft scheint bereits möglich zu sein und kann als Eingriff, durch den das Leben einer Sau für die Rettung des menschlichen Lebens geopfert wird, auch legalisiert werden (wir schweigen zynisch über Schinken und Wurst aus dem Schweineleichnam). Es gibt sogar Wissenschaftler - und nicht nur dilettantische Journalisten-Sensationsjäger -, die uns eine baldige Vernichtung von krankheitserregenden Viren versprechen, während wir immer noch mit den von den Menschen konstruierten Computerviren nicht fertig werden können. Sie versprechen auch die Energiegewinnung aus den “schwarzen Löchern” oder Zeitreisen über diese Löcher, während jeder etwas wachsamere Physiker versichert, daß die “Technologien der Schwarzen Löcher” heute Märchen über den eisernen Wolf darstellen - und auch wenn sich so ein Wolf konstruieren ließe, dann wird das immer noch zum Umbau von “schwarzen Löchern” und deren Verwendung als in der Zeit und Raum gebohrten Tunnel ziemlich weit entfernt sein.

Weil die Menschen, wie man weiß, jedoch anderen Menschen schreckliche und auch mörderische Dinge antun, sollte man trotz aller Vorbehalte annehmen, daß es zu Experimenten mit dem und am menschlichen Gehirn kommen wird. Zu denen, die durch Leichtsinnigkeit gesündigt haben, gehöre auch ich selbst (siehe meine DIALOGE, die vor mehr als dreißig Jahren geschrieben wurdem). Mich hat jedoch damals nicht so sehr die moralische und neurotechnische Seite jener Eingriffe beschäftigt, die ich in den DIALOGEN beschrieben habe, sondern die Konsequenzen philosophischer Natur als den Folgen eines schrecklichen Eindringens in das, was endgültig über die persönliche Identität und Einzigartigkeit eines jeden lebenden Menschen entscheidet.

Da wir jedoch bereits einen Teil der ausschließlich menschlichen geistigen Arbeiten an eine Technologie, die sich dem Menschen entfremdet hat, übertragen haben, wenn z.B. der Schachweltmeister eine Partie gegen den Computer verlieren kann, hat man oberflächlich den Eindruck gewonnen, daß uns das Wasser schon bis zu den Knien reicht, zum menschlichen Verstand ein gerader Weg führt und wir die Hürden ziemlich einfach beseitigen werden. So ist es nicht, denn das Gehirn stellt ein so komplexes und geschlossenes System dar, daß man es sogar verletzen kann und wegen des großen neuronalen Parallelismus keine daraus entstehenden Folgen bemerken wird. Diesen Parallelismus verdanken wir der anthropogenischen Evolution. Die technische Invasion in das Gehirn ist meiner Meinung nach das schwierigste aller schwierigen Probleme, wenn wir optimistisch oder vielleicht eher pessimistisch annehmen dürfen, daß uns eine nicht geringfügige Cerebromatik als Ergebnis der Eingriffe in bereits ausgereifte Gehirne und nicht als eine Variante der zukünftigen genetisch-eugenischen Arbeit bevorsteht.

Onomastische Cyberkriege

Stanislaw Lem 06.02.1999

Vom Beschießen mit    der Wahrheit    und

Lügenkanonen

In letzter Zeit sind wieder Diskussionen über eine notwendige, angeblich von Souveränität Zeugnis ablegende Übertragung von Begriffen aus dem Bereich der Informatik, der Computerwissenschaft und der angewandten Kybernetik in die polnische Sprache und deren hauptsächlich aus    dem

Englischen stammende Wortbildung ausgebrochen. Es geht darum, daß weder ein Landsmann noch ein Ausländer, der auf den Straßen einer Stadt wie z.B. Krakau spazieren geht, bei der Unmenge an Schildern, Werbungen    und Aufschriften    den

Eindruck gewinnen sollte, er befinde sich in New Yorks Manhattan.

Die    Namen, die ich    mir für meine    quasiphantastischen Werke    ausgedacht hatte,    sind

bereits auf die Spalten und Seiten der Informatik-und Computerwörterbücher sowie der entsprechenden Fachzeitschriften gewandert. Man spricht über das, was “Infowar”, “Cybersquads” oder “Infokämpfe” genannt wird. Zu jener Zeit hatte ich, wenn man so will, “umgekehrt” gewirkt, als    ich die    englischen Bezeichnungen wie

“Hardwar” -    oder    auch “Softwar”    - als

Bezeichnung für die Kämpfe geprägt hatte, die mit dem    Einsatz    von    Information als    Waffe

ausgetragen werden würden.

Wenn jemand, der chaotisch die Dachböden seines alten Hauses durchsucht, endlich auf den Hinterlader seines Urgroßvaters stößt, bedeutet das noch nicht, daß ihm auch gleich der Titel eines Pioniers für ein neues Abschußsystem von Marschflugkörpern aus einem untergetauchten U-Boot zusteht. So habe auch ich nicht vor, mich als Bahnbrecher zu rühmen, weil ich weiß, wie einfach ein unbeabsichtigtes Humoristikum auf Grund von Gewaltakten an der polnischen Sprache entsteht, wenn man beispielsweise das häßliche “Interface” in irgendeine “Zwischenschnauze” umändert. “Zwischengesicht” gefällt mir auch nicht. Das Problem liegt darin, daß es sehr schwierig ist, der Sprache durch eine nationale Bewegung ausgedachte Namen “einzureden”. Zum Beispiel gab es vor dem Krieg Versuche, das seiner Zeit so trendige “Autogiro” in “Windmühlenflugzeug” umzutaufen, aber daraus ist nichts geworden. Falls sich, nebenbei gesagt, das Internet, das von mir nicht besonders gemocht wird, ausbreiten wird, dann ist es erforderlich, Englisch zu lernen, denn die ethnischen Sprachen sind aufgrund der englischen Aggression stark erodierende kleine Inseln.

Das ziemlich laut als Jahrhundert der Informatik -die ich in einem der vorhergehenden Essays in “Exformation” umgewandelt habe - angekündigte 21. Jahrhundert wird ohne Einführung der Bits und Bytes oder der alphanumerischen Reihen in die unzähligen Schlachten nicht auskommen können. Zur Zeit werden die Gefechte, wie man lesen kann, so geführt, daß die Hacker oder Cracker, die meistens Jugendliche sind (die Alten passen in diesen Kampf irgendwie nicht), ihre geduldige Kreativität bemühen um über die Netzmäander dort einzudringen, wo sich dies am wenigstens gebührt, weil es nicht erlaubt ist und einem aufgespürten Infoeinbrecher Gefängnis und schwere Geldstrafen drohen. Das reizt natürlich die Scharen dieser smarten Frechlinge um so mehr.

“Computercrime”, also eine Straftat mit elektronischen Dietrichen, ist zur Zeit noch nicht allzu sehr verbreitet und führt angeblich nicht zu allzu großen Verlusten bei den Banken, den Militärs oder dem Kapital.

Ich denke mir, daß jetzt die Gelegenheit ist, meiner vielleicht zu viel nachgegangenen Lust, mich selbst zu zitieren, zu folgen. Ich schrieb nämlich in dem zur “Kyberiade” gehörenden Stück “Edukation Cyfrania”, als es noch kein Internet gab, im zweiten Teil “Die Erzählung des zweiten Auftauers” folgende Fiktion: Auf dem Planet “Arde” sammelten die “Ardbewohner” die Informationen in “Computer-Deponien”, bis es so viel gab, daß sie damit anfingen, sie im Inneren des eigenen Planeten unterzubringen. Dann brach der Infokrieg zwischen dem souverän gewordenem Lager, genannt “Verstern” - von “Kern” -, und den Ardbewohnern aus.

“Der Weltkrieg mit dem im Untergrund ausgedehnten Usurpator erinnerte auf keine Weise an frühere Kriege. Beide Parteien, die sich gegeneinander innerhalb von wenigen Sekunden vernichten könnten, haben sich gerade dadurch, weil sie mit der Information kämpften, physisch gar nicht berührt. Es ging darum, wer wen mit den lügnerischen Fetzen der gefälschten Bits schlägt, über den Kopf mit dem Seemannsgarn haut, in die Gedanken wie in eine Festung eindringt und alle Stabsmoleküle des Feindes darin durcheinander bringt, so daß er von der informatischen Paralyse befallen wird. Die operative Oberhand gewann sofort der Verstern, da er der Hauptbuchhalter und Quartiermeister der Arde war: er hat also die Ardbewohner falsch über die Stationierung der Armeen, der Vorräte, der Schiffe, der Raketen und der Kopfschmerztabletten informiert; er hat sogar die Anzahl der Nägel in den Schuhsohlen

der Führung verdreht, um durch das ozeanische Übermaß der Lügen jeglichen Gegenangriff im Keime zu lähmen. Deswegen war die einzige zuverlässige Information, die durch Verstern an die Oberfläche der Arde verschickt wurde, an die Fabrik- und Arsenalcomputer gerichtet, damit sie ihre gesamten Speicher vollständig löschen - was auch passierte. Als ob das noch nicht genug wäre, beendete der Verstern diesen Angriff auf der globalen Front, indem er die Personalien des Gegners vom Befehlshaber bis zum letzten Troßknecht wie Kraut und Rüben durcheinandermischte.

Die Lage schien hoffnungslos zu sein, obwohl man die letzten noch nicht durch das feindliche Lügengewebe vernagelten Lügenmörser so ausrichtete, daß ihre Rohre nach unten zeigten. Stabsmänner, die die Vergeblichkeit dieser Aktion kannten, verlangten die Eröffnung des lügnerischen Feuers, damit Lüge mit Lüge bezahlt wird, und wenn man schon den Krieg verlieren sollte, dann wenigstens nicht in lügenhafter Ehre. Der Befehlshaber wußte jedoch, daß dem Usurpator mit keiner Salve Schaden zufügt werden kann, da es nichts einfacheres für ihn gibt, als eine vollständige Blockade durch Kommunikationssperre auszuführen und absolut nichts zur Kenntnis zu nehmen. In diesem tragischen Augenblick bediente er sich also einer selbstzerstörerischen List. Er befahl nämlich den Verstern mit dem Gesamtinhalt aller Stabsarchive und -karteien, also mit reiner Wahrheit, zu bombardieren. Dabei verschickte man in das Innere der Arde ganze Mengen von Staatsgeheimnissen und streng geheimen Plänen. Sie nicht nur weiterzugeben, sondern auch ihren Schleier zu lüften, bedeutete Staatsverrat zu begehen. Verstern enthielt sich nicht der Versuchung, so wichtige Daten gierig zu untersuchen, was die selbstmörderische

Verwirrung des Gegners zu bestätigen schien. Unterdessen fügte man den streng geheimen einen stufenweise wachsenden Zusatz von weniger wesentlichen Informationen hinzu, doch Verstern empfing gewohnheitsmäßig alles und schluckte weitere Bit-Lawinen. Als der Vorrat an geheimen Staatsverträgen, Berichten von Spione, Mobilisierungsplänen und strategischen Pläne ausgeschöpft war, öffnete man die Schleusen der Sammelstellen, in denen alte Mythen, Sagen, Überlieferungen, Märchen und uralte Legenden, heilige Bücher, Apokryphen, Enzykliken sowie Hagiographien aufbewahrt wurden…”

Ende des ein wenig zu langen Zitats.

Ich möchte darauf hinweisen, daß die Erzählung von diesem “Informationskampf” den Begrifflichkeiten des heutigen Tages nicht sehr entspricht, weil sie dafür zu früh geschrieben wurde. Dennoch können wir aus diesem Zitat etwas über potentielle Taktiken des “Kampfes mit Bits”, also eines “Infokrieges”, herauslesen, und wir können darüber hinaus, gewissermaßen unwillkürlich (d.h. unabhängig davon, ob und was der Autor dieser Geschichte dachte) in diesen Text Botschaften hineinlesen, von denen der “Text selbst” oder selbst der Autor nicht einmal geträumt hatte. Zuerst erscheinen, obwohl verschwommen, weil es kein Sachtraktat über die Polemologie der Information - über die quasikriegerischen Gefechte der Informatiken als nicht materiellen Armeen - war, verschiedene potentielle Taktiken des feindlichen Handelns, die sowohl offensiver als auch defensiver Natur sind: Man kann erstens mit der Wahrheit schießen, die Nachrichten des Feindes dechiffrieren und verdrehen, ihm (heute über die Computernetze) Falschheit als Wahrheit und - noch perfider - Wahrheit als Falschheit unterschieben oder Übertragungen anzapfen, die an Dritte adressiert sind. Man kann zweitens vom Inhalt der Meldungen (heute würden wir hinzufügen: in einer E-mail oder beim “Surfen in Cyberspace”) zugunsten der quantitativen Seite abstrahieren. Man kann vor allem in Echtzeit die rein operative Leistung der Computer oder der ganzen Netze des Gegners überwältigen. Man kann mittels der Informatik das machen, was in der alten und vergangenen Epoche der gewöhnlichen Schlachten das Ausschicken eines modernen Düsenflugzeugs gegen eine aus Focke-Wulfen oder Spitfires bestehende Luftwaffe bedeuten würde. Man kann also allein durch die operative Kraft - die operative Kraft bezwingen und über die inhaltliche Seite hinausgehen, in der es etwa um das Knacken der Verschlüsselung, um mehrfache Kodierungen und Dekodierungen, um “Scrambling” oder um das Imitieren von Verschlüsselung dort geht, wo es sie nicht gibt. Statt dessen gibt es beispielsweise Viren, die den feindlichen Speicher beschädigen. Über Viren habe ich nicht geschrieben, weil ich so voraussehend auch nicht war. Man kann in Programmen, die zu Aufgabe haben, die Bytes-Ströme von Viren zu reinigen, andere, tiefer verborgene Viren mit “Zeitzünder” verstecken, oder man kann auch viel Übel mit einem Taktikmix anstellen.

Hier gehen wir schon zu dem über, was wir kurz “Brute Force Contra Brute Force” nennen werden, also zu dem, was zum Zweck hat, Informatikinvasionen durchzuführen, die zu einer Bit-Überflutung führen werden. Wenn wir über, sagen wir, eine Verarbeitungs- und Empfangsleistung in der Größenordnung von beispielsweise fiktiven 109 Bit/sek verfügen, werden wir den Absender versenken, wenn wir ihm 1015 Bits/sek schicken, insbesondere wenn er nicht von vornherein wissen kann, welche Bits tatsächlich eine kohärente Information und welche eine rein zufällige Pulpe enthalten. Das obige Zitat enthält verschiedene der aufgeführten Möglichkeiten und stellt offensichtlich eine phantasmagorische und humoristische Posse dar, in der sich jedoch Spuren von Taktik, wie sich gezeigt hat, entdecken lassen.

Ob es zu solchen konfliktgeladenen Ereignissen kommt, die nicht mehr an die Duelle der Hacker mit den Safes oder Militärs oder mit den Datensammlungen der Banken erinnern, sondern bei denen in beiden gegnerischen Lagern informatisch ausgerüstete Armeen tätig werden, ist nur schwer mit Gewißheit zu sagen. Doch unangenehme Erfahrungen der letzten Jahre und Jahrhunderte weisen darauf hin, daß dann, wenn sich etwas - angefangen vom Atom bis hin Meteoren - ich hatte bereits in der “Summa Technologiae”, sozusagen in Fahrt gekommen, über den “Astrozid”, also das “ Sternentöten” geschrieben -zum Kriegseinsatz als Waffe eignet, dies auch so eingesetzt wird. Selbstverständlich gibt es womöglich in der Epoche eine andere strategische Variante, in der die allzusehr erlebnissüchtigen “Bitsurfer” massenhaft von der “Informationitis” genannten Krankheit angesteckt werden. Es ist nämlich auch ein Krieg vorstellbar, der als “Infokrieg” vortäuscht, daß er kein “Infokrieg” sei. In der Meteorologie, also einem anschaulichen Gebiet, würde das einem Krieg entsprechen, der den Frieden vortäuscht: die Steuerung des Klimas über den Ländern der Feinde, die nicht nur das Wetter nicht beeinflussen können, sondern auch nicht wissen, daß derartiges überhaupt möglich ist.

Man muß auch bemerken, daß der neue Typus des Krieges ohne Fronten und Hinterland, die man auf den Stabskarten kennzeichnen könnte, ohne Konzentrierung der Kampfmittel, ohne taktischen

Reserven und so weiter gewissermaßen bruchstückhaft, partiell sein kann: Man kann, sagen wir, die Wirtschaft des Gegners informatisch ein wenig verderben (amerikanische Publizisten schreiben bereits jetzt offen, daß man, jenseits jeder Informatisierung der Kämpfe, die Macht des Saddam Hussein schlagen kann, indem man den Irak mit gut gefälschten irakischen Valuta überflutet).

Je größer die Menge der Kampfmittel mit deren Überwachung ist, je mehr militärische Mittel es gibt und je größer die Abhängigkeit aller möglichen Produktionsstätten, Banken oder Börsen vom Computer und vom globalen Netz ist, desto größer wird der den Maschinen zur Speicherung, Distribution und Verarbeitung Bereich sein. Je mehr Gehirne also, kurz gesagt, von der Last der Entscheidung zugunsten der Prozessoren befreit sind, desto attraktiver wird die Verlegung des Angriffs und der Verteidigung auf die “außermenschlichen” Fronten sein.

Ich glaube nicht, daß man die Tendenzen dieser Verlegung des Wissens und der Macht über die materielle, aber auch geistige Wirklichkeit, die bisher historisch die Exklusivität der Menschen darstellte, auf Silikon, Metalle und andere, immer noch keine Vernunft besitzenden Geräte noch abbremsen kann. Die offensichtliche Wahrheit ist, daß das Großkapital seine angeblich attraktive Präsenz vor allem im Bereich der breit verstandenen Unterhaltung offenbart. Es ist auch leicht verständlich, daß sich im Gegensatz zu solchen mächtigen “Computerkraten” wie Microsoft oder Nintendo verschiedene kleinere und größere Armeen mit dem Ausbau ihrer elektronischen Güter, ihrer operativen Alarmbereitschaft und ihren Simulations-, aber auch Entscheidungsressourcen nicht brüsten. Außerdem es ist beispielsweise leichter, von den Umlaufbahnen der Satelliten die feindliche Kräfte in Form der Abschußrampen, Antiraketensysteme und Flugabwehr-Radarstellungen aufzuzählen. Allgemein und summarisch gesagt: Es ist einfacher, sich an dem Zustand, der Lokalisierung und der Anzahl der Waffen, deren einfache Perzeption trivial möglich ist, zu orientieren - als an der “bithaltigen”, nicht unbedingt im Inneren des Felsengebirges versteckten “Computerbrutstätte”.

Die Informatik kann im 21. Jahrhundert aus allen Generalstabstätigkeiten, allen Mobilmachungsplänen und allen falschen, echten, kodierten oder chiffrierten Informationen ein weiteres Waffensystem schaffen, das wie ein unsichtbares Gift wirken kann. Die feindlichen Parteien - aber auch die Mitglieder der Allianzen werden in der Regel ausspioniert - sind durch die ständige Beschleunigung der Fortschritte in der Informatik (nicht nur in Hinsicht auf die Geschwindigkeit und Rechenleistung, sondern auch auf die Effizienz im Einsatz der gesammelten Information) dazu gezwungen, ständig die progressive Entwicklung der gegnerischen “Kampfkräfte” zu simulieren. Panzer kann man abzählen, chemische Waffen können verboten werden - obwohl diese zur Wahrung des Friedens weniger sicher sind, und die Übergänge von therapeutischen Mitteln zu biologischen Waffen sind flüssig und werden es weiterhin sein -, aber die Bit-Arsenale und deren wachsenden “Komplikatorik” wird niemand ohne “Aufklärungsbits” oder ohne “virenähnlichen Geheimagenten” erkennen, zumindest wird dies nicht leicht sein.

Kurz gesagt, es herrschen zwar heute die Informatikunterhaltung und wirtschaftliche Entwicklungen in der Werbung vor, und es ist leicht zu verstehen, daß sich die militärischen Kräfte mit einem ähnlichem Ausposaunen der eigenen wachsenden

Stärke nach allen Seiten, also der Informationszunahme, nicht beschäftigen. Pater Dubarle, ein Dominikanermönch, hat im Jahre 1948, nach dem Erscheinen der Kybernetik von Norbert Wiener, in seinem Le Monde Artikel eine Maschine zur Staatsregierung für realisierbar angenommen. Impliziert war unter anderem die probabilistische Arbeitsweise einer solchen Maschine als ein “Superspieler”, der eine Partie nach der anderen mit einer Unmenge von menschlichen Gruppen spielt, die oft hinsichtlich der angestrebten Zielen, des “Gruppengeistes” und einfach des Selbstinteresses antagonistisch sind. Ein solcher “Superspieler” müßte, um Entscheidungen zu treffen, die wegen der Wahrscheinlichkeit immer parteilich sind, die unterschiedlichen Interessen der verschiedenen Gruppen gewichten. Die Annahme des Paters Dubarle begann sich, wie dies oft geschieht, in der Welt zu verwirklichen, die gleichzeitig in Staaten und in religiöse oder/und nationalistisch motivierte Mächte zerrissen ist. Deswegen aber über eine “Maschine für die Weltregierung” zu sprechen, ist nicht der Rede wert. Wohl aber läßt sich viel von den Zentren sagen, die um irgendeine Vorherrschaft konkurrieren. Diese Zentren sind nicht unbedingt mit politisch souveränen Staaten identisch, weil es auch über- oder außerstaatliche Unternehmen sein können, die über Großkapital verfügen, das auch “computerisiert” wird. In dieser sich zerstreuenden Form kann sich die Konzeption    des    Paters    Dubarle    erfüllen.

Selbstverständlich kann dies, muß es aber nicht, auch gleich nach Krieg riechen.

Die Angriffs- und Verteidigungshandlungen müssen, wie ich bereits, zum Beispiel im Buch “Imaginäre Größe”, schrieb, gar keinen offen eindeutigen Charakter des erklärten Krieges oder eines

Angriffskrieges ohne vorhergehenden Kriegserklärung haben, sondern es handelt sich eher um informatische Unterminierungen, “bitokratische Schutzfarben” oder “Infiltrierung der Programme durch Kontra- oder Antiprogramme”, die alle auf eher auf heimliche als auf offene Art und Weise ausgeführt werden. So scheint mir sich die Landschaft dieser Zukunft gegenwärtig darzustellen. Da ich keine fabulierende Märchenschemen für die Vorhersage der Zukunft verwenden will, glaube ich an keine Erzählungen über die langweilige Zeit des Friedens, die uns angeblich nach Francis Fukuyama erwartet (wer erinnert sich noch an seine “Prognosen”, die nicht einen Pfifferling wert sind, wie die mythischen Futurologien der selbsternannten politischen Prognostiker aus den sechziger Jahren?). Auf die Frage, wer mit wem informationstechnologisch kämpfen wird und welche staatlichen Gruppierungen an den “Infokämpfen” besonders interessiert sein können, kann ich allerdings keine Antwort geben, da dies nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums jetzt sehr schwierig ist. Bezüglich der Weltpolitik befinden wir uns auf einer “Drehscheibe”, wie Loks, die bereits unter dem Dampf stehen, aber sich noch nicht ganz eindeutig in Bewegung setzen. Was die hingegen Informatiktechnologien betrifft, so denke ich, daß sie sich immer größere Bereiche dessen bemächtigen werden, was seit undenklichen Zeiten ausschließlich als Feld der menschlichen Tätigkeiten gegolten hat. Daran zweifle ich nicht mehr.

Ich bitte aber zu bedenken, daß ich keinen Informationsweltkrieg voraussage, der an das vor noch nicht langer Zeit über die Menschheit schwebende Gespenst des Atomkrieges (“all out strategic exchange” - beendet möglicherweise durch die “Vergeltung der toten Hand”) erinnert. Ich denke eher, daß die Grenzen zwischen einem allgemein herrschenden Frieden und kriegerischen Auseinandersetzungen verschwimmen werden: Man wird nicht mehr wissen, ob gewisse “Störungen”, “Verfälschungen” oder “lokale Invasionen im Netz” noch eine Sabotage oder eine “Generalprobe” darstellen oder schon die ersten Schritte eines schwelenden Kriegskonflikts sind. Man muß hier die Möglichkeit einer stufenweisen Steigerung erkennen. Während man mit Nuklearwaffen entweder zuschlägt oder nicht, so entsteht hier die Situation einer “grauen”, also “unklaren” Zone der darauf folgenden Reaktionen und der dadurch sofort identifizierten oder als mehrdeutig erkannten Fehler.

Die ganze Kommunikationsdomäne wird immer mehr in den Bereich der Codes und Verschlüsselungen verwickelt, die “offene” oder “leere” Verschlüsselungen, d.h. sinnlose “Attrappe” oder Tarnung, sein können. Sie können vielschichtig sein, weil der gerade entschlüsselte Code einen anderen, “tieferen” Code verbergen kann. Das sich entwickelnde Netz ermöglicht auch den Verzicht auf die lineare Dimension der Nachrichten zugunsten der Daten, die in zweidimensionalen und unbewegten wie einer Fotografie oder in bewegten “Bildern” versteckt sein können. Es wird Laserhologramme geben, also virtuelle Phantome, in denen der richtige oder der die Information abfangende Empfänger mehr oder weniger und manchmal sogar gar nichts herausholen kann. Das hängt nicht mehr davon ab, ob er einen Schlüssel für das Knacken der Nachricht besitzt, sondern davon, wie er sich selbst im virtuellen Raum verhält. Falls man diese immer noch elementaren Möglichkeiten durch die spezialisierten Angriffs- und Abwehrkräfte der Militärs und Experten multipliziert, kann man leichter in meiner am Anfang dieses Essays zitierten SF-

Geschichte eine Sammlung der Chancen und labyrinthischen Kämpfe erkennen, von denen man sich eines mit ziemlicher Sicherheit sagen läßt, nämlich daß sie während des “Friedens” oder in dem durch die Experten diagnostizierten “Krieg” in aller Stille und vielleicht über längere Zeit hinweg ohne den Widerhall einer Explosion oder eines Schusses stattfinden werden.

Die informatische Paralyse des Gegners muß in dieser neuen Art der Minimaxspiele kein “optimaler” Gewinn sein. Es kann auch um die Übernahme seiner informatischen Macht und um das Eindringen in seine Ressourcen gehen. Was sich daraus für das “traditionelle Kampffeld” ergeben kann, läßt sich heute praktisch nicht mehr voraussehen, weil gegenwärtig so viele und möglicherweise geheime Innovationen in den selbstverständlich mit Computer ausgestatteten Labors und auf den Versuchsgeländen entstehen. Dabei handelt es sich nicht nur um Simulationen, denn nicht alles ist für die Simulation geeignet. Es hat sich, mit einem Wort, eine terra ignota informativa als Raum für Kämpfe eines neuen Typs potentiell geöffnet. Ob sie jemand betreten wird, läßt sich heute noch nicht sagen.

Geschrieben im Oktober 96

Der Infoterrorismus

Stanislaw Lem 21.04.1999

Die Grenzen zwischen einfachem und kryptomilitärischem Terrorismus verwischen sich

In einer Ausgabe des “FOREIGN AFFAIRS” des letzten Jahres ist ein Artikel von Walter Laqueur mit dem Titel “Postmodern Terrorism” erschienen. Der Verfasser leitete seine Ausführung über die neueste Art des Terrorismus mit einer kurzen Aufzählung einiger frühgeschichtlicher Gestalten ein. So schreibt er beispielsweise über die Assassinen, deren Aufgabe es war, die Kreuzritter zu morden. Wir in Polen hatten zur Revolutionszeit des 19. Jahrhunderts die “Dolchmänner”. Es geht mir hier jedoch nicht um die MOTIVATION der Terroristen in Aktion. Normalerweise unterscheidet man zwischen den eher politischen und weniger gewalttätigen Gruppierungen und den “eigentlichen” Profiterroristen. Zu letzteren gehören Organisationen wie die “ Rote Armee Fraktion”, die SINN FEIN, die baskische ETA, die arabische HAMAS und viele andere weniger bekannte oder praktisch schon “ vergessene” Gruppierungen (die italienische “Prima Linea” oder die französische “Action Directe”).

Die mehr oder weniger formulierten Ziele dieser Gruppierungen sind mit der für unsere Zeit charakteristischen Methode, Terroranschläge auf unbestimmte Objekte zu verüben, nicht wirklich realisierbar; d.h. die Anschläge richten sich gegen x-beliebige Personen auf der Straße, in U-Bahnen (in Japan), Zügen oder Bussen, und nicht wie zur der Zeit des Zarentums gegen Personen von hohem politischen Rang (wie den Zar selbst).

Die rein politischen Ziele, die auch in den terroristischen Bewegungen, wie Sinn Fein oder Hamas, ständig präsent sind, können - nebenbei bemerkt - ziemlich leicht von den brutalen Praktiken, die sich darüber hinaus mit der Beschaffung von Kampfmitteln beschäftigen (inklusive ziemlich einträglicher “Geschäfte” wie Banküberfälle, Waffendiebstahl und Drogenhandel) unterschieden werden. Die ethischen Grundsätze sind an allen “Fronten” der Bewegung aufgrund ihrer Gegensätzlichkeit stark pervertiert: Da es keine Hemmungen gibt, gibt es auch keinen ersichtlichen Grund, daß die Bewegung, die eine Verbesserung der Situation zum Ziel hat, auf Entführung, Erpressung und Betrug verzichten sollte. Wenn nämlich “alle zu guten Zielen führende Wege auch gut sind”, dann ist keine Handlung verboten, die für gewöhnlich als verbrecherisch gilt. Übrigens beabsichtigen weder Laqueur noch ich hier die “ethische” Seite des Terrorismus zu behandeln, obwohl man andererseits weiß, daß praktisch alle, die einer solchen Organisation angehören, den Terrorismus auf diese Art und Weise rechtfertigen. Zwar nannten die Deutschen die Soldaten der polnischen Heimatarmee (AK) Banditen, jedoch scheint für einen Polen die Gleichstellung dieses Soldaten mit den Helden des Untergrundwiderstandes selbstverständlich zu sein, während die Gleichstellung mit einem Banditen eine feindliche Verleumdung darstellt.

Unbestritten ist allerdings, daß der Terrorismus jeder Zeit die militärischen Mittel nutzt, die ihm aufgrund einer nicht-terrroristischen Infrastruktur zur Verfügung stehen. Folglich kommen Bomben sowie fern- oder zeitgesteuerte Sprengsätze in Frage, und die Fanatiker unter den Terroristen sind bereit, mit einem explodierenden Sprengsatz nach dem Vorbild japanischer Kamikaze zu sterben.

Eine destruktive und zerstörerische Wut kann auch zu Handlungen bzw. Resultaten führen, die im Widerspruch zu den Grundsätzen der Handlungsmotive stehen. Der Mord an einem Arzt oder einer Krankenschwester, die bei einer Abtreibung assistieren, stellt ein typisches Beispiel des inneren Widerspruchs dar, der sich darin bemerkbar macht, daß man tötet, um sich dem Töten zu widersetzen. In diesem Zusammenhang möchte ich mich einer erst neue entstehenden Gestalt des Terrorismus widmen, die nicht “gewaltsam” ist, weil sie als ihre Hauptwaffe die Information in    ihrer technologisch    bereits

existierenden, also verfügbaren Form wählt.

Im Bereich von Nachrichtennetzen, Viren, weitverbreiteter Soft-    und Hardware    besteht    die

Möglichkeit, die Mittel der Informationsübertragung oder die Information    selbst in Müll    oder    in    ein

verändertes Programm    umzuwandeln -    was    mit    der

Verwandlung einer Therapie oder einer Medizin in ein tödliches Gift zu vergleichen wäre. Diese Möglichkeiten existieren bereits und sie nehmen in dem Tempo zu, in dem Informationshandlungen an Bedeutung gewinnen.

Über sogenannte “logische Bomben” (logic bomb) als kumulative Informationsladungen (oder besser gesagt als Ladungen, die eine Information explosionsartig vernichten) spricht man bereits, aber über ihren Einsatz herrscht bisher noch Stillschweigen. Andererseits weiß man, daß nicht nur private Banken sondern auch die FED, die Bundesreserve (Federal Reserve) der Vereinigten Staaten von Amerika, es nicht so eilig haben, irgendwelche Verluste bekannt zu geben, die mit den Operationen der HackerTerroristen, die “Schutzschirme” und “Filtercodes” durchdringen, verbunden sind, weil die Veröffentlichung eines solchen Diebstahls die Menschen, die immer noch an die Sicherheit eine Banktresors glauben, zu stark verunsichern könnte.

Hier jedoch verwischen allmählich die Grenzen zwischen dem “einfachen”, politisch oder ideologisch motivierte Terrorismus und demjenigen, der einen “kryptomilitärischen”, “ insgeheim kriegerischen” und internationalen Charakter gewinnen kann. Auch Zonen verschiedener Grenzbereiche gehören dazu. Man weiß, daß verschiedene Staaten große Mengen an perfekt gefälschtem Papiergeld auf das Territorium anderer Staaten geworfen haben, um dort eine Inflation und einen wirtschaftlichen Zusammenbruch auszulösen. Das geschah zwar außerhalb der Netze, ist aber auch eine besondere Form der Informationsverfälschung, weil eine Banknote auch eine Art Information darstellt

- eine, die mit Kaufkraft versehen ist.

Eine besonders stark wachsende Domäne in diesem Bereich ist die Spionage. Dabei geht es um das Knacken und Dechiffrieren der Codes, mit denen sich Drittstaaten verständigen können. Dieses Kapitel der Geheimumtriebe haben wir teilweise schon hinter uns, nebst dem besonders deutlichen Beispiel “des deutschen ENIGMA.” Darüber hinaus tauchen neue Möglichkeiten der Geheimdienstarbeit auf, die dem Gegner, selbst wenn es sich nur um einen Industriekonkurrenten handelt, größten Schaden zufügen könnten. Falls eine Produktionsstätte per Computer gesteuert wird, ganz gleich ob es sich um die Produktion von Raketen oder Fahrzeugen, Panzer oder deren Zubehör, Flugzeugen oder Waffen und Computer handelt, ist ein stilles und geheimes Eindringen in ihr “Informationsgehirn”, das die Planung und Produktion leitet, in hohem Maße attraktiv.

Durch das Abfangen von Arbeitsdaten oder durch deren schwer festzustellende und zu überprüfende Veränderung, kann in einem fertigen Produkt eine Art “Achillesferse”, eine absichtlich verfälschte Stelle entstehen, die sich gleich oder auf ein speziell verschicktes Signal hin sogar erst nach Jahren bemerkbar machen kann.

Selbstverständlich ist es auch möglich, eine Information zu übernehmen, sie sozusagen abzuhören, ohne irgendwelche Verfälschungen einzuführen, um lediglich das in Erfahrung zu bringen, worüber sich eine    zweite (bzw. dritte) Partei    austauscht. Des

weiteren ist es möglich, eine Information so zu verändern, daß der Empfänger eine verfälschte Information erhält. In den fünfziger Jahren veröffentlichte NEWSWEEK die Fotografie einer Landkarte der gesamten UdSSR zusammen mit einer mittels roter Linien aufgezeichneten fotogrametrischen Karte. Aus dieser Karte war ersichtlich, daß die sowjetischen Geografen Landkarten ihres gesamten Kontinents mit verschobenen Koordinaten, Bergketten und    Städten erstellt    hatten, um    die    Amerikaner

(ziemlich naiv) zu täuschen …

Einen gesonderter Bereich möglicher informatischer Interventionen gibt es außerhalb der Erdkugel, also oberhalb der Atmosphäre, wo orbitale Raumfahrzeuge verschiedener Art kreisen. Der Gegner, der die entsprechenden Codes kennt, kann diese Fahrzeuge auf eigene Weise manövrieren, sie sogar während des Raumflugs zu einer    Katastrophe    oder    zu einem

Absturz auf einen ausgesuchten Fleck der Erde führen.

Je    weiter ganz    allgemein    das    Feld der

weitreichenden informationstechnischen Handlungen wird und je energischer diese Gebiete differenziert und spezialisiert werden, desto mehr Schäden kann man, wenn man sich gekonnt in Lauf und Ablauf der

Informations- und Steuerungssignale einmischt, verursachen. Man ist also in der Lage, einer Operation von einem Ort auf der anderen Seite der Erdkugel einen verbrecherischen (mörderischen) Charakter zu verleihen. Man könnte Raketen abfeuern, die ferngesteuert und ohne menschliche Kontrolle und Aufsicht sind, sofern ihr Start ausschließlich von einem Codesystem abhängig ist. Es gibt noch viele Möglichkeiten, auf diese Art und Weise zu agieren, aber ich möchte auf eine solche Aufzählung verzichten, da es genügend Bücher im Stil eines “Handbuchs zum informationstechnischen Untergang” gibt. Dabei handelt es sich zwar nicht um große Bestseller, wie einige Bücher, die der Kunst des Suizides gewidmet sind, aber des Bösen gibt es in der Welt sowieso schon ausreichend.

Wie man weiß - dies ist eine Behauptung, die ebenso vage wie allgemein gültig ist - gibt es weder einen Code noch eine Verschlüsselung, die einem Entschlüsselungsversuch beliebig lang erfolgreich standgehalten hat. Dabei ist es wahrscheinlich selbstverständlich, daß die Handlungsmöglichkeiten, über die ein Terrorist oder eine terroristische Organisation verfügt, in der Regel kleiner, d.h. “schwächer” sind, als die Leistungen, die ein Staat mobilisieren kann. Man weiß jedoch, daß zahlreiche Staaten Terroristen, die im politischen und militärischen Interesse eines solchen Staates handeln, materiell, also finanziell und technisch, aber auch militärisch, unterstützen. Wir haben es dann mit einer Art Förderung der individuellen Handlungen durch staatliche Macht zu tun. (Während des Zweiten Weltkrieges stellten die Deutschen perfekt gefälschte englische Pfund her, die zum Ende der Kämpfe wahrscheinlich in einem See in der Schweiz versenkt wurden.)

Die Empfindlichkeit der Staaten und Gesellschaften ist für Terroristen weniger interessant, als sie es für gewöhnliche Verbrecher, für die organisierte Kriminalität, für korrupte Angestellte der großen Korporationen und selbstverständlich für Spione und feindliche Regierungen ist. ‘Elektronische Diebe’, die in Kreditkartenbetrügereien oder Industriespionage verwickelt sind, stellen einen Teil des Systems dar, dessen Vernichtung sie ihrer Erträge berauben würde … (Ich füge hinzu: sie sind wie Schmarotzer, die sich mit dem Blut des Wirtes ernähren, S.L.). Die politisch motivierten Terroristen (vor allem die Separatisten, die einen eigenen Staat aufbauen wollen) haben beschränkte Ziele. Jedoch die terroristischen Gruppierungen, die sich am Rande der Niederlage befinden oder durch apokalyptische Visionen angezogen werden, würden nicht zögern, alle ihnen zur Verfügung stehenden zerstörerischen Mittel einzusetzen.

All das führt über die Grenzen des uns bekannten Terrorismus hinaus. Neue Definitionen und neue Namen müssen für eine neue Realität gebildet werden. Die Geheimdienste und Politiker werden den Unterschied zwischen den verschiedenen Varianten terroristischer Motivationen, Methoden und Ziele lernen müssen. Ein Erfolg dieser neuen Form des Terrorismus kann mehr Opfer kosten, mehr materielle Schäden und mehr Panik verursachen, als all das, was die Welt bisher erfahren hat.

Walter Laqueur

Den abschließende Absatz habe ich ein wenig gekürzt, weil mir bereits genügend Bemerkungen zu Ohren gekommen sind, daß das, was ich publiziere, mit einer besonderen Schwarzmalerei und einem in die Zukunft gerichteten Pessimismus belastet ist. Ich wollte also dem amerikanischen Politologen das letzte Wort geben, um einer weiteren Anklage wegen meiner Schwermut, die als meine persönliche Charaktereigenschaft gilt, zu entgehen.

Geschrieben im Juli 1997

Meine Weltanschauung

Stanislaw Lem 18.06.1999

Das genaue Wissen ist nur eine vereinzelte kleine Insel im riesigen Ozean des Nichtwissens

Was hat meine Weltanschauung mit der Informatik gemeinsam? Ich meine fast alles, und deswegen werde ich hier versuchen, dies zu erklären.

“Die Welt”, also “alles was existiert”, besteht aus “Dingen”, von denen man dank der “Information” erfahren kann. Die Dinge können diese “Information” direkt “versenden” (wie ein sprechender Mann, wie ein gelesenes Buch, wie eine betrachtete Landschaft) oder auch mittelbar durch Ketten “sinnlich-geistiger Gedankengänge”. “Gedankengänge” schreibe ich in Anführungszeichen, weil in einem bestimmten Sinn auch eine Ratte, die in einem Labyrinth zu einer Tür läuft, hinter der sie etwas zu fressen findet, für diese Suchbewegung gewissermaßen auch den (“Ratten-“)Verstand benutzt.

Weil ich mich ausschließlich damit beschäftigen möchte, was lebendig aufgrund von “Information” ist, werde ich die Grenzen “meiner Weltanschauung” so setzen: Jedes lebendige Geschöpf besitzt eigenes SENSORIUM, das typisch für die Art ist und sich über Millionen von Jahren der darwinistischen natürlichen Evolution entwickelt hat. Dieses Wort finden Sie weder in einem Fremdwörterbuch noch in der Enzyklopädie, und sogar in dem Großen Warschauer Wörterbuch ist es mit einem Ausrufezeichen versehen, was bedeutet, daß man es lieber nicht benutzen sollte. Trotzdem verwende ich es.

Das SENSORIUM ist die Gesamtheit aller Sinne sowie aller (gewöhnlich Nerven-)Wege, durch welche die Informationen, die uns über die “Existenz von etwas” unterrichten, zum zentralen Nervensystem gelangen. Beim Menschen und bei der Ratte ist es das Gehirn. Insekten müssen sich mit viel bescheideneren Zentren zufrieden geben. Die “Welt” eines Insekts, einer Ratte oder eines Menschen sind daher ziemlich verschiedene Welten. Die Evolution hat lebendige Geschöpfe grundsätzlich so sparsam ausgestattet, damit sie die Information wahrnehmen können, die für das individuelle und/oder auch artenspezifische Überleben unentbehrlich ist. Da die Evolution ein über Milliarden Jahre fortwirkender und sehr komplizierter Prozeß ist und weil lebendige Geschöpfe entweder lebendige Geschöpfe fressen oder von ihnen gefressen werden (Pflanzen zu fressen, bedeutet auch, etwas “Lebendiges” zu essen, z.B. Gras), entsteht daraus eine riesige Hierarchie von mehr oder weniger eigentümlichen Konflikten, die uns teilweise vereinfachend die (mathematische) Spieltheorie wiedergeben kann. Das Problem liegt darin, daß die Informationen aufgrund dieses Sachverhalts für die einen zur Verfolgung und für die anderen zur Flucht oder “nur dem Fortbestand” (z.B. Gras) dient.

Das SENSORIUM, mit dem das Lewewesen ausgestattet ist, zeichnet sich im allgemeinen, wie ich sagte, durch Sparsamkeit aus. Vor noch nicht langer Zeit behauptete die Psychologie, daß Hunde keine Farben unterscheiden könnten, daß sie also alles in Schattierungen von weiß und schwarz, wie wir auf den alten Filmen, wahrnehmen. Gegenwärtig wird diese Annahme revidiert: Hunde erkennen doch Farben. Auch eine Spinne, Ratte oder Katze ist wie der Mensch mit dem - ihrer Art eigenen - SENSORIUM ausgestattet. Wir verfügen gegenüber den Tieren in diesem Bereich über einen maximalen Überfluß, außerdem besitzen wir noch, und fast alleine, einen “Verstand”, der uns ermöglicht, auch solche Eigenschaften der “Welt” zu erkennen, die wir mit den Sinnen direkt nicht wahrnehmen können.

Was ergibt sich aus den angeführten Banalitäten? Sie weisen darauf hin, daß die Welt (in einem bestimmten Sinne: die “Weltanschauung”) sehr stark vom jeweiligen Sensorium abhängig ist. Für den Menschen scheint es eine Ausnahme aufgrund des “Verstandes” zu geben, aber das stimmt nicht ganz. Die wahrnehmbare “Welt” der Menschen besteht aus Dingen “mittlerer Größe”, proportional zu der Größe des einzelnen menschlichen Körpers. Wir können weder einzelne Moleküle, Atome oder Photonen wahrnehmen; und auf der gewissermaßen anderen, makroskopischen Ebene können wir weder den Teil des Planeten, auf dem wir leben, als eine Kugel oder als Ganzes betrachten, noch die “faktischen Ausmaße” der Milchstraße, anderer Galaxien, Sterne oder des gesamten Kosmos wahrnehmen. Wir haben verschiedene experimentelle Methoden und mit ihnen verbundenen Hypothesen, Theorien oder Modelle ausgearbeitet, um mit dem Verstand das “wahrzunehmen”, was die Sinne nicht wahrnehmen können; und das bedeutet, daß unsere Weltanschauung über das Bild der Welt um mehrere Größenordnungen “hinausragt”, das wir der direkten Arbeit unseres Sensoriums verdanken.

Heißt das aber, daß wir das sehen, was wir nicht sehen, daß wir das empfinden können, was wir nicht empfinden, daß wir das hören, was für unseren Hörsinn nicht hörbar ist? Keineswegs. Wir verwenden “Abstraktionen” oder speziell durch “Technik” (also mit Werkzeugen) geschaffene Situationen und Bedingungen, die uns das für unsere Vorfahren

Unmögliche ermöglichen, z.B. die Erde von der Satellitenumlaufbahn, den Mond beim Betreten, die Marsoberfläche oder die Oberschicht der Atmosphäre des Jupiters “anzuschauen”. Wir verwenden ein Mikroskop, ein Hubble-Teleskop auf der Umlaufbahn, Akzeleratoren, Wilson-Kammern oder einen Operationssaal, in dem man manchmal einem Menschen mit bloßen Auge in das Innere des Körpers oder des Gehirns schauen kann. Wir gewinnen also viel mehr Informationen durch die verschiedenen Arten und Methoden des von uns künstlich geschaffenen “Mediums”.

Aber auf den Perzeptionsebenen der Mikro-, Makro-und Megawelt bleiben wir völlig hilflos. Niemand ist in der Lage, ein Atom, die Galaxis, den Evolutionsprozeß oder die Entstehung der Planeten aus den angeblich protoplanetaren Nebelverdichtungen sehen oder sich so etwas vorstellen zu können. Die ethnische Sprache als breitbandiger, polysemantischer Informationsträger sowie die Mathematik als eine aus dieser abgeleitete und sehr präzisierte schmalbandige Sprache stellen unsere “Tentakel”, unsere Krücken, unsere “Prothesen” dar. Ähnlich wie ein Blinder, der mit seinem weißen Stock den Steinboden abklopft und so versucht, mit dem Gehör zu erkennen, ob er sich im Zimmer, auf der Straße oder inmitten eines Tempels befindet, so versuchen auch wir mit diesen mathematischen Prothesen das “abzuklopfen”, was außerhalb unseres Sensoriums liegt.

Aber ist das “wirklich” so? Sind die Blätter “wirklich” grün oder verdanken sie ihr Grün den photosynthetischen Verbindungen des Chlorophyll? Ist es nicht so, wie Eddington schrieb, daß man an einem gewöhnlichen hölzernen, einigermaßen harten Tisch sitzt - und gleichzeitig an einer Wolke von Elektronen, die “auch” der Tisch und vielleicht ebenso “wirklich” ist? Falls man so denkt, muß man hinzufügen, daß es sich gleichzeitig um viele Tische handelt. Es gibt einen Tisch unseres normalen Sensoriums, einen molekularen Tisch (denn woraus besteht Holz?) und einen atomaren Tisch. Aber der Tisch ist auch ein Teil der “Materie”, ein mikroskopisches Teil, das einen Bestandteil der Gesamtheit der Erde darstellt und so einen (minimalen) Einfluß auf ihre Gravitation hat. Überdies ist er ein Nano-Bruchstück des Planeten, der um die Sonne kreist und auch das Weltall “beeinflußt”, wenn man die vollständige Geringfügigkeit der vorhandenen Disproportionen außer Acht läßt. Alle diese “Tische” gleichzeitig wahrzunehmen, kann weder unser Sensorium noch unser “Verstand”, ohne die Aufteilung in Kategorien und Klassen zu verschmelzen.

Wenn ein Mensch stirbt, kann dies eine emotionale Bedeutung für einen Menschen haben. Wenn zehn Menschen sterben, wird die Bedeutung eine andere sein. Aber wir sind dazu nicht imstande, einen Unterschied zwischen der Nachricht, daß eine Million Menschen gestorben sind, und der, daß es dreißig Millionen waren, “wahrzunehmen”. Wer behauptet, daß er, abgesehen von der Angabe der Anzahl, den Unterschied empfindet, lügt bewußt oder unbewußt.

Damit will ich sagen, daß ebenso wie “verschiedene Tische” auch “verschiedene Welten” der Katzen, der Ratten, der Insekten, der Krokodile und der Menschen koexistieren. Sie unterscheiden sich sehr stark und mehrdimensional, aber alle diese Welten - egal ob einzeln oder gemeinsam - geben keinen Grund für die Annahme, daß es sich stets um “ein und dasselbe” Welt handelt, die nur auf “unterschiedliche Weise” und aus “unterschiedlichen Perspektive” wahrgenommen wird.

Selbstverständlich neigen wir Menschen zu der Annahme, daß die Welt “wirklich” existiert, die wir mittelbar und unmittelbar perzipieren können: “andere Welten” stellen dagegen Ausschnitte, kleine und sogar sehr unvollkommene, verkrüppelte Ausschnitte “unserer Welt” dar. Mit dieser Ansicht, die ich den humanistischen weltanschaulichen Chauvinismus nenne, setze ich mich gerne auseinander. Die Mayas hatten ein anderes Kodierungssystem der Arithmetik als wir. Es war ein System von Menschen, deren Kultur anders als die mediterrane Kultur entstanden ist, gleichwohl war dies eine Kultur der Menschen und ihre Sprache eine menschliche Sprache. Wie können wir wissen, ob extraterrestrische “Vernunftwesen” -falls es sie gibt - durch andere Evolutionsabläufe und unterschiedliche physikochemische Bedingungen (“Kontigenzen”) der anderen Planeten und Sonnen mit anderen Sensorien ausgestattet sein würden? Aus solchen Sensorien entstünden wiederum als deren Derivate andere “quasi-formale Systeme”, andere Logiken, andere Mathematiken, andere Makro- und Mikrowelten, die von unseren menschlichen Standards abweichen.

Aus dem bislang Geschriebenen könnte sich eine “allgemeine epistemische und ontische Theorie” für die gesamte Menge aller Psychozoiker des Universums ergeben. Es ist möglich, daß wir auf der Kurve der kosmischen Distribution der Psychozoiker, die keine Glockenkurve der “normalen” Gausschen-Verteilung oder der Poisson-Clusterkurve sein muß, die Gott allein kennt, irgendwo oberhalb der Ratte, des Schimpansen und des Buschmanns plaziert sind, aber unterhalb beispielsweise der Eridaner. Höchstwahrscheinlich gibt es keine Eridaner, aber das ist auch nicht ganz sicher in der Epoche am Ende des 20. Jahrhunderts, an dem sich die Entdeckungen der außerirdischen planetarischen Systeme anderer Sterne mehren.

Eine solche unterschiedliche Größe der Welten, die sich durch unterschiedliche, gesellschaftlich funktionierende Verstandarten ergeben, scheint ganz und gar möglich und sogar ziemlich wahrscheinlich zu sein. Der Mensch wäre einfach einer von den Tausenden oder Milliarden der teleologischen Triebe der Evolution, die ihn mit einem nicht schlecht entwickelten Sensorium ausstatten können.

Jawohl, das ist möglich! Könnten andere Lebewesen unterschiedliche Materieformen konzipiert haben? Der Nuklide! Könnten sie nicht an die inneren Sternenzyklen von Bethe glauben? Hier muß man sehr genau und äußerst vorsichtig ein sogenanntes “Distinguo” durchführen. Es gibt sicher Bereiche, bei denen wir uns epistemisch und empirisch, vielleicht sogar asymptotisch oder tangential (?) an die Wahrheit annähern können oder dies nicht können. Die Wahrscheinlichkeit der Wahrheitsfunktionen, um hier nur einmal eine ein wenig kohärentere, logisch und semantisch genauere Sprache zu verwenden, ist zumindest und grob gesagt, da wir zu wenig darüber wissen, von den quasifinalen Auswirkungen der Milliarden langen Arbeit der Evolution abhängig.

Unser menschliche Nichtwissen ist ein Weltozean, das sichere Wissen stellt dagegen nur vereinzelte kleine Insel auf diesem Ozean dar. Noch vorsichtiger ausgedrückt: Nach meiner Ansicht befinden sich die Resultate der Erkenntnis - das exakte Wissen - auf einer Kurve oder, eher, auf einem Kurvenbündel, und es ist keineswegs ein gesichertes Axiom, daß diese Kurve wie eine Hyperbel oder Parabel oder wenigstens wie eine logistische Kurve (Verhulst-Pearl-Kurve) aufsteigt. Vielleicht gibt es bereits tangentiale Punkte mit dem wirklichen Stand der Dinge und vielleicht -ziemlich sicher - auch solche, an denen wir den asymptotischen Weg verlassen haben.

Ich habe, um an einem konkreten Beispiel zu zeigen, worum es mir im Vorhergehenden ging, beispielsweise das sehr interessant geschriebene Buch “Theorie für Alles” von John D. Barrow , das Buch von Steven Weinberg über die Theorie für Alles und viele andere, auch in letzter Zeit und auch im allgemeinen von Physiknobelpreisträgern geschriebene Bücher gelesen. Trotz dieses wissenschaftlichen Chors, der mich sicher im Hinsicht auf die intellektuelle Stärke übertrifft, zugunsten der Existenz einer “Allgemeinen Theorie des Ganzen” (GUT, also Grand Unified Theory), spreche ich mich für die Ansicht des Kosmologen Bondi aus, daß es eine Einzige Allgemeine Theorie des Ganzen gar nicht geben muß, daß sie “nutzlos” sei und “keine wissenschaftliche Bedeutung” habe.

Wieso aber sollte, um es wieder mit eigenen Worten zu sagen, der bedingungslose Reduktionismus eine einzige Theorie hervorbringen? Man kann dies und wird es weiter verfolgen, aber in den nächsten 100 oder 200 Jahren wird sich herausstellen, daß andere Wissenschaftler eine Menge von inkongruenten Modellen ausgearbeitet oder sogar bewiesen haben, daß die “GUT” für unser Universum nicht hergestellt werden kann. Vielleicht stellt sich heraus, daß die Galaxien, die heute älter als das bereits mehrmals berechnete Alter unseres Kosmos zu sein scheinen, aus einem “benachbarten” Kosmos eingedrungen sind? Damit will ich sagen, daß das, was wir beispielsweise in der Physik und theoretischen Astrophysik erkennen, stets das Ergebnis von auf verschiedener Weise miteinander verbundenen und zusammenhängenden physikalisch-mathematischen und gleichzeitig experimentell-theoretischen Mutmaßungen sind, die entweder bewiesen, also experimentell nicht widerlegt wurden, oder in den höchsten Regionen der exakten Wissenschaft gegenwärtig noch in Mode sind, weil auch hier Moden herrschen und, wie in der Kosmologie, vergehen.

Der Mensch ist, um das Gesagte zusammenzufassen, eine kleine Wissensinsel, die teilweise aus dem Ozean des außersinnlichen Unwissens herausragt und teilweise in der Unermeßlichkeit des Unwissens eingetaucht ist. Wir wissen nichts darüber, ob dieser Ozean einen Grund hat und ob man ihn ausloten kann. Gegenwärtig herrscht die Mode der globalen Kommunikation, die sich wie ein Buschfeuer verbreitet. Ich kann ihre Vorteile gut nachvollziehen, aber fürchte gleichzeitig ihre Nebenwirkungen, Havarien oder Mißbräuche, die für die Menschen und sogar für den Planeten zerstörerisch sein können. Es kündigt momentan nichts an, daß sich diese Computernetze durch die Zusammenkoppelung von Millionen von Computern mit Millionen anderen in ein “Elektroenzephalon” verbinden werden. Das wäre so etwas wie ein “planetares Gehirn” mit Computern als Neuronen, das allerdings, da eigene Sinne fehlen, der sensorischen Deprivation unterliegen würde. Wenn es sich dabei nicht um Science Fiction handelt, kann es sich als ein Schritt hin zu einer “Abschließung” des Planeten gegenüber dem Kosmos erweisen. Das planetare Gehirn würde nämlich dann in Kategorien des Netzinneren denken - und die Menschheit durch das Netz ordentlich für dumm verkauft…

Ich möchte aber, um die Wahrheit zu sagen, an diese Vision nicht glauben, sondern nur zeigen, wie bescheiden mir die Erkenntniskraft des Menschen im Kosmos erscheint, für wie gewaltsam ich das anthropische Prinzip betrachte und wieviel wir riskieren, wenn wir unser gesamtes Wissen den informationsverarbeitenden Maschinen anvertrauen. Wenn man übrigens die entsprechenden HalbFachzeitschriften liest, dann sieht man, daß die Börsen, die Produzenten von Fahrzeugen oder von Lebensmittel, mit einem Wort: die Schöpfer und Verehrer des Kapitals sowie die Kapitalsüchtigen sich des Netzes bedienen, während sie der ganze Rest, mitsamt dem ganzen Kosmos, teuflisch wenig interessiert. Wir haben uns vorzeitig gekrönt, aber uns steht die Krone der Schöpfung nicht zu. Es gebührt sich zu warten, auch wenn dies 100 Jahre dauern sollte, um sich zu überzeugen, ob wir wirklich schon etwas außer dem wissen, daß man im Cyberspace vom Pol zum Pol surfen kann und ob das Netz nicht die Märkte zerstört.

Was ich geschrieben habe, läßt sich auch ein wenig anders ausdrücken. Der Mensch ist mit seinem Wahrnehmungssensorium an die ökologische Nische des Überlebens ungefähr in der mit seiner Körperlichkeit vergleichbaren Skala (z.B. mit seinen Körpermaßen) angepaßt. Er kann jedoch mit seinen Vermutungen, Konzepten und Hypothesen, die mit der Zeit zur wissenschaftlichen Sicherheit “gerinnen”, über die Grenzen dieser Nische, die ihn zusammen mit den Strömen des genetischen Codes mitgestaltet hat, hinausgehen. Dabei gibt es eine stark verbreitete Regelmäßigkeit: Je größer oder je kleiner die Skala (Kosmos - Atom) ist, desto weniger sicher, weniger eindeutig und gewissermaßen “flexibler” und “elastischer” erweisen sich die Theorien. Niemand außer den Solipsisten - aber wer kennt solche Menschen? - zweifelt an der Gestalt, der Härte oder dem Verhalten eines Steins. Eine solche Sicherheit können wir in Bezug auf die Menge von Galaxien oder von Teilchen, wie den Neutrinos, nicht besitzen.

Dabei verwundert es die Menschen am meisten, daß die festen Regeln seiner Logik, die die Sicherheit seines Verstehens mit begründen - beispielsweise “wenn A, dann B” (Kausalität), A=A (Identität der

Dinge mit sich) oder die Regeln der Konjunktion bzw. Disjunktion - die universelle Gültigkeit in der Mikrowelt zu verlieren scheinen. Auch in der Makrowelt zeigen sich solche Unsicherheiten in der Erkenntnis. Selbst in der Mathematik, z.B. bei Gödel, erscheint ihre Unzuverlässigkeit. Gell-Mann beharrt darauf, daß die Antinomie Welle/Teilchen beim Elektron, der Kollaps der Welle und das Prinzip der Komplementarität, die von der Kopenhagener Schule stammt, für unseren Verstand unlösbare Rätsel sind. Andere Physiker glauben an “Rätsel”, wohingegen die jüngsten Experimente zu zeigen scheinen, daß ein Elektron gleichzeitig “hier und anderswo” sein kann. Kurz, mit der Überschreitung der Grenzen unseren Sensoriums wird auch der “gesunde Menschenverstand” verletzt.

Was in unseren Kopf einfach nicht hineinpaßt, erweist sich in Experimenten als Tatsache. Man kennt beispielsweise die Halbwertzeit der sich selbständig spaltenden Atome, etwa der radioaktiven Isotope, und man weiß, daß man in diesem Bereich nur statistische Informationen kennt. Über eine Gesamtmenge von Atomen werden wir wissen, daß eine bestimmte Anzahl von ihnen nach einer bestimmten Zeit zerfallen sein wird und daß es für eine bestimmte “Art von Atomen” diese Zahl (und Zeit) eine konstante Größe darstellt, aber wir wissen, daß man keine Ursachen entdecken kann, die den Zerfall dieses Atoms und nicht die eines anderen verursachen. Mit einem Wort: Wir müssen von den “Selbstverständlichkeiten” außerhalb der Grenze unserer ökologischen Nische Abschied nehmen. Die Mathematik erlaubt uns zwar, sie zu überschreiten, aber die Interpretationen der Ergebnisse der mathematischen Physik und, was vielleicht schlimmer ist, deren “Übersetzungen” in die gewöhnliche Sprache, die wir innerhalb unserer Nische benutzen, müssen nicht identisch sein und können einander bis zur Kontradiktion widersprechen.

Ontologisch befinden wir uns zwischen der Makro-und Mikrowelt. Es läßt sich nichts dagegen unternehmen, daß wir mit dem Wissen - und sogar mit einem sicheren Wissen wie dem, daß Uran, wenn es eine kritischen Masse erreicht, mit Sicherheit explodieren wird - nicht weiter reichen, als mit dem Verstehen im Sinne des “gesunden Menschenverstandes”. Man kann sich wie die Experten der Wissenschaft an diesen Stand der Dinge gewöhnen und letztlich glauben, daß man genauso gut “versteht”, wie man “weiß”. Aber das ist eine Frage des Trainings, das die Gewohnheiten prägt, der Neigung und last but not least der “Vertrautheit” des Objekts.

Wir sind übrigens immer unzuverlässig, und deswegen müssen wir mit der unabänderlichen epistemischen Unsicherheit leben. Andererseits sind das nur die Probleme einer winzigen Minderheit der Menschen, die ihnen gleichzeitig als Stoff für ihre intellektuelle Arbeit von der Mathematik über die Physik der Galaxien bis hin zur Hermeneutik dienen. Diese Bereiche der “Exaktheit” begrenzen die Nebelschleier der Vorurteile und der Mutmaßungen, die sich in der Geschichte von Gruppen oder Gesellschaften zu Glaubensaxiomen versteinert haben.

Digitalitis

Stanislaw Lem 08.11.2000

Kann man ohne Computer noch glücklich sein?

In aller Kürze, aber mit gewisser Boshaftigkeit könnte man sagen, dass heutzutage die Kommunikation alles und der Verstand nichts ist. Verschiedene Netzspezialisten ergötzen sich an der Aufzählung der Bitanzahl sowie an deren Übertragungsgeschwindigkeit im globalen Maßstab. Wie es üblicherweise bei großen technologischen Innovationen vorkommt, scheint alles zuerst sonnig zu sein, dann aber tauchen auf dieser Sonne Flecken auf.

Ich gestehe, dass ich mich unter dem Druck der mir überzeugender erscheinenden Fakten und Tendenzen computerisiert habe und mir ein Fax und ein Modem zugelegt habe. Ich besitze auch ein irgendwo platziertes Postfach für die elektronische Post. Es ist einfach so, dass die elektronische Kommunikation an Bedeutung gewinnt, weil sie vor allem bei Fernverbindungen viel billiger ist als Telefon.

Die Zahl der Fachzeitschriften, die der Digitalära, an deren Schwelle wir uns angeblich befinden, gewidmet sind, wächst ständig. Vielleicht sollte man mit den Flecken auf dieser neuen Sonne beginnen. Alle Arten von Fälschungen, geheimen Absprachen, Betrügereien, Spekulationen sowie das Eindringen auch in die am gründlichsten und von Experten überwachten Datenbanken finden im Internet sehr bequeme Betten und Verstecke, weil es dort einfacher als anderswo ist, die Anonymität des Absenders zu bewahren.

Selbstverständlich können sich auch Dummheiten und Unsinn dank des Internet blitzartig verbreiten.

In Polen befinden wir uns erst am Anfang all dieser Scheidewege, vor allem deswegen, weil die Netzkommunikation, wie übrigens jede andere elektronische Kommunikation auf in hohem Grade von der zuverlässigen Verfügbarkeit der Infrastruktur des Landes abhängig ist. Ich erinnere mich noch an meine Ankunft in Moskau um Mitternacht zu der Zeit, als Andrej Tarkowski den Film nach meinem Roman Solaris zu drehen begann. In dem angeblich erstklassigen Hotel, in das wir gingen, konnte man als Mahlzeit ausschließlich Wodka, Vollkornbrotscheiben und Schwarzkaviar bekommen. Es schien mir damals, dass alle Normen der Ernährung in Hotelrestaurants auf den Kopf gestellt wurden.

Die Versuche, irgendwelche Formen der Zensur im Netz einzuführen, werden in vielen Staaten mit fraglichen, wenn nicht fast vergeblichen Erfolgen betrieben. Vor der Invasion der Inhalte, also der Bilder und Texte mit beliebiger Intensität an verderblicher Unmoralität, kann man sich zwar schützen, aber das ist sehr schwierig, weil das Grundprinzip beim Aufbau der Netze deren Zentrumslosigkeit war und weiterhin ist. Dadurch sollte das Netz gegen informationstechnologische Schläge unempfindlich werden, wobei es damals natürlich nicht um die Rettung vor Pornographie, sondern vor Spionage- und Militärangriffen ging. Damit befinden wir uns in der Lage eines Zaubererlehrlings, der Mächte entfesselt hatte, welche zu beherrschen er nicht mehr in der Lage ist.

Wie das bei jeder allgemein zugänglichen Innovation der Fall ist, kann das Aufbrechen in die Tiefen der Netze den Benutzer in eine manische Abhängigkeit stürzen - und das passiert auch tatsächlich. Ohne den Sessel vor dem Computer zu verlassen, kann man ein Vermögen in einem virtuellen Kasino oder auch an der Börse verlieren. Die Wirklichkeit ist so eingerichtet, dass umgekehrte Effekte, d.h. ein Vermögen auf die vorgenannte Weise zu erwerben, weniger wahrscheinlich sind. Man spricht viel über weniger gefährliche Seiten der digitalen Manie, z.B. wird die Renaissance der Schreib kultur dank elektronischer Post (Email) unterstrichen. Tatsächlich werden viele Briefe geschrieben, und man kann sie wörtlich mit blitzartiger Geschwindigkeit in alle Weltrichtungen senden, wodurch jedoch der Inhalt dieser Briefe von den Briefen, die auf schlechtem Papier krakelig gekritzelt werden, nicht um ein Haar vernünftiger wird.

Das Fehlen des Verstandes bei Computern und umso mehr bei den Netzen wird durch gespeicherte Daten kompensiert, die die Bewegung in der gewählten Richtung innerhalb der Labyrinthe der Netze ermöglichen: für einen “Digitalmenschen” stehen ungefähr 1017 Bits zur Verfügung, die von der Menschheit angesammelt wurden. Nach amerikanischen fragmentarischen Angaben verdient eine Dame, der die Mittel für die Finanzierung des Studiums ihrer Kinder fehlten, achtzigtausend Dollar monatlich. Dieser goldene Regen, den ihr das Internet gebracht hatte, verdankt sich einfach dem Sex. Ihre Datenbank, die sich um das genannte Thema dreht, umfasst mehr als fünfzehnhundert Pornoangebote. Zeitungen behaupten, dass Benutzer sowohl dieses Kontaktangebots als auch des Angebots an Bildern ihr jährlich eine Million Dollar bringen.

Es geht jedoch weniger um Sex. Die großen Verleger wie z.B. Bertelsmann bemühen sich eifrig, ihre Urheberrechte in den digitalen Raum zu übertragen. Dieser Raum hat bereits ca. dreißig neue

Berufe erschaffen und es wird unterstrichen, dass sich als die besten Benutzer oder Bediener Minderjährige, also Kinder, erweisen. Wenn diese Kinder wenigstens miteinander korrespondieren würden, wäre das nicht das Schlechteste, weil amerikanische Untersuchungen gezeigt haben, dass die Kleinen, die seit ihren jüngsten Jahren vor dem Fernseher viel Zeit verbringen, in einem hohen Maß Mängel in der Beherrschung der Muttersprache aufweisen. Das sind die passiven Opfer der ihre Gehirne    ständig bombardierenden

Bildinformationen, die vom Fernseher geliefert werden. Also ist das Verknüpfen der Netze mit den Bildungsmaßnahmen, vor allem denen, die das Denken aktivieren, wünschenswert.

Es kamen auch verschiedene virtuelle Geschöpfe (Phantome) zum Vorschein, wie zum Beispiel die ausschließlich im Computer existierenden virtuellen Tierchen. Ich erwähne hingegen nicht die Befürchtungen, die    durch    die Versuchung

hervorgerufen werden, die durch    unzählige Einzel- und

Mehrpersonen-Spiele geboten wird, weil dieser Gefahr der neuen Manie bereits zahlreiche Bücher gewidmet wurden.

Vom Netz kann der Benutzer heutzutage ähnlich wie vom Computer große Vorteile ziehen. Ich denke an raffinierte Programme, die so gut die Intelligenz und gleichzeitig das Verstehen dessen, was man diesen Programmen sagt oder schreibt, nachahmen können, dass möglicherweise    sogar    eines von diesen

Programmen einen Erfolg im Turing-Test erzielen könnte. Wenn von solchen Leistungen die Rede ist, geht es vor allem um die sogenannte gute Rahmenkontingenz, innerhalb derer man sich scheinbar frei bewegen kann. Ich erlaube mir, die Sache an einem vereinfachten Beispiel zu erläutern.

Jeder, der eine Reise von einem großen Bahnhof aus beginnt, hat vor sich ein riesiges Wirrwarr von zusammenkommenden und auseinandergehenden Gleisen, von Weichen und Drehscheiben. Normalerweise sind das so viele, dass es jemandem, der naiv ist, z.B. einem Kind, scheint, er könne in Anbetracht der Varianten, die durch die Anzahl der in alle Richtungen gehenden Gleise gebildet wird, in eine völlig beliebige Richtung aufbrechen. Selbstverständlich ist es nicht so, egal wie viele Wege von der Menge der Gleise eröffnet werden. Wenn jemand jedoch - hier verlasse ich das Beispiel -erfahren möchte, wie und wann er von Bonston nach Paris zum niedrigstem Preis reisen kann, so wurde es durch den Computer, auch mit einer synthetischen menschlichen Stimme und gleichzeitig mit Bildern auf dem Monitor oder als Ausdruck, möglich, alle optimalen Varianten der Reiseverbindungen darzustellen.

Der um Rat Fragende ist sich nicht immer darüber im klaren, dass ihm genau genommen ein Niemand geantwortet hatte, er ist oft geneigt zu antworten: Ich danke Ihnen für die ausführliche Auskunft. Darin ist so viel Sinn wie wenn man sich bei einem Stuhl dafür bedankt, dass er nicht unter dem Gewicht unseres Körpers zusammenbricht. Programme, die die Stimme und die Sprache erkennen und die sich an individuelle Eigenschaften der Aussprache adaptieren, gibt es bereits. Die Fehlerquote wird immer geringer. Es gibt immer noch viele potentielle Möglichkeiten und vielleicht werden die Verbindungen von Verbindungen, also große Konstellationen von Modulen, die lexikalische Daten und deren syntaktische Zusammenstellungen zur Nachahmung des Verständnisses führen, das man von einem wirklichen Verstehen durch einen Laien nur schwer unterscheiden können wird. Auf diese Weise entsteht eine Art graue neblige Zone, hinter der ein Strahl der auf dem Gedanken gründenden Intelligenz zu leuchten beginnt. Das jedoch, was die Surrogate des Begreifens gewissermaßen umhüllt, umfasst immer noch nicht, wie uns scheint, die authentische Leistungsfähigkeit des menschlichen Intellekts. Man könnte sagen, dass wir uns im Netz oder Computer auch mit dem bestem linguistischen Programm immer noch in einem perfekten Wachsfigurenmuseum befinden, das eine ziemlich große Verhaltensautonomie besitzt. So also könnte uns der Prozess der Belebung von Galatea letztendlich möglicherweise gelingen. Wir sind allerdings momentan von dieser Krönung der allgemeinen Bemühungen der Spezialisten ziemlich weit entfernt.

Es ist unvermeidlich, dass Internetgegner zum Vorschein kommen, die nicht unbedingt und nicht immer einfach rückschrittlich sind. Sicherlich kann man ohne Computer glücklich sein. Der beste Beweis ist, dass ich einige Dutzend Bücher auf einer einfachen mechanischen Schreibmaschine ohne jegliche Elektronik geschrieben habe.

Der englische Dramatiker John Osborne erklärte: “Der Computer stellt eine logische Verlängerung der menschlichen Entwicklung dar:    Intelligenz ohne

Moral”. Es ist wahr, dass die Computer nichts von Moral wissen, weil sie nichts verstehen und deswegen nicht unter moralische Prinzipien gestellt werden können. Lassen wir letztendlich die Worte von Brigitte Bardot zu, die sagte:    “Bei    Computern ist

unsympathisch, dass sie nur ja oder nein sagen können, aber sie können nicht ‘vielleicht’ sagen”. Die Zeit geht aber unerbittlich weiter, und der Augenblick, in dem die Worte von Frau Bardot den Nachgeschmack eines besonnenen Aphorismus hatten, ist bereits vergangen.

Computer, die Betriebsprogramme haben, die auf Wahrscheinlichkeitsrechnung gründen, gibt es bereits, aber ein Computer, der seinen Benutzer ausschließlich mit Probabilitätsaussagen versorgt, wird kaum jemanden glücklich machen.