Elend aus Überfluss

Stanislaw Lem 07.12.2000

Nähert sich der Computerboom dem Ende?

Früher waren Geräte wie Lokomotiven, Autos, Nähmaschinen oder Kühlschränke so konstruiert, dass ein normaler Heimwerker sie bedienen und sogar reparieren konnte. Im Zuge der ausufernden Computermanie werden nun schon Dinge wie das einfache Gestänge, das die Gaspedale mit der Drosselklappe des Vergasers verbindet, durch eine Computerverbindung ersetzt. Und wir haben so viele weihevolle Lobeshymnen über Computer und ihre wundersamen Fähigkeiten über uns ergehen lassen, dass es höchste Zeit wird für eine handfeste Beschwerde.

Selbst die besten und teuersten Computer haben Pannen. Wo die Informationsverarbeitung über Leben und Tod entscheidet, in amerikanischen Spaceshuttles zum Beispiel, wird die gesamte Bordelektronik nie von einem Supercomputer, sondern von mindestens vier oder fünf unabhängigen Einheiten gesteuert. Dem Phänomen eines Computerabsturzes wohnt ein stumpfer Starrsinn inne, ein Starrsinn, im Vergleich zu dem die Bockigkeit eines Esels von nahezu Einsteinscher Weisheit zu sein scheint. Den sturen Widerwillen, bestimmte Befehle auszuführen, und immer wieder auftretende Funktionsverzögerungen kennt jeder, der mit dem normalen Computeralltag vertraut sind.

Als Verlage mit ihren Autoren noch über Buchhalter

- die oft nicht einmal eine mechanische Rechenmaschine mit Kurbel hatten - abrechneten, kam das Geld in der Regel schneller als heute, obwohl die angeblich so ultraschnellen elektronischen Systeme den Prozess ja eigentlich beschleunigen sollten. Im Endeffekt ist es immer ein solider literarischer Agent, der Fehler in den Verlagsabrechnungen entdeckt. Weil Rechner nach - fast überall - herrschender Meinung Unfehlbarkeit erreicht haben, werden alle Entgleisungen aber stets den am Computer sitzenden Menschen angelastet.

John von Neumann nannte das menschliche Gehirn ein System, das aus unsicheren Faktoren besteht. Ich weiß nicht, wo man bei Computern die Schwächen suchen kann und soll. Ich weiß aber, dass die Notwendigkeit, Funktionen möglichst störungsfrei zu halten, in den verschiedensten Bereichen eine wahrhafte Computermanie ausgelöst hat. Wie Frauen oder, gerechter gesagt, Menschen nicht durch und durch schlecht sind, weil jeder seine Vorzüge hat, so ist es auch mit Computern: man kann viel von ihnen erwarten, auf manches zählen und ziemlich viel bekommen. Aber ebenso wie es aussichtslos wäre, von der Frau des Cäsar ausschließlich göttliche Tugenden zu erwarten, so hat auch ein hundertprozentiges Vertrauen in die Unfehlbarkeit und Zuverlässigkeit der Computer verhängnisvolle Konsequenzen.

Es gibt so viele Computerprogramme, dass es immer schwieriger wird, das Programm auszuwählen, welches für eine bestimmte Aufgabe gerade am besten eignet. Wie allgemein bekannt, haben wir verschiedene Datennetze mit vielen Knoten, und wir haben Browser zum Surfen im Netz; das Wichtigste ist jedoch zu wissen, wie man in den Informationsdickichten, die mikroskopisch klein auf den Festplatten versteckt sind, schnell das finden kann, was man braucht. Vor allem für weniger Geübte sind diese Suchaktionen manchmal wie der Gang durch ein riesenhaftes Labyrinth - und dann erinnern wir uns wehmütig, wie schön einfach es war, gesuchte Informationen aus einer Buchenzyklopädie zu holen.

Neben den Computern, die zur Zeit auf dem Markt sind oder mit großem Enthusiasmus von großen Firmen angekündigt werden, sollen bald einfache Parallelcomputer und sogar Quantencomputer zur Verfügung stehen. Momentan ist der Gipfel der Träumereien ein flüssiger Computer, der an einem Modell präsentiert wird, das ein Glas Kaffee darstellt -er kann auch mit Milch versetzt sein. Numerische Aufgaben oder Simulationsaufgaben sollen mithilfe eines elektrischen Steuerungsfelds und durch Moleküle in einem Magnetfeld gelöst werden, das von außen an das Glas Kaffee angelegt wird.

Ich behaupte keineswegs, dass das in den Bereich des Märchens gehört. In vielen Lebensbereichen ist das, was unseren Vätern noch unglaublich erschien, wahr geworden. Dennoch stellt das Bauen eines mehrstöckigen Gebäudes aus gewöhnlichen Spielkarten im Vergleich zum Bau eines Computer aus Atomspins eine einfache Aufgabe dar - weil sich Atome oder Elektronen im Bereich der absoluten Null, also dort, wo die Bose-Einstein-Statistik gilt, einigermaßen ordentlich verhalten. Bei Zimmertemperatur kann man dagegen von einem Quantencomputer nur träumen, da bei dieser Temperatur alle Konfigurationen der subatomaren Zustände äußerst instabil sind.

Ich werde jetzt aber nicht länger an dem grandiosen Festzug der neuesten computerogenen Ideen, die das atomare Chaos in eine uns perfekt dienende Ordnung umzuwandeln sollen, herumnörgeln. Ohne Namen zu nennen, gebe ich nur die Ansicht von Experten wieder, die vorhersagen, dass der Computerboom, der in den letzten Jahren exponentiell gewachsen ist, sich seiner Grenze und somit seinem Ende zu nähern scheint.

Wir haben Bildschirme, die flach sind wie ein Bild an der Wand, und eine Computermaus halten wir bereits für ein ziemlich altmodisches Gerät. Die Verbindung von Fernsehgeräten, Monitoren, Computern, Modems und Faxgeräten zu einheitlichen Pseudoorganismen rückt immer näher. Wir haben Geräte für Rechts- und für Linkshänder. Es scheint also, als ob wir uns am Ende unseres Jahrhunderts bemühen würden, in dem gigantischen Raum der Information alles zu vollenden, was noch zur Konstruktion übrig geblieben ist.

Obwohl sich Spezialisten die Weisheitszähne an den zwei Nullen des Y2T ausgebissen haben, bedeutete diese Dämmerung selbstverständlich keinen informationstechnologischen Weltuntergang. Anders, also einfacher gesagt: so schlimm, wie ich sagte, ist es nicht. Wir haben uns in den Fallen der Betriebssysteme verirrt, weil sie weder uns noch sich selbst verstehen. Letztendlich zeigt sich, dass der Verstand als das System, das mit Begriffen arbeitet, zur Zeit durch nichts ganz ersetzt werden kann. Ich setze also auf den Hauptgewinn, auf das, was am schwierigsten zu gewinnen ist, obwohl ich nicht weiß, wann es uns gehören wird. Wir müssen den Weg gehen, der unsere entfremdeten Köpfe zum Verstand zurückführt, wie weit dieser Weg auch immer sein mag. Auch wenn wir unzählige Ausrutscher und Fehler riskieren: in der näheren Zukunft wird es keinen anderen Weg geben. Weil sich die Zukunft immer anders gestaltet, als wir sie uns vorstellen, ist das, was ich schreibe, geprägt von einer subjektiven Überzeugung, die allerdings recht stark ist. Ich behaupte allerdigngs nicht, dass ich die Zukunft so genau kenne wie den Inhalt meiner Schublade.

Stanislaw Lem 17.09.1999

Ein künstlicher Verstand scheint in weiter Ferne zu liegen

Wir haben große Schwierigkeiten    mit dem

Verstand, weil er eine Sammlung von Geheimnissen darstellt. Scheinbar besitzt (fast) jeder Mensch irgendeinen “Verstand” - oder wenigstens eine Spur davon. Wir verfügen jedoch weder über eine erfolgreiche, allgemein anerkannte und gerechtfertigte, noch über eine    eindeutige

Definition, und nicht zuletzt wissen    wir nicht

einmal, wie man es anfangen könnte und sollte, an einer solchen zu arbeiten, um uns zu den Anfängen einer Technologie des Verstandes    oder des

Denkvermögens zu führen.

Mit dem Verstand ist es etwa wie mit der Zeit, von der Augustinus sagte, er wisse, was sie ist, solange ihn niemand danach fragt. Sogar eine scharfe Abgrenzung zwischen dem “Verstand” und der “Intelligenz” kann deswegen nicht durchgeführt werden, weil sowohl der eine als auch der andere Begriff seinen Bedeutungsumfang im Verlauf der historischen Zeit geändert hat. Auch die Behauptung hilft nachweislich nichts, dass wir jetzt über den Verstand angeblich bedeutend “mehr” (vor allem in der pragmatischen und technologischen Auffassung) als Menschen früher wissen, weil es in den genannten Auffassungen nicht darum geht, dass es für eine einzelne Definition keine allgemeine Übereinkunft gibt, sondern darum, dass wir über keine effektive Kenntnis verfügen (außer der “artificial intelligence”, die

durch ziemlich leere Ankündigungen von Verrückten angekündigt wird    und es    uns

ermöglichen soll, einen Funken des “Verstandes” oder der “Intelligenz” in der    Maschine    zu

entfachen).

Das alles bedeutet jedoch nicht, dass uns in der besprochenen “Materie” überhaupt nichts bekannt ist. Erstens versteht man unter dem “Verstand” oder dem “Denkvermögen” die Leistung    einer realen

körperlichen und sprachlichen Handlung (man kann “vernünftig” irgend etwas tun, und “vernünftig” kann man in bekannten ethnischen oder sogar speziell kodierten Sprachen Mitteilungen    “senden”    und

“empfangen” ). Zweitens weiss man, dass die Sprache, um deren “vernünftige” Rekonstruktion seit einem halben Jahrhundert Computerexperten sich mit solcher beharrlichen Besessenheit bemühen, aus dem Bindemittel der Syntax (der Syntax und der Semantik) besteht. Hier auch kann man in wissenschaftlich ordentlichen Arbeiten die Differenzierung auf sprachreflexive oder sprachabgeleitete Bezeichnungen, wie Designate, Denotate, Denotationen und Konnotationen finden. Dies soll uns hier aber nicht weiter abschrecken.

Eine der wahrscheinlich wichtigsten Entdeckungen des 20. Jahrhunderts war die Feststellung (Lyssenko und seine Anhänger hatten sich daran nach einiger Zeit stalinisti scher Förderung alle Weisheitszähne ausgebissen), dass es nur einen Erbcode gibt, der aus den “Buchstaben” und “Interpunktionszeichen” der Nukleotiden zusammengestellt ist, und dass die Chromosomen aus “Sätzen” mit diesen vier Nukleotiden in Matrizen gebildet werden, die in Zusammensetzung mit allen genetischen Elementen in der gesamten lebenden Welt (d.h. in der ganzen irdischen Biosphäre von Bakterien und Viren bis hin zu Dinosauriern und Walen) identisch sind. Die fast vier Milliarden Jahre lang andauernde Evolution des gigantischen Baums der lebendigen Arten ist in ihrem Kern also nichts anderes als ein Mischen dieser Nukleotiden-Buchstaben - und dieses Milliarden von Jahren andauernde Spiel ist vor ungefähr 150000 Jahren in die Art Homo sapiens “abgebogen”, deren Mitglieder wir sind.

Überdies entstand vor etwa 14000 oder 15000 Jahren, oder vielleicht auch einige weitere Jahrtausenden früher - als Verstärker und Akzelerator der Menschheit eine ethnische Ursprache, die man heute nostratic nennt und die sich innerhalb von “nur” einigen zehntausend Jahren auf ca. 5000 verschiedene Varianten verzweigt hatte, wozu auch die slawische Sprachfamilie und in ihr die polnische Sprache gehört, in der ich diese Worte gerade schreibe. Aber diese vererbte Sprache ist als einzige Sprache auch so, wie sie war - und das ist sehr wichtig -, bis zum heutigen Tage geblieben. Wir können bereits Gene von einer Art auf eine andere Art so übertragen, dass die Ergebnisse genotypisch und phänotypisch vererbbar sind. Hingegen kann man Bezeichnungselemente (Wörter) nicht auf analoge Weise aus einer ethnischen Sprache in eine andere ethnische Sprache unter Beibehaltung der informatischen Wirksamkeit, das heißt des Sinnes, übertragen.

Diese Tatsache scheint für uns eine solche Selbstverständlichkeit zu sein, dass man sie eigentlich gar nicht zu erwähnen bräuchte. Wenn man aber aus der Distanz über die Gesamtheit der zwei Arten der “nukleotidischen und ethnischen” Linguistik nachdenkt, dann erscheint die Situation in einem eher merkwürdigen Licht:    die einen Menschen, die

derselben Gattung von Homo angehören, können sich sprachlich mit Menschen aus einer anderen Nation und mit einer anderen Sprache nicht verständigen, während ein Gen, das aus Hefe oder dem Froschlaich entnommen wurde im Ei einer Frau ganz normal auf seine Weise weiter funktionieren wird, als wäre nichts geschehen. Wenn sich jemand durch die vorstehende Feststellung nicht verwundert fühlt, so sollte er schnell aufhören, diese Bemerkungen weiter zu lesen.

Man weiss aufgrund von physioneurologischen Untersuchungen, dass unser Verstand eine funktionelle Einheit von Elementen (Gehirnsubaggregaten) ist, die für sich eher nicht “vernünftig” oder “verstehend” sind. Wenn man einen in einer bekannten Sprache gesprochenen Satz hört, erfolgt der Aufbau der Verbindung mit einer Verzögerung von 200 Mikrosekunden, also “im Nu”, als Informationsanalyse in verschiedenen Teilen beider Gehirnhälften, um die syntaktische und auch die semantische “Seite” oder “Ebene” dessen, was gehört wurde, zu analysieren. Es ist sogar möglich, eine vollständige Übereinstimmung (also die Richtigkeit) eines Satzes in seiner “syntaktischen Struktur” bei vollem Unverständnis seines Sinnes (der Bedeutung) festzustellen. Und noch mehr: wir können bestimmen, aus welcher Sprache ein völlig unverständlicher Satz mit der verifizierten Richtigkeit der Syntax stammt. Beispiele:

“Apentu Ba niewdziosek te b dy gruwa[ne W ko turmiela weprz chnie, kostr bajt spoczy… .”

oder:

“Whorg canteel whorth bee asbin? Cam we so all complete With all her faulty bagnose (Lennon).”

Es ist einfach festzustellen, dass das erste “Gedicht” aus dem “Polnischen” und das zweite aus dem “Englischen” stammt. Die Tonklänge verraten “sinnlose Verwandschaften”.

Weder “Vernünftigkeit” noch “Intelligenz” entstehen aus dem Nichts. Letztlich wurde aus Verzweiflung, wie ich sagen würde, die Bedeutung der emotionalen Determinanten der Intelligenz “entdeckt”, was eine Offenbarung der Art war, dass wir uns deswegen bewegen, weil wir u.a. Beine besitzen. Weder linear noch parallel prozessierende Computer erwecken mittlerweile noch eine Hoffnung auf die Schöpfung eines “künstlichen Verstandes”, überdies wurde auch Ashby’s “Intelligenzverstärker” ohne eine Träne vor zehn Jahren begraben. Wir wissen immer noch nicht, wie “das” zu machen wäre, obgleich die Hoffnungen heute in den Bereich der “neuronalen Netze” verlegt worden sind. Da jedoch das Internet leider bereits unter furchtbaren Ausfällen wegen der Stauungen leidet, entsteht eine Art “Metanet” aus Netzen von wichtigen Organisationen (Börsen, Regierungen, Banken, wissenschaftliche Institutionen u.ä.). Wenn es einige Dutzende solcher Netze geben wird, könnte es vielleicht zwischen ihnen zu Kurzschlüssen kommen und ein Funke des Verstandes aufleuchten, weil - und daraus stammt meine, jedoch schwache Hoffnung - der Verstand nicht deswegen entstand, weil die natürliche Evolution auf seine Geburt ausgerichtet gewesen wäre. Darüber hinaus scheint sich der “linguistische Kern” des Verstandes ziemlich zufällig entwickelt zu haben. Erst als seine Nutzbarkeit sich einigermaßen “bewährt” hat, begann eine deutlicher werdende Drift in die “sprachliche Richtung”, in der gelernt wurde, wir wissen nicht wie, die “Gödelschen Abgründe” wie auch die Unbestimmtheiten der Selbstreflexivität zu meiden. Diese Schritte erfolgten jedoch schon ziemlich spät auf der diachronischen Skala und sind nicht so sehr der Entstehung der Schrift als einer “antichronen” (also sich der erodierenden Wirkung der Zeit, deren Vergehen jeden von uns tötet, widersetzenden) Flosse und sogar dem “Stab” vorangegangen, entlang dessen der Verstand wie eine Kornwinde (ein Vergleich mit Bohnen wäre möglicherweise für viele unverdaulich) empor zu klettern begann.

Unzählige und in Stummheit zu leben gezwungene Säugetiere weisen irgendwelche Spuren des Verstandes auf. Jeder, der einmal Hunde hatte, weiss, wie sich die einzelnen Exemplare in ihrer nicht nur reaktiven, sondern auch aktiven Emotionalität voneinander unterscheiden, und auch wie deutlich zwischen ihnen die Unterschiede der “Auffassungsgabe” dessen sind, was um sie herum passiert und was in einem Augenblick passieren wird. Es ist schwierig, den geistigen Unterschied zwischen einem Delfin und einem Hai nicht zu bemerken. Das alles scheint darauf hinzuweisen, dass der Verstand mit Sicherheit stufenweise von Gattung zu Gattung anwachsen kann. Die sich entwickelte Sprache “bereichert” mit Sicherheit “geistig “, aber - und dies erkläre ich auf eigenes Risiko und auf eigene Verantwortung - seine den Menschen geistig bereichernde Kraft zieht gleichzeitig Grenzen, weil man das, was man eindeutig sagen kann, auch verschwommen mit dem Anschein der Vernünftigkeit sagen kann. Hier aber gilt: “volenti sapientiae non fit iniuria”. Wahrscheinlich haben wir uns deswegen mittels einer Jahrhunderte lange andauernden Arbeit der linguistischen Destillation die Mathematik sowie deren andere logischen Abkömmlinge herangezüchtet, die über spezielle Einsatzmöglichkeiten verfügen. Ob es gelingt, das auch aus den Maschinen herauszuholen, kann man mit einem kategorischen Ja oder mit einem sicheren Nein heute nicht beantwortet werden.

Viele Menschen aus aller Welt - aus Polen allerdings weniger - besuchen mich, um zu erfahren, was ich über diese Angelegenheit denke. Ich kann nicht sagen, dass ich eine Lösung für diesen komplizierten Gordischen Knoten im Kopf fertig habe. Ich bin mir sogar nicht sicher, ob die grundsätzlich lineare und quantenartige Dimension unserer Sprache ein allgemeines kosmisches Prinzip sein muss, wie auch die Existenz der Zivilisationen, die eine Vokal- und Schriftsprache benutzen, mir keine Notwendigkeit für das gesamte Weltall zu sein scheint. Das bezweifle ich allein schon deshalb, weil Affen (z.B. Bonobo-Schimpansen), die keinen wie wir ausgerichteten Kehlkopf haben, Folgen aus subsymbolischen Bildern verstehen, jedoch nicht reden können. Und haben sich all die Wissenschaftler gänzlich geirrt, die vor allem den neuronalen und strukturalen Inhalt des Hirnschädels zählen, demzufolge ein Delfin uns schon längst überlegen sein müsste.

Der Weg wird sicherlich lang und voll von Überraschungen sein, weil unser sehr merkwürdiges und immer noch von der Tätigkeit her unbekanntes Gehirn so unordentlich zusammengesetzt wurde. Dass unsere sehr ordentlich, sehr genau und in hohem Maße logisch gebauten Computer einen Verstand entwickeln werden, glaube ich kein bisschen, gerade weil sie allzusehr logisch, ordentlich und geordnet gebaut werden. Es kann keine Rede davon sein, dass man ihnen bedeutende Teile herausnehmen kann und sie sich dann immer noch gehorsam in ihren Handlungen wie immer verhalten werden. Falls aber ein Funken des Verstandes als Deus ex machina sich entzünden sollte, dann wird sich dadurch eine Vielzahl orientierter maschineller Arten des Verstandes entwickeln, die gar nicht “gezwungen” sein werden, schnell gegen den Menschen zu rebellieren, wie uns die Science Fiction mit ihrer großer Vernarrtheit in Unsinn zu “belehren” versucht, die sich von ihrer Käuflichkeit ernährt, da Leser (und Zuschauer) das kitzelnde und ihnen nicht

direkt schädigende Grauen mögen. Die ganze “globalisierende Vernetzung” der Welt stellt einfach die in eine große Potenz erhobene Kommunikation dar. Wenn uns nämlich ein Unsinn aus der Nachbarschaft nicht ausreicht, sollte dies ein Quatsch aus der maximalen Ferne nachholen. Das Internet ist als Relais für unschätzbare Information für mich wenig wert, anders liegt der    Fall bei Experten- und

Spezialinformationen. Internet-Geschäfte in der globalen Wirtschaft setzen uns dagegen verschiedenen Kurzschlüssen aus, weil Börsen von Menschenmassen betrieben werden und Massen leichter als in Ekstasen der Hausse in Panik geraten, die sich wie ein destruktives Feuer verbreitet. Wie auch immer, so habe ich mich mit meinen Ausführungen vom Künstlichen Verstand und von der Künstlichen Intelligenz entfernt, die gewissermaßen Sternenkonstellationen auf dem Informatikhimmel darstellen: interessante, sehr weit entfernte und für uns, die wir unsere Blicke auf sie richten, völlig unerreichbare Gebilde.

Aus dem Zusammenspiel unserer Sinne lernen wir, grundsätzlich analog zu allen höheren Tieren (Säugetieren), die Welt vorwiegend in unserer Nähe kennen, vor allem in seiner Nähe, und erfahren wir in etwa, was mit unserem Körper passiert. Weil wir mit uns selbst und mit anderen sprechen können, sind wir Besitzer des “Verstandes”, aber wenn wir mit den Sinnen die Welt nicht mehr erkennen können, müssen wir dies entweder mittels der Vermutung oder schärfer und eindeutiger durch die auf Experimenten beruhende Mathematik bewerkstelligen. Man könnte sagen, dass unser tierischer Verstand in sich konstruierte “Schößlinge” ausspinnt und aus deren intuitiv-formaler “Bearbeitung” unser Wissen über die Makro- und Mikrowelt von den Galaxien bis zu den Atomen entsteht. Dadurch erreichten wir gemeinsam auf der

Informationsebene des Affen oder des Tigers “höhere Stockwerke” der Generalisierung, die als “Naturgesetze” gelten. Sie stellen unser Wissen dar, das im Lauf der Geschichte so veränderlich wie ein Film ist, der vor Jahrtausenden langsam abgespielt wurde und gegenwärtig so beschleunigt wird, dass das “gestrige Wissen” dadurch oft ungültig wird. Der Verstand also erzeugt für uns das Wissen, das sich kontinuierlich durch Fachgebiete verzweigt. Der “Verstand” schafft eine Unmenge von “Sachen” oder “Wirklichkeiten” (ein Tisch aus Holz ist ja auch ein Tisch aus Elektronen, ersteren verstehen wir aus Erfahrung, das Zweite aus “theorieähnlichen Vermittlungen”). Philosophie ist dagegen eine Brutstätte von Hypothesen, wie dies vor sich geht und wie dies der Verstand macht. Man kann hinzufügen, dass die Leistungsfähigkeit und die Reichweite des “Verstandes” in der menschlichen Population ungleichmäßig verteilt sind. Grob könnte man sagen, dass für einige Menschen die Mathematizität der Welt selbstverständlich ist, da sie über eine für solche Diagnosen gute Ausstattung mit entsprechenden Gehirn-Konstruktionsmodulen    (Subaggregaten)

verfügen, andere dagegen können die hohen Konstrukte der mathematischen Verzweigungen nicht hochklettern, weil es ihnen dafür an den nötigen Begabungen fehlt. Ein Mathematiker braucht freilich nicht zu wissen, wie er das macht, ähnlich wie kein Nichtwissenschaftler weiß, wie er springen, schwimmen und klettern kann.

Gegenwärtig können wir uns, da wir über keinen “maschinellen Verstand” verfügen, lediglich auf verschiedene Simulationen stützen, die in den Computern genau nach von uns mittels des Verstandes geschaffenen Programmen konstituiert werden. So erfahren wir z.B., wie der Zustand des Weltalls in 100

Milliarden Jahren sein wird, falls die den Programmen zugrundeliegenden Daten “richtig” in die Wirklichkeit eingewurzelt sind. Meistens bewegt sich die “Maschine unseres Wissens”, die die    Informationsdaten

verarbeitet, expansiv in Richtung Überprüfung der “veristischen Tragfähigkeit” der    auf    diese    Weise

entstehenden Wissensfragmente,    die    nicht    direkt

sinnlich zugänglich sind, und    wir    haben    keine

Sicherheit, ob irgendwann Maschinen-Demiurgen entstehen, die weitere Generationen von Demiurgen gebären werden. Zur Zeit scheint dies eine Leiter zu sein, die dem Turm von Babel vergleichbar ist, und wir befinden lediglich auf deren erster Sprosse … Geschrieben im November 1997

Stanislaw Lem 03.11.1999 Von einer befreiten Evolution

Von vornherein möchte ich die Warnung aussprechen, dass ich über schwierige, völlig experimentelle und nicht verifizierbare Dinge sprechen werde. Ich werde über das sprechen, was für die informatische Evolutionstheorie die Domäne der empirischen Überprüfungen werden könnte. Dieses Wissensgebiet wird ähnlich komplex und fortgeschritten sein, wie es beispielsweise der modernste Computer im Vergleich zu einem einfachen, aber perfekten Automaten (also einer Turing-Maschine) ist. Übrigens halte ich in Wahrheit die Unterschiede auf einer Komplexitätsskala für noch größer, und trotzdem gibt es den Hauch einer Analogie.

Um mindestens die Vorstellbarkeit dessen, worüber ich sprechen möchte, ein wenig zu erhöhen, berufe ich mich auf ein Beispiel aus einem Gebiet, das jedem, der auf der Schule war, bekannt ist - nämlich auf die Geographie. In dem alten Atlas von E. Romer, der am Gymnasium zu meinen Handbüchern gehörte, wurden dieselben “Bereiche” der Erdoberfläche, die jedoch in unterschiedlichen Skalen veranschaulicht waren, nebeneinander dargestellt. Es war die Zeit, als man schon wußte, daß die Erde rund ist, aber man konnte das nicht so sehen, wie man dies jetzt auf verschiedenen Fotos kann, die von orbitalen, über der Atmosphäre im Weltraum schwebenden Flugkörpern gemacht werden. Dieselben Regionen des Planeten, seine Kontinente, wurden einmal in einer kleinen, dann

in einer größeren und schließlich in der größten, da gesamtplanetarischen    Skala    dargestellt.

Selbstverständlich konnte man in Romers Atlas auch die ganze Erdhalbkugel in verschiedenen Sphärenprojektionen sehen, samt der für mich immer sonderbar    erscheinenden    “Merkator’s

Walzenprojektion”.

Wir können also denselben Gegenstand - die Erde -in unterschiedlichen Skalen anschauen, und was demjenigen, der am Fuß einer Bergkette steht, himmelhoch wie der Himalaja zu sein scheint, zeigt sich aus der kosmischen Perspektive nur als eine fein geformte, an den Spitzen mit Schnee geweißte “Gesteinsverformung” der Erdkruste.

Erst jetzt komme ich auf das im Titel des Essays angeführte Thema. Der springende Punkt ist, dass in einem gewissen Sinn Darwin Lamarck besiegt hat, da es eigentlich keine Biologen mehr gibt, die annehmen, dass die erworbenen Merkmale vererbt werden. Im Gegenteil, die Regeln der Selektion (der natürlichen Zuchtwahl) und der Mutation sind überall und dauerhaft in den begrifflichen Apparaten der biologischen Wissenschaften verankert, hier:    im

Erkenntnisbereich der Arten und Weisen, wie sich das Leben, als es auf der Erde entstanden ist, vier Milliarden Jahre lang fortentwickelte, bis es auch uns geschaffen hatte. Gegenwärtig herrschen jedoch innerhalb des Darwinismus (oder um ihn herum) ziemlich heftige Streitereien, weil der Begriff der natürlichen Evolution (Zuchtwahl, geschlechtliche Fortpflanzung, Gene, “erweiterte Phänotypen” usw.) eigentlich einen Sack darstellt, in den verschiedene Evolutionisten wie Gould oder Dawkins nicht vergleichbare und teilweise sogar widersprüchliche Hypothesen packen. Das nicht besonders originelle Ergebnis meiner Überlegungen ist die These, dass der “totale” Reduktionismus, der alle Antriebsfaktoren der Evolutionsprozesse in einen einzigen “Motor” hineinpacken will, eine grobe Vereinfachung darstellt.

Unser Wissensstand bezüglich der Evolution, der nicht nur aus der Paläontologie stammt, erlaubt es immer noch nicht, diesen vier Milliarden Jahre währenden Prozess der Veränderungen des Lebens eindeutig zu machen. Ich will hier gar nicht weiter darauf eingehen, da die Entstehung des Lebens immer noch ein Rätsel ist, obwohl es mehr und mehr Hypothesen darüber gibt. Bislang ist es aber noch niemandem gelungen, das Leben in irgendeiner Form aus unbelebter Materie herzustellen. Obwohl man an dieser Stelle viele, einander widersprüchliche Theorien aufzählen könnte, wie den “Punktualismus”, den “Saltationismus” oder den “Katastrophismus”, den ich in dem Buch “Das Katastrophenprinzip” beschrieben habe, ist es nicht meine Absicht, diese Auseinandersetzungen näher zu erläutern. Ich will nur andeuten, worum es in ihnen geht.

Richard Dawkins (sowie einige Jahre vorher der Autor dieser Worte) stellte die Hypothese des “egoistischen Gens” vor, die besagt, dass die Evolution grundsätzlich auf der Ebene der “genetischen Befehle” verläuft, und dass das Produkt der “Genbefehle” sterbliche Organismen sind, die den “Befehlen” vor allem als Vehikel dienen, um sie an die folgenden Generationen weiterzugeben. Mit ziemlich großer aphoristischer Vereinfachung nannte ich dies einmal “das Irren des Irrtums”, da die in den Botschaften der “Befehle” begangenen “Genirrtümer” die Quellen der Vielfältigkeit darstellen, aus denen die natürliche Zuchtwahl “neue Befehle” schöpfen kann: Auf diese einfache Weise verschwindet das, was die Anweisung nicht weitergeben kann. Zwischen diesen besser konstruierten Strukturen, beginnt ein Wettkampf, der nicht ganz richtig “Kampf ums Überleben” genannt wird, da es kein buchstäblicher Kampf ist.

Ich habe absichtlich den Begriff “Befehl” eingeführt, weil es mir im Grunde um die Information geht, wie überlebensfähige Strukturen entstehen. Wir wissen das, aber wir wissen nicht, warum sich das Leben über die vier Fünftel der Existenzdauer des irdischen Lebens auf die Nachbildung der Prokaryoten, d.h. der mikroskopischen Organismen vom Typ Bakterium und Alge beschränkt hatte. Wir wissen auch nicht, warum es erst vor einigen hundert Millionen Jahren - im Kambrium - zu einer “Explosion” der Evolution gekommen ist, durch die in den Ozeanen die ersten Mehrzeller entstanden sind, aus denen sich die Fische, darauf die Lurche, die ans Land gegangen sind, dann die Reptilien und endlich die Säugetiere entwickelt haben, zu denen auch wir gehören.

Heutzutage ist es praktisch sicher, dass nach dem Kataklysmus vor 65 Millionen Jahren an der C/K-Wende, also der Kreidezeit, fast alle Reptilien ausgestorben sind, die ca. 150-160 Millionen Jahre lang auf der Erde herrschten. Eine vorhergehende Katastrophe des Lebens aus der Permepoche vernichtete wahrscheinlich 90% jeglichen Lebens. Es ist schwierig festzustellen, wieviele solche Niederlagen das Leben noch hinnehmen mußte, aber statistisch gesehen scheinen die “Informationsträger” des Lebens ungefähr alle 100 - 200 Millionen Jahre von einem solchen Ereignis, das aus dem Weltraum oder aus dem Inneren der Erde kommt, getroffen zu werden. Dabei stellte sich jedoch auch heraus, wie “hart” das durch die genetische Information getragene Leben ist. Deswegen waren keine Kataklysmen imstande, es vollständig zu vernichten. Nach unserem Wissen “musste”, um es anders zu sagen, das Leben niemals wieder die genetische Geburt aus dem Schoß der

unbelebten Materie beginnen. Aber eigentlich stellt all das, was ich    bisher    bemerkt habe, lediglich    ein

Präludium zu    der    Verwegenheit dar, die    ich

Voraussagen möchte.

Die Streitigkeiten der Evolutionsbiologen stammen hauptsächlich daher, dass keine der Theorien, weder der “totale Adaptationismus”, noch der “Saltationismus”, die    “Lotteriehaftigkeit”    oder    der

“Egoismus der    Gene”    die Fortschritte der    Evolution

und die außerordentliche Vielfältigkeit der daraus entstandenen Gattungen, Arten, Klassen, Typen und Ordnungen erklären kann. Gegenwärtig können wir nicht einmal schwören, dass das Prinzip des Fortschritts in der Evolution dauerhaft ist. Gegner dieser Ansicht sagen wie Stephen Jay Gould, dass es zwar eine Steigerung der Komplexität gibt, die z.B. durch das “Wettrüsten” zwischen den Raubtieren und ihren Opfern ausgelöst wird, wobei das entstandene Gleichgewicht zeigt, daß sich beide Seiten weiterentwickelt haben, aber keinen wirklichen “universalen Fortschritt”, wenn Lebensformen, die “primitiv” genannt werden, dies nur aus der anthropozentrischen, subjektiven Sicht sind! Es gibt Millionen von Insektenarten. Die Tatsache, dass sie keinen “menschlichen Intellekt” haben, stellt eine Vereinfachung unserer Selbstsucht dar. Nur wir selbst haben uns die “höchstentwickelten Lebewesen unter den Herrentieren” (Primaten) genannt. Also tragen in Wirklichkeit die Gene der Lebewesen, die sich effektiver vermehren, über die Gene von denjenigen, die einen schlechteren Reproduktionskoeffizienten haben, den Sieg davon.

Das erklärt aber noch nicht, wieso die “primitiven” Formen während der geologischen Epochen wiederholt viele Millionen von Jahren einfach ohne Veränderung dahinvegetiert sind, und warum es de facto genauso

viel “Fortschritt” in der Evolution gab wie Stillstand in den stagnierenden Epochen. Es scheint so zu sein, dass sich der “DNA-Rekombinant”, der Gene als Introns und Exons, als strukturelle Gene sowie als Operone bildet, in immer kompliziertere Biobefehle strukturieren kann. Warum und wie das geschieht, ist unbekannt. Wir wissen nicht, warum sogar die Landreptilien der Juraepoche bis zu einhundert Tonnen Gewicht erreicht haben und sich heute nur Wale dank der Wasserexistenz an ein ähnliches Gewicht annähern können; die schwersten Elefanten (Proboscidea) überschreiten dagegen nicht das Gewicht von sieben Tonnen. Wir wissen nicht, warum gerade Affen optimal in die Entwicklung zum Urmenschen eingetreten sind, noch wissen wir, wieso unsere Gehirne für das Denken, für die Sprache, die Schrift und die Mathematik geeignet sind, denn zur Klärung der Ursachen solcher Ereignisse konkurrieren Hypothesen miteinander, die experimentell nicht einmal verifizierbar sind. Deswegen ist die Frage, die ich stellen möchte, folgende:    Wird eine

metainformatische Simulationsevolution, die an einem mit “kreativen Autopotential” versehenen nichtbiologischen Material die Durchläufe der Selbstorganisation imitiert, möglich sein und uns zeigen, wie die Komplexität entsteht und sich selbst in einer Simulationsumwelt verzweigen kann?

Seitdem man über die Potentiale der Datenverarbeitung mittels Quantencomputer zu sprechen begann, hat sich das, was scheinbar bereits eine festgestellte Grenzleistung der Digitalmaschinen darstellte, als relativ erwiesen. Ein System zu konstruieren, das eine “spontane metainformatische Evolution” in Gang zu bringen imstande wäre, die das sein soll, was Schach im Vergleich zu Dame ist (vielleicht ist die Kluft, die zu überschreiten wäre, aber viel größer), heißt soviel, wie einen virtuellen Planeten zu bilden, mitsamt seinen virtuellen Meeren und Kontinenten und mit virtuellen Teilchen, die sich selbst und so schnell gemäß der virtuellen Chemie verbinden müssten, bis sie das virtuelle Leben und seine virtuelle Evolution erzeugen werden! Dann wird es möglich sein zu beweisen, welche Möglichkeiten es in rein informatischen Stoffen gibt und mit welchen die ersten Lebewesen zu entstehen beginnen. Es wird sich gleichzeitig herausstellen, dass das, was der Biologe jetzt als eine Hypothese formuliert, also dass die “evoluierenden Gene Informationspakete und keine materiellen Objekte sind “ (G.C. Williams, in: “The Third Culture”, 1995), eine Tatsache ist. Jedes Teilchen in einem Genom stellt nur einen Träger der Information dar. Dass dagegen die Biogenese zu ihren Anfängen vor Milliarden von Jahren die vier Sätze der Nukleinsäure “ausgewählt” hatte, ergab sich einfach aus der Kreuzung der “chemischen Existenz” mit der “replikativen Reaktivität” dieser Verbindungen. Deshalb beruht das Leben auf Kohlenstoff, weil er auf der Erde - vielleicht auch anderswo - ein aufgrund seiner Valenz besonders geeignetes Element war.

Die digitalen, aber nicht linearen Prozesse, die in einem “metainformatisch” arbeitenden SuperHypercomputer des dritten Jahrtausend auftreten werden, werden vielleicht imstande sein, uns im Schnelldurchlauf (der nicht allzusehr die Grenze des menschlichen Lebens überschreiten wird) zu zeigen, welche kreativen und schöpferischen Möglichkeiten die kosmische Materie in sich birgt. Ich sage “META”, um die Unabhängigkeit von heute nur im Labor verwendeten Verbindungen hervorzuheben, mit deren Hilfe man versucht, die Biogenese zu wiederholen. Die Bioreaktoren, die zum Beispiel in Max-PlanckInstituten arbeiten und die Entstehung der künstlichen

Viren und deren Phasenübergänge - im Sinne der “Hyperzyklen”, wie Manfred Eigen beschrieb -virtualisieren, können heutzutage nicht viel. In einem guten Gigabyte-Computer kann man die “Pseudoevolution” der virtuellen Phagen, die höchstens 50 Gene zählen, simulieren. Das ist aber immer noch viel zu wenig. Für die Simulation, von der ich spreche, brauchen wir Milliarden von ihnen. Selbstverständlich stellen die genetischen Algorithmen, die bereits in der Praxis eingeführt wurden, auch noch zu wenig dar. Unsere informatische Versessenheit ist größer, daher werden sie weder in diesem noch im 21. Jahrhundert für die Erfolge der informatischen Technologie ausreichen. Es werden bedeutend, unvergleichbar größere Rechenleistungen benötigt.

Mühsam komme ich zu der im Grunde trivialen Erkenntnis: Die Entwicklung der Informatik wird nicht durch ihre Erkenntnisgewinne angetrieben, sondern vor allem durch ihre Kommerzialisierung, also dass sie schnelle Gewinne bringen kann. “Welche Idee sich nicht schnell lohnt, stirbt schon als Keim.” Für diese Art der evolutionären Scheinfortschritte hat sich der Markt geöffnet. Daraus folgt der Lärm über die Zukunft als eine weltweite Zone der Computerspiele, daraus ergeben sich die Überschwemmungen mit Dummheiten und die “Pseudoinkarnationen” in verschiedenen Netzen, daraus folgt die Freiheit der Netze als Bereich der leichtverkäuflichen pädophilen Spiele und das multimediale interaktive Spiel, das heißt, die Welt geht in der Unterhaltung unter.

Ich bin kein fanatischer Asket oder Gegner der phantomatischen Videokriege; nur die Zukunft als ein von Programmierern exzellent gefälschtes, bestelltes “Scheinleben” in den Rollen eines Eroberers, eines Casanova oder Caligula halte ich für eine Degradation. Weder eine Simulation der Entstehung von Galaxien, noch die Nachahmung der Wirbelstürme oder der geplanten Superwaffen scheinen die erhabenen Ziele zu sein, die das dritte Jahrtausend anstreben sollte. Die potentielle Kraft, die sich in der Information verbirgt und die man “Metainformation” nennt, ist eine iterative, schrittweise und linear losgelöste Selbstorganisation, die von ihrem Träger nicht mehr so abhängig ist, wie das Leben von der Natur oder wie eine Simulation von den Computern, die von Programmierern festgelegt wurde.

Das Leben hat selbst eigene Programme erstellt, und diese souveräne, komplexe Virtualität sollen unsere Nachkommen erreichen, indem sich ihre “metainformatischen Maschinen” (“Computerdepots”) als Sporen oder als Wiegen erweisen. Erst das wird zeigen, dass die Bioevolution ein besonderer, einzelnen Wege war, dass es andere Evolutionen gibt und dass andere entstehen können, die weder auf Kohlenstoff noch auf Proteinen oder auf diesem oder jenem Metall gründen. Aber hier stehe ich bereits am Abhang der Imagination, da mir heute für das, was entstehen könnte, die Bezeichnungen fehlen.

Metainformatisch zu sein bedeutet, dass man zugunsten der Starter-Programme auf Programme verzichtet, die von unseren Programmierern entwickelt werden. Diese Programme, die lediglich Starter der Entwicklung werden, sind wahrscheinlich nur zu einem gewissen Grad durch Rahmenbedingungen eingeengt, aber erfüllen nicht notwendigerweise das, was von einer “befreiten Entwicklung” der Information

- “befreit” aus der Gefangenschaft der konkreten Träger,- erwartet wird. Es wird dabei sicherlich eine Menge Fehl- und Anläufe geben, die nichts Neues erschaffen, aber gleichzeitig lauern unter all diesen Fehlläufen die Chancen der aus der Befehlsgewalt der kommerziellen Diagnose befreiten Fragestellungen:

Wie ist das Leben auf der Erde möglicherweise entstanden? Warum entwickelte es sich von Katastrophe zur Katastrophe? Oder ist die Zunahmen der Komplexität ein unerlässlicher Koeffizient beim Spiel um das Überleben? Bei solch einem hohen Niveau der befreiten Evolution werden wir erst erkennen, wohin kein Zwang führt. Das ist nur eine Chance, deren Garant unser Verstand sein sollte.

Internetspiele

Stanislaw Lem 21.01.2000

Phantomatik, Künstliche Intelligenz und das Prinzip zunehmender Komplexität

Spiele im Internet sind seit ziemlich langer Zeit in Mode. Sie lassen sich im Grunde darauf zurückführen, dass man eines von vielen bereits existierenden prototypischen Rahmenschemata auswählt. Einer oder mehrere Spieler (jedoch nicht allzu viele) können sich die in der Geschichte, die sich auf den Bildschirmen der einzelnen Monitore abspielt, auftretenden “Charaktere” auswählen oder ausdenken. Das Netz selbst ist einfach ein Verbindungssystem aller Spieler miteinander; darüber hinaus können im Spiel auch “Geschöpfe” teilnehmen, hinter denen kein menschlicher Spieler steht, der sein “Alter Ego” im Netz bewegt, da das auch ausschließlich im Netz aktive Subprogramme, die etwas oder jemanden simulieren, sein können.

Internet- und Computerspiele dieser Art finden grundsätzlich in der Maschinensprache statt, die ausgewählt wurde, um die sich ergebenden Situationen und Strukturen zu vereinheitlichen. Offen gesagt, stehen für die Spiele - entsprechend ihren Geschichten

- natürlich Schemata zur Verfügung, die aus der phantastischen Literatur, also aus dem Science-FictionBereich oder sogar einfach aus Märchen, stammen. Die psychosoziologische Analyse zeigt, dass eine der Dominanten, die diesen Spielen zugrunde liegen, die eskapistische Haltung gegenüber der gewöhnlichen Wirklichkeit ist (oder mindestens zu sein scheint). Der Spieler kann sich mit der jeweiligen Gestalt sehr stark identifizieren. Da es jedoch viele Spieler gibt und sich jeder in den Grenzen einer bestimmten Spielpartie verhält, wie er dies will, kann er anderen Spielern nicht nur einen Schabernack spielen, sondern auch beträchtliche Unannehmlichkeiten bereiten, für die es unmöglich ist, Verantwortung zu tragen (im Sinne der Verantwortung für die “Verletzung der persönlichen Sphäre”), weil es ja nicht “wirklich” passiert. Es ist einfach wie ein höheres Derivat der Kinderspiele -dank der technologischen Erhebung -, in dem man beliebige Rollen übernimmt und sich diesen zumindest ein wenig unterzuordnen hat.

Der Bedarf nach eskapistischem Verhalten ist auch verschiedenen SF-Fans gut bekannt, die untereinander Briefe mit Bewertungen der gelesenen und sogar angebetenen Texte austauschen. Die Einzelwertungen der “Spieler”, d.h. deren Computer- und Internetrepräsentanten, sind verschieden. Sie beginnen irgendwo “unten” und “steigern” sich im Laufe der Karriere, indem man mit Drachen kämpft (ich weiß nicht, woher diese Verbreitung des Verlangens nach Drachen kommt) oder Einhörnern, Hexen, Zauberern oder Vampiren begegnet, um schließlich auf einen “hohen” Level der Prinzessinnen oder Prinzen zu gelangen, mit denen man sich verheiraten kann. Über das alles wachen die “Magiere”. Aus meiner Sicht, also aus der eines Profis der Phantasie, erscheint das alles zusammen unglaublich naiv und primitiv und offenbart letztendlich einen betrüblichen Mangel an wirklich lebhafter Imagination. Das Beschriebene ist jedoch nur ein Vorwort dessen, was in der Zukunft auf uns warten kann.

Spiele stellen Surrogate der halbwegs kondensierten, halbwegs konkretisierten Vorstellungen oder Träume dar. Selbstverständlich ist es klar, dass die Spieler mit einer hervorragender Intelligenz für sich nach höheren

Zielen suchen, die über die typischen Ziele der existierenden Spiele hinaus gehen (außer eine Prinzessin zu erobern, kann es schließlich um die Unsterblichkeit gehen, die man erlangen kann, wenn man zur Quelle des “Lebenswassers” gekommen ist). Sie können Kriege führen oder Allianzen schließen -mit einem Wort, nicht mehr Märchen, sondern strategisch-politische Spiele imitieren. Das alles ereignet sich aber weiterhin in der Maschinensprache, obwohl man auf den Bildschirmen auch Darstellungen der Burgen, Labyrinthe, geheimnisvolle “Kraftschirme” usw. zeigen kann. Man kann aber in jedem Fall aus dem Spiel austreten, denn es kann keine Rede davon sein, dass ein Spieler, wenn er der gleiche, psychisch normale Mensch bleibt, der das Spiel angefangen hatte, es nicht jederzeit verlassen könnte. Dass nicht jeder eine solche Entscheidung zu treffen imstande ist, ist lediglich eine Eigenschaft oder ein Laster der menschlichen Natur, die auch den “traditionellen” Spielern gut bekannt ist:    Im

Allgemeinen versucht jeder im Spiel zu bleiben, in das er doch freiwillig eingetreten ist, egal ob das ein Würfel- oder Kartenspiel oder ein Pferderennen ist, weil es nicht so einfach ist, wie viele meinen, dass das einzige Motiv des Spielens die Hoffnung auf einen Gewinn in Gestalt vom Geld ist.

Das Internet-Alter-Ego des Spielers kann jedoch auch seine “Verkleidung” oder “Maske” sein. Ein Spieler im Internet muss sich bekanntlich den anderen Teilnehmern der Fabelgeschichte keineswegs als ein authentischer Mensch präsentieren. Ein Mädchen kann als Mann auftreten, aber ebenso auch als ein Wal oder Drache, der die menschliche Sprache oder deren “Computerübersetzung” beherrscht. Solche Nachahmungen und Verkleidungen oder auch die Aufteilung einer Person auf mehrere verschiedene

Gestalten sind ohne weiteres möglich, mich hat jedoch etwas völlig anderes fasziniert, als ich vor Jahrzehnten über die “Phantomatik” schrieb.

Wenn man auf das existierende und zukünftige Feld der “Spiele” blickt, dann erkennt man, dass der Weg der weiteren Entdeckungen und Erfindungen der Menschheit immer mit dem Einfachsten begonnen hat, um dann zuerst langsam und schließlich immer schneller zu den Höhen permanent zunehmender Komplexität überzugehen. Überdies war und ist diese einfache Bewegung vom Einfachem zum Komplizierten kein Ergebnis eines individuellen oder kollektiven Entschlusses, sondern einfach ein Effekt der uns gegebenen Natur der Welt. Deswegen griffen die Urmenschen der Steinzeit zuerst nach Steinen, die als “Protowerkzeuge” geeignet waren, z.B. als Faustkeile, und es mussten Tausende von Jahren des Paläolithikums vergehen, bevor ihre Nachkommen auf das Niveau des Neolithikums geklettert sind und bis wir endlich die Höhe erobert haben, aus der man das umgebende Weltall nicht nur als Weltall betrachten, sondern es auch durch erste astronautische Abstecher erkunden kann. Das gleiche trifft ohne Ausnahme auf alle Errungenschaften des Menschen zu - vom Floß und der Galeere bis zu Panzerschiffen und atomaren U-Booten, von der Medizin als “magische Folklore” bis zur modernen Medizin und Gentechnik.

Die Komplexität stellt nie das Ziel unserer entdeckerischen oder erfinderischen Anstrengungen dar. Sie zu überwinden, ist der Preis, den wir bezahlen und für den “Fortschritt” bezahlen müssen, weil die Welt so aufgebaut und uns gegeben ist. Deswegen hat sich im Kommunikationsbereich herausgestellt, dass der Weg vom Rechenbrett bis zum “gedankenlosen” Computer und den immer schneller aufeinander folgenden Computergenerationen verhältnismäßig

einfach ist - oder wenigstens einfacher als das Ziel, das den ersten “Kybernetikvätern” vorschwebte:    die

“künstliche Intelligenz”, also ein wirklich vernunftbegabtes Alter Ego des Menschen, das in eine tote Maschine inkorporiert ist.

Die “Urkybernetiker” der fünfzigen Jahre des 20. Jahrhunderts waren sich aber nicht im klaren über eine ganz elementar einfache Sache: Wenn man eine Einpferdkutsche hat, ist die einfachste Lösung, um die Antriebskraft zu vergrößern, nicht der sofortige Umstieg auf ein Auto, sondern man spannt einfach ein zweites Pferd und dann ein nächstes Paar an. Etwas ähnliches ist mit Computern passiert. Es ist einfacher, die “gedankenlosen” Computer miteinander zu verbinden, auch wenn es Millionen sein sollten, statt in einem riesigen Super-Ultracomputer den Verstand zu entzünden. Aber um mit Erfolg die Sinne auch nur einen einzigen Menschen an die künstliche Welt so anzuschließen (ihn also, wie ich es nenne, zu “phantomatisieren”), dass er nicht mehr imstande sein würde, die durch den Computer erzeugte synthetische Wirklichkeit von der Wirklichkeit seines normalen Wachzustandes zu unterscheiden, ist Intelligenz erforderlich, weil dieser Mensch in der virtuellen Welt nicht nach King Kongs oder Drachen, sondern einfach nach anderen Menschen suchen wird. Man wird aber bislang keinem irgendwie nach dem Turing-Test vernunftbegabten und gleichzeitig durch den Computer kreierten Menschen treffen können. Es gibt einfach weder eine uns gleichkommende “Attrappe des Verstandes” im Computer noch eine solche, die eine Vielzahl verschiedener quasiintelligenter Wesen schaffen und die fiktive Wirklichkeit mit diesen zu bevölkern imstande wäre. Und da es immer so ist, dass man das verwendet, was es schon gibt, wird das Internet als ein vollkommenes Kommunikationsnetz der Computer, die sehr unvollkommen zur selbständigen sinnvollen Aktivität fähig sind, sowohl in die kommerziellen und industriellen Zwecke, als auch für Spiele, die Menschen mit Menschen gern führen, eingespannt.

Irren sich alle diejenigen fatal, die aus der Lektüre meines Bandes “Das Geheimnis des chinesischen Zimmers” (erschienen bei “Universitas”, Krakau 1996) den Schluss gezogen haben, dass nach meiner Meinung eine “künstliche Intelligenz” nie entstehen wird? Ich habe dort lediglich Gründe dargestellt, für die eine solche Synthese gegenwärtig und in nächster Zeit nicht möglich ist. Dagegen habe ich über die Zukunft der “vernunftbegabten Intelligenz” mehrmals geschrieben, und nicht jeder, der meinen “Golem XIV” gelesen hatte, war deshalb auch der Meinung, dass ich die Sache für das pure Produkt einer nicht in die Wirklichkeit umsetzbaren Phantasie halte. Ich stütze mich ungern auf Zitate von Autoritäten, aber es soll mir ausnahmsweise gestatten werden, zu bemerken, dass Manfred Eigen in einem Spiegel-Interview - im Zusammenhang mit angeblichen Spuren des Lebens auf einem Marsmeteoriten - sagte, man dürfe in der Wissenschaft nie über eine unüberwindbare Unmöglichkeit sprechen. Es ist klar, dass ich, wenn ich vor einhundert Jahren eine Unmöglichkeit von Raumflügen in der Zeit verkündet hätte, als die Luftflüge noch in den Ansätzen waren, damit nichts über den Ausgang des 20. Jahrhunderts sagen wollte. Die individuellen psychischen sowie die gesellschaftlichen Gefahren, die sich aus der Verbreitung der phantomatischen Techniken ergeben könnten, hatte ich im Buch “Summa Technologiae” lediglich angeschnitten. Ich wollte vor allem nicht, auf eigene Faust zu weit in die Zukunft ausschweifen, in der sich durch Programme (Software) einzeln konstituierte Welten der Individuen verbinden können und dadurch ein fiktiver, durch seinen Illusionismus aber riesiger Raum entsteht. In diesem werden dann solche Scheusale, Harems, Ungeheuer, Orgien und Satanismen zu finden sein, die den Menschen, die sich vollständig vom Gesellschaftsdruck der Tradition, des Glaubens, der Familienbindungen und der Sittlichkeit losgesagt haben, besonders gut gefallen. Wenn ich eine derartige Thematik überhaupt berührt hatte, dann absichtlich in unschuldigen Verkleidungen (wie, sagen wir im “Märchen über die drei Maschinen des Königs Genialon” im Band “Kyberiade”).

Ich wollte mich mit den künftigen unmoralischen Verworfenheiten des menschlichen Geschlechts umso weniger auseinander setzen, da es jetzt bereits eine Übermasse an Verworfenheit gibt, und deren Vervielfältigung in den Bereichen der Literatur, die “schön” genannt wird, hielt ich einfach für unappetitlich und ekelhaft. Ich sage also, um zur Sache zurückzukehren, dass Internetspiele vorläufig in der Phase der Unschuld sind, trotz der uns bereits bekannten Nachrichten von verschiedenen drastischen Unannehmlichkeiten, die die Spieler beider Geschlechter in diesen Spielen erfahren können. Generell ist dies unschuldig, ein wenig aber doch schädlich. Man sollte vielleicht an dieser Stelle noch “aufklärerisch” hinzufügen, dass dann, wenn es möglich sein wird, in den Staaten der phantomatischen Illusion den maschinellen Verstand, z.B. irgendeinen “Golem”, zu einem Obervorsteher und Dirigenten der Schicksale zu machen, damit schon durch diesen “Creator aus der Maschine” (Deus ex machina) eine gleichzeitige Erzeugung völlig beliebiger Wesen und Geschöpfe möglich sein wird, die keine Entsprechungen in der realen Welt haben. Dadurch wird kein Mensch, dank dem Anschluss an einen

Phantomat, mehr imstande sein, solche Geschöpfe, hinter denen ein anderer Mensch lauert, von solchen zu unterscheiden, die aufgrund der schöpferischen Aktivität der Maschine selbst erscheinen. Dies beginnt (nicht wahr?) ein wenig nach dem höllischen Schwefel zu riechen, da wir von Spielern als Menschen mindestens etwas wie irgendeine Affinität oder Mäßigung erwarten können, aber - um Gottes Willen! -nicht von einer Maschine …

Soweit sind wir, Gott sei Dank, noch nicht. Ich führe sicherlich nur eine von vielen Ursachen dafür an, warum die Investitionen in das Internet und ähnliche Netze unvergleichbar größer und allgemeiner sind als in die Arbeiten zur Erschaffung der künstlichen Intelligenz. Die Motivation hinter den unterschiedlichen Investitionen ist trivial offensichtlich: das Kapital hat sich - und zwar zurecht -von den Netzen viel versprochen und verspricht es sich weiterhin. Der synthetische Verstand stellt dagegen ein Geschenk dar, das weder besonders erwartet, noch leidenschaftlich erbeten wird. Wie ein Philosoph sagt, “stammt der diskursive Verstand vom Teufel”. Ich weiß nicht, ob das Kapital, vor allem das große, aus der Künstlichen Intelligenz irgendeinen Nutzen ziehen könnte, der selbstverständlich in Gewinn umsetzbar sein müsste. Die Motivation für den Bau eines Supercomputers war in der Erzählung “Golem XIV” ein globaler Ost-West-Konflikt im Stil des Kalten Krieges.

Golem sollte angeblich deswegen entstehen, damit die Vereinigten Staaten über einen “Superstrategen” verfügen. Mit dem Fall Sowjetrusslands ist diese Motivation erloschen und gegenwärtige Mittel, die für die Artificial Intelligence bestimmt sind, haben sich wieder als sehr bescheiden erwiesen, weil sich tatsächlich keiner der Großen dieser Welt einen allzu intelligenten Verstand wünscht. Vor allem die Politiker werden sich insgeheim oder offen ständig fürchten, dass so ein Verstand ihre Wählerschaft in den demokratisch regierten Staaten “verführen” könnte, während er in nicht demokratischen Staaten vielleicht dank seiner Intelligenz Diktaturen zersprengen könnte oder religiöse Fundamentalismen zerbröckeln würde. So ein Verstand kann sich als ein so furchtbarer und perfider Atheist erweisen, dass er die Position des Gottes annehmen (oder eher übernehmen) wollen wird. Was ich in den letzten Sätzen gesagt habe, stellt selbstverständlich nur eine Annahme dar, für die ich meinen Hals nicht wagen würde. Zum Schluss dieser anfänglich ziemlich unschuldigen Bemerkungen über die Spiele im Internet möchte ich aber das Wahrnehmungsfeld unserer Wissenschaftstheorie noch durch ein generalisierendes Urteil erweitern.

Die Erkenntnis- und Erfindungsbeschleunigung, die die Geschichte der Menschheit im Verlauf der letzten 18-20.000 Jahre begleitet, stellt eine unumstrittene Tatsache dar. Wir wurden jedoch in der Grundschule und in weiterführenden Schulen eigentlich über den Ablauf der Geschichte nach einer ganz anderen Ordnung unterrichtet. Es genügt, in einem beliebigen Handbuch der Weltgeschichte nachzuschauen, um sich davon zu überzeugen. Marx sprach zwar über die Bedeutung des Klassenkampfs, der durch die Änderung der Produktionsmittel bewirkt wird, aber schnell ist er in seine Utopie abgerutscht, die sich als sehr mörderisch erwiesen hatte. Eine weitere Tatsache ist, dass alles im Lauf der Geschichte als (instrumentales)    Erfindungs-    oder

Entdeckungserzeugnis immer komplizierter und schneller sein wird. Ich vermute, dass diese “Kompliziertheit”, die sich selbst antreibt - freilich nicht ohne zusätzliche Verstärkung durch die wachsende Zahl der Menschen, also auch der Wissenschaftler -, ein wesentliches Motiv der vereinheitlichenden Tendenzen vor allem in der Physik in Gestalt der Hoffnung auf eine “GUT” - Grand Unified THEORY - darstellt. Wir haben nämlich in der Wissenschaft bereits mehr als genug von fachlichen Verzweigungen und Abzweigungen.

Die romantische Losung: “Du sollst deine Kräfte nach den Zielen ausrichten, und nicht die Ziele nach den Kräften” garantiert keine universelle Wirksamkeit. Momentan sieht man nirgendwo deutliche Zeichen für eine Integration der Erkenntnisse der einzelnen Wissenschaften. Das Einzige, was man beobachten kann, ist eine Flucht aus den Wissenschaften, sogar dort, wo man sie fleißig lehrt und wo sie studiert werden. Tatsächlich kann man die eskapistischen Tendenzen aus der heutigen Welt allzu leicht verstehen. Was auch immer in den Internetspielen passiert, wird in der Regel nicht mit überraschenden Explosionen terroristischer Bomben zerfetzt. Ich weiß nicht, ob es Spiele gibt, die auf dem “Katastrophenprinzip” basieren, aber wenn es Spiele gibt, die auf verschiedenen orgiastischen “Leistungen” basieren, dann ist der Weg zu ersteren auch nicht mehr weit.

Die Abneigung gegenüber den Internetspielen scheint in diesem Essay sehr deutlich zu sein, so dass ich sie, wenn ein solcher Bedarf bestehen würde, genauer artikulieren müsste. Ich würde vor allem sagen, dass das reale Leben genügend viele Erscheinungen und Ereignisse bietet, so dass es sich nicht lohnt, in ein märchenhaftes “Nirgendwo”, zu flüchten. Zweitens ist keine Art der Flucht tugendhaft, und in der Regel enden sie durch Aufwachen in einer unsympathischen Wirklichkeit. Und letztendlich habe ich wahrscheinlich deswegen eine Abneigung, weil ich mich auch ohne Hilfe von Internetspielen und Computern in so viele verschiedene Welten “eindenken” konnte, wie es mir erforderlich zu sein schien. Das Schreiben von Werken, die literarische Fiktion beinhalten, beruht ja darauf. Die Internetspiele sind lediglich ihre Schatten.

Man kann übrigens einen Ersatz für sie finden, indem man einfach träumt. Es gibt allerdings auf diesem Weg ein Hindernis: Wir können nicht das träumen, was wir träumen möchten, aber das ist wahrscheinlich die einzige Überlegenheit der Netzspiele. Träume aber, die vom Wachzustand nicht unterscheidbar und den phantomatischen Programmen unterstellt sind, wunderbare, bedrohliche, unheimliche Träume, Träume ohne Staffage von “Prinzessinnen und Rittern”, also des aktuellen Billigzeugs, werden früher oder später auftreten, weil, wie ich schon mehrmals wiederholt habe, die Technologie eine unabhängige Variable unserer Zivilisation ist, deren in Schwung geratene Dynamik nichts außer einem globalen Untergang anhalten kann. Deren Bewegung ist von unseren Intentionen und Hoffnungen oder von unseren Anstrengungen im Grunde nicht abhängig. Diese Bewegung ist in der Natur der Welt selbst verwurzelt. Was wir hingegen aus den reifenden Früchten des Technologiebaumes am liebsten und am eifrigsten an Giften für uns selbst und für andere auspressen, stellt nicht mehr eine “Schuld” der Welt dar. Weder im Wachzustand, noch in Spielen werden die Menschen imstande sein, sich selbst freizusprechen.

Geschrieben im August 1996

Geist aus der Maschine

Stanislaw Lem 27.03.2000

Kann aus dem Internet eine bewusste Intelligenz entstehen?

Ich habe schon oft versichert, dass aus dem globalen Kommunikationsnetz mit seinen Computerknoten nie ein göttlicher Funke als Zeichen eines vernünftigen Bewusstseins entstehen wird. Aber dann bin ich plötzlich auf ein neues Konzept gestoßen, das gegenüber den heutigen Ansichten so häretisch ist, dass es sich - wie es mir scheint - lohnt, sich damit zu beschäftigen.

Wir wissen zwar immer mehr über die Funktion des Gehirns, obwohl dies keineswegs schon bedeutet, dass unsere Erkenntnis groß genug ist. Mit den “Mittlern”, die in den Blutkreislauf eingeführte harmlose Isotope der Elemente sein können, oder mit dem PET-Verfahren, mit sich die aktiven Areale des Gehirns mit Positronen erkennen lassen - die Einzelheiten seien hier beiseite gestellt, da ein detaillierte Beschreibung dieser Techniken zur “Einsicht in das Gehirn” uns vom eigentlichen Thema des Geistes in der Maschine ablenken würde -, kann man gegenwärtig wahrnehmen, was passiert, oder etwas genauer, welche Stellen an den Oberflächen und im Inneren der Hirnrinde aktiv sind, wenn Patienten körperliche (wie das Bewegen der Extremitäten) oder geistige Funktionen (wie Zählen oder die Bereitschaft zum Sprechen) ausführen.

Zuerst muss man allgemein festhalten, dass jede Tätigkeit, die vom Gehirn ausgelöst und gesteuert wird (andere Tätigkeiten gibt es in unserem Körper kaum, überdies sind auch sie, wie z.B. die immunologische Regulierung der Widerstandskraft gegen die Invasion von Krankheitserregern, vom Gehirn - oder eher vom Zentralen Nervensystem samt dem Mark - abhängig), buchstäblich aus der Kooperation der verschiedenen kortikalen und neuronalen Areale hervorgeht, wobei es in der Regel um eine Zusammenarbeit geht, die sehr kompliziert ist - sogar bei der Ausführung von einfachsten Tätigkeiten. Wenn wir zum Beispiel ein Billardspiel beobachten, sehen wir einen Hintergrund (das Innere des Zimmers oder des Saals, eine mit grünem Stoff bedeckte Fläche des Billardtisches) sowie, sagen wir, die zwei letzten Billardkugeln, von denen, je nach den Spielregeln, die weiße Kugel die andere rote stoßen oder in ein Loch in der Tischecke befördern soll. Die gesamte Situation nehmen wir als Ganzheit war. Alles, was ich zuvor beschrieben habe, erscheint uns, zusammen mit den beispielsweise fragmentarisch wahrgenommenen Körpern der Spieler, untrennbar miteinander verbunden zu sein, da wir nicht den Eindruck haben, dass unsere Beobachtung ein im Gehirn ausgeführtes und dynamisch sich ständig verändertes Puzzlespiel darstellt. In Wirklichkeit geschieht aber eine Vielfalt von Gehirnaktivitäten, wie dies manche Ausfallerscheinungen zeigen, die z.B. verursachen, dass wir Farben nicht mehr sehen können und wir deshalb alles nur Schwarzweiß wie auf einem alten Film wahrnehmen.

Es hat sich herausgestellt, dass die Farbenwahrnehmung von einem optischen Zentrum in einer Großhirnhemisphäre gesteuert wird, dass die stereoskopische (dreidimensionale) Wahrnehmung eine ziemlich komplizierte Zusammenarbeit der Seh-und der umliegenden Zentren der beiden Gehirnhemisphären erfordert, dass die Impulse “unterwegs” auf dem neuronalen Weg von den

Netzhäuten beider Augen über “zentraler” gelegenen Stellen zu einer “Rangierkreuzung” (chiasma opticum) sich bewegen, wodurch sogar der einfachste Sehakt einen zusammengesetzten Charakter besitzt. Wir wissen aber aus Erfahrung, dass man bewusst (das ist die Norm) sehen kann, aber dass man auch etwas wahrnehmen kann, ohne uns dessen bewusst zu werden. Auch mit der Wahrnehmung der Bewegungen der Billardkugeln sind unterschiedliche Neuronengruppen beschäftigt. Alles baut sich also aufeinander auf, und das so gekonnt, dass wir keine Ahnung hätten, was in unserem Kopf vor sich geht, ohne davon unabhängige Experimente durchzuführen.

Unlängst konnte man feststellen, dass Personen, die mehrere Sprachen beherrschen (oder Dialekte derselben Sprache), Systeme “verwenden”, die ich “Neuronenhaufen” - in Analogie mit den Ameisenhaufen, da immer Tausende von Neuronen miteinander kooperieren - nenne und die in ganz verschiedenen Gehirnbereichen platziert sind. Darüber hinaus weiß man, dass über die Charakterstruktur hauptsächlich die Innenflächen der Stirnlappen entscheiden und dass die Stirnlappen selbst mit der “Erzeugung” von Zielen und Wünschen beschäftigt sind. Am Rande füge ich hinzu, dass man vor kurzem bei Schimpansen, die weder Sprache benutzen noch sie erlernen können, im linken temporalen Bereich der Gehirnrinde Neuronenverdichtungen entdeckt hat, wo sich ca. fünf Millionen Jahren später beim Menschen ein Sprachzentrum ausgebildet hat: das Brocasche Zentrum. Wie und warum dies damals geschehen und warum es bei den Schimpansen auf dem Entwicklungsweg stehen geblieben ist, weiß man allerdings nicht.

Ich erlaube mir jetzt ein Zitat aus meiner 1962-63 geschriebenen “Summa der Technologiae” anzuführen: “Eine elektrische denkende Maschine kann man aus einzelnen Bausteinen zusammensetzen, die gewissermaßen den Hirnwindungen entsprechen. Jetzt trennen wir die Blöcke und verteilen sie auf der ganzen Erde, so dass sich der erste in Moskau, der zweite in Paris, der dritte in Melbourne, der vierte in Yokohama usw. befindet. Voneinander getrennt sind diese Blöcke “psychisch tot”, aber verbunden (z.B. mittels Telefonkabel) würden sie zu einer integralen “Persönlichkeit” oder zu einem “denkenden Homöostat” werden. Das Bewusstsein einer solchen Maschine befindet sich natürlich weder in Moskau, noch in Paris oder in Yokohama, jedoch in einem potentiellen Sinn in jeder von diesen Städte und in keiner davon. Es wäre nämlich schwer, über es zu sagen, dass es sich wie die Weichsel von der Tatra bis zum Ostsee ausstreckt. Übrigens zeigt das menschliche Gehirn ein ähnliches, wenn auch nicht so extremes Problem, weil die Blutgefäße, die Proteinmoleküle und das Bindgewebe (Gliagewebe) sich im Gehirninneren befinden, aber nicht im Inneren des Bewusstseins, und man daher nicht sagen kann, dass sich das Bewusstsein unter der Kalotte des Schädels befindet oder dass es eher tiefer, über den Ohren, an beiden Seiten des Kopfes liegt. Es ist über den gesamten Homöostaten, über sein Funktionsnetz “verteilt”. Es lässt sich in dieser Materie nichts urteilen, falls wir die Vernunft mit Umsicht verbinden möchten.”

Heute lässt sich natürlich dem, was ich früher geschrieben habe, noch etwas hinzufügen. Das Bewusstsein ist, wie man denken muss, keine “Sache”, da es einen Prozess darstellt, der durch die Zusammenarbeit von anderen unbewussten Prozesse entsteht. Unser Bewusstsein, das heißt unser Nichtwissen, auf welchen “mitwirkenden und mitschaffenden Stützen” unser Bewusstsein gründet, stellt einen Effekt der Tätigkeit des Evolutionsprozesses dar, der aus unserem Erkenntnisvermögen all das in den körperlichen Funktionen beseitigte, was nicht effektiv dem Überleben (und natürlich dem Leben) diente. Wir verdauen, obwohl wir, wenn wir ungebildet sind, nicht wissen, wie wir dies machen. Man könnte eventuell sagen, dass das Bewusstsein wie ein Wind ist, von dem man zwar erkennen kann, dass er weht, es aber keinen Sinn macht, danach zu fragen, wo der Wind ist, wenn er nicht weht. Das Bewusstsein kann man also genauso wenig wie den Wind in ein Becherglas geben. Eine Funktion mit der ihr entsprechenden Dynamik und Komplexität stellt einen Prozess und kein Objekt dar. Damit können wir endlich zur eigentlichen Sache übergehen.

Das Gehirn besteht aus ca. 12 Milliarden Neuronen, von denen jedes Hunderte von Verbindungen mit anderen besitzt. So also ist die “Gesamtheit” des Gehirns ein System aus Billionen von Neuronenverbindungen, die übrigens funktionell unterschiedlich ausgerichtet sind, wobei die Hauptunterscheidung die zwischen motorischen und sensorischen Funktionen ist. Die Mehrheit der Neuronen beschäftigt sich nicht mit “Denken”, sondern mit körperlichen Prozessen. Wenn wir beispielsweise von einem Stuhl aufstehen wollen, lassen ungefähr 200 Millisekunden zuvor im Gehirn entsprechende “Befehle” entdecken. Wir können unter anderem dadurch aufstehen, dass eine gleichzeitige Zusammenarbeit von ca. 220 Muskelgruppen im Körper erfolgt, wobei es viele Substanzen, wie z.B.

Alkohol, gibt, die die Koordination dieser Funktionen beeinträchtigen.

Um aus den weltweiten Computer-, Server- und Browser-Verbindungen auf der globalen Ebene einen Funken des Bewusstseins zu schlagen, müsste man zuerst über das Material in ausreichender Menge verfügen: eine Milliarde von Computern auf der Welt ist noch viel zu wenig! Zweitens müsste man detailliert erkennen, wie im Gehirn die Verbindungen innerhalb der “Neuronengruppen” strukturiert sind und wie lange die Strecken, also die impulsleitenden “Fasern” sind, mit denen die einzelnen “Neuronengruppen” miteinander verbunden werden. Drittens müsste es irgendwelche “auf die Welt gerichteten” Äquivalente der Sinnesorgane zum Hören, Sehen etc. geben. Und viertens wäre eine heute völlig unbekannte “Partitur” dieser “Bewusstseinssymphonie” nötig, die wir spielen möchten.

Zunächst aber müssten wir qualitativ und quantitativ die Elemente des globalen Systems mit der Rechenkraft ausstatten, die ein natürliches Gehirn besitzt. Dann müssten, und das könnte sich als teuflisch schwierig erweisen, alle diejenigen, die über Computer, Server usw. verfügen, unter dem Kommando jener Partitur stehen. Es wird kein Boot auslaufen, falls jeder Ruderer auf eigene Hand in die Richtung rudern wird, in die er gerade will. Die hier beschriebene Konzeption zeichnet sich nicht nur durch eine geringe Wahrscheinlichkeit der Realisierung aus, auch die Gewinne, die man vielleicht aus einer gelungenen globalen Integration erzielen könnte, wären sicherlich gering, die Erkenntnisgewinne aber wären riesig …

Das Beschriebene stellt natürlich eine schreckliche Vereinfachung des Projekts dar, ein System zu konstruieren, das die Funktion des Bewusstseins aufweisen würde. Zuerst müsste man die globalen Netze, die grundsätzlich Information auf einer Ebene übertragen (genauer: auf der Fläche der Erdkugel) durch Schnittstellen so umgestalten, dass sie die mehrdimensionale Stratifikation des natürlichen Gehirns nachahmen können. Darüber hinaus müsste man dem entsprechend ausgewählten “Neuronenhaufen” die “Startinformation” liefern, die auch in den Gehirnganglien eines Neugeborenen vorliegt, weil auch dessen, bereits im Mutterschoß entwickeltes Gehirn keine weiße, leere Karte ist, sondern eingebaute Zentren hat, die etwa über die Kapazität zur Sprachbeherrschung der Sprache verfügen. Ferner wäre die Verbindung mit Sensoren wichtig, da auch ein “natürliches” Gehirn, das vollständig von den Interzeptoren und von Effektoren abgeschnitten, das heißt sensorisch und motorisch depraviert wäre, nicht funktionieren und in den Zustand einer komaähnlichen Passivität verfallen würde. Folglich müsste man in die “Neuronenhaufen” Informationen verschiedener Art “einspielen”, beispielsweise die Kapazität, sprechen oder sehen zu können, und entsprechend die lokalen Subsysteme so verbinden, dass die Ganzheit sich funktionell als homomorph mit dem Gehirn erweist. Sie muss natürlich nicht unbedingt identisch mit dem menschlichen Gehirn sein. Bei der Entwicklung wäre eher gewisse Bescheidenheit angesagt. Homomorphismus meint ein System von informatischen Verbindungen, das typisch für höhere Säugetiere - hominoidea - ist, die eine Obergruppe bilden, die sowohl Androide wie auch Hominide umschließt, deren letzte Gattung erst der Mensch ist.

Ich möchte die weiteren erforderlichen Bedingungen nicht noch vermehren. Sollte so ein Experiment überhaupt gelingen, würde dies gar nicht bedeuten, dass eine Maschine oder ein Komplex von Aggregaten mit der Eigenschaft, “wirklich bewusst zu denken”, entstanden ist. Ein praktischer Nutzen wäre unbedeutend, sicherlich nicht größer, als zum Beispiel die Entdeckung von Bakterien auf dem Mars, also eines Lebens, das unabhängig vom irdischen Leben entstanden ist. Das Ergebnis eines solchen weltweiten Experiments würde allerdings einen ersten Schritt darstellen, durch den sich ein langer Zeitraum der Evolution von künstlichen, funktionell gehirnähnlichen Systemen so ankündigen würde, wie der erste Flug mit einem Heißluftballon der Montgolfier der Wegbereiter für das Emporsteigen des Menschen in die Luft mit riesigen Düsenflugzeugen gewesen ist. Übrigens kann der Weg zum Bewusstsein wahrscheinlich auf eine weniger anstrengende Weise beginnen. Ich wollte hier nur eine Möglichkeit vorschlagen, mit der man das ausnutzt, wofür die Computertechnologie möglicherweise schon dienen könnte.

Geschrieben im Januar 1998

Der Weg ohne Umkehr

Stanislaw Lem 19.03.2001

Sollte die Hölle existieren, so wird sie computerisiert sein

Lange habe ich mich gegen die Computerisierung gewehrt. Als ich schon einen Computer hatte, musste ich mich mir noch einen Drucker besorgen. In den Computer musste ein Modem eingebaut werden. Das Fax ist am Rande gewissermaßen notgedrungen und beiläufig entstanden. Das ist genau der Weg, auf dem es keine Umkehr gibt. Anfänge sind harmlos und scheinen uns nur neuen Komfort zu bringen. Die Fortsetzung stellt zwar keinen Einzug in die Hölle dar, aber sie ist, sobald die Hölle existiert, mit Sicherheit computerisiert.

Der neueste Computer altert so schnell, dass er nach ein paar Jahren nur noch Schrott ist. Generationen von neuen Computern schieben die zuvor gebauten und mit Lob erworbenen in einen ungewissen Abgrund: Amerikaner, die in die Statistik verliebt sind, behaupten, dass das Computerleben kurz sei. Sein Leben dauert zwischen drei und fünf Jahre lang. Die Population dieser Geräte, über die vor einem halben Jahrhundert niemand auch nur nachgedacht hatte, zählt heute Hunderte von Millionen weltweit.

Natürlich fragt man sich, was mit den Millionen von veralteten Computern geschieht? Sterben sie? Haben sie eigene Friedhöfe? Oder enden sie eher auf den Müllkippen? Wo kann man ihre Leichen finden? Lager für verstorbene Computer als Rumpelkammer gibt es wohl kaum. Ich muss zugeben, dass in meinem Keller ein fast wie eine Mumie eingepackter Apple-Computer aus dem Jahre 1984 steht, den ich für meinen Sohn gekauft hatte, als er in Wien die American International School besuchte. Zu seiner Zeit war er leistungsfähig, aber ich traue mich nicht zu gestehen, was für eine Leistung und Speicherkapazität er hatte. Ihm ist es wenigstens geglückt: Niemand hat ihn irgendwohin weggeworfen. Es sind zwar nicht viele Jahre vergangen, aber zur gegenwärtigen Generation ganz durchschnittlicher Computer verhält er sich ungefähr so, wie ein Morseapparat zu Satellitensendern.

Ich möchte jedoch die Frage wiederholen, was mit den durch neuere Generationen verdrängten Computern geschieht. Ich erfahre aus der amerikanischen Presse, dass sie so gestapelt werden, wie das Schicksal es will: in den Lagern, Kellern, auf den Dachböden … Aber sie werden nicht kannibalisiert. Sie sind nämlich veraltet. Das Herz des Computers ist die Festplatte, seine Durchblutung oder vielleicht eher die Innervation stellen die Prozessoren dar. Die Gleichsetzung dieser Zentren mit dem menschlichen oder tierischen Gehirn ist eine erhebliche Übertreibung.

Hier macht mein Gedanke plötzlich und sogar für mich unerwartet eine Wendung. Jeder weiß, dass eine mutwillige Vergiftung oder Ansteckung eines denkenden Systems, wie es das Gehirn ist, strafbar ist. Man kann dagegen einen Computer anstecken, und dies kann heimtückisch mit Viren getan werden, ohne sich vor dem Gericht oder gar vor dem Gefängnis fürchten zu müssen, es sei denn, dass es sich um eine Tat handelt, die als Vergehen oder Verstoß gegen bedeutsame öffentliche Werte gilt, wie das für jede Bank und jeden Generalstab an ihren befestigten Sitzen zutrifft. Die Hacker zu verfolgen, die imstande sind, die Computerspeicher durch gezielte Handlungen von einer Erdhemisphäre aus auf der anderen zu beschädigen, beschäftigt nur ausnahmsweise die Sonder-Ermittlungsdienste. Gegenwärtig verbreitet und entwickelt sich die Verschlüsselungskunst erheblich, also die Kunst der Unleserlichmachung der von einem zu jemandem anderen versendeten Informationen für Außenstehende, nicht nur als ein Zweig der Kryptographie, sondern eher als daraus gewachsener wahrhaftiger Baobab. Während die einen sich bemühen, Antivirenfilter und -sperren zu programmieren, versuchen andere, jegliche Virenverbreiter vor allem auf den Routen aufzuspüren, über die finanziell wichtige Informationen wandern.

Wenn man sich die globale Gesamtheit dieses Kampfes anschaut, stellt sich heraus, dass wir es mit einem Prozess zu tun haben, der der Macht und dem Willen seiner ursprünglichen Schöpfer entgleitet. Ihre erste Absicht war, ein Kommunikationsnetz zu schaffen, das keinerlei Zentrum besitzt, damit ein feindlicher, womöglich nuklearer Angriff eine solch organisierte Kommunikationsverbindung nicht im ganzen lahm legen kann. Die Denkweise, aus der diese dem Internet und anderen Netzen anfänglich eigene Dezentralisierung entstand, verdanken wir der Strategie des Kalten Krieges. Ich bin davon überzeugt, keiner und auch keiner der Entwickler dieses Projekts ist auf den Gedanken gekommen, dass sie unbewusst die Rolle der Zauberlehrlinge spielen, welche solche Mächte erwecken, die nicht mehr beherrscht werden können.

Die Netze sind allen über die Köpfe gewachsen. In den Netzen haben sich nicht irgendwelche Inhalte ausgebreitet, die für militärische und politische Probleme von Bedeutung sind, sondern sexuelle und perverse. Mit Sicherheit hielt niemand in der Geburtsepoche von ENIAC die pädophile Pandemie

für möglich, die man wie einen ständig abgewürgten und erneut ausbrechenden Brand weder zertreten noch löschen kann. Der springende Punkt ist, dass eine effektive und tatsächliche Zensur aller weltweiten Inhalte bedeuten würde, das Netz zu zerstören. Es ist mittlerweile in militärische, wirtschaftliche, politische und moralische Sachgebiete eingedrungen und mit Millionen von privaten Angelegenheiten verbunden. Eine erfolgreiche Vertreibung der pornographischen Ikonographie aus dem Netz, die sich auf all das konzentriert, was sogar die    permissivste Kultur

tabuisiert, stellt, ehrlich gesagt, nur einen unerfüllbaren Traum dar.

Die menschlichen Herzkranzgefäße verfügen über ein Netz zusätzlicher, im Laufe der Zeit nachlassender Verbindungen, was durch die unvermeidliche Alterung der Gefäßwände verursacht    wird, wodurch es

letztendlich zu Herzinfarkten kommt. Infarkte im elektronischen Netz können auch vorkommen, sie geschehen aber einfach infolge des informationstechnologischen    Staus. Deswegen

brauchen die Netze weitere, noch nicht durch den Nachrichtenüberschuss verstopfte Verbindungen. Auf diese Weise entstehen über den alten neuere Ebenen des Netzes. So kommt etwas in der Art der Spezialisierung zum Vorschein, wenn Banken mit Banken, Universitäten mit Universitäten, Fernsehsender mit anderen Stationen usw. kommunizieren. Gleichzeitig müssen die Adressabkürzungen der einzelnen Internauten immer länger werden. Erschreckend,    wie lang sich die

Adressen erweisen werden, wenn das Netz die allseitige Kommunikation von Milliarden von Absendern und Empfängern leisten muss.

Zur Zeit sind die Wachstums-, Kampf- und Wettbewerbsprozesse im vollen Gange. Ich wage nicht, vorherzusagen, ob das Netz in 100 Jahren nicht unser Hauptfeind und vielleicht unser Killer, wie bereits die weltweite Motorisierung, sein wird. Man weiß gut, dass die Menschen mit dem einverstanden sind, wozu sie Lust haben oder was sie als Notwendigkeit betrachten. Mehr Amerikaner starben in den USA bei Verkehrsunfällen als während des Vietnamkrieges. Der Soldatentod erweckte jedoch Verzweiflung und Abscheu, dagegen werden die Opfer von Verkehrsunfällen von Niemandem außer den Familien beweint. Dieser Vergleich scheint vielleicht pathetisch, ist jedoch nichts anderes als eine Zusammenfassung von Fakten, die die Welt in Bewegung gesetzt und beschleunigt haben und die mit uns in eine ungewisse Richtung dahineilen. Selbstverständlich ist es am einfachsten, die Angelegenheit mit einem neuen Namen zu verdecken: das einundzwanzigste Jahrhundert wird ein Jahrhundert der Informatik sein. Diese Bezeichnung erklärt jedoch nichts. Wir wissen nicht, ob sich der elektronische Moloch als ein mit der Technologie gebauter Baum der Erkenntnis erweisen wird, von dem uns die Bibel auf eine technologielose Weise erzählte.