Das Internet und die Medizin

Stanislaw Lem 21.04.2001

Können mehr Informationen die Intuition und die eigene Wahrnehmung ersetzen?

Der Arztberuf in Person eines sogenannten Doktors der Allgemeinmedizin umfasste vor ungefähr einhundert Jahren in den damals führenden Ländern oder den wohlhabenden Staaten den gesamten Menschen. Die Aufteilung in Fachgebiete begann damals erst. Die Aufteilung in Therapeuten, die nach dem Messer fassen (Chirurgen), und diejenigen, die es meiden, stellte eine der ersten derartigen Abgrenzungen dar. Langsam kamen solche Fachgebiete wie Geburtshilfe, Psychiatrie, Pädiatrie, Neurologie auf; und hinter ihnen zog sich wie ein noch ziemlich bescheidener vervielfachter Kometenschweif der    Bereich    der

Nebenforschungen. Um die Mitte unseres Jahrhunderts begann sich die Anzahl ärztlicher Fachgebiete zu vergrößern.

Nachdem der damalige Hausarzt, ein sogenannter Allroundman, oft ein Freund des Hauses, alle Familienmitglieder von den Babys an bis zu den Urgroßeltern betreute, folgte eine Periode, die man kollektive Spezialisierung nennen könnte. Sie bestand darin, dass man in den Fällen, die klar nach gutem Fachwissen verlangten, über welches der Allroundman möglicherweise nicht verfügte, eine Beratung beim Krankenbett arrangierte. Das Ergebnis fiel unterschiedlich aus. Manchmal wetteiferte ein Chirurg, der sich mit einem scharfen Eingriff in den kranken Organismus einschalten wollte, mit einem präventiv handelnden Internisten.

Die Erweiterung der zusätzlichen Untersuchungen hat die immer üppiger technologisch ausgestatteten Labors geschaffen.

Heutzutage lässt sich der Arzt nicht mehr in das scherzhafte Schema der Militärmedizin einordnen, nach dem man sprichwörtlich Abführmittel, kalte oder heiße Umschläge (meistens aus Graupen) gab. Oder die Diagnose lautete nach dem bündigsten Spruch: bis zum vierzigsten Lebensjahr dementia praecox, und danach dementia senilis. Nach dem Durchbruch der Elektrokardiographie erfolgte nach der ersten Dichotomie    (Elektrokardiographie    -

Enzephalographie) eine starke Vermehrung ihrer Anwendungsmöglichkeiten.    Hinzu    kamen

mikroskopische also histologische und elektrophysiologische Untersuchungen sowie die Differenzialdiagnostik, die zu einer so stark ausgebauten Domäne wurden, so dass es bereits unmöglich schien, das gelernte und praktizierte medizinische Wissen in einem Arztkopf zu fassen.

Wie dies gewöhnlich mit dem Fortschritt ist, hat er eine helle und eine dunklere Seite. Kaum eine Krankheitseinheit kann mehr ohne eine Auswahl von Zusatzuntersuchungen auskommen. Einerseits wird der Arzt dadurch unterstützt, andererseits beginnt er, seine fachliche Aufmerksamkeit auf ein isoliertes Körpersystem zu konzentrieren. Deswegen kommt es vor, dass die Behandlung eines Körperteils die organische Gesamtheit, welche der menschliche Organismus darstellt, verdeckt oder aus dem ärztlichen Sichtfeld entfernt. Nicht immer ergibt sich daraus für den Patienten nur Gutes.

Wie man weiß, ist das Internet nicht nur ein vervielfältigtes und erweitertes Kommunikationsmittel, sondern gewissermaßen ein informationstechnologischer Sauger, dessen unzählige Verzweigungen sich in verschiedenen Datenbanken befinden können. In diesem Sinne ist die Zerteilung des Organismuszustandes für einen Mediziner möglich, der bereit ist, einer statistisch interpretierten Riesenmenge routinemäßiger Zusatzuntersuchungen zu trauen, und vielleicht wird sie eine Konkurrenz für den Arzt schaffen. Wie amerikanische Untersuchungen bewiesen haben, kann eine Diagnose, die mittels einer vielseitigen Prüfung der Daten über den Patienten gestellt wird, die im Internet gespeichert sind, bereits mit der Diagnose und Therapieindikation von Medizinprofessoren konkurrieren.

Das Internet kann demnach, wenn es richtig angewandt und gebraucht wird, besonders einen angehenden Arzt unterstützen. Es kann aber auch irreführen, weil die Eigenschaft, mit der sich die Medizin in der Blütezeit der ärztlichen Individualitäten rühmte, nämlich die Intuition, die ihre Erkennungsmacht bei einem direkten Kontakt mit dem Kranken offenbarte und die ein fast unübertragbares Wissen und Können darstellt, durch das Netz nicht transferiert werden kann. Jene Unmittelbarkeit des Bildes eines Kranken mit seiner Persönlichkeit, seinem Charakter, mit einer Vielzahl von schwer beschreibbaren Einzelheiten der Krankheitssituation, die einem wenig erfahrenen Arzt einfach entschlüpfen können, werden über eine längere Zeit und möglicherweise auch immer, für die InternetDiagnostik und -Therapie unerreichbar bleiben.

Wenn es um eine gute Analyse der diagnostischen Untersuchungen, z.B. der Elektrokardiogramme geht, können die Datenbanken, die übers Internet zugänglich sind, einem schlecht auf diesem Gebiet orientierten Spezialisten behilflich sein. Es kommt jedoch auch vor, dass die Feststellungen, die sich nur auf elektrokardiographische Daten stützen, keine perfekte Aufklärungskraft haben. Heute kommen hier solche Hilfsmittel hinzu wie Tomographie, Ultrasonographie, 24-Stunden-Holter-Aufzeichnungen, PositronenemissionsTomographie und schließlich die Molekularbiologie, die neue Untersuchungstypen für physiologische und pathologische Phänomene anwendet. Obwohl wir es dank der neuesten Technologien sowohl mit anamnestischen wie auch mit diagnostischen Einzelheiten zu tun haben, die zusätzliche Informationen eröffnen, sollten wir uns bewusst werden, dass ein Fortschritt im Gesundheitswesen stattfindet, der u.a. in der Tendenz sichtbar ist, die Medizin als Kunst zu liquidieren und an diese Stelle die Ausführlichkeit der schon fast algorithmischen Analysen einzuführen.

Das ganze Bild ist als ein Teil des Prozesses anzuerkennen, der in hohem Maße den Kampf mit der Krankheit vervollkommnet und die Lebensdauer erhöht, aber gleichzeitig scheint der kranke Mensch dadurch in eine immer größere Zahl nicht immer und nicht unbedingt kompatibler Sachverhalte zerlegt zu werden, weil dort, wo wir sehr viele Ergebnisse haben, die nur statistisch erfassbare Faktoren berücksichtigen, diese Ergebnisse miteinander kollidieren können. Aus diesem Grund ist es nicht einfach zu beurteilen, ob die Internetnachweise und -hilfen nur Segen oder auch labyrinthartige Komplikationen für die Medizin darstellen bzw. darstellen werden. Der gleiche Prozess hat übrigens die Apotheker - als Meister der Komposition von heilsamen chemischen Substanzen -in Verkäufer von fast immer fertigen Präparaten umgewandelt.

Charakteristischer Indikator der Beschleunigung im allgemeinärztlichen Bereich kann die Tatsache sein, dass die erst vor einigen Jahren herausgegebenen pharmakologischen Kompendien gleichzeitig durch Ströme neuartiger Arzneimittel ergänzt werden, die von großen Pharmakonzernen auf den Markt gebracht werden, während gleichzeitig jedes Jahr aus neueren Ausgaben dieser Kompendien eine Reihe von Präparaten verschwindet, weil sie gefährliche Nebenwirkungen haben oder weil sie aus der Mode gekommen sind, da auch die Medizin der Wechselhaftigkeit der Mode unterstellt ist.

Unlängst entdeckten Amerikaner mit der bei ihnen beliebten Statistik, dass zwei Millionen Personen, die mit von den Ärzten vorgeschriebenen Arzneimitteln behandelt wurden, aufgrund der Nebenwirkungen dieser Arzneimittel ernsthaft erkrankt und sogar 106.000 der behandelten Patienten infolge dieser Nebeneffekte gestorben sind! Die Globalisierung der Kommunikationsnetze und die Vervielfältigung der sich inhaltlich verändernden Datenbanken können solchen bedrückenden Phänomenen nicht entgegenwirken, weil diese ganze Domäne von Statistik geleitet wird. Metaphorisch gesagt, könnte man das Lenins Spruch “wer wen” in den Bereich der Gesundheitspflege übertragen, indem man die Frage stellt, ob das sich medizinisch erweiternde Internet die Ärzte nur unterstützen oder aber aus diesem Beruf, der traditionell immer von Menschen ausgeübt wurde, verdrängen wird.

Das Internet stellt ein Kind der Technologie, in diesem Fall der Biotechnologie dar, das zu einem Riesen heranwächst. Die Ambivalenz jeder Technologie, die zusammen mit neuem Wohl auch neues Übel bringt, ist jedoch unbestritten. Spezialisten vermuten, dass wir Träger von Genen sind, deren schädliche Auswirkung sich erst im fortgeschrittenen Alter offenbaren kann; und deswegen kommen diese Gene, die zumindest zum Teil Effekte von Mutationen bergen und der natürlichen Selektion nicht mehr unterworfen sind, weil ihre Wirkung erst nach Fruchtbarkeit einsetzt, im Zuge der Verlängerung des individuellen Lebens als Verursacher von uns noch nicht bekannten, also auch nicht behandelbaren Unpässlichkeiten und Unwohlgefühle zum Vorschein. Das Internet, das von uns derzeit noch gesteuert und sich in Zukunft möglicherweise selbst programmieren wird, wird sich sicherlich mit neuen Sorgen und Beschwerden des menschlichen Daseins befassen müssen.

In Zusammenfassung und Ergänzung all dessen, was bisher gesagt worden ist, denke ich, wobei ich mich nicht auf gesichertes Wissen, sondern auf subjektive Vermutung stütze, dass das Internet als System der Kommunikation mit den Datenbanken, das vor allem statistisch wertvoll ist, sich leichter an die Bedürfnisse der Diagnose für die Systeme anpassen lässt, die genau beschrieben werden können, also der mechanischen Geräte wie Flugzeuge, Autos oder Computer, als für den Bereich,    mit dem sich die    Medizin seit

Jahrhunderten    beschäftigt,    d.h.    mit den

Unpässlichkeiten des menschlichen Körpers.

Es scheint mir eher unwahrscheinlich, dass diese Gesamtheit des Wissens, das sich der durch alle zusätzlichen Untersuchungen gestützte Arzt aneignen kann, durch    mechanische    und    algorithmische

Prozeduren aus den Netzressourcen ersetzt werden könnte. Das trifft vor allem auf seltene und extreme Fälle zu, weil am Einfachsten das erkannt wird, was im Hinblick auf die Häufigkeit des Vorkommens am Charakteristischsten ist. Seltenere Fälle werden aus der Ferne nicht erkannt. Mit einem Wort: Man kann vom Internet eine    diagnostische    oder    therapeutische

Fehlerlosigkeit kaum erwarten.

Die Grenze der Entwicklung würde ein Zustand darstellen, bei dem die von uns geschaffenen technologischen Mittel und Leistungen eine fast selbständige Umwelt bilden werden, die bei der Behandlung von Deviationen und Erkrankungen hilfreicher als der menschliche Geist sein wird. Bisher weist nichts darauf hin, dass die globale Internetisierung, also die Vernetzung der Ressourcen des gesammelten medizinischen Wissens die unter dem Hippokrates-Eid arbeitenden Menschen übertrumpfen wird, weil in der Heilkunde letztendlich emotionale und auch ethische Faktoren eine erhebliche Rolle spielen. Sogar die vollkommensten Technologien der Kommunikation werden kaum imstande sein, diese zu ersetzen.

Emotional Quotient

Stanislaw Lem 24.05.2000

Warum Gefühle für die Künstliche Intelligenz bestenfalls noch weit entfernt sind

Die in Sciencefictionfilmen normalerweise auftretenden Roboter können zwar sprechen, aber in der Regel wird ihre Stimme nicht wie die unsere affektiv moduliert. Im allgemeinen sprechen sie mit einer “hölzernen Stimme” - mit Ausnahme von “Androiden”, also sehr menschenähnlichen “Pseudorobotern”, wie Mr. Spock in der Serie Star Trek.

Diese affektlos ausgesprochenen Worte stellen, dem Anschein zum Trotz, keinen “Trick” des Regisseurs dar, der den Zuschauern die Unterscheidung zwischen dem Menschen und den ihn nachahmenden Golemmaschinen erleichtern soll. Es geht darum, dass wir außer dem intellektuell artikulierten Leben ein emotional bedingtes Leben haben. Und gerade in den letzten Jahren begann dieses “emotionale Leben” allen denjenigen ihre Arbeit zusätzlich zu erschweren, die eine “künstliche Intelligenz” konstruieren möchten. In bisher praktizierten Testversuchen - die den “Turing-Test” in seiner klassischen Gestalt auf Probe stellen sollten, d.h. in der ein Mensch, der mit einem anderen sich unterhält, feststellen soll, ob er mit einem Menschen oder mit einer “nichtlebendigen Imitation” (sagen wir, um die Sache zu vereinfachen, mit einem Computer) spricht -, lässt sich die ganze Konversation auf das Schreiben oder eher auf das Tippen von Fragen oder Antworten auf die Tastatur eines Geräts zurückführen. Der Computer ist dabei mit dem

Rechner des anderen verbunden ist, der den Gesprächspartner gleichfalls nicht sehen kann, weil auch er seine Texte auf der Tastatur tippt. Diese typische Art von Versuchen erdrücken im Keim die Frage, ob in dem geführten Gespräch auch Emotionen zur Geltung kommen. Man könnte allerdings im Text, der vollständig von der Anwesenheit des lebendigen Gesprächspartners abgeschnitten ist, durch Modulationen das Zufließen oder Abfließen von Emotionen imitieren, die gar nicht wirklich vorhanden sind.

Dieser Aspekt wurde jedenfalls immer unangenehmer für die praktischen und theoretischen Befürworter der “Artificial Intelligence”. Dabei geht es zuerst darum, was solche Affekte, Emotionen oder Gefühle sind, die wir als positive, negative oder ambivalente Gemütszustände empfinden. Sie treten nicht nur im Wachzustand auf, da es in der Regel auch im Schlaf emotionale Vorgänge gibt. Ich werde aber auf die Traumsphäre hier nicht eingehen, weil es im Traum oft passiert, dass die darin erlebten Emotionen der “normalen” Zuordnung zu den Ereignissen, die im Wachzustand stattgefunden hätten, nicht entsprechen. Gleichwohl hat dies auch eine gewisse Bedeutung für das Problem der Möglichkeit der Simulation von Emotionen, weil manchmal - im Traum oder beispielsweise nach Einnahme einer Droge -Wahrnehmungen mit Affekten auftreten, die für den “normalen Wachzustand” nicht “normal” sind. Das bedeutet, dass sich die Emotionen von den erlebten “Geschichten” lösen können und das Leben, das sich aus Wahrnehmungen zusammensetzt, dass etwas so und so ist, sowie das Leben, das auf dem Strom der emotionalen Zustände gründet, auseinander treten.

Im Normalfall sind beide miteinander verknüpft und sogar stark miteinander verbunden. Es ist ganz normal, sich auf ein Treffen mit einem lange nicht gesehenen Freund zu freuen. Es ist ganz normal, bei einer Nachricht über ein Unglück oder über den Tod eines Bekannten Trauer zu empfinden. Es ist ganz normal, laut aufzulachen, wenn wir sehen, dass sich jemand auf eine Pfanne voll Rühreier mit Tomaten setzt. Und es ist ganz normal, Angst zu empfinden, die in Panik übergeht, wenn das Bremspedal im Auto, mit dem wir gerade fahren, statt das Fahrzeug zu bremsen, ohne Widerstand versinkt, und unser Vehikel gegen ein anderes oder in das Meer rast. Abgesehen davon wissen wir über die Besonderheit der Zeichen, die emotionale Zustände charakterisieren, nicht viel. Wir wissen beispielsweise, dass der Mensch in Gesellschaft viel leichter lacht, wenn andere auch lachen. Deswegen werden in Filmen für “Trottelzuschauer”, die nicht richtig begreifen, wann man lachen soll und wann nicht, zur “richtigen” Zeit während der auf dem Bildschirm dargestellten Handlung Lachausbrüche wiedergegeben. (Allerdings wird nicht jeder dieser “Lachanweisungen” auch befolgt: ich z.B. meide sie im Fernsehen, da ich mich lieber nicht in den Kreis der Personen einschließen lasse, die nicht wissen, ob und wann man lachen soll. Aber das war nur eine Abschweifung vom Thema.)

Aus Untersuchungen, die in letzter Zeit durchgeführt wurden, geht hervor, dass Menschen Gefühle, die vor allem durch Mimik, aber auch durch Körpersprache ausgedrückt werden, oft nur vortäuschen. Das kann sich aus dem Savoir-vivre ergeben. So bemühen wir uns, keinen Ärger zu zeigen, wenn wir die furchtbar langweilige alte Tante sehen, die wir gerade gestern übers Telefon belogen haben, dass wir heute für längere Zeit verreisen. Wir werden hingegen so tun, als würde uns die Begegnung “freuen”. Das professionelle Simulieren der Gefühle, die von Schauspielern und

Schauspielerinnen gespielt werden, stellt eine gewöhnliche und in diesem Beruf notwendige Fähigkeit dar. (Gegenwärtig sind erotische Kussszenen “modisch”, die mit beidseitigem Öffnen des Mundes beginnen, als ob man unbedingt eventuelle Essensreste und Bakterien aus den Zähnen und dem Hals der geküssten Person herauslecken wollte. Dieser Gebrauch erleichtert jedoch das “Abspielen” von leidenschaftlichen Küssen, weil man lediglich den geöffneten Mund auf den anderen Mund “montieren” muss. Auch das war natürlich wieder nur eine Nebenbemerkung.) Die Skala an Gefühlen, die durch den Gesichtsausdruck signalisiert werden, ist unermesslich reich. Übrigens beschränkt sich die “faziale Signalisierung” nicht ausschließlich auf das Gesicht. Jeder normaler Mensch, der durch das Telefon spricht, obwohl er seinen Gesprächspartner auf der anderen Seite nicht sieht, bewegt unwillkürlich seinen Körper und seine Hand so, dass er eine vor allem emotional sinnvolle Gesprächsbegleitung schafft.

Die Fähigkeit, die erwünschten situationsbedingten (z.B. durch die Familientradition, durch das Savoir-vivre usw.) Gefühle zu simulieren, ist den Menschen in sehr unterschiedlichem Maß gegeben. Einige können die nicht erlebten Gefühle ausgezeichnet und andere schlechter “spielen”. Ich z.B. kann schlecht “spielen”, und es fällt mir sehr schwer, einen ungebetenen Gast, vor allem wenn er mich bei der Arbeit stört, mit einem herzlichen Lächeln willkommen zu heißen. Untersuchungen, die mit einem “Polygraphen”, also einem Lügendetektor, durchgeführt werden, wobei man parallel auf gleichzeitig laufenden Papierbändern den Blutdruck, den Puls oder den elektrischen Hautwiderstand misst, der vom Feuchtigkeitsgrad abhängig ist, was offenbart, ob der Untersuchte mehr oder weniger schwitzt, werden zwar auch in der

Kriminalistik eingesetzt, aber sie geben keine sichere Diagnose, ob der Untersuchte die Wahrheit sagt oder lügt. Einerseits gibt es völlig unschuldige Neurotiker, die sehr stark auf heikle Fragen reagieren, obwohl sie mit der laufenden Ermittlung nichts zu tun haben, und andererseits gibt es Massenmörder und Vergewaltiger, die bei dieser Untersuchung eine völlig nüchterne und neutrale Gleichgültigkeit zeigen.

Wenn wir dem noch besondere, vor allem kreative Fähigkeiten hinzufügen, bei denen nicht nur wie bei den guten Schauspielern die jeweils erlebten geistigen Zustände mit der affektiven Hauptkomponente verbunden werden und in ihren Höhen und Tiefen aufwallen, wenn wir also zur Menge der guten Schauspieler noch die Menge der Künstler, der kreativen Wissenschaftler, der besessenen Fanatiker oder der Demiurgen hinzufügen, zeigt sich erst wirklich unsere völlige Ratlosigkeit gegenüber den Aufgaben, die sich die fleißigen Befürworter der Künstlichen Intelligenz stellen: Wie kann man einen Computerintellektuellen, sofern sich ein solcher konstruieren lässt, mit Programmen des emotionalen Reagierens ausstatten? Vor allem beginnt das Problem meistens damit: Um eine Emotion zu erleben, muss man begreifen, dass man sie zu erleben hat …

Das ist kein einfacher Circulus in explicando, weil keiner vor einer Löwenhaut, die mit Heu ausgestopft ist, Angst haben, der weiß, dass es kein lebendiger sondern ein ausgestopfter Löwe ist. Aber leider ist das sehr schwierig, da sogar Deep Blue, der Kasparov Schachmatt gesetzt hat, nicht einmal wusste, dass er Schach gespielt und die Partie gewonnen hat. Emotionen gab es nur bei einer Partei (Kasparov). Aus der Lektüre, aus Bekenntnissen, aus Erinnerungen und last but not least aus eigener Erfahrung weiß ich, dass es kaum möglich ist, in Depression zu sinken, irgendeine Art Kummer zu haben oder sich verloren zu fühlen und gleichzeitig humorvoll zu schreiben. Positive Emotionen sind jedoch nicht dasselbe wie ein Sporn für ein Pferd oder Doping für einen Athleten: derjenige, der, wie man sagt, vor Lachen platzt, ist nicht besonders dazu prädestiniert, eine tolle Humoreske zu schreiben.

Das ganze Malheur der Computer liegt darin, dass ihnen alles absolut “egal” ist. Alle Computer des amerikanischen Weltraumshuttles Challenger, das gleich nach dem Start durch eine Explosion zerstört wurde (es gibt ein Buch darüber von Richard Feynman), wussten, verstanden und dachten in der Zeit, als der Rumpf mit der ganzen Mannschaft in den Ozean fiel, nichts, während sich die Astronauten, wie man weiß, in den letzten Sekunden auf den Tod vorbereiteten und die diesen Sturz begleitenden Gefühle empfanden.

Nein, man weiß nicht, was machen muss, damit der Computer emotional gestimmte Erlebnisse haben würde, wobei in der letzten Zeit immer mehr Stimmen laut werden, dass ein gefühlloser Intellekt nicht voll leistungsfähig sein kann. Einige gehen in ihren Annahmen sogar noch weiter und sagen, dass nicht nur das Gehirn allein das hauptsächliche “Instrument” der Affekte sei, weil dafür der Körper, der zittern und schwitzen kann, und das schlagende Herz oder der Blutdruck unbedingt erforderlich seien. Ich bin des Letzteren nicht sicher, weil Querschnittsgelähmte, die sich überhaupt nicht bewegen können, durchaus Gefühle empfinden. Es ist zu befürchten, dass erst ein Gerät, das so subtil und komplex wie unser Gehirn aufgebaut sowie mit Sensoren versehen ist, imstande sein wird, Gefühle nicht nur wie eine geschickte simulierende Marionette nachzuahmen, sondern auch wirklich zu empfinden.

Übrigens ist all dies sehr kompliziert, weil wir wissen, dass niedrigere Geschöpfe als der Mensch, vor allem Säugetiere wie Hunde, Katzen oder Affen, Gefühlszustände von enthusiastischer Freude bis zum tiefen Trübsinn erleben. Wir wissen dies, obwohl uns ein Hund oder eine Katze nichts darüber mitgeteilt hat und unser Wissen sich ganz auf die Wahrnehmung des Verhaltens beschränkt. Wir wissen also, dass Emotionen evolutionär dem Entstehen des menschlichen Intellekts vorangingen und dass sie mit ihm stark verbunden und verkettet sind. Man schreibt gegenwärtig in den USA viel über den “EQ”, den “Emotional Quotient”, aber wir können ihn unter anderem deswegen nicht messen, weil es a) bei einer “Affektometrie” um N-Dimensionalität gehen müsste, da es so viele Gefühlszustände und individuellen Nuancen gibt, und weil man b) emotionale Zustände rein äußerlich simulieren kann. Wäre dies anders, könnte man zwischen guten, mäßigen und jeglicher schauspielerischen Begabung baren Schauspielern nicht unterscheiden (Ich selbst gehöre leider (?), wie ich zugeben muss, zu der Teilmenge der unfähigen Nachahmer des Empfindens von Gefühlen, die ich nicht wirklich habe). Natürlich überschreitet die angesprochene Problematik in vielen Bereichen weit meinen Text. Es hat sich letztlich z.B. gezeigt, dass Lachen gar nicht wirklich “froh” sein muss. Unter anderem thematisierte dies Witold Gombrowicz in seinen Novellen. Aber dabei handelt es sich wohl um Bereiche, welche die Computersimulation wahrscheinlich auch im kommenden 21. Jahrhundert nicht erreichen wird …

Während ein ungünstiger Einfluss der als “negativ” bewerteten Gefühle als ein Komplex von Faktoren, die das kreative intellektuelle Schaffen bremsen, gut bekannt und auch verständlich ist (Trauer, Betrübnis,

Depression - Gefühlseffekte des Unglücks), ist der Einfluss der Faktoren, die mit positiven Affekten gefärbt sind, auf die kreative Leistungskraft immer noch eher rätselhaft. Es scheint mir, dass die Fähigkeiten des Menschen, die ein entsprechend programmierter Computer noch am besten simulieren kann - von mathematischen Operationen bis zum Ausspielen von Konfliktsituationen, die durch unveränderliche Regeln wie beim Schachspiel zu erschließen sind - im Allgemeinen mit einem minimalen Einsatz von Emotionen stattfinden. Dagegen können sich die Emotionen, die die Leistungsfähigkeit steigern, außer in der künstlerischen Sphäre par excellence auch als sehr wichtig für das Erreichen von Zielen erweisen. Allerdings ist es nicht so, dass man ein Ziel desto erfolgreicher erreichen wird, je stärker man es erreichen will. Weder normale Werke noch “Meisterwerke” hängen im direkten Verhältnis von der Steigerung der willentlichen Komponente ab. Auch der stark mit Affekten gesättigte Faktor der Ambition trägt nicht immer direkt zum erreichten Effekt bei. Wenn sie direkt beitragen würde, wäre z.B. ein Schreibwütiger mit größerer Ambition auch dem olympischen Thron näher.

Der emotionale Zustand stellt aber etwas mehr als nur eine vorteilhafte “Startbedingung” für die geistige Arbeit dar. Die ganzen ungelösten Probleme rühren daher, dass es eine spezielle kognitive Aktivität, die den Menschen, z.B. einen Künstler, wissen lässt, wie er mit den ihm durch die Welt oder durch sich selbst gestellten Aufgaben fertig werden kann, in der natürlichen Evolution nicht gibt. Wir lösen also zwar die Aufgaben erfolgreich oder scheitern an ihnen, aber erfahren nicht unbedingt, was dabei in unserem Kopf vor sich gegangen ist. Die Evolution eliminiert nämlich nach Möglichkeiten aus den geistigen oder auch psychischen Aktivitäten jegliches Bewusstsein von den Methoden der Abfrage.

Man muss jedoch ausdrücklich betonen, dass der Anteil an emotionalen Faktoren bei geistig fruchtbaren Aktivitäten verschiedener Menschen recht unterschiedlich ist (“Si duo faciunt idem, non est idem”). Außerdem kann ein Individuum, das für bestimmte intellektuell wichtige Arbeiten begabt ist, in einem anderen Bereich nur durchschnittlich oder unterdurchschnittlich begabt und daher in seinem Bemühen weniger oder gar nicht erfolgreich sein. Wir wissen nicht, um es noch einmal zu wiederholen, welche stimulierende Rolle die Emotionen spielen. Die Intuition, wie wir sie verstehen, ist selbst keine Emotion, aber sie kann auf Emotionen gründen. Ein emotional engagierter “Randschreiber”-Mathematiker wie Fermat könnte vielleicht annehmen, dass er seine “große Vermutung” gelöst, aber nur keinen Platz gefunden hatte, um den Beweis niederzuschreiben. Wenn der Druck des emotionalen “Triumphs” groß ist, kann man leicht einen Fehler begehen, indem man angeblich unwesentliche Hindernisse übersieht. Weil wir bereits wissen, dass man mit der existierenden algorithmischen Methode und den von der Biologie abgeleiteten Algorithmen nicht alles lösen kann, ist hier eher Umsicht und Mäßigung als ein übertriebener Optimismus angebracht …

Geschrieben im Sommer 1997

Bewusste und unbewusste Illusionen

Stanislaw Lem 03.08.2000

Rauschgift, virtuelle Realität, Künstliche Intelligenz und das Internet

Seiner Zeit ließ ich an mir Experimente mit Psilocybin durchführen, einem Präparat, das ein Auszug aus dem Psilocybin-Pilz ist und das ähnliche, aber schwächere Eigenschaften hat als das seit langem bekannte Meskalin. Aus den Erinnerungen von Stanislaw Ignacy Witkiewicz weiß man ziemlich genau wie Meskalin wirkt: es erzeugt starke Halluzinationen und hat darüber hinaus sehr unangenehme körperliche Nachwirkungen. Psilocybin dagegen verursacht bei einer Milligrammdosis keine derartigen Nebeneffekte.

Übrigens geht es mir nicht um die Halluzinationen an sich, sondern darum, dass man keinen Augenblick lang vergisst, dass alle Erscheinungen, auch merkwürdigste Änderungen der eigenen Körperproportionen, von Farben und Perspektiven etc., sich der Wirkung des Präparats verdanken. Bei anderen Halluzinogenen wie dem LSD (Lysergsäure-Derivat) kann das Wissen um die Fiktivität der Halluzinationserlebnisse dagegen völlig fehlen, so dass ein Mensch auf die Straße gehen und - in der Überzeugung, er sei vollkommen durchsichtig - von einem Auto überfahren werden kann. Nach Einnahme von LSD können auch schizophrene Symptome entstehen.

Soviel vorab zur Klassifizierung der “Virtuellen Realität”: Es kann sein, dass die Tatsache, in eine beliebig ausgewählte oder (von Programmierern) aufgezwungene Virtualität versetzt zu sein, einer Person bewusst wird, und dies würde ungefähr den Halluzinogenwirkungen der Mittel aus der Gruppe Psilocybin (und auch Meskalin) entsprechen. Es kann aber auch sein, dass die virtuelle Realität den normalen Bewusstseinszustand ganz und gar verdrängt: dadurch kann der “Phantomatisierte” (ein von mir gebildeter Terminus: also derjenige, der sich in der “virtuellen Realität” befindet) nicht beurteilen, ob er im Wachzustand oder im Kokon der als Wachzustand erlebten Fiktion gefangen ist. Übrigens kann eigentlich jeder normale Mensch auf die Erfahrung eigener Träume zurückgreifen, wenn er sich ein Bild von diesen beiden Zuständen machen möchte. Man kann so träumen, dass man von der Realität des Geträumten vollkommen überzeugt ist; erst wenn man aufwacht, fragt man sich, wie man den Traum für Wirklichkeit halten konnte. Es kann aber auch so sein, dass wir mit dem dunklen Wissen träumen, dass wir träumen Mit dieser ziemlich langen Einleitung wollte ich feststellen, dass eine programmierte virtuelle Realität gegenwärtig immer noch völlig dem Bewusstsein unterliegt, virtuell zu sein. Man kann also mit gutem Grund sagen, dass der Mensch, der sich der Illusion hingibt, darüber Bescheid weiß. Wenn man demnach etwas extrem Gefährliches unternimmt, (z.B. in die Kluft des Colorado-Canyon oder von der Spitze des Empire State Building herunter springt, oder auch (nicht ohne Genuss) einen Feind würgt oder ihn lediglich verprügelt, wenn er ein (fiktiv) geführtes Auto absichtlich gegen eine Betonsperre lenkt), dann weiß man in jedem Fall, dass das, was man macht, und das, was passiert oder passieren wird, lediglich eine Fiktion ist, deren “Intensität” beliebig stark sein kann. Es ist nicht wichtig, was man erlebt, sondern wie der

Erlebnismodus beschaffen ist: ob er ist wie in einem mit Traumgefühl geträumten Traum oder ob er der subjektiven Sicherheit, im Wachzustand zu sein, gleicht.

Ich würde sagen, es geht hier um den grundlegenden Unterschied zwischen einer bewussten Illusion und einer Illusion, die den Wachzustand unverwechselbar nachahmt. Diese letztere können wir zur Zeit durch Anschluss des Menschen mit seinem gesamten Sensorium, d.h. mit allen seinen Sinnen, an ein Computerprogramm nicht verwirklichen. Diese Nichtmachbarkeit der “vollkommenen” Illusion, diese sehr wichtige Distinktion, hat aber keine “endgültige” Natur. Es ist also nicht gesagt, dass Menschen niemals in eine vollkommen phantomatisierte Wirklichkeit eintauchen werden. Der Unterschied hat nämlich keinen “ontologischen” oder “epistemologischen” Charakter; es hängt also weder die “existentielle” Erörterung der Qualität der erlebten Phänomene noch die (experimentelle) pragmatische Untersuchung derselben lediglich von der rein technischen Leistungsfähigkeit des Phantomats und seines Programms ab.

Übrigens habe ich bereits ziemlich genau an Beispielen auch über diesen Unterschied in vor über dreißig Jahren in der “Summa Technologiae” geschrieben. Auch eine Handlung wie beispielsweise das Abnehmen der “Brille” vom Kopf, durch die die visuell fiktiven Informationen (dass wir z.B. uns im Inneren der Cheops-Pyramide oder in der eigenen Wohnung befinden) in die Augen strömt; auch diese Handlung, die uns angeblich in das normale und gewöhnliche Dasein zurückversetzen soll, kann im fortgeschrittenen Stadium der phantomatisierenden Technik Fiktion sein. Etwas in dieser Art, obwohl scherzhaft, kann man in meiner “Kyberiade” z.B. dort finden, wo der König Rosporik an den “träumenden Schrank” angeschlossen wird, um die entzückende “Mona Lisa” kennen zu lernen. Es stellt sich heraus, dass sich daraus eine “Monarcholyse” ergibt. Der König “löst sich in Illusionen auf”, die vom Wachzustand nicht zu unterscheiden sind. Weil jene Geschichte eine literarische Fiktion war, hielt sie niemand für eine Prognose. Die phantomatischen Illusionen, die man in ihrer Illusionshaftigkeit demaskieren kann, verwirklichen wir, da wir doch wissen, dass wir uns diese Brille und Datenhandschuhe und was auch immer aufgesetzt oder angezogen haben. In der nächsten Etappe könnten sich jedoch dieses “Aufsetzen” oder dieses “Anziehen” nur als weiterer Schritt der Illusion erweisen.

Warum rede ich soviel darüber? Weil das Märchenerzählen über “interaktives Fernsehen”, über das Internet und WorldWideWeb in Mode ist, und man wiederholt uns ständig - oder sollte ich sagen, versucht uns weiszumachen -, dass man über das Internet oder das Fernsehen die “virtuelle Realität” genießen könne. Der Unterschied zwischen einer “Phantomatisierung, die vom Wachzustand nicht mehr unterscheidbar ist” und der zur Zeit machbaren Phantomatisierung, wird also verwischt. Ich weiß nicht, ob das absichtlich passiert. Unterdessen geht es um einen Unterschied, der nicht banal ist und dem zwischen der Herrn-Benz-Kalesche mit einem Motörchen aus dem Jahre 1908 und einem Rennauto von Ferrari. Das eine wie das andere waren Kraftfahrzeuge, bloß mit einer sehr unterschiedlichen äußeren Erscheinung und Leistungsfähigkeit. Wenn es um die Phantomatisierung geht, ist dieser Vergleich allerdings irreführend, da man nach einer langen simulierten Fahrt mit einem “phantomatisierten” Auto heute schon demjenigen, der nach der Illusion des Autofahrens “erwacht”, rät, eine

Zeit lang kein reales Auto zu steuern, da er einen Unfall verursachen könnte. Diese Regel bedeutet nicht, dass ein Fahrer über den Aufenthalt im Simulator Bescheid wusste und sich dann “geirrt hatte”. Es entsteht einfach eine Art der Gewohnheit, die verursacht, dass wir, wenn wir zum Beispiel Koffer voller Bücher mehrmals nacheinander hochheben und meinen, dass der nächste Koffer auch schwer ist, oft unwillkürlich eine starke Muskelanspannung ausführen und dann den leeren Koffer mit unserer Hand bis zur Decke hochwerfen. Eine solche Fehleinschätzung heißt aber nicht, dass man eine Fiktion für Realität hält.

Wieso gibt es also nirgendwo eine Software für eine “vollkommene Phantomatisierung”, die so dicht wie ein Kokon wäre, die der phantomatisierte Mensch von der Existenz im Wachzustand auf keine Weise unterscheiden kann und in der er, wenn wir ihn von der Phantomatisierung nicht befreien, ehe er vor Hunger umkommt, lieber fiktive Leckereien essen würde, als dass er selbständig sich und sein getäuschtes Sensorium wieder in die echte Welt begibt? Es gibt zwei Gründe für das Fehlen einer solchen Phantomatisierung, die endlich (wie ein hervorragend gefälschter Geldschein - echter Geldschein) Phantomate verwirklichen würde, die würdig wären, “Bischof-Berkeley-Maschinen” genannt zu werden, weil sie seinen Grundsatz “esse est percipi” zu einer wirklich unwiderlegbaren Tatsache machen. Die weniger wichtige Ursache ist banal und ergibt sich daraus, dass das Investitionskapital, ein wenig ähnlich wie das Wasser, sagen wir im Fluss, dorthin eilt, wo es so eingesetzt wird, dass es möglichst großen und möglichst schnellen Gewinn zu machen verspricht. Und das Kapital, welches für die Erhebung der “phantomatischen Kutsche” auf das Niveau einer “phantomatischen Rakete” erforderlich wäre, müsste sehr groß sein.

Die zweite und wichtigere Ursache steckt im eigentlich rein instrumentellen (technischen und physiologischen) Sachverhalt. Die heutige Kapazität sowohl der Programmierer und der Programme, als auch der Computer ist nämlich nicht imstande, eine Leistung zu verwirklichen, die für eine “mehrschrittige”    oder    “mehrstufige”

Phantomatisierung erforderlich wäre, und ohne das ist der Weg zu der “Bischof-Berkeley-Maschine” sehr lang. Deswegen sollte man auch Werbung nicht ernst nehmen, welche die “Erschaffung der Virtualität” mit Hilfe des “interaktiven Fernsehens” oder des Internet verspricht.

Man kann es zwar versprechen, tatsächlich wird man aber einen Ersatz “schlechterer Qualität” liefern, die ich niemandem zur Last lege. Die “Bischof-BerkeleyMaschine” bedroht    uns    nämlich    durch    die

“Inbetriebnahme” von Welten, aus denen der darin Versenkte keinen Ausgang finden kann, und wenn er ihn finden würde,    wird er nie    mehr    die

hundertprozentige Sicherheit wiedererlangen, dass er sich von der Macht der “Maschine” befreit hat, weil der Mensch bei einem vollkommenen “Betrug” aller Sinne zu einem hilflosen Gefangenen der Fiktion wird. Darüber habe ich auch bereits in der Erstausgabe der “Summa Technologiae” geschrieben.

Auf diese Art also erinnert die Situation in ihrer Gesamtheit stark an    den    natürlichen    Modus    der

Evolution der durch    die    Menschen    geschaffenen

Technologien: wir starten mit primitiven Prototypen, eine Zeit lang vervollkommnen wir sie allmählich, dann kommen immer radikalere Änderungen, die die neue Technologie optimieren, und zum Schluss kommen wir zu dem durch die “Welt selbst” gegebenen Ende der Steigung. Selbstverständlich können sich die Höhen voneinander sehr unterscheiden. Wenn sich der Phantomatisierte wünscht, lediglich die Pariser Kathedrale Notre Dame zu besichtigen, lässt sich dies heute machen. Sollte er jedoch nach der Vorstellung nicht zum gewöhnlichen Wachzustand, sondern zur Illusion zurückkehren, in der er weiterhin unter der Macht der Täuschung bleibt (d.h. es scheint ihm, dass er nach Hause zurückkehrt und dort auch scheinbar seine Frau oder ein zu immer intimeren Zärtlichkeiten bereites Mädchen trifft), dann lässt sich dies heutzutage so nicht erschaffen, dass er dauerhaft an die Wirklichkeit glaubt und nicht zweifelt.

Ein von Natur aus kritisches und misstrauisches Individuum wäre bei dem bereits existierenden und ihm in der Welt des hohen Fortschritts bekannten Zustand der phantomatischen Techniken in einer eher misslichen Lage: die Neurotiker könnten oft den Eindruck haben, dass man sie schon in “phantomatische Schlingen” fängt oder gefangen hat. Ich muss sagen, dass man in einer solchen Welt mit solchen Parametern der Phantomatisierungsleistung nicht angenehm leben könnte. Zwar könnte ein Greis darin Weltrekorde im 100m-Lauf aufstellen oder Sex mit einer Miss World genießen, die letzte Hoffnung vor dem Glauben an die Illusion wird jedoch bloß der gesunde Verstand bleiben.

Man kann letztendlich daran glauben, dass man auf der Straße in einem verlorenen Briefumschlag einen auf den Überbringer ausgestellten Scheck über eine Million Dollar findet. Viel schwieriger wäre es daran zu glauben, dass die wunderschöne Frau, die uns im Bett erwartet, soeben Marylin Monroe post resurrectionem wäre, die wie ein Wunder aus dem Grab herausgekommen und obendrein verjüngt ist, und

sich wünscht, uns in ihre Arme zu schließen. Mit anderen Worten und allgemein gesagt: Je weniger wahrscheinlich irgendein Ereignis auf der Skala unserer statistisch gewöhnlichen Erlebnisse ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass uns -phantomatisiert - die Programme betrügen. Hier tritt dann ein neuer Konflikt auf, nämlich das Duell zwischen den Phantomatisierten und den Phantomatisierern, oder, brutal aber klar gesagt, zwischen den “Opfern in den Schlingen” und den Autoren der Programme, die das Dasein nachahmen. Man muss noch hinzufügen, dass rein physische Kontakte -    nicht    unbedingt    gleich    mit einer

Verstorbenen - einfacher zu imitieren sind, als in der phantomatischen Welt so vernunftbegabte Menschen zu schaffen, dass man mit ihnen, wenn auch nur eine Weile reden könnte.

An dieser Stelle stoßen meine Ausführungen endlich auf das personenbezogene Problem, genannt AI (Artificial Intelligence). Es sollen also weder Sphinx noch Pythia oder mein “GOLEM XIV” in der Vision erscheinen,    sondern    normale,    ganz gewöhnliche

Menschen, die sich mit uns, wenn auch nur für ein paar Sätze, vernünftig unterhalten. Und das ist einstweilen eines der    größten    Hindernisse, ein    geradezu

fundamental    Grund,    weswegen    wir die    “Bischof

Berkeley-Maschine” nicht konstruieren können.

Nebenbei muss man hinzuzufügen, dass alle globalen und lokalen, englischsprachigen und nichtenglischsprachigen Netzwerke mit allen Modems, Servern und so weiter in physiologischer Analogie Elemente der Neuronenbahnen des Organismus eines jeden Tieres und Menschen sind. Sie alle sind jedoch auch völlig gehirnlos. Nervenfaser, Dendriten oder Axone dienen als System der peripheren Kommunikation des lebenden Organismus mit der realen Welt, das zentripetale Impulse an das zentrale Nervensystem liefert und daraus an die Peripherie “Befehle” (Erregung oder keine Erregung) ausgibt. Ich lasse die Nervensysteme der Insekten oder die modularen Rückenmarkknoten und -zentren außer Acht, weil auch sie irgendwie von Gehirnen abhängig sind. Die Computernetzwerke verstehen dagegen bei ihrem ganzen außergewöhnlichen Wachstum und ihrer Vermehrung sowie Ausrichtung auf verschiedene “Informationsspeicher” (z.B. der Medizin oder der Astrophysik) nichts und werden von uns wie Autos nach einer “Straßenkarte” gesteuert. Man kann heute schon einen lediglich “bruchstückhaften Computer” zur Verfügung haben, weil uns das Netzwerk, in dem wir online sind, den funktionell erforderlichen Rest “hinzufügen” kann.

Alle diese Herrlichkeiten stehen wie eine ganze Menge verschiedener Zähler zu einem einzigen Nenner: dem der Verstandeslosigkeit des Netzes, die wir auf verschiedene Weise zu ersetzen versuchen. Und da die Anonymität der Absender (z.B. auch für die mit Minderjährigen getriebenen Pornographie) einfacher zu verwirklichen als zu enttarnen ist, sind bereits solche Begriffe wie “Cyberwar” oder “Infocops” entstanden - und dies sind keine Witze aus meinen älteren Humoresken und Grotesken, sondern die meist sehr reale Realität. Das Lager der “Internetspezialisten” teilt sich dabei in die Experten auf, die verkünden, dass keine Chiffrierung, Kodierung und “Firewall” in den Endgefechten helfen wird, weil das “digitale Schwert” über den “digitalen Schild der Verheimlichung” siegen kann, und in die Spezialisten, die behaupten, dass sich das “digitale Schutzschild” systematisch so vervollkommnen und “härten” wird, dass die bedrohten Geheimnisse der Stäbe und Banken, der Patente und der Industrie, und auch private

Geheimnisse gesichert werden; und dass dies vielleicht zeitraubend sein, aber sich als möglich erweisen wird -nicht nur zu 98% sondern zu 100%.

So oder so können die Netzwerke ein wenig Verstand mit Sicherheit gut gebrauchen. Die Angelegenheit wird leider dadurch sehr kompliziert, dass auch unser menschlicher Verstand, der höchste auf diesem Planeten, nicht immer mit den Problemen, auf die er stößt, fertig wird: es gibt Paradoxe, es gibt den gesunden Menschenverstand, über den sich die Quantenmechanik wie auch der “postmoderne Paradigmenkomplex” lustig machen kann. Es gibt auch vielleicht gleichermaßen mit Verstand ausgestattete philosophische Lager in der Epistemologie oder in der Ontologie, die affektiv und axiomatisch belastet sind, und in jedem Wahrnehmungsakt ist ein eine Prise Präsumtion und Bewertung anwesend. Wie Willard van Orman Quine bewies, ist die Zweiteilung der Urteile in analytische und synthetische genau deshalb nicht durchführbar, weil es auch in der Erfahrung -wenn auch nur ein bisschen - Analytisches gibt. Und es ist nicht wahr, dass nihil est in intellectu quod non prius fuerit in sensu. Das bedeutet, dass unser Gehirn im Augenblick der Geburt schon ein wenig zumindest vorprogrammiert ist.

Daher ist es auch zu befürchten, dass es nicht gelingt, einen “einzigen Verstand”, eine einzige künstliche Intelligenz, die von allen erwähnten und nicht erwähnten Beschlägen gereinigt wäre, zu schaffen. Wenn sich nämlich die Vernunftbegabtheit (Sapientia ex machina) letztendlich schlagen lässt, dann werden schon dadurch verschiedene Arten des Verstandes entstehen müssen, wie dies auch bei Autos, Flugzeugen oder Raketen der Fall ist. Vielleicht klingt das banal, aber es ist die Wahrheit. Wenn nur der Verstand “einzig und allein” möglich wäre, dann würden alle ähnlich erzogenen und ausgebildeten Menschen genau dasselbe wissen und an dasselbe glauben. Und wie uns wohl bekannt ist, war es niemals so und ist es nicht so.

Geschrieben im September 1996

Die Vormundschaft der Computer

Stanislaw Lem 19.10.2000

Die ersten Schritte in den Ausbau einer “Ethikosphäre” wurden bereits gemacht

Bevor ich mit der Materie beginne, der ich diesen Essay widmen möchte, will ich rückblickend darauf hinweisen, dass es mir manchmal gelungen ist, auch in den Werken der “fantastischen” Science-Fiction, zukünftige Erfindungen und Entdeckungen oder deren künftigen Einfluss auf die irdische Zivilisation vorauszusehen, aber ich habe mich, wie ich am Beispiel der “Ethikosphäre” zeigen werde, auch manchmal geirrt und wie ein Schütze zwar getroffen, jedoch nicht genau ins Schwarze, sondern knapp daneben. Die als Erzählungen und Fabeln dargestellten Phantasmagorien sollten normalerweise keine literarischen Prophezeiungen sein. Ich habe mich nicht um die Enthüllung irgendeiner “wahren” Zukunft bemüht, sondern lediglich versucht, mir vorzustellen, was die Zivilisation, die ein höheres Entwicklungsniveau erreicht, machen kann, damit sie nicht erstarrt und sich selbst vernichtet.

Was auch immer ich mir ausdenken konnte, es war das Ergebnis einer Suche nach möglichen Lösungen im technischen Feld, wobei es für mich sehr wichtig war, dass ich deren Machbarkeit selbst nachvollziehen konnte. Sogar wenn sie momentan als eine märchenhafte Überwindung der die Gesellschaft bedrohenden Konflikte erscheinen sollten, die man mit traditionellen Methoden genauso besiegen kann, wie die Polizei zusammen mit dem Militär einen Vulkanausbruch oder ein Erdbeben anhalten und unschädlich machen kann.

Ein Teil der großen globalen Gefahren wird bekanntlich aktiv durch die technologische Zivilisation verursacht. So erwärmen beispielsweise chemische Abgase das Klima, was zum Abschmelzen der Gletscher und zu gefährlichen Veränderungen großer Bereiche der Atmosphäre führt. Es ist auch bekannt, dass es Pläne gegen die schädlichen Technologien gibt, die durch “Rettungstechnologien” bekämpft werden sollen. Da jedoch die Kosten der letzteren die Eigentümer der ersteren belasten würden, hat es niemand besonders eilig, solche rettenden Stabilisierungsmaßnahmen umzusetzen.

Ich habe nicht bedacht, dass große Taten auch große Kosten nach sich ziehen, sondern diesen offensichtlichen Zusammenhang zwischen Investitionen in Innovationen und Kapitalinvestitionen fälschlicherweise unterschätzt. Ich habe nämlich angenommen, dass die Menschheit solchen Vorgängen, die ihre Existenz bedrohen, nicht gleichgültig gegenüber stehen würde. Da jemand, der Hunger hat und eine mit Äpfeln gebratene Ente verspeist, dabei weder Gabel noch Messer schluckt, dachte ich, das Gleiche würde auch für den größten globalen Maßstab gelten. Wenn jedoch mein Entenverzehr indirekt damit verbunden ist, dass mein Nachbar Messer schlucken muss oder - weniger metaphorisch - dass einem Vielfrass das Wissen über die Qual der Gänse bei der Aufzucht den Appetit auf die durch eine schmerzliche Mast verfettete Gänseleber nicht verdirbt, dann kann die Angelegenheit unangenehm kompliziert werden. Die Regel: “Was du nicht willst, dass man dir tut, das füge auch keinem anderen zu”, gilt nämlich dann nicht mehr.

Das war jedoch nur eine Randbemerkung, da ich darstellen möchte, wie ich mir ein für die Gesellschaft segensreiches technologisches Projekt ausgedacht habe und wie es sich in unserer Gegenwart zu verwirklichen begann. Ich füge nur hinzu, dass die Chinesen - wie Kinder, die Drachen steigen lassen - vom Luftdruck keine Ahnung hatten, der beim Gleitflug auf die Drachen einwirkt und auch interkontinentale Flüge von Flugzeugen mit mehreren hundert Passagieren ermöglicht. Manchmal geht nämlich der Theorie die Praxis - besonders eine Spielpraxis - voran - und manchmal der Praxis die Theorie, wie bei der Wasserstoffbombe.

In dem Roman “Der Lokaltermin”, den ich 1970 zu schreiben begonnen und 1982 veröffentlicht habe, kann man folgenden Abschnitt finden:

“Jede Gemeinschaft, die sich die Naturkräfte aneignet, wird von dramatischen Erschütterungen heimgesucht. Der erwünschte Wohlstand bringt unerwünschte Folgen. Gewalt und Zwang erlangen in den neuen Techniken neue Formen und Verstärkungen. Daraus scheint sich folgender Zusammenhang zu ergeben: Je größer die Macht über die Natur wird, desto größer ist auch die gesellschaftliche Entartung - und es ist tatsächlich so - bis zu einer gewissen Grenze. Das ergibt sich selbst aus der Reihenfolge    der

Entdeckungen, also daraus, dass es einfacher ist, von der Natur ihre zerstörerische Kraft als    ihre

freundliche Haltung zu übernehmen. (…)    Das

Destruktionspotenzial wird zu einem Wert, der erworben werden kann. Dies ist eine neue historische Bedrohung…”

Die fiktiven Helden meines Buchs, die Entianer, haben auf ihren Planeten begonnen, mit der Nanotechnologie die Umwelt so zu veredeln, dass diese zu ihrem vollkommen sicheren Beschützer wird.

“Bei uns”, sagt ein gelehrter Entianer , “ist es zu einer Synthese der neuen Festkörper und der neuen Formen ihrer Überwachung gekommen. Das sind die zwei Säulen unserer Zivilisation. Wir nennen ihren VerbundEthikosphäre.”

Es geht um die “Moleküle des Guten”, d.h. um “intelligente Moleküle”, die so funktionieren, dass niemand seinem Nächsten etwas antun könnte, das ihm selbst unangenehm wäre, wie beispielsweise, jemanden auf der Straße zu überfahren, jemanden zu schlagen, aber auch sich selbst zu töten, sein Fahrzeug an einem Betonpfeiler zu zerschmettern usw. Doch lassen wir den Entianer fortfahren:

“Die rettende Veränderung stellt die Schaffung eines Wissenssystem dar, das in seiner Gesamtheit zugänglich ist - allerdings nicht für lebendige Wesen, da keines diese ungeheuere Größe zu tragen imstande wäre. “ (Ich füge hinzu, dass das die Vision eines alle Informationen enthaltenen Internet ist.) “Keines der Stäubchen (der “intelligenten Moleküle”) ist einzeln, für sich genommen, universal, alle zusammen genommen sind jedoch universal. Dieser (schützende, S.L.) Universalismus ist jedem zugänglich, wenn dies notwendig werden sollte. Diese Mächte können jederzeit wie ein Dschinn im Märchen herbeigerufen werden. Niemand aber kann dies direkt selbst machen, denn das (also Hilfe zu leisten, S.L.) dürfen nur ‘intelligente Moleküle’. Dadurch kann keiner diesen unsichtbaren Koloss gegen einen anderen einsetzen

Die “intelligenten Moleküle” sind im Buch gewissermaßen eine Art Verlängerung der durchgängigen Naturgesetze. Man kann nach ihnen aus dem Nichts keine Energie gewinnen und die Lichtgeschwindigkeit nicht überschreiten. Die “Ethikosphäre” hingegen führt dazu, dass man keinen Mitmenschen quälen, töten und gegen seinen Willen festhalten und entführen kann. Das kann man auch keinem Volk auf dem Planeten antun. Die “intelligenten Moleküle” versuchen sogar, den Naturkräften, z.B. bei einer Überschwemmung, Widerstand zu leisten. Im Roman werden viele Versuche dargestellt, “die intelligenten Moleküle” zu überlisten, damit man doch Entführen, Töten oder Terrorisieren kann. Aber genug jetzt hier über “Lokaltermin”. Wenn jemand mehr über die Handlungsmethodik der Ethikosphäre wissen möchte, sollte er selbst zum Buch greifen.

Unter der Herrschaft von Bill Gates und seinem Kaiserreich (Microsoft) gibt es selbstverständlich keine Ethikosphäre. Diese Erzählungen sind reine Phantasie. Ansätze kann man jedoch bereits heute finden. Der erste Flug über den Ärmelkanal wurde noch mit einer Landung im Wasser beendet, aber nicht ganz hundert Jahre später konnte man die Erdkugel schon auf einen Schlag umfliegen. Obwohl auch die Ethikosphäre in sich Gefahren verbirgt, die schwer vollständig zu eliminieren sind, treten anscheinend gegenwärtig die ersten Exemplare solcher “Rettungstechnologien”, die ersten Bahnbrecher der “Ethikosphäre” und der “intelligent veredelten Umwelt” auf die Bühne. In welcher Gestalt?

In realer Gestalt, z.B. als an den Autobahnrändern platzierte, computergesteuerte Anlagen, die

entgegenkommenden Autos Signale senden, die für den Fahrer unsichtbar und unspürbar sind von kleinen Bordcomputern im Auto (die genauso obligatorisch wie zum Beispiel das Bremssystem wären) empfangen werden, damit kein Fahrzeug die für diesen Straßenabschnitt festgelegte Geschwindigkeit zu überschreiten imstande wäre. Rasen und Überholen wäre unmöglich, und wenn ein unsichtbares Gebot befehlen würde, in Schrittgeschwindigkeit zu fahren, dann würde das Auto gehorchen, auch wenn der Fahrer das Lenkrad auffressen würde. Polizei- und Notruffahrzeuge wären natürlich davon ausgenommen.

Es gibt bereits Geräte, die feststellen, ob der Fahrer nüchtern ist oder ob er Alkohol im Blut hat, aber die Ausstattung der Fahrzeuge damit ist für Hersteller nicht obligatorisch. Ähnlich funktionieren Thermosensoren in Gebäuden, die Sprinkleranlagen in Gang setzen, wenn es wegen dem Ausbruch eines Brandes alarmierend heiß wird. Man hat sich auch Sensoren ausgedacht, die überwachen, ob der Autofahrer nicht schläfrig wird. Mit der Kontrolle, die Augenlider zu beobachten, ist ein entsprechender Kleinstcomputer beschäftigt, der das Auto mit dem einschlafenden Fahrer an den Randstreifen lenkt und anhält. Es gibt sehr viele Arten von Wegfahrsperren, doch lässt sich gegen jede, wie Diebe und Experten wissen, eine Methode entwickeln. In Saudi-Arabien ist man schärfer gegen Diebstahl vorgegangen, indem man den Dieben radikal eine Hand abtrennt, was angeblich geholfen hat. Ich betone, dass ich nicht dazu rate, sondern lediglich bemerken möchte, dass ein akustischer Alarm im Auto solange kreischen kann, bis die Batterie leer ist. Ein Auto kann man bei einer Blockade des Getriebeknüppels rückwärts abschleppen.

Wenn sich solche passiven Methoden des Autoschutzes als vergeblich erweisen, dann entsteht ein aktiver Schutz - Einzelbeispiele dafür kann man auch in meinem “Lokaltermin” finden. Wenn ein Fremder versucht, das Auto zu starten, kann es z.B. mit einem milchigen, undurchsichtigen Rauch gefüllt werden. Eine Telefonzelle wird demjenigen, der versucht, sie auszurauben, ordentlich eins auf die Birne geben. Übrigens habe ich nicht vor, diese Handlungen hier zu vermehren, denn dann würde es um “Moleküle des Schlagens”, also um “Vergelter” gehen, und nicht um “intelligente Moleküle”, um Atome der Ethik, die die Durchgängigkeit der Naturgesetze verlängern. Ähnliche Schutzmaßnahmen vermehren sich jetzt sprunghaft, seitdem die Netzkommunikation der Banken, Broker, Börsen, Konzerne oder Unternehmen Milliardeninvestitionen verschlungen hatte, und seitdem deutlich geworden ist, dass ein angelsächsischer Rotzbengel, der mit Millionenbeträgen über Kontinente “spielt”, ein ganzes Konsortium in den Ruin treiben kann. Hier würde man schon Programme brauchen, die nach dem bekannten Leninschen-Prinzip funktionieren: “Vertrauen ist gut, aber Kontrolle ist besser”. Selbstverständlich müsste die Software auch gesichert sein, und in unserem Tal des Jammers und der Skandale würde es sich schnell herausstellen, dass wir dann in einen regressus ad infinitum von immer höheren Kontrollsystemen eintreten würden. Übrigens wurden von mir im “Lokaltermin” keineswegs nur positive Seiten der die Umwelt verbessernden “Ethikosphäre” demonstriert. Sie muss auch erhebliche negative Innovationen mitbringen. Wenn es keine Tresore geben würde, würde es auch keine Tresorknacker geben. Das versteht sogar ein kleines Kind.

Ich hatte in meinem Lemberger Gymnasium einen Kameraden, einen athletisch gebauten Repetenten, der von unserem Frühstück profitierte, indem er sich immer das Beste, z.B. den Schinken oder die Früchte, schnappte. Also habe ich einen großen roten Apfel genommen, dem ich, soweit ich konnte, mit Vaters Spritze den Saft entzogen und durch eine Lösung aus Küchenseife ersetzt habe. In der Pause konnte ich beobachten, wie der Schulkamerad unter dem Wasserhahn Schaum aus seinem Mund spülte. Offensichtlich quälte mich bereits zu jener Zeit der Gedanke, wie man Essen vor solchen Übergriffen schützen konnte. Ich erwähne dies nicht nur als reine Spielerei, da es neben Entführungen oder Morddrohungen an Entführten z.B. in Deutschland immer öfter zu Versuchen kommt, Millionenbeträge unter Androhung der Vergiftung von Lebensmitteln (Mayonnaise, Gewürze, Säfte u.ä.) in Supermärkten zu erpressen. Winzig kleine Gegenstände, die einen lauten Alarm hervorrufen, wenn jemand versucht, aus dem Laden irgendein Kleidungsstück fortzutragen, sind bereits seit vielen Jahren im Einsatz, jedoch ist es problematisch, auch schon diese alarmierenden Elemente zu den “prä-intelligenten Molekülen” zu zählen.

Es sind mittlerweile auch Ketten im Gebrauch, die von einem Verurteilten nicht entfernt werden können. Der Ort, wo er sich gerade befindet, ist immer im Polizeicomputer sichtbar. Die menschliche technoethische Erfindungsgabe muss mit der menschlichen Gemeinheit kämpfen, weil es sonst keine Lösung gibt. Nichtsdestotrotz kann man bereits heute die ersten Ansätze, die einzelnen “Fühlhörner” der unter Bewachung, Aufsicht und Fürsorge einer Unmenge von Computern stehenden Welt beobachten. Zur Zeit steht keine “Computerkratie” bevor, also eine über den Politikern stehende Regierungsmaschine (machine a gouverner), die der Dominikaner Pater Dubarle 1948 in “Le Monde” aus der Wienerschen Kybernetik als Möglichkeit abgeleitet hatte. Auch gibt es noch nicht die Nanoknirpse von Drexler, die sich überall der Beschäftigung widmen, Gutes zu tun.

Aber warten wir ab. Intel beschäftigt sich bereits mit der Herstellung von Chipprototypen, die 100 Mal kleiner als die kleinsten heute sind und mit einer 1000 Mal größeren Bitkapazität ausgestattet sind. Die Rechenleistung soll einer sprunghaften Steigerung unterliegen, die aus Deep Blue so etwas wie einen Roller gegenüber einem Formel-1-Auto machen würde. Darüber hinaus wurde die Macht von Bill Gates bereits von einigen Konsortien gefährdet. Es geht darum, dass Gates wollte, dass ca. 40% der mit Computern ausgestatteten Haushalte und Firmen in den USA, die mittels Modems an das Netz angeschlossen sind, auf die Computer verzichten. Sie stellen den kostspieligsten Teil dar, der zum Surfen im Netz erforderlich ist. Jeder würde bei sich lediglich eine Tastatur und ein Modem haben. Zu Computern und Betriebsprogrammen würde er im Netz den Zugang erhalten.

Der Gedanke ist folgender: Nicht jeder besitzt ein eigenes Kraftwerk, da es reicht, einen Anschluss an das Stromnetz zu haben. Ich habe gerade ein eigenes kleines Kraftwerk, d.h. ein Stromaggregat im Garten, weil das Krakauer Kraftwerk ziemlich unzuverlässig ist. Und wenn man sehr viele Geräte hat, die mit elektrischer Energie betrieben werden, ist ein stromerzeugendes Gerät notwendig. Bei mir ist der Grund, dass viele ausländische Fernsehteams zu mir nach Hause kommen, um Interviews zu machen, und manchmal der Strom plötzlich “weg” ist. Also nach diesem Prinzip wollte Bill Gates die Nutzung des

Netzes verbilligen. Es wurde jedoch mit einer in der Durchführung noch billigeren Idee gekontert. Nach Bill ist immer noch ein Monitor erforderlich, aber seine Konkurrenten meinten: Nicht unbedingt! Mehr als 60% der Haushalte in den USA verfügen über Fernsehgeräte, deren Bildschirme zu Internetmonitoren werden sollen, und statt einer Tastatur reicht eine kleine Konsole mit ein paar Knöpfen. Auf dem Fernsehbildschirm werden Links für Programme gezeigt (Banken, Reisebüros usw.) und der Nutzer wird mit einer billigen Maus das anklicken, was er braucht. Man würde möglicherweise ein Modem kaufen oder es nur ausleihen    müssen. Der

Kostenunterschied betrüge gut einige hundert Dollar. Diese Schlachten auf dem Markt der elektronischen Dienstleistungen lassen mich allerdings kalt: Ich weiß, dass auch mein Computer rasch veraltet sein wird, weil der innovative Trend gegenwärtig so schnell ist. Auf jedem Fall denke ich, dass man die Sprossen der Ethikosphäre bereits verfolgen kann.

Wieso wage ich, die außengesteuerten Geschwindigkeitsbegrenzer (das    sind die

administrativen Gebote der Straßenverkehrstechnik), die Waffenschmuggel-“Vereitler”    (Sicherheits

eingänge) an Flughäfen oder die “Fahrtverhinderer” der betrunkenen Autofahrer als die bahnbrechenden Anfänge der “Ethikosphäre” vorzustellen? Weil wir von immer mehr Geräten umgeben sind, die uns überwachen und die die persönliche Freiheit und damit auch das Ausmaß der individuellen Verantwortung für unsere Taten reduzieren. Wir treten langsam unter die Kuratel der Computersysteme, die scheinbar unseren Freiheitsraum vergrößern, sie aber in Wirklichkeit -angeblich zum unseren Wohle - reduzieren.

Geschrieben im Oktober 1997

Die Megabitbombe

Stanislaw Lem 12.09.2001

Von der Verschmutzung der Informationsumwelt und den ausfransenden Rändern des Wissens

Der Titel dieses Essays, der aus dem 1964 erschienenem Buch “Summa Technologiae” übernommen wurde, hat sich im Lauf der Zeit ein wenig in seiner Bedeutung erweitert. Damals dachte ich vor allem an das exponentielle Wachstum der sich aufhäufenden Daten aus der Wissenschaft, vor allem aus den exakten Wissenschaften, also der Physik, Astrophysik, Biologie, Geologie, Anthropologie und so weiter. Schon die ebenso spontane und wohl unumkehrbare wie grundsätzlich unvorhergesehene Entstehung der Computernetze, die die Erde mit unterschiedlicher Verbindungsdichte elektronisch umflechten, gebietet, den lawinenartig anwachsenden Informationsbestand erneut zu betrachten.

Dabei handelt es sich nicht um eine in den Bibliotheken, Universitätsinstituten, militärischen Hauptquartieren oder Börsen und Banken gewissermaßen eingefrorene oder erstarrte Information, sondern eher um Information in permanenter Bewegung, die in den Dickichten der das World Wide Web bildenden Netze, also im Spinngewebe der Kommunikation umherwandert, das ihr Leistungspotential unaufhörlich erweitert. Man könnte eine Taxonomie aufbauen, indem man etwa zwischen den Mikro-, Makro- und Megavarianten oder auch -arten der Information unterscheidet. Die weiter zunehmenden riesigen Mengen der durch die

Menschheit gesammelten Erkenntnis haben - sogar in Gestalt radikalster Zusammenfassungen - diegeistige Kapazität eines Individuums längst übertroffen. Die Einfachheit des Zuganges (nicht nur im Netz) zu irgendwelchen    Daten    hat    die Situation der

“Wissenshungrigen” keinesfalls verbessert. Die sich verschlechternde Situation wird durch durch verschiedene Faktoren beeinflusst.

Die Informationsumwelt    wird von    einer

fürchterlichen    Menge    an    Unsinn und    Lügen

verschmutzt.    Dieser    Unsinn verdankt    seine

Verbreitung den terrestrischen und orbitalen Fernsehnetzen,    über    die    er aus den    immer

zahlreicheren Satellitenschüsseln ausgestrahlt wird. Es scheint, als würde es in Zukunft entweder zu einer “Zerstückelung” in einzelne Bereiche der Fernsehemission kommen, was ja schon teilweise stattfindet, oder die staatliche Legislative könnte sich gezwungen sehen, eine Selektion der Dummheiten durchzuführen. Gegenwärtig sind lediglich Visualisierungen von einigen als pathologisch und unwürdig geltenden Arten der menschlichen sexuellen Aktivität (mit der Pädophilie an der Spitze) sowie die Veröffentlichung von politischen und militärischen Geheimnisse verboten. Typisch sind dagegen Gaukeleien, angefangen von außersinnlichen Phänomene wie der Telepathie oder Telekinese über das Hellsehen bis zur Astrologie mit ihrer schon oft bewiesenen Fiktionalität der attraktiven Lüge. Dann gibt es noch die Fernsehsendungen aus dem SF-Bereich, die aus den USA stammen. Nach ihnen sollte man das Weltall als einen Raum verstehen, der einfach so von intelligenten, meist jedoch albernen, außerirdischen Zivilisationen angefüllt ist. Werden diese von der Erde bei Konflikten kontaktiert, so kann das leicht zu einem “Krieg der Sterne” führen.

Man zeigt dem irdischen Publikum das Universum ganz allgemein als Hyper-Superschlägerei bei zwischenkulturellen Zusammenstößen, wobei pseudowissenschaftliche Geräte die Rolle der vormaligen unschuldigen, weil einfach als erfunden erkennbaren Requisiten spielen: die “schleppenden” (tractor beam in “Enterprise”) und zerstörenden Strahlen sowie die speziell gestalteten Lügenmärchen (Superman, Batman, Spiderman u.ä. mit weiblichen “antisexistischen” Varianten). Daneben gibt es den beliebten Bereich der Kriminalermittlungen, bei denen man “mit der Leiche beginnt” und in denen es um Drogenschmuggel, Überfälle, Geiselnahmen oder die Suche nach Sprengladungen geht, die (oft) ferngesteuert explodieren sollen. Das Repertoire wird völlig von den Einschaltquoten der Zuschauer bestimmt, deren Wünsche wie in Deutschland durch Analysen kontrolliert werden.

Die Zahl der tatsächlich untersuchenswerten Rätsel und Geheimnisse wäre sowohl auf der Erde wie auch im All riesig groß, aber sie reizen weder Produzenten noch Drehbuchautoren, weil die Leute sich angeblich nur fliegende Untertassen und verbrecherische Außerirdische wünschen. Weil der Markt den Filmemachern die Vorgehensweise diktiert und auf dem Markt die Kasse Königin ist, werden der Bandbreite des Vorstellungsvermögens der Drehbuchautoren enge Grenzen gesetzt. Alle arbeiten mit dem Blick auf die Kasse und nicht auf den Verstand oder wenigstens auf die unschuldige Märchenmythologie. Das Fernsehen selbst ist zu einem unglaublichen Hai geworden, der ehrwürdige Legenden und Märchen verarbeitet und sie, durch die Vereinfachungszentrifuge geschleudert, in die Umlaufbahnen der Satelliten schickt, die uns damit aus dem Weltall bombardieren. Ich bin der Meinung, dass

die schwachen Protestrufe aus dem Munde der wenigen Psychosoziologen nichts bewirken werden. Die Trends der nichtcodierten Sexualisierung hingegen, die mindestens auf Andeutungen mit lüsternem Beigeschmack gründen, besudeln bereits jede Art der Werbung. Die offizielle Losung lautet zwar noch nicht:    “Das Fernsehen spornt zum

Verbrechen und Unzucht an”, aber wir bewegen uns mit zunehmender Geschwindigkeit in diese Richtung.

Überdies liefern die Informationszentralen, die von den Fortschritten der Wissenschaft abhängig und auf dem Markt über die teilweise populärwissenschaftlichen Zeitschriften wie “Science er Vie”, “Scientific American”, “Discover”, “American Scientist” oder “Astronomy” zugänglich sind, Daten, an die man schon deswegen als Leser nicht mit naiver Kritiklosigkeit glauben soll, weil das, was da angeboten wird, oft einen typischen Sensationsbeigeschmack hat, damit es “besser schmeckt”. Man kann auf den Seiten dieser Zeitschriften Ideen, Projekte und Hoffnungen oder einfach unter dem Einfluss der Trends der vorübergehenden Modeerscheinung erfundene Phänomene - z.B. den Quantencomputer, der in der “Zeitlosigkeit” arbeitet - begegnen, die ausschließlich in irgendeinem mehr oder weniger fachkundigen Kopf existieren. Hypothesen, die sich seriösen Ergebnissen dieses oder jenes Zweigs der Wissenschaft widersetzen und nicht auf experimentellem Material gründen, sondern aus den Fingern gesaugt oder aus der Luft gegriffen sind, lassen sich in diesen Zeitschriften und mehr und mehr auch im Internet an ihren Quellen finden. Natürlich muss es neue Hypothesen geben, die fest verankerte wissenschaftliche Ansichten anfechten sollen, aber sie müssen nicht in der Aureole des farbenprächtigen und vermessenen Reklamerummels auftreten, der die experimentellen Sicherheiten durch die Vision der sich wie ein Zauber nähernden Ära der “Postcomputer-Selbsterfüllungen” ersetzt. Vor allem die Ideen, die in Richtung Militäranwendungen gehen, kosmische Gefahren für unseren Planeten, Prophezeiungen, die eine Herrschaft der Roboter vorhersagen, werden uns in die Augen und in die Köpfe wie das Futter gedrückt, das in die armen Gänse hineingestopft wird - diesen, damit ihre Leber pathologisch verfettet wird, und uns, damit wir es anschauen, kaufen, lesen und glauben. Die Zeitschriften nenne ich selbstverständlich schon gar nicht, die ein besonders fragwürdiges Verhältnis zur Wahrheit haben. Dagegen ist immer noch “Priroda”, die Monatsschrift der russischen Akademie der Wissenschaften, beachtenswert. Trotz des fatalen Rückgangs der Auflage, die von 80.000 während der UdSSR-Zeit bis auf jetzt 1.000 gefallen ist, die sich die Russen leisten können, ist das Niveau der zur Veröffentlichung zugelassenen Publikationen praktisch nicht gesunken. In der “Priroda” wird sogar die finstere Geschichte der russischen Wissenschaftler und der Wissenschaft in der stalinistischen Ära entblößt, da es mittlerweile erlaubt ist.

Es gibt also immer mehr Information, während gleichzeitig der Trend immer stärker wird, die Feststellungen der exakten Wissenschaften (der Physik, Kosmogonie, Kosmologie) anzugreifen und anzufechten. Wenn es gelingt, ein paar Mäuse, Schafe oder Kälber zu klonen, erscheint auch gleich - ich rüge nicht, sondern berichte - eine selbstsichere Erklärung, dass man bald Menschen und Transplantationsorgane, also “Ersatzteile”, die zur Verbesserung dienen, auf den medizinischen Markt bringen wird. In Mode ist auch das Geschwätz über die an unser Gehirn angeschlossenen “Chips”, die aus Otto

Normalverbraucher verschiedene Arten von Genies machen. Persönlich leide ich darunter, da mir ähnliches dummes Zeug meinen Server versaut. Es ist wahr, dass es keine “elektronische Nase” gibt zur Trennung leerer Behauptungen von denen, die sich als Wahrheit erweisen, weswegen sich jeder von uns bei der Auswahl auf seine eigene Intuition verlassen muss.

Ich kann ein konkretes Beispiel nennen, auf welche Weise eine solche Intuition funktionieren kann, wenn man sie besitzt. Die Genomanalysen haben deutlich gemacht, dass die Strukturgene, die die Synthese von bestimmten Eiweißstoffen erlauben, lediglich einige Prozent aller Gene einer Gattung ausmachen. Also hat man voreilig den Rest von über 90 Prozent als “Junk-DNA” getauft, also als Müll oder als Trittbrettfahrer, der nichts codiert. Mir erschien eine solche Disproportion bei den Genarten von Anfang an als unmöglich: etwas muss doch diesen “Müll” machen, dachte ich. Und in der Tat hat man neuerdings den Namen geändert. Es ist kein “Müll” mehr, sondern jetzt spricht man von “Mikrosatelliten-Genen”, die einen mittelbaren und dabei notwendigen Zweck haben: sie steuern nämlich nicht die Entstehung bestimmter Eiweißstoffe (z.B. Enzyme), sondern das Ergebnis ihrer Tätigkeit ist die Fortsetzung der Gesamtheit des Organismus. Als sie noch nicht verstanden haben, wozu dieser “Müll” dient, bezeichneten Russen diese Gene als Elemente der “Konzertevolution”, weil die langen ähnlichen oder der Zusammensetzung nach identischen Sequenzen sich in den Genomen wie Leitmotive in einer Sinfoniepartitur wiederholen. Natürlich ist die Voraussicht einer solchen Innovation von Meinungen, die auf Ergebnissen von Experimenten gründet, schwer und man kann kaum die “prognostische Intuition” als etwas verstehen, was sich lehren ließe. Dass da “nicht alles” eine

Lügengeschichte    ist,    scheint    eine

Selbstverständlichkeit zu sein, jedoch eine ebenso harte, wie eine schwer zu knackende Nuss.

Kurz vor der Jahrhundertwende begannen sich vermehrt völlig    neue    kosmogonische    und

kosmologische Hypothesen einzustellen, die nur schwer vom “gesunden Verstand” zu akzeptieren sind. Dieser Verstand wurde jedoch vor fast einer Million Jahren von den ersten Generationen in der Anthropogenese so gestaltet, dass er für das Begreifen des Ganzen nicht geeignet ist. Deswegen nannte ich die mathematischen Methoden, denen wir eine Menge von Umstürzen zu verdanken haben, den “weißen Stock eines Blinden”. Es scheint jetzt, dass wir nach vielen Versuchen der Bildung von menschenähnlichen Organismen, die zahlreiche Jahrtausende dauerten, aus den Primaten entstanden sind, d.h. aus der Suprafamilie der Hominoiden. Diese Suprafamilie umfasst Anthropoide und Hominide, aber ich bin mir nicht hundertprozentig sicher, dass jene von uns geschaffene Taxonomie unumstößlich bleiben wird. Gegenwärtig kann man die Unterschiede zwischen den Gattungen - Neandertaler - Pithekanthropus - Homo habilis - Homo sapiens u.ä. - dank neuer Verfahren einigermaßen genau untersuchen: das Genom lässt sich in Anlehnung an paläontologisch erhaltene, wenn auch versteinerte metamorphe Überreste ausgegrabener Skelette rekonstruieren, auch wenn es Spezialisten gibt,    die    die    Sicherheit    der

Abstammungsunterscheidungen    ausschließlich

aufgrund paläontologischer Daten bestreiten.

Die Mathematik ist dennoch - nicht nur nach meiner Auffassung - keine Ermittlungsmethode, die fähig wäre, uns zur “definitiven Wahrheit” zu führen. Tatsächlich werden weder die 61 Elementarteilchen erklärt, da sie sich aus keiner einzigen Theorie

“herausschälen” lassen und zuletzt auch das Neutrino “vervielfacht” wurde, z.B. gibt es bereits ein “Neutralino”. Noch weiß man nicht, ob die Suche nach einer einzigen Theorie eine Suche nach einer schwarzen Katze in einem dunklen Zimmer darstellt, wobei man nicht weiß, ob sich die Katze überhaupt dort aufhält. Auch das bereits klassische Modell der Kosmogonie mit dem Big Bang und der Phase der inflatorischen Ausdehnung ist Schwierigkeiten begegnet. Man kann am Rande des Ringens der Kosmologen mit der Problematik des “Anfangszustandes” bescheiden bemerken, dass das Mathematisieren,    auch    wenn    es erlaubt, mit

struktureller Genauigkeit Phänomene vorauszusehen, die erst eintreten werden, keine Wahrheitsgarantie geben muss,    weil    man    Approximationen

mathematisieren    kann,    die    manchmal auch

prognostisch fruchtbar sind. Sie können allerdings auch prädiktiv, aber nur teilweise fruchtbar sein, und weitere Fortschritte können sie sie zu Anachronismen machen. Ein Beispiel: die Welt Newtons vs. die Welt Einsteins. Ich sehe kein Ende dieses Weges, d.h. ich sehe kein Ende der Wissenschaft.

Darüber hinaus kommen uns in die Quere:

a)    die nichtlineare oder wenig lineare Chaostheorie

(aus einer kleinen Anfangsabweichung entsteht eine unerfassbar    große    (End-)Streuung)

b)    die bereits kontroverse Katastrophentheorie

c)    die immer wieder durch Verbesserungen ergänzte neodarwinistische Theorie der natürlichen Evolution.

Gewicht hat der nachfolgende Schluss aus diesen Umstürzen: Die Menschen gingen stets von einer möglichst einfachen und ästhetisch vertretbaren Annahme aus und wurden dann bei der Fortsetzung des Erkenntnismarsches immer wieder gezwungen, das angenommene Ursprungsbild zu komplizieren. Die

Komplexität wächst kontinuierlich in allen Bereichen der Wissenschaft, manchmal so langweilig und karg wie die geisteswissenschaftlichen “Moden”. Neulich schaute ich mir mit Staunen das Gespräch eines Philosophen mit einem Theologen an, die überlegten, woher das individuelle menschliche Identitätsgefühl, woher das “Ich” kommt. Die Neurologie, unterstützt durch pathologische Untersuchungen, kann bereits viel, wenn auch nicht alles zu diesem Thema zu sagen. Jedoch schienen die beiden Gesprächspartner die empirischen Erkenntnisse zu diesem Thema völlig zu übersehen. Thomas Aquin könnte mit vollem Verständnis ihrer frühmittelalterlichen Rhetorik folgen. Unterdessen beginnt die Seele langsam dem erosiven Naturalismus zu unterliegen, der der medizinischen, neurologischen und psychiatrischen Pathologie ähnlich ist. Offen naive Prahlereien stellen dagegen die immer öfter publizierten Erklärungen dar, dass demnächst ein Roboterkater gebaut wird, von dem aus der Weg hin zum vernunftbegabten Roboter nicht mehr schrecklich weit sein soll. Das ist nicht wahr. Ein Roboterkater wird sicherlich nicht hinken, aber aus den Mäusen, die er nicht fangen wird, wird keiner eine Pastete machen. Unsere Gegenwart liebt merkwürdigerweise möglichst billige Lügengeschichten und eine dürftige Kunst, wie z.B. das Verpacken von Kathedralen, Türmen und Brücken. Wenn man alles als Kunst präsentieren kann, dann kann man die Kunst nirgends mehr finden.

So also verwandelt sich die beschleunigte Detonation der Megabitbombe vor meinen entsetzten Augen in eine Giga- oder Terabitexplosion, bei der die kleinen Stücke der “unwiderlegbaren Wahrheit”, z.B. die Sterblichkeit der Menschen, wie Seifenblasen in den Himmel emporsteigen. Einhundert Milliarden von Neuronen sollen beim Menschen das “Wesentliche” auffangen. Und das ist der zauberhafte Spiegel, in dem sich die ganze Welt reflektieren soll. Niemand muss sich mehr wegen der Ignoranz grundlegender Daten schämen, vor allem kein Philosoph, der sich in der tiefen Vergangenheit unserer Spezies versteckt. Die demografische Bombe immerhin wird nicht explodieren, weil die Geburtenrate in der Welt sinkt. Die informationstechnologische Bombe ist dagegen bereits explodiert und befindet sich im vollen Splitterflug. Das Kommunikationsnetz wird nicht weiter helfen. Und “Artilekte” ( UlBauen wir Götter oder unsere möglichen Exterminatoren?)? Die durch neue Bezeichnungen oder Spitznamen geschmückte künstliche Intelligenz existiert, wie wir bemerken, noch nicht, und wenn sie entstehen wird, dann schnell in einer Vielzahl von Varianten. Vielleicht ist es besser, dass es sie zur Zeit nicht gibt.

Wir könnten eine neue Ausgabe des Werkes unter dem Titel Encyclopaedia of Ignorance als einen Führer durch die Hauptrichtungen der Wissenschaft dringend gebrauchen: die erste Ausgabe, die übrigens nicht ganz veraltet ist - aus den 70er Jahren - habe ich auf dem Tisch. Hier wurden Fragen erörtert, auf die wir noch keine Antwort haben, oder es gab Fragen, die falsch gestellt wurden. Aber es sind auch die Probleme, die völlig beseitigt wurden, beachtenswert, weil man aus Fehlern lernen kann. Ich habe früher einmal den fehlerhaften Beweis der “Transcomputability” (Transberechenbarkeit) für Computer beliebiger Rechenleistung von H. Bremmerman erwähnt: diese Unmöglichkeit, die er, durch die Konstanten der Festkörperphysik und durch eine solide Mathematik besiegelt, für bewiesen hielt, wurde von der biogenomischen, also von einer aus der natürlichen Evolution stammenden Algorithmisierung widerlegt. Manfred Eigen sagte mir, dass man in der Wissenschaft “niemals nie sagen sollte”. Man kann aber über die Unzerstörbarkeit dessen sprechen, was in abstracto möglich ist. Ich glaube, dass sich die Menschheit nie vereinigen wird, und dies wäre die notwendige Vorbedingung für die Idee, welche der Dominikaner P. Dubarle 1948 in “Le Monde” nach dem Erscheinen der “Kybernetik” von Norbert Wiener aufgriff, nämlich für den Bau einer Maschine “zum Regieren der gesamten Welt”. Mit so einem Herrn der Erde wären weder gewöhnliche Menschen noch a fortiori die Politiker einverstanden, für die die Komplexität des menschlichen Daseins über ihr Denkvermögen und ihre Führungsqualitäten hinausgewachsen ist. Was weder ihre Ambitionen noch ihren Wunsch zu regieren im Geringsten verringert hat. Das 21. Jahrhundert wird anders sein, als die zahlreichen Prophezeiungen es heute voraussagen, die mit Juwelen seltsamer Ideen geschmückt sind. Es wird vielleicht auch grausamer als das blutige Jahrhundert sein, das wir gerade verlassen haben. Was global die Macht übernehmen wird, lässt sich nur schwer vorausahnen - wie der Zerfall der UdSSR, die Triumphe der Biotechnik oder die kommunikative Vernetzung der Welt. Vielleicht hat die Welt tatsächlich keine Ränder, wir selbst werden jedoch die Abgründe, also auch die Ränder schaffen.