Stanislaw Lem 11.11.2001 Die Kehrseite des technologischen Fortschritts
Den Titel für diesen Essay habe ich absichtlich so allgemein formuliert, weil sich für uns das Böse in fataler Weise breit gemacht hat. Ich denke an dieser Stelle vor allem an das Böse als Taten, die ganz allgemein Schäden im Bereich der Technologie verursachen. Alles dagegen, was Menschen den anderen Menschen “nichtinstrumental” antun, lasse ich hier außer Acht.
Das Böse, worüber ich sprechen möchte, stellt gewissermaßen die schwarze Kehrseite der technologischen Fortschritte dar. Wo und wie auch immer es zum technologischen Fortschritt kommt, also jedes Mal wenn sich die technische Front ausweitet oder vorrückt, folgt ihr die schnell wachsende Effizienz ihres verbrecherischen Missbrauchs nach. Auf die Frage: “Warum dies seit dem Paläolithikum bis hin zum “Kosmolithikum” immer so geschieht” soll uns eine kurze Antwort genügen: “Weil die Menschen eben so sind.”
Außergewöhnlich ist es daher nicht, dass es technisch bereits möglich ist, tragbare Atombomben, die in einen Handkoffer mit einem Umfang von 30x40 cm passen und höchstens ca. 30 kg wiegen und deren Detonationsstärke zwei Kilotonnen TNT entspricht, zu produzieren. Merkwürdig ist schon eher, dass es bisher nirgendwo auf der Erde zum “Einsatz” oder zu einer Erpressung durch die Androhung ihres Einsatzes gekommen ist. Ein Hindernis stellt nicht nur die schwere Zugänglichkeit der nuklearen spaltfähigen Materialien (Uran, Plutonium) und nicht nur das Fehlen entsprechender Fachkräften dar. Mir scheint, dass dann, wenn irgendwo einmal eine solche “Handkoffer-Sprengladung” eingesetzt werden sollte, die Schwelle hin zu “individuell geführten atomaren Schläge” überschritten werden würde. Darüber möchte ich jetzt zwar keinesfalls schreiben, sondern ich wollte nur auf diesen Fall als eine spezielle globale Ausnahme hinweisen, die sich der Regel des niederträchtigen bösen Missbrauchs der neotechnischen Innovation widersetzt.
Bremsen dieser Art - falls man überhaupt über nichttechnische Bremsen sprechen kann - existieren nicht in dem umfassend verstandenen und immer noch sich in großen Schritten entwickelnden Informatikbereich der Leiter, Träger und “Speicher” (es gibt keine gute Entsprechung für “maschinelle Speicher”). Schon in früheren Artikeln stellte ich zahlreiche Missbräuche dar, die man im Netz begehen kann. Insbesondere habe ich die Herstellung von Computerviren und Antivirenfiltern angesprochen. In diesen gegensätzlichen Bereichen wird der Kampf von zwei unterschiedlichen Kreativitätsformen der
Programmierer als eine neue Art des Kampfes des “Schwertes gegen den Schild” ausgetragen. Das ist ein völlig natürliches Phänomen, und es kann keine Rede davon sein, dass die Anwendung von strengsten Strafen irgendwelche Hacker von ihrer “kriminellen Kreativität” abbringen wird. Die Motive ihrer Handlungen haben sich in den letzten Jahren insofern verändert, da das, was einst das Herumsuchen von Einzelnen im Netz war, die in verbotene Orte wie in das Pentagon oder das Computersystem einer Bank eindringen wollten, sich jetzt zur regulären informationstechnologischen Spionage erweitert hat, an der nicht so sehr Amateure als vielmehr Spezialisten teilnehmen, die im Sold von anderen stehen.
Jene Strolche des neuen Schlages wird keiner als “Räuber auf informationstechnologischen Wegen” bezeichnen. Die Amerikaner nennen sie eher als “Cyberburglars”, die die Netze weltweit ausnutzen. Die Gegner sind also große Konzerne, Regierungssysteme, Generalstäbe und solche Forschungszentren, die ihre wertvollen Information, die durch Wissenschaftler und Technologen gewonnen werden, geheim halten möchten. Daher werden sowohl die Angriffs- als auch die Verteidigungszentren immer schneller, vielschichtige immer raffinierter ausgebaut.
Die Verluste, die den US-Konzernen jährlich durch Duelle oder den stillen elektronischen Krieg entstehen, schätzen die Experten auf 300 Milliarden Dollar. Daher wären diese Verluste mit den wirtschaftlichen Verlusten vergleichbar, die in einem ganz “normalen” Krieg gemacht werden. Die Hauptziele der Angriffe sind die auf ihren weltweiten Vorrang so stolzen Industriezweige wie die Computerindustrie, die Software- und Halbleiterindustrie, die riesigen Pharmakonzerne sowie alle Zentren, die den Waffenbedarf bedienen.
Vor ein paar Jahren zeigte ein Satellitenfernsehsender die Geschichte eines Jungen. Der Schüler einer mittleren Schule war es gelungen, in ein Computerzentrum des Pentagon in der Zeit einzudringen, als die Sowjetunion noch existierte. Das hatte fast dazu geführt, einen atomaren Weltkrieg zu entfesseln, weil die Computer eine Simulation eines solchen Krieges durchführten, der von den nichts ahnenden Experten und Befehlshabern für einen realen Angriff der sowjetischen thermonuklearen Sprengköpfe gehalten wurde. Solche Geschichten sind allerdings jetzt schon überholt. Nicht nur deswegen, weil die UdSSR zusammengebrochen ist. Damals konnte man noch den Fernsehzuschauern mit den Russen Angst einjagen, aber die Tatsache, dass “Amerika der Feind gestohlen wurde”, wie sich einer der russischen Politiker ausdrückte, gehört ebenso schon zur Geschichte. Gegenwärtig geht es nicht mehr darum, die Zuschauer zu erregen, sondern vor allem um Wirtschafts- und Militärgeheimnisse sowie um den Vorrang im Einsatz von neusten Entdeckungen auch im Biotechnologiebereich.
Die Biotechnologie öffnet, ob wir das wollen oder nicht, ob wir das verbieten oder nicht, ihre “Zange”, um in die menschlichen Körper einzudringen. Trotz aller frommen Erzählungen über die besondere und alleinige Würde des menschlichen Körpers beweist die Biotechnik als transgenes Ingeunierwesen und Klontechnik, dass man bereits aus einer somatischen Zelle erwachsene Geschöpfe klonen kann, egal ob das ein Kalb, ein Lamm oder ein Mensch sein wird. Angesichts dessen sehen die Informationsdiebstähle an diesem Frontabschnitt der menschlichen Fortschritte” besonders bedrohlich aus. Selbstverständlich bereiten sich schon Schwärme von Drehbuchautoren, Regisseuren und Filmproduzenten - mögen sie verflucht werden - zum Sprung auf dieses neue Verwertungsfeld vor. Das reicht bis zum vollständigen Zerreden der Situation, so dass ein durchschnittlicher Zuschauer nicht imstande sein wird, das, was möglich ist, von dem zu unterscheiden, was weder jetzt noch in Zukunft möglich sein wird.
Neben dem “Bürgerkrieg” der Hacker im Dienst von Mächtigen gegen die “Antihacker” wird ein Krieg auf internationaler Ebene geführt, weil zahlreiche, den USA freundlich und feindlich gesinnten Länder sehr empfänglich für amerikanische Neuheiten sind: Wo auch immer man sie belauschen, heimlich beobachten, entschlüsseln kann, haben deshalb auch FBI und CIA eine Menge neuer Arbeit, weil sie neuartige Spezialisten engagieren müssen, beispielsweise “Gurus” für Kodes, Antikodes, Verschlüsselungen -und sogar solche besondere Experten, die feststellen können, dass die abgehörte verschlüsselte Nachricht” kein chiffrierter Text ist, weil er nur als künstlicher Nebel dient, um die Mühe und die Zeit der wertvollen Mitarbeiter zu vergeudet. Diese ganze Spirale dreht sich ins Unendliche.
Die größte Angst aber erweckt das Internet, weil es für Angriffe geschickter Hacker anfällig ist, die sich in Datenbanken einschleichen, wobei sie bei entsprechender Vorgehensweise unerkannt zu bleiben verstehen. 1994 stahl eine Gruppe russischer Hacker Codes und Passwörter der Citibank-Kunden und konnte zehn Millionen Dollar auf Konten in Übersee überweisen. Sechs Russen wurden allerdings, wie der NY Herald berichtet, ausgeliefert und haben die Tat zugegeben. Nach Angaben der Bank ist es gelungen, das Geld mit Ausnahme von 400.000 Dollar zurückzubekommen.
Verteidigungsminister empfehlen, ein
Verteidigungsnetzwerk einzurichten, in dem selbstverständlich alles verschlüsselt wird. Andererseits weiß man, dass eine Verschlüsselung, die mehr als einmal eingesetzt wird, mit Hilfe von Computern geknackt werden kann. Es wird auch empfohlen, schwer zu erratende oder zu knackende Passwörter zu benutzen (“Der Fuß ist das Ohr der Hand”), und insbesondere rät man, dass die Bankkunden die Passwörter nicht selbst erfinden, sondern diese Aufgabe den Computerprogrammen überlassen sollen, die echte stochastische Sequenzen von Buchstaben, Ziffern und Zeichen liefern können.
Leider zeigt sich aber, dass die einfachste Quelle der durch Chiffren versiegelten Geheimnisse ein interner Informant sein kann, z.B. ein verbitterter oder beleidigter Beamter, ein Angestellter oder ein Berater.
Das sollte uns nicht allzu sehr wundern, wenn wir uns bewusst machen, dass ein kahlköpfiger und bärtiger Mikrobiologe die New Yorker U-Bahn mit den Milzbrand-Bakterien (Anthrax) zu verseuchen versuchte, also nicht irgendein Grünschnabel, sondern ein extremistischer Ideenverfechter, der sich ausrechnete, dass es ihm gelingen werde, auf einmal ca. 100.000 Passagiere zu töten. Wenn die Ethik (ich erinnere an den Fall des “Unabombers”, der auch Wissenschaftler war und aus seiner Einöde heraus an verschiedene Gelehrte Sendungen schickte, die den Empfängern beim Auspacken die Hände und den Körper zerrissen) auch in wissenschaftlichen Kreisen auf den Hund gekommen ist, ist es schwierig, sich über die Angestellten irgendwelcher Banken zu wundern, die für eine mäßige Gebühr bereit sind, ihnen bekannte Daten zu den Verschlüsselungen, Kodes und Konten demjenigen mitzuteilen, der zahlt.
Die Kämpfe werden mit technischen Mitteln ausgetragen, die von den einen als Dietriche zum Sesam eingesetzt und von den anderen dafür benutzt werden, diese zu überführen und in den Knast zu bringen. Übrigens stellt die Tatsache ein offenes Geheimnis dar, dass keine Bank beabsichtigt, sich allzu laut zu beklagen, denn das Wissen um die durch den Einbruch in die informationstechnologische Schatzkammer verursachten Verluste würde nur die Kunden abschrecken.
Die Aufzählung der bereits bekannten Schlachten, die mit Informationen und nicht mehr mit Säbeln ausgetragen werden, könnte beliebig fortgesetzt werden. Die Taten, sagt ein Experte der Kriminologie, können gegenwärtig von jedem begangen werden. Als Verbrecher erweisen sich Spezialisten, die unter Vertrag stehen, oder ganze Unternehmen, die ein Computersystem betreuen - und bei der Gelegenheit stehlen sie die Daten, die später von Dritten - Personen oder Institutionen - verwertet werden können.
Übrigens beginnen wir hier langsam die Domäne der Verbrechen zu verlassen, deren Hauptinstrumente und -opfer hauptsächlich die Netzwerke und ihre Computerknoten sind. Hier ist nichts zu machen, weil die Bedingung sine qua non der anständigen Tätigkeit ähnlich wie im breiten Wirtschaftsbereich einfach die Redlichkeit ist. Die Netze haben den Menschen, deren Verhältnis zur Ehrlichkeit eher kalt ist, eine weitere große Chance eröffnet. Gott sei dank ist der Kampf zwischen den USA und der UdSSR zu Ende. Dies ist jedoch nicht gleichbedeutend mit den Voraussagen von Francis Fukuyama, der behauptete, dass es, weil der Marktkapitalismus und die Demokratie gewonnen haben, immer nur dasselbe - also die Langweile -geben wird. So gut ist es nicht: Ich versichere, langweilig wird es nie und nimmer sein.
Stanislaw Lem 31.12.2001
Zur Krisensituation im informationstechnologischen Bereich
Wir erleben gerade ein vor mehr als zehn Jahren begonnenes ziemlich erschütterndes Phänomen, das Thomas Kuhn als Paradigmenwechsel in der Wissenschaft bezeichnete und das vor ihm der Pole Ludwik Fleck als Erstarren von Erkenntnisinnovationen im Kreislauf zwischen den Experten beschrieb. Weder die Konzeption von Kuhn noch der wegbereitende Gedanke von Fleck sind eine adäquaten Deskription dessen, was passiert, wenn die Wahrnehmung der Grundsteine der Mega- und Mikrowelt einer diametralen Veränderung unterliegt. Wir haben jedoch noch keine besseren Beschreibungen für ein solches Beben in der Wissenschaft.
Nach besten Vorstellungen russisch-amerikanischer Urheberschaft (es mögen nur zwei Namen genannt werden: Guth und Linda) unterlag das hypothetische Bild der Kosmogenese einer noch hypothetischeren Komplikation: Unser Universum soll lediglich eines von vielen sein (ich habe dies einstmals “Poliversum” genannt); das unvorstellbar gigantische Ganze soll an etwas in der Art einer Weintraube erinnern. Jede einzelne Traube wäre ein souveränes Universum.
Obwohl sich dieses, aufgrund seiner Ausmaße ungeheuerliches Bild von den elementarsten Eigenschaften der Mikrophysik und insbesondere von im Labor nicht reproduzierbaren Quanteneigenschaften herleitet - das heißt, es bestehen gewissermaßen verwandtschaftliche Beziehungen zwischen dem, was am kleinsten ist, und dem, was am größten ist -, möchte ich mich in diesem Text ausschließlich der Mikrowelt zuwenden, weil sie eng mit dem Informatikbereich verbunden ist.
Es kam nämlich die Überzeugung auf, dass Elementarteilchen und Elektronen mit dem sogenannten Spin, der in zwei Formen vorkommt: up und down, keine existenziell endgültige Form im Sinne der Erkenntnis darstellen, sondern dass Information etwas noch Grundsätzlicheres ist. Zwar manifestiert sie sich immer als eine gewisse Konfiguration ihrer Träger, experimentelle Untersuchungen beweisen jedoch, dass zwischen den Informationsträgern Beziehungen vorkommen, in denen weder makroskopische Kausalverhältnisse noch Regeln der makroskopischen Logik gelten. Gegenwärtig hat der Status jener Entdeckungen, die die Existenz eines Untergrunds “unter” den elementaren Informationsträgern postulieren, der gewissermaßen einen Träger jeglicher Information darstellen sollte, den Beigeschmack einer sehr modernen und nicht allgemein akzeptierten Konjektur. Sollte es jedoch so sein, dann würde es sich herausstellen, dass wir über Information lediglich sehr vage Kenntnisse haben. Sicherlich wird die Wissenschaft des 21. Jahrhunderts der Sache auf den Grund gehen.
Im Zusammenhang mit der Entwicklung der Wissenschaft im Bereich der Informatik wächst vor allem in den USA die Nachfrage nach Supercomputern. Die großen Investitionen werden jedoch reduziert, beziehungsweise auf die militärische Seite, also die Rüstung, verlagert. Deswegen müssen Wissenschaftler in Disziplinen mit einem hohen Komplexitätsgrad wie Meteorologie, Kosmologie, Astrophysik oder Chemie mit den
Militärwissenschaftlern bitter um die Mittel kämpfen, die erforderlich sind, um Probleme zu untersuchen und zu bearbeiten, die so kompliziert sind, dass nur die schnellsten und größten Computer adäquate Lösungen liefern können.
Wie die Vertreter der Wissenschaft, die sich dessen bewusst sind, behaupten, wird die Lage im Bereich der Supercomputer kritisch. Die Forschung wird vornehmlich in Richtung der Nuklearprogramme, insbesondere der Gefechtsprogramme gesteuert, was für die im wissenschaftlichen Bereich herrschende Stimmung nicht gesund ist. Diejenigen Wissenschaftler, die Grundlagenforschung für die Regierung betreiben, haben die besten Zugangsmöglichkeiten zu den Supercomputern. Sie bekommen fast zwanzig Prozent der Supercomputer, die in den USA jedes Jahr gebaut werden, und einhundert Prozent der schnellsten und leistungsfähigsten Maschinen.
Seit dem Ende des Kalten Kriegs hielt die Regierung das Gleichgewicht in der Zuteilung des Zugangs zu den Supercomputern, 1996 kam es jedoch zum zweifachen Übergewicht zugunsten der Militärforschung. Dieser “Wettbewerb”, der zwischen den “zivilen” und “militärischen” Wissenschaftlern stattfindet, ergibt sich aus der Etatänderung der Bundes-Agenturen Energy Department und National Science Foundation. Die NSF zahlt für Supercomputer, die außerhalb des Militärbereichs eingesetzt werden. Diese Stiftung büßte seit 1969 vier Millionen Dollar an Zuwendungen ein, und bis Ende des 20. Jahrhunderts sollen es an die vierundsiebzig Millionen Dollar sein.
Unter einem Supercomputer versteht man die schnellste Maschine ihrer Generation. Solche Computer sind bei der Lösung und Überwindung derjenigen wissenschaftlichen und technischen
Probleme unentbehrlich, die eine riesige Anzahl von dynamischen und interaktiven Variablen betreffen, wie zum Beispiel bei Untersuchungen von Klimaveränderungen. Die Militärforscher brauchen Computer, um immer präzisere Modelle von Kernexplosionen oder dreidimensionale Modelle der Verschleißprozesse bei den Sprengköpfen zu schaffen. Sie brauchen sie vor allem auch, um die Explosivstoffe herzustellen, die die Ummantelung der kugelförmigen Nuklearsprengköpfe bilden. Das US-amerikanische Energieministerium ist davon überzeugt, dass es durch die Hilfe der Computer möglich ist, die Kernwaffenbestände beizubehalten, ohne die Bomben einem praktischen Test zu unterziehen.
Unterdessen ist es in den Vereinigten Staaten zu einer Krisensituation im informationstechnologischen Bereich gekommen. In einem kürzlich veröffentlichten Bericht erklärt das General Accounting Office, dass Amerika unter einem neuen Defizit an Informatikfachleuten leidet. Die Information Technology Association of America, eine Gruppe, die elftausend Arbeitgeber vertritt, verbreitete die alarmierende Botschaft, es fehle an Informatikspezialisten. Die Nachfrage nach solchen Spezialisten ist in den Vereinigten Staaten außerordentlich groß. Man muss auch sagen, dass die für Militärkreise natürliche Neigung zur Datengeheimhaltung zu zusätzlichen Schwierigkeiten führt.
Das Fehlen der Spezialisten oder eine ungenügende Kompetenz der Fachleute stellt ein ernsthaftes Problem für die Bemühungen dar, den Mangel an Arbeitskräften in Anbetracht dessen zu beseitigen, dass jährlich für die Dauer von sechs Jahren fünfundsechzigtausend nichtamerikanische
Arbeitnehmer in die USA kommen. Die
Wirtschaftsbosse und Kenner der gesamten Problematik behaupten, dass Tausende von importierten Arbeitskräften erforderlich sein werden, um den großen Unternehmen im globalen Wettbewerb zu ermöglichen, ihre Führung beizubehalten.
Die Kritiker, vor allem die Gewerkschaften sowie einige Vertreter der Regierungsbehörden, behaupten hingegen, dass solche Forderungen übertrieben seien Diesseits des großen Teichs nennen wir diese amerikanischen Bemühungen “Braindrain”. Vor allem geht es um die Einstellung von Programmierern, weil leider bis heute Programme, insbesondere die Spitzenprogramme, Produkte der Arbeit des menschlichen Geistes sind. Selbstverständlich spielt auch die kritische Annahme eine Rolle, dass den potenziellen Befürwortern der verstärkten Immigration von Spezialisten viel an deren Überangebot liegt, weil die Löhne dort, wo es viele Spezialisten gibt, auf verhältnismäßig niedrigem Niveau gehalten werden können. Nach den Studien, die sich auf den Zeitraum von 1994 bis 2005 beziehen, werden die Vereinigten Staaten über eine Million Programmierer,
Systemanalytiker und Ingenieurwissenschaftler brauchen. Die Kritiker antworten wiederum, dass diese Zahlen nicht viel sagen und nichts beweisen, weil lediglich ein Viertel der auf dem Gebiet der Informatik- und Computerwissenschaften tätigen Personen über akademische Grade in diesen
Disziplinen verfüge.
Die USA stellen zweifellos die
informationstechnologische Weltspitze dar, sie fühlen sich jedoch in ihren Bemühungen etwas allein
gelassen, weil sich die Informatisierung der
europäischen Gesellschaft nach Einschätzung ihrer Spezialisten auf einem viel niedrigerem Niveau
befindet. Die Visionen, welche ihnen die
amerikanischen informationstechnologischen
Prognostiker vor Augen führen, erreichen langsam den merkwürdigen Zustand, den ich in meinem Buch “Lokaltermin” dargestellt habe, nämlich den Zustand einer Gesellschaft, die durch eine selbständige totale Informationstechnologie so beherrscht wird, dass aus einzelnen Teilen der allgegenwärtigen Systeminformatik eine Ethosphäre entsteht, die eine programmierte und instruierte Lebensumwelt bildet, die sich um das Wohlergehen des Einzelnen und eine kollisionsfreie Koexistenz aller zusammen kümmert.
Zwar ging es mir bei diesem fantastischen Roman, der sich auf einer außerirdischen Welt abspielt, hauptsächlich um die Gewährleistung der persönlichen Unantastbarkeit sowie um eine kollisionsfreie Koexistenz, den praktischen Amerikanern dagegen geht es um eine allgegenwärtige automatische Dienstleistungsbereitschaft, die weder das Vorkommen zwischenmenschlicher Kollisionen noch den internationalen Wettbewerb ausschließt. So oder so scheint es, dass die Menschheit im 21. Jahrhundert eine informationstechnologische Gesellschaft erwartet, obwohl es, wenn man die weniger schönen Seiten der menschlichen Natur kennt, leichter ist, an die totale Technisierung der Dienstleistungen als an die totale Ethisierung zu glauben.
Interviews und Lebenslauf
Wir stehen am Anfang einer Epoche, vor der mir graut.
Stanislaw Lem im Gespräch mit Florian Rötzer 12.09.1996
Über das Internet, den Umbau des Menschen und die Technoevolution
Stanislaw Lem ist am 12. September 75 Jahre geworden. Er ist einer der erfolgreichsten und bekanntesten Science-Fiction-Autoren und zugleich einer der größten Kritiker dieser Literaturgattung. Schon immer eher ein Wissenschaftsphilosoph, der seine Überlegungen in das Gewand von Erzählungen hüllte, interessierte er sich immer für die Entwicklung der Wissenschaften und der Technik mit ihren sozialen Folgen. Die Lust am Fabulieren ist ihm offenbar vergangen, das Irdische und Politische wichtiger geworden, seine Skepsis und sein Pessimismus größer. Zur Zeit beherrscht ihn das Internet - auf einen Zugang für sich selbst aber verzichtet er.
Bekannt ist Lem mit seinen Science-Fiction-Büchern geworden, doch mit der Gattung hat er seine Schwierigkeiten. Bekanntlich liest er kaum die Werke anderer Kollegen. Immer wollte er dort sein, wo sich für ihn die brennenden Fragen der Gegenwart befinden, denen er sich oft spielerisch, mit hintergründigem Witz und erzählter Philosophie nähert, bei aller Phantastik aber nie wirklich den Boden des Denkmöglichen verläßt. Schon lange hat er das Erzählen eingestellt, auch die Futurologie interessiert ihn nicht mehr. Lieber kondensiert er seine Gedanken in Essays, die wissenschaftliche und politische Fragen behandeln, mehr von Skepsis als von
303
Enthusiasmus gegenüber dem Neuen zeugen, gleichwohl aber formal experimentieren, wenn er etwa Einleitungen zu fiktiven Büchern, Rezensionen nie erschienener Werke, über die evolutionäre Weltanschauung oder über die Welt aus der Perspektive der Statistik schreibt.
Vielleicht ist der Rückzug aus der Zukunft eine Frage des Alters, bei dem die Erdenschwere und die Weisheit wächst, vielleicht ist die Gegenwart zu voll an Science-Fiction, vielleicht überschlagen sich Innovationen oder Ankündigungen dessen, was gleich möglich sein wird, zu schnell, als daß Exkursionen in die Zukunft noch reizvoll erscheinen. Vielleicht ist die Zuwendung zu ganz praktischen und aktuellen wissenschaftlichen und politischen Fragen aber auch eine Folge des Zusammenbruchs des kommunistischen Regimes. Der Zensur konnte man mit Fabeln und dem Ausflug in die Zukunft besser entgehen, seine Gedanken dort sicherer verstecken und zugleich zum Ausdruck bringen. Vielleicht aber sind es die politischen und wirtschaftlichen Veränderungen in Polen, die Lem nicht von der mittlerweile schon zum Markenzeichen gewordenen digitalen Revolution schwärmen lassen, auch wenn sie vielleicht irgendwie damit verbunden sein mögen, sondern ihn zur Auseinandersetzung mit der Gegenwart auffordern. Wie auch immer: Stanislaw Lem, der 75jährige, sprudelt weiter vor Ideen, seine Neugier ist ungebremst, sein moralischer Antrieb ungebrochen, seine Souveränität, einfach das zu machen, was er will, beeindruckend.
Warum schreiben Sie keine Science Fiction mehr? Stanislaw Lem: Meine Laufbahn als Autor von Science-Fiction-Erzählungen ist schon vorbei, aber ich hatte immer das Bewußtsein, daß man nur über das schreiben und reden darf, was von der
menschlichen Vorstellungskraft verstanden werden kann. Es wäre ganz leicht, etwas total Unverständliches zu schreiben. Das ist auch vielen postmodernen Autoren sehr lieb und geschieht nicht nur in der Science-Fiction. Die Mannigfaltigkeit im Kosmos muß weit größer sein, als wir imstande sind, sie zu verstehen und zu studieren. An einem Beispiel kann ich das besser erklären. Das Spektrum der elektromagnetischen Wellen ist gewaltig. Es reicht von Gamma- über Röntgen oder Infrarotstrahlen bis zu jenen, die wir mit unseren Augen sehen können. Das ist aber nur ein winziger Ausschnitt des elektromagnetischen Wellenspektrums.
Mit den Weltraumfahrten ist das ähnlich. Erst jetzt beginnt man allmählich darüber zu sprechen, daß es nicht allein die Barriere der Kostenentwicklung ist, die uns an Fahrten zu anderen Planeten oder an einem langen Aufenthalt in einer orbitalen Station hindert. Es ist einfach so, daß der Mensch ein auf der Erde durch und durch gestaltetes Lebewesen ist, das im schwerelosen Raum nicht länger leben kann. Es ist grausam, wenn man liest, daß die Astronauten schon auf der Nahe der Erde gelegenen Weltraumstation wegen der Strahlung sehr schnell altern. Das wurde sogar an Ratten erprobt.
Bisher hat man hauptsächlich von den vielen Dollars gesprochen, die eine Fahrt zum Mars kosten würde. Es ist ja Mode geworden, alles nur in Geld zu berechnen. Wenn etwas eine Milliarde kostet, ist es schon ein schreckliches Hindernis. Aber es gibt eben auch ganz andere, nicht monetäre Probleme, die eine solche Fahrt unmöglich werden lassen. Es wird immer waghalsige Menschen geben, denen es nichts
ausmacht, wenn sie schnell alt und bald sterben werden, und die dann solche Fahrten ausführen werden. Die durch irdische Schwerkraft gestalteten Wesen verlieren bei einem langen Aufenthalt im schwerelosen Raum die Knochensubstanz, die Knochen werden brüchig, die Muskeln leiden. Man konnte schon sehen, daß der auf die Erde zurückkehrende Astronaut auf einer Bahre getragen wurde, weil er nicht mehr stehen konnte. Das ist traurig, aber wir sind nun einmal sehr stark erdgebunden. Würden auf anderen Planeten andere Wesen entstehen, so müssen sie keineswegs uns Menschen gleichen.
Sie sagten, daß Sie bereits seit einigen Jahren keine Science-Fiction-Erzählungen mehr schreiben. Man kann sich zwar alles Mögliche vorstellen, aber man weiß sehr wenig und meistens ist es anders, als man sich das vorgestellt hat. Ist das ein Grund, warum Sie keine Geschichten mehr schreiben?
Stanislaw Lem: Nein, ich habe unlängst wieder für eine Zeitung eine Science-Fiction-Geschichte geschrieben. Aber es macht mir keinen großen Spaß mehr. Ich habe auch genug geschrieben. 40 Bücher reichen. Ich habe mich jetzt anders orientiert. In Polen habe ich einen Bestseller über Informatik geschrieben. Überhaupt habe ich immer das geschrieben, was mich zu einer bestimmten Zeit besonders interessiert hat. Für eine polnische Wochenzeitschrift schreibe ich jetzt kurze Artikel über die aktuelle politische Lage der Welt. Das konnte ich während der Zeit der sogenannten Volksrepublik Polen nicht machen, weil man damals nicht alles schreiben durfte, was man wollte. Wenn man heute so eine Freiheit hat, soll man sie auch nutzen. Es gibt auf der Welt recht interessante Geschehnisse, besonders das kommende Informationszeitalter, über die ich gerne als hausbackener Informatiker und nicht mehr als Poet schreiben will.
Wird denn das Informationszeitalter tatsächlich unsere Welt so tiefgreifend verändern, wie viele glauben? Man spricht von der digitalen Revolution, die entweder alles besser macht oder uns der Katastrophe näherbringt. Ist das nicht auch nur eine Wunschvorstellung, die vielleicht durch das Nahen der Jahrtausendwende gefördert wird.
Stanislaw Lem: Seit dem Neolithikum hat jede neue Technologie eine positive und negative
Auswirkung für die Menschen gehabt. Es gibt keine Technologie, die nur gut für die Menschen ist. Sogar mit einem Brotmesser kann man einem anderen Menschen den Hals abschneiden. Meist kann man nicht sagen, was positiv und was negativ ist. Von der nuklearen Energie hat man sich viel versprochen, aber sie hat sich als recht peinliche Geschichte erwiesen. Man muß sich nur die Geschehnisse um den Castor-Transport oder
Tschernobyl ansehen, um zu verstehen, was nukleare Energie bedeutet. Jetzt ist es schon wieder Mode, gegenüber dem Internet oder World Wide Web Enthusiasmus entgegen zu bringen. Aus meiner Intuition heraus meine ich, daß uns das Internet mehr schaden als Profit bringen wird. Es gibt beispielsweise das deutsche Sprichwort: Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.
Wahrscheinlich hat es Greuel und Völkermorde
immer gegeben. Nur wußten die Menschen in früheren Zeitaltern nichts davon. Was wußten die Menschen in Europa schon im 16. Jahrhundert darüber, was im Fernen Osten geschieht? Gar nichts. Jetzt weiß man mit der Geschwindigkeit des Lichtes, mit den elektromagnetischen Wellen,
alles. Man hat beispielsweise eine solche Satellitenschüssel auf dem Dach, mit der man viele Sender aus der ganzen Welt empfangen kann.
Benutzen Sie eigentlich das Internet?
Stanislaw Lem: Nein, ich weigere mich, es zu benutzen. Man hat versucht, mich gewissermaßen mit einer großen Schachtel von Schokoladenbonbons dazu zu bringen, einen Zugang einzurichten. Ich hätte das ganz umsonst erhalten, aber ich will nicht. Ich habe hier so viele wissenschaftliche Bücher und Journale, die ich noch nicht lesen konnte. Ich fürchte mich vor der sogenannten informatischen Sintflut. Durch das Internet werden gewisse Pfeiler des Kapitalismus erodieren. Das Copyright ist bereits jetzt schon in Gefahr geraten. Es ist fast unmöglich, ein vollkommenes Eigentum des Copyright zu garantieren. Und dann gibt es beispielsweise diese pädophilen Dinge im Internet. Man versucht, Schranken einzurichten, um dies unterbinden, aber dann stellt sich heraus, daß diese Inhalte dann über andere Länder ins Internet kommen. Das ganze Netz wurde ja mit der Absicht entworfen, um eine zentrale regulative und kontrollierende Funktion zu umgehen, damit eventuelle Angriffe etwa durch Atombomben nicht das ganze Netz zerstören können. Jetzt gibt es zwar den Ost-West-Konflikt nicht mehr, dafür aber haben wir das Netz und muß man sich Mittel ausdenken, wie man es kontrollieren kann. Die Eltern sollen beispielsweise bestimmte Zugangsbeschränkungen für die Kinder einbauen. Aber warum sollten die Eltern zu Wächtern werden, die immer mit diesen technischen Mitteln hantieren? Als erstes werden die Kinder natürlich versuchen, das zu umgehen und kurz zu schließen.
Bekanntlich kann ein zehn- oder zwölfjähriger Bursche besser mit einem Videogerät oder einem Computer umgehen als die meisten Erwachsenen. Das sind Probleme, die nicht bewältigt wurden, und ich weiß auch nicht, wie man sie bewältigen kann, um so mehr das Barbarische gegenwärtig weiter zunimmt. Es gibt immer mehr Verbrechen. Lange vor dem Zweiten Weltkrieg wurde das Kind von Lindbergh entführt. Das erschütterte damals die ganze Welt. Heute gibt es schon so viele Entführungen, daß man sie alle schon gar nicht mehr in den Nachrichten nennen kann. Es gibt diese Eskalation der Gewalt. Das Internet wird dies weiter verstärken. Wenn man sich als ruhiger Mensch wie ich vor den Fernseher setzt, Erdnüsse ißt und ein Bier aus der Dose trinkt und dann bald 400 Programme zur Auswahl hat, kann man lernen, wie man einen Schalldämpfer auf eine Pistole setzt, wie einfach es ist, andere Leute umzubringen, und warum man dies macht - wegen der Diamanten, wegen Heroin oder weil es um eine Erbschaft geht. Die ganze Palette des Verbrechens wird uns als Instruktion geboten. Es gibt viele negative Aspekte der Medien und des Internet.
Andererseits gilt das Internet, weil es nicht von einzelnen Regierungen und Staaten regulierbar ist, als ein Instrument zur Demokratisierung und, im Gegensatz zu den herkömmlichen Massenmedien, zur Schaffung einer weltweiten Öffentlichkeit auch für einzelne.
Stanislaw Lem: Das ist kein Mittel der
Demokratisierung. Wenn man nach China sieht, das letzte große kommunistische Imperium auf der Erde, wird die gesamte Kommunikation streng kontrolliert. Wenn man die Freiheiten erwürgt, die
das Internet eröffnet, errichtet man sicher
gleichzeitig große Hindernisse auf dem Weg zur freien Kommunikation. Dann gibt es das ganze Gerede über die Pornographie. Ein pornographisches Werk ist beispielsweise nicht nur das Alte Testament oder jedes Buch über Gynäkologie. Ich sehe keine einzige klare
Methode, wie sich so etwas eindämmen lassen
könnte, ohne daß dies vielen Menschen, die
tatsächlich Informationen benötigen, schaden würde. Das ist alles sehr kompliziert und hat gar nichts mit dem Leben auf dem Mars zu tun.
Es werden ja von den Angehörigen der Cyberkultur große Hoffnungen auf das Internet gesetzt, aus dem sich eine kollektive Intelligenz entwickeln könnte. Man vergleicht es mit einem globalen Gehirn, weil es nicht nur ungeheuer viel Informationen auf ihm gibt, sondern diese auch durch viele Links oder Assoziationen verbunden sind. Wenn es zunächst durch die Benutzer und dann durch virtuelle Agenten und Programme auch intelligent wird und lernen kann, würde sich vielleicht ein globales Gehirn herausbilden, dessen Teile dann unter anderem aus Menschen bestehen. Verbunden damit ist natürlich oft der Glaube, daß die Menschen sich dadurch vereinen werden.
Stanislaw Lem: Mein Gott, wir sind ja nicht kleine Kinder. Als Sie mir die Vorstellungen über das globale Gehirn erzählten, dachte ich an das Verhältnis der Russen zu den Tschetschenen. Das Schicksal der Tschetschenen gleicht dem der Polen vor 100 Jahren. Im Verhältnis zu Tschetschenien ist Rußland ein enormes Land. Was hat das Internet, was hat das Fernsehen damit zu tun? Das einzige ist, daß es beispielsweise noch brave Fernsehjournalisten gibt, die bereit sind zu sterben,
um den Menschen Bilder vom Gemetzel der zivilen Bevölkerung zu zeigen. Es gibt auf der ganzen Welt eine Unmenge solcher Krisenherde. Keine technologische Entwicklung kann diese Konflikte löschen. Wir wissen, wie schwach wir gegenüber der Natur sind. Man erzählt uns Märchen etwa in der Klimatologie, daß das Klima angeblich immer wärmer wird. Einen solchen kalten und verregneten Sommer wie diesen habe ich noch nie in meinem ziemlich langen Leben erlebt. Was die Gelehrten sagen, was geschehen oder was durch den Computer entstehen wird, stimmt oft nicht.
Sie haben vor mehr als dreissig Jahren einmal geschrieben, daß gegen eine Technologie immer nur eine andere helfen kann. Ist das noch immer Ihre Meinung?
Stanislaw Lem: Natürlich geht das, aber mit Maßen. Wenn eine Arznei beispielsweise unerwünschte Nebenwirkungen mit sich bringt, dann kann man diese mit einer anderen lindern. Aber wenn diese andere Arznei wiederum andere Nebenwirkungen hat, dann gibt es einen unendlichen Kreislauf und dann kann man Technologie auf Technologie aufhäufen. Man wird an erster Stelle hier eine Kostenschwelle bemerken, denn das kostet dann einfach zuviel. Wir hören sowieso von den Ökonomen, daß uns alles zuviel kostet. Der Wohlfahrtsstaat kostet uns zuviel. Deswegen ist ein Sparpaket notwendig, weil die Kosten davonlaufen. Immer wieder hört man, daß sich die Deutschen übernommen haben. Meineserachtens hat die DDR damals etwas Kluges gemacht. Sie hat die Propagandamaschine so gut entwickelt und so gut lügen können, daß alle glaubten, sie sei wirklich ein blühendes Land.
Nach dem Fall der Mauer zeigte sich, daß die DDR ein grundloser Brunnen war, in den man Milliarden um Milliarden hineinwerfen kann. Es gibt zwar eine gewisse Verbesserung, aber die kostet enorm viel. Es gibt zwar noch Befürworter der Vereinigung bei den Deutschen aus dem Westen, aber das ist eine immer kleiner werdende Schar. Das habe ich schon bemerkt, wenn ich mit meinen Besuchern spreche.
Wir in Polen hingegen hatten keinen so reichen Bruderstaat. Es gab kein reiches Polen, das uns Subventionen in Milliardenhöhe geben konnte. Trotzdem geht es irgendwie, während in Deutschland nichts recht vorankommt. Wenn man nur die Ladenzeiten ein bißchen verlängern will, dann gibt es gleich ein entsetzliches Geschrei. Bei uns gibt es jetzt die im Verhältnis zu Deutschland schreckliche Freiheit. Wenn Sie ein Ladenbesitzer sind, dann können Sie Ihr Geschäft 24 Stunden öffnen, wenn Sie das wollen. Sie müssen sich nur mit Ihren Verkäufern verständigen. Wenn man zuviel von den Gewerkschaften hält, ist dies vielleicht ein bißchen ungesund. Lady Thatcher hat seinerzeit einen Krieg mit den Gewerkschaften geführt und ihn ziemlich gut gewonnen. Allerdings sagt man, daß sie einen Scherbenhaufen hinter sich gelassen hat. Das ist schon möglich. Ich bin kein Ökonom, sondern das ist nur meine private Meinung. Wenn man bei uns sagen würde, Sie dürfen Ihren Laden nur bis 18 Uhr öffnen, dann würde man dies nicht mehr verstehen. Jeder soll es so machen, wie er will. Das ist die Freiheit.
Aber eben das ist auch die Freiheit, die heute noch im
Internet möglich ist.
Stanislaw Lem: Das ist wieder etwas anderes. Die Polen waren schon immer ein bißchen
Anarchisten. Das hat uns in der kommunistischen Zeit sehr geholfen.
Um noch einmal auf die Technik zu kommen, so spricht man heute immer mehr von einer technischen Evolution. Überhaupt wird die Evolutionstheorie zu einem beherrschenden Paradigma, In Ihrem futurologischen Buch “Summa technologia” haben Sie auch bereits die biologische Evolution mit der technischen Evolution in Analogie gesetzt und ganz ernsthaft von einer Technoevolution gesprochen. Wenn man von Evolution spricht, dann heißt das immer auch, daß man von Konkurrenz und Auslese, aber auch von einem kaum steuerbaren und vor allem nicht voraussagbaren Prozeß spricht. Technoevolution hieße so auch, daß die Menschen keine Gewalt über die Technik besitzen. Sehen Sie das noch immer so? Und sehen Sie in der Technoevolution eine bestimmte Zielrichtung?
Stanislaw Lem: Ja, es gibt eine Technoevolution, die nach ähnlichen Gesetzen abläuft wie die biologische. Früher hatte man geglaubt, daß es durch die Entwicklung der Computertechnologie bald zur Realisierung einer Künstlichen Intelligenz kommen wird. Aber man hat gesehen, daß dies sehr viel an Mühe und Geld kosten wird und vor allem Fertigkeiten verlangt, die man noch nicht hat. Deswegen geht diese Welle der technischen Entwicklung jetzt nicht in Richtung der Künstlichen Intelligenz, sondern in die der technologischen Verbindungen, also hin zu Netzen. Das ist billiger und bringt dem Kapital mehr Erträge ein.
Aus den technischen Verbindungen heraus entsteht aber jetzt doch ein neuer Ansatz. Man versucht, mit neuronalen Netzen und eher unter der Perspektive der Modellierung eines Insekts, nicht mehr unter der der
höchsten menschlichen Leistungen Roboter zu entwickeln, die durch Lernen, also von unten nach oben, dann allmählich Intelligenz erwerben sollen. Stanislaw Lem: Das rein Ökonomische reguliert die Entwicklung. Was einen hohen Preis hat, ist nicht besonders beliebt, zumal wenn es nicht sofort erhebliche Profite abwirft. Früher gab es natürlich auch Idealisten. Der Graf Zeppelin war ein solcher. Oder die Gebrüder Wright dachten mit ihrem ersten Flugzeug nicht in erster Linie daran, viel Geld zu verdienen. Aber wenn die Herstellung von Flugzeugen in die Massenproduktion geht, dann erhalten die Kosten ein enormes Gewicht. In der biologischen Evolution ist das ganz genauso. Einer der Hauptfaktoren ist beispielsweise die Schwerkraft. Vor 60 Millionen Jahren haben die Dinosaurier gelebt, die bis zu 100 Tonnen gewogen haben. Aber diese Entwicklung hat sich nicht gelohnt. Man mußte natürlich für diese Entwicklung nichts zahlen, doch die natürliche Kontingenz, der Rahmen, in dem sich diese Evolution vollzieht, ist durch die irdischen Umstände, durch die Schwerkraft, die Atmosphäre usw., vorgegeben. Ähnliche Faktoren kann man auch in der technischen Evolution bemerken. Es wird das gemacht, was dem Menschen, aber zugleich, was dem großen und kleinen Kapital dient. Man kann keine Dinge produzieren, die niemand braucht.
Andererseits ist es in der technischen Entwicklung doch oft so, daß man etwas für einen bestimmten Zweck herstellt, während es sich später oft herausstellt, daß dieser Zweck ganz nebensächlich ist. Es entstehen meist Folgen, an die man überhaupt nicht gedacht hat. Dadurch verändern sich Technologien, aber auch die Welt, in der sie wirken.
Stanislaw Lem: Der Unterschied liegt darin, daß die Menschen denken, während die biologische Evolution dies nicht tut. Und doch ist immer zu bemerken, daß man im voraus niemals weiß, was sich aus den Anfangsstadien später entwickeln wird. Zwei Millionen Jahre vor unserer Gegenwart konnte niemals jemand voraussagen, daß aus dem homo habilis in Südafrika der homo sapiens entstehen und unsere Erde beherrschen wird. Als man die ersten Versuche machte, Computer miteinander zu verbinden, wußte man noch nicht, daß ein Netz entstehen würde. Es gibt gewisse tiefe Ähnlichkeiten zwischen diesen beiden Evolutionsformen.
Das Kennzeichen von beiden wäre doch ihre Unsteuerbarkeit und ihre Unvorhersehbarkeit? Es handelt sich um ein Spiel, das einen gewissen, aber vermutlich nicht vorher ausmeßbaren Möglichkeitsraum ausschöpft, der sich mit jeder weiteren Entwicklung verändert.
Stanislaw Lem: Die Technoevolution kann man ebenso wenig steuern wie die biologische. Wir können die biologische Evolution zumindest jetzt noch nicht steuern. Aber das könnte durch die Gentechnologie noch kommen. Wir stehen am Anfang einer Epoche, vor der mir ein bißchen graut.
Es gibt nicht nur die Gentechnologie, sondern auch Entwicklungen in der Neurotechnologie und überhaupt in der medizinischen Technik, so daß man den Menschen immer mehr mit Prothesen ergänzen, in ihn immer mehr Maschinen einbauen kann, ihn also zu einem Cyborg machen kann. Vielleicht wird man auch, wovon Hans Moravec immer gern erzählt, das kognitive System des Menschen auf eine andere Hardware speichern und dort laufen lassen können.
Davon haben Sie ja auch schon früh in Ihren Dialogen gehandelt. Wenn man diese ganze Entwicklung im Bereich der Computer- und Biotechnologien ansieht, die Hand in Hand gehen, dann geht es offenbar um einen Umbau des Menschen, vielleicht auch um eine Restrukturierung der Ökosphäre. Genau dies könnte es möglich werden lassen, ein Leben außerhalb der Erde und ihrer Bedingungen zu führen.
Stanislaw Lem: Das ist schon möglich, aber meines Erachtens ist dies wirklich nicht wünschenswert. Der Mensch eignet sich nur zum Leben auf der irdischen Oberfläche. Solange man sich nicht auf dem Mond befand, konnte man sich noch vorstellen, daß es dort sehr interessante Landschaften gibt. Nein, das ist eintönig, das ist wirklich eine Wüste. Wer wird schon für 10 oder 20 Jahre oder gar für das ganze Leben in der Wüste und dazu noch in einem geschlossenen Gefängnis leben?
Dafür gibt es dann vielleicht die Virtuelle Realität oder die Phantomologie. So ließe sich vielleicht das Leben in einem Gefängnis aushalten.
Stanislaw Lem: Das ist schon etwas anderes. Aber auch wenn man phantomologisch das Beste zum Essen bekommt, so wird man davon nicht satt.
“In der Welt wimmelt es von Idioten”
Stanislaw Lem ist einer der populärsten Sciencefiction-Autoren. Romane wie “Solaris” und “Eden” waren Bestseller. Und sie haben unseren Blick für totalitäre Versuchungen, die in neuen technischen Möglichkeiten wie dem Internet stecken, sensibilisiert. Kurz vor dem Millenniumswechsel zog er eine traurige und wütende und weise Bilanz seiner Vorhersagen. In seinem Haus in der Nähe Krakaus besuchte ihn Mechthild Bausch.
Herr Lem, wissen Sie, was eine Suchmaschine ist?
Stanislaw Lem: Ja. In diesem Raum steht zwar nur eine sehr alte Schreibmaschine, aber nebenan befinden sich Computer, Scanner, Fax, Drucker und Anschluss ans Internet. Ein Sekretär arbeitet für mich. Ich versuche die ganze Last der Verzweigung in die Welt auf andere abzuschieben, denn ich kann das nicht alles bewältigen. Ich habe vor ungefähr elf Jahren aufgehört Sciencefiction zu schreiben und interessiere mich für andere Dinge, Philosophie der Wissenschaft und Internet.
Haben Sie damit gerechnet, dass Ihre Visionen Wirklichkeit werden?
Lem: Man kann die Richtung, aber nicht die Einzelheiten voraussagen. Ich habe die Hinwendung zur Biotechnologie, zur Nachahmung realer Lebensprozesse, zutreffend vorausgesagt. Aber wie tückisch das alles ist, konnte ich nicht wissen.
Außerdem stammt von Ihnen der Begriff “Phantomatik”.
Lem: Ja, heute verstehen wir darunter “virtuelle Realität”. Als ich vor 36 Jahren ein Buch darüber schrieb, zweifelte ich nicht daran, dass man einen Himalaya oder ein Labyrinth würde programmieren können und mit mehr Geld einen Jurassic Park voller Dinosaurier. Aber sie können kein intelligentes Wesen programmieren, mit dem sie reden können. Das wusste ich.
Wird es solche Wesen einmal geben?
Lem: Zuerst müsste man Programme für künstliche Intelligenz haben, deren Erfindung ich einer sehr fernen Zukunft, wenn überhaupt, zugeschrieben habe. Wäre Sie konstruierbar, müsste es zudem sehr viele Sorten davon geben, so wie es viele Sorten menschlicher Intelligenz gibt. Es gilt, was Wittgenstein gesagt hat: Worüber man nicht sprechen kann, darüber soll man schweigen. Aber die Leute schreiben heute unglaubliche Dinge. Ein Chirurg behauptet, man könnte Menschen den Kopf abschneiden und einen anderen Kopf annähen. Erstens ist das unmöglich, und allererstens ist es idiotisch. Es würde ein ganz anderer Mensch entstehen.
Zählt Erfolg für Visionäre?
Lem: Ich muss gestehen, es gibt eine Sorte so genannter Gelehrter, die ich immer sehr wenig geschätzt habe, die so genannten Friedensforscher und Politologen. Sie haben nicht zu friedlichen Lösungen beigetragen, sondern Bücher geschrieben.
Sie haben sich mal als Robinson Crusoe der Futurologie bezeichnet. Haben Sie Ihre Insel verlassen?
Lem: Ich sitze um Gottes willen nicht auf einer menschenleeren Insel. Ich korrespondiere viel und versuche mit den Leuten im Gespräch zu sein. Es wimmelt in der Welt von Idioten. Mit Herrn Trittin würde ich niemals über die negativen und positiven Seiten der Atomenergie sprechen, weil er keine Ahnung hat. Dummköpfe erkennt man daran, dass sie nicht wissen, dass sie Dummköpfe sind und sich mit keinem Argument überzeugen lassen.
Was kann man dagegen ausrichten?
Lem: Ein einzelner Mensch kann sich nicht für die Gesellschaft verantwortlich fühlen. Die ganze Welt ist eine einzige Katastrophenlandschaft. Das war immer so. Nur die Technologie, derer wir uns bedienen, ist mächtiger geworden. Früher konnte sich die Menschheit nicht durch Klimaveränderung und nuklearen Krieg den Garaus machen, heute kann sie das. Es gibt zu viele Menschen auf dem Erdball. Als ich aufs Gymnasium ging, gab es zwei Milliarden Menschen, heute sind es sechs. Es ist auch typisch, dass für Katastrophen niemand belangt wird. Wenn jemand eine Uhr klaut, kommt er in den Knast, jemand, der drei Millionen Menschen umbringt, nicht. Je größer die Gräueltaten, desto kleiner die Folgen.
Wie kann ein so weiser Mann so pessimistisch urteilen?
Lem: Aber das tue doch ich nicht immer. Wissen Sie, als die Sowjetunion kollabierte und wir die Souveränität in Polen bekamen, waren meine Frau und ich zu Tränen gerührt, als wir die ersten freien Sitzungen des Parlaments sehen konnten. Jetzt haben wir auch Tränen in den Augen, aber Tränen der Wut, weil so dermaßen dumme Leute da als gewählte Parlamentarier sitzen. Wie Churchill sagte: Demokratie ist zwar entsetzlich, aber es gibt kein besseres System. Man hat es noch nicht gefunden.
Desillusion als Jahrhundertbilanz?
Lem: Die Leute glauben, dass es besser wird. Aber die Unbarmherzigkeit, die Grausamkeit der Zeit vergrößert sich. Ich sehe jetzt weit weniger fern als früher. Es ist eintönig, und es wird immer geschossen. Man weiß nicht, ist das Attentat echt oder gespielt. Die ruhigste Landschaft befindet sich in der Werbung. Da kommt ein Mädel, isst ein bisschen Reis oder Makkaroni und hat sofort einen Orgasmus aus purer Freude, weil es so gut geschmeckt hat. Mein Sekretär hat mir geraten, kaufen Sie sich einen Digitalumformer, dann werden Sie nicht zwanzig, sondern achtzig Programme haben. Was soll ich damit?
In Ihren Romanen wimmelt es von Zukunftstechnologien. Steht Ihre heutige Kritik dazu nicht im Widerspruch?
Lem: Ich sehe keinen Widerspruch. Ich habe immer das geschrieben, was mich interessierte, belletristisch und in meinen Sachbüchern. In den letzten Jahren habe ich schon zwei Bücher über die Probleme des Internet geschrieben.
Das Sie sehr kritisch beurteilen und als “Infoterrorismus” bezeichnen. Ist das nicht ein wenig paranoid?
Lem: Es gibt diesen Terrorismus. Die Terroristen benutzen die technologischen Werkzeuge, die vorhanden sind. So ist der Mensch geschaffen, mit dem Bösen in seinem Innern. Man redet von einem zukünftigen Krieg als von einem Informationskrieg.
Benutzen Sie selbst inzwischen das Internet?
Stanislaw Lem: Nein, das überlasse ich meinem Sekretär. Soll er sich damit abquälen.
Aber warum nutzen Sie nicht die technischen Möglichkeiten, die Sie selbst vor 25 Jahren beschrieben haben?
Lem: Es gibt keine Intelligenz im Netz. Was kann man da schon herausfinden? Das ist ein Ozean an Informationen, und wir stehen mit einem Löffel davor. Ich habe auch gar keine Zeit. Ich bekomme Bitten um Autogramme, Aufnahmen, Interviews. Aber ich bin doch kein Filmstar. Als ich in den Vierzigerjahren anfing zu schreiben, war ich ein einfacher Medizinstudent. Das ist alles wie eine Lawine über mich gekommen. Ich nörgle ja nicht, aber das hat alles schon lange eine Eigendynamik.
Fühlen Sie sich überfordert?
Lem: Soll ich klatschen? Soll ich glücklich sein? Wenn man sich die Zukunft allzu rosig und optimistisch vorstellt, erweist sich das meistens als falsch. Jetzt ist eine von mir absolut niemals vorausgesagte Mode aus Japan gekommen: diese Tamagotchis. Wozu braucht man elektronische Katzen? Es gibt Leute, die Alligatoren zu Hause haben. Bitte schön. Künstliche Maschinenwesen halte ich dagegen für reinen Unsinn. Aber die Leute mögen reinen Unsinn.
Warum haben Sie, was die nachfolgenden Generationen angeht, so wenig Ahnung, Zutrauen oder beides?
Lem: Wieso? Sehen Sie, hier ist ein schönes Bild meiner Enkelin. Bitte sehr! Es ist sehr schön.
Warum können Sie sich nicht vorstellen, dass jüngere Menschen mit Technologien selbstverständlicher umgehen und nicht sämtliche positive Erlebniswelten verlieren, wie Sie fürchten?
Lem: Weil ich von allen Seiten nur höre, dass es schlimmer wird. Wir sind umzingelt von Problemen. Es gibt Probleme wie Erdbeben und Taifune, gegen die wir machtlos sind, und solche, gegen die wir versuchen, etwas zu unternehmen, wie zum Beispiel gegen die Arbeitslosigkeit, aber auch das mit wenig Erfolg.
Null Vertrauen in die Menschheit?
Lem: Aber ich bitte Sie! Der Zweite Weltkrieg hat fünfzig Millionen menschliche Opfer gekostet. Das weckt in mir kein großes Vertrauen in die Menschheit.
Ich fragte nicht nach den Generationen, die zwei Kriege angezettelt haben.
Lem: Glauben Sie, dass ich meinen Sohn hierhin setze, wo Sie jetzt sitzen, und ihm erkläre, dass es sich nicht lohnt zu leben?
Nein.
Lem: Also. Und ich habe nicht das Gefühl, dass ich etwas anderes beschreibe als das, was der Fall ist. Ich habe das Internet nicht erfunden. Ich habe die Hacker nicht erfunden und niemandem Viren geschickt. Werden Sie krank, können Sie nicht die Mikroben anklagen. Sie sind ein Bestandteil dieser Krankeiten. Die Menschheit ist eine Gattung, die sich selbst sehr viel Schaden bringt.
Sie haben vierzig Bücher verfasst …
Lem: … und glaube, mit ihnen das Meinige getan zu haben. Aber die Leute lassen mich nicht in Ruhe. Nach Möglichkeit mache ich alles, worum man mich bittet, aber nicht, um andere mit meinen Sorgen zu beschweren. Die Philosophie der Wissenschaft, mit der ich mich gerade beschäftige, ist weder pessimistisch noch optimistisch. Das hat mit moralischen Kriterien nichts zu tun. Ich bin ja auch kein Moralist.
Haben Sie Angst vor dem Tod?
Lem: Vor dem Tod? Wissen Sie, bekanntlich sterben immer die anderen. So lange ich lebe, gibt es meinen Tod nicht, und wenn ich sterbe, so gibt es mich nicht und tschüss. Nein, das Schlimme ist nicht mein Tod, das Schlimme ist der Tod derjenigen, die ich liebe. Das ist schrecklich.
Würden Sie Ihr Leben mit Hilfe von Technologie verlängern lassen?
Lem: Weiß ich nicht. Alles, was ich habe, habe ich mir alleine erarbeitet, und das genügt mir vollauf. Ich habe als junger Mann schwierige Zeiten erlebt. Wenn man jung ist, kann man weit mehr ertragen als wenn man alt ist.
Haben Sie viel gesehen von der Welt?
Lem: Ich habe so viel gesehen, wie sich meine Frau wünschte, denn ich selbst reise nicht gern. Nach Amerika wollte ich nicht reisen, aber ich war in Schweden, Griechenland, Italien, Frankreich, österreich, Deutschland und Russland. Aber ich mochte das nie, in Hotels wohnen, Krawatten tragen …
Würden Sie sich ein anderes Leben wünschen?
Lem: Ich würde mir ein anderes Leben nur in diesem Sinne wünschen: ohne Kriege. Und natürlich wäre es weit besser, wenn es keine Arbeitslosigkeit gäbe. Aber ich bin ja nicht im Stande, daran etwas zu ändern. Man kann Verantwortung spüren für Leute, die für einen arbeiten und die einem leben helfen. Aber man kann sich nicht vorstellen, dass man für sechs Milliarden Menschen verantwortlich ist.