Stanislaw Lem

Lebenslauf

Das Bild dessen, was Menschen Menschen antun, um sie zu peinigen, zu erniedrigen, zu vernichten, sie in krankem und gesundem Zustand auszubeuten, in ihrem Alter, ihrer Kindheit, ihrem Siechtum, und zwar ununterbrochen, in jeder einzelnen Minute - dieses Bild kann selbst dem eingefleischtesten Menschenfeind den Atem rauben, der glaubte, keine menschliche Niedertracht sei ihm fremd.

Stanislaw Lem.

Am 12. September 1921 wurde Lem als Sohn eines Arztes in Lwow (Lemberg) in Polen (heute GUS) geboren. Mit einem Intelligenzquotienten von 180 soll er das intelligenteste Kind in ganz Südpolen gewesen sein. Schon als Kind fürchtete er sich vor “unlogischen und unvorhersehbaren” Handlungen alles Lebendigen, liebte es, mechanisches Spielzeug zu zerlegen und betrachtete seine Schulklasse als einen Mechanismus, “der nach den Gesetzen der Sozialpsychologie funktioniert.”

Von 1939 bis 1948, unterbrochen vom zweiten Weltkrieg, studierte er in Krakow Medizin und schloss es mit dem Absolutorium ab. Doch abgesehen von einer kurzen Zeit, in der er als Geburtshelfer arbeitete, war er nie als Arzt tätig. Am Krakauer Konservatorium für Wissenschaftslehre wurde dem jungen Lem ein Selbststudium ermöglicht, in dem er sich mit intensiv mit Fragen der Physik, der Biologie, der Kosmologie und er Philosphie beschäftigte. Seine erworbenen Kenntnisse vertieft er noch heute durch regelmäßige

Lektüre des “Scientific American” - einer wichtigen Quelle für seine Ideen.

In der Zeit, als Polen von Deutschland besetzt war, arbeitete er als Automechaniker und gehörte auch der polnischen Widerstandsbewegung an. Während dieser Zeit entstand, noch ohne an eine Veröffentlichung zu denken, sein erster Roman. “Der Marsmensch” erschien 1948 in einem polnischen Romanheft wurde dann aber wieder vergessen. Erst 1989 erschien der Roman in einer Neuauflage.

Nach der Beendigung seines Studiums arbeitete er am “Konserwatorium Naukoznawcze” als Assistent für Probleme der angewandten Psychologie. Nebenbei beschäftigte er sich privat mit den Problemen der Mathematik und der Kybernetik und übersetzte wissenschaftliche Veröffentlichungen. Von 1947 bis 1950 veröffentlichte er Essays und Gedichte in Zeitungen und wissenschaftlichen Zeitschriften. 1951 erschien nach einem zufälligem Gespräch über den Mangel an polnischer Science Fiction Literatur mit einem polnischen Verleger sein Roman “Die Astronauten”. Zuvor schrieb Lem einen zeitgenössischen Roman “Czas nieutracony” der aber erst 1955 erscheinen konnte.

1956 erlebt Lem den “Polnischen Oktober” mit; er zieht Diskussionen über die Probleme des polnischen “Sozrealismus” nach sich (der in Polen nie so streng durchgesetzt wurde wie in anderen sozialistischen Ländern jener Zeit). Die Konsequenzen für das Werk Lems sind unübersehbar: in den “Astronauten” ist der Glaube an den unbegrenzten menschlichen Verstand (und die kommunistische Idee) ehrlich, sogar fast naiv und nicht versetzt mit Ironie. Das Jahr 1956 und die ihm folgende Ernüchterung inspirieren Lem zu einer “reiferen”, differenzierteren Art der Darstellung. Im gleichen Jahr verfaßt er die “Dialoge”, in denen er sich mit den Möglichkeiten der Kybernetik auseinandersetzt. Einen besonderen Akzent legt er dabei auf die Übertragbarkeit menschlichen Bewußtseins auf Maschinen, beziehungsweise auf das artifizielle Bewußtsein überhaupt.

Bis 1956/57 ist es in Polen fast unmöglich, Bücher aus dem westlichen Ausland zu erwerben, so daß Lem bis dahin kaum Vergleiche zu ausländischer SF ziehen kann. Die polnische SF-Tradition selbst ist wenig ausgeprägt, man kann Lem somit beinahe als Autodidakten betrachten. Zur gleichen Zeit erlebt allerdings die sowjetische “Wissenschaftliche Fantastik” eine Blüte, an der Lem sich sicherlich orientiert hat.

Die anschließende Zeit zwischen 1956 und 1968, Lems “zweite Phase”, ist mit neunzehn Projekten besonders produktiv; in dieser Periode entstehen viele der Fabeln aus “Kyberiade” und die “Summa technologiae” (1964).

Der Erfolg im Ausland zeigt sich zunächst bei den russischen Lesern. Im Vergleich zur sowjetischen Literatur sind die Übersetzungen der Werke Lems weitgehend unzensiert, obwohl sie ein kritisches Potential enthalten (so die allgemeine Tyranneikritik in den “Kyberiaden”). In dieser zweiten Schaffensphase entstehen auch die großen Erfolgsromane wie “Solaris” (1961) und “Der Unbesiegbare” (1964). Die Auseinandersetzung mit der Gattung SF ist in dieser Zeit am deutlichsten, während er sich in der folgenden “dritten Phase” enttäuscht von ihr zu distanzieren versucht (ohne sich allerdings lösen zu können).

In der “dritten Phase” (die Phaseneinteilung dient nur der Übersichtlichkeit) ab 1968 versucht Lem verstärkt, die Grenzen der Gattung hinter sich zu lassen, zum Beispiel durch Rezensionen fiktiver Bücher, fiktiver Lexikoneinträge oder Einleitungen zu nichtexistenten Werken (“Die vollkommene Leere” 1971; “Imaginäre Größen” 1973).

Mit ihr einher geht aber auch eine Krise im Schaffen Lems. Er beginnt, seine Unzufriedenheit mit seinem bisherigen Werk, aber auch dem anderer SF-Autoren zu formulieren. Es entstehen theoretische Werke, an denen Lem, wie er im Nachwort der “Dialoge” feststellt, weit mehr liegt, als an seinem fiktionalen Werk.

Bezogen auf die Darstellung von “Welten” läßt sich ein Tryptichon in den belletristischen Werken feststellen: es gibt Werke, die sich direkt auf die Zukunft des Menschen beziehen (“Der Futurologische Kongreß”), Werke, in denen Menschen mit fremden Kulturen zusammentreffen (vor allem die “Sterntagebücher”, in denen der Pilot Pirx Abenteurer im Weltraum und in den verschiedensten Kulturen erlebt und schließlich Werke, in denen die fremde Kultur im Vordergrund steht (z.B. “Eden”; in “Kyberiade” wird ebenfalls eine fast menschenlose Kultur beschrieben).

Parallel zu seinen Experimenten innerhalb der Gattung entwickelte Lem in verschiedenen theoretischen Werken seine eigene Metatheorie zur SF. Diese Werke beziehen sich allerdings nicht nur auf diesen Bereich.

1982 war er Stipendiat in Berlin am Institut für Advanced Studies. In den Jahren 1982 bis 1988 wohnte er in Wien. Seit dem lebt er in Krakow, wo er auch seit 1973 Dozent am Lehrstuhl für polnische Literatur an der Universität Krakow ist. Außerdem ist er Mitglied der polnischen Gesellschaft für Kybernetik und Mitglied im Ausschuß Polen 2000 für polnische Literatur an der Universität Krakow.

Bemerkenswert ist die Mischung aus typischen SF-Motiven wie der Raumfahrt, aus Motiven der erlebbaren Realität wie Bürokratie und Militär und abstrakten Themen aus Wissenschaft und Philosophie. Lems Kunst besteht vor allem darin, diese verschiedenen Elemente zu einem homogenen Text verschweißen zu können, obwohl ihm Kritiker vorwerfen, seine Romane durch überbordende diskursive Einschübe unlesbar zu machen. Tatsächlich tritt das Abenteuer häufig in den Hintergrund, doch wird dies zumeist mit einer phantasievollen Führung durch die Ideenwelt des Autors ausgeglichen.

Ausgezeichnet mit vielen Literaturpreisen und eine Weltauflage seiner Bücher von über 30 Millionen in 30 Sprachen ist er der erfolgreichste polnische Autor der Gegenwart und einer der erfolreichsten SF-Autoren weltweit und doch zugleich einer der größten Kritiker dieser Literaturgattung.

Der polnische Autor hat den Science-Fiction-Roman “literaturfähig” gemacht und ist mit seinen Utopien weit über die Phantasien seiner “Väter” Jules Verne und H.G. Wells hinausgegangen. Die wissenschaftliche Fundierung seiner Romane ist ihm heilig und zugleich das, was er bei den meisten der anderen Autoren vermißt; sie produzierten gefälligen, kommerzialisierten “infantilen Schund”, der der Science Fiction ihre Chance nehme, tatsächlich durch die Beschreibung des (Un-)Möglichen ihre gesellschaftliche Legitimierung zu finden. In erster Linie will Lem mit seinen Romanen nichts anderes erreichen, als jeder andere Autor auch: den Leser zu unterhalten, denn “Unterhaltung ist ein Wert an sich”. Lem selbst hat sich dafür mit mehreren wissenschaftlichen und technischen Disziplinen auseinandergesetzt.

Lem schildert - im Gegensatz zu seinen Vorbildern -weniger technische Utopien, sondern verarbeitet Grenzprobleme beinahe aller Erkenntniszweige, etwa der Mathematik, Soziologie, Mikrobiologie und Kernphysik. So kreiert er erfundene Forschungsgebiete, schildert maginäre Entdeckungen, Irrwege, Scheinlösungen, Kontroversen und erläutert akribisch eine von A bis Z völlig frei erfundene Bibliographie. In Form einer Rezension von 16 nicht existenten zukünftigen Büchern konstruierte er sich eine “Bibliothek der Zukunft”. Aber man könne den Weg der Menschheit nicht dadurch verbessern, daß man Prognosen schreibe, konstatiert er. 1988 hat sich der erfolgreichste Science fiction-Autor der Gegenwart daher entschlossen, mit dem Schreiben von Belletristik aufzuhören - “weil es in der Welt Wichtigeres gibt”. “Da stehe ich wie mit einem Löffel voll Wasser vor dem Atlantik und will noch etwas dazu gießen!”, kommentiert er seine Arbeit als Schriftsteller, “Ich halte mich heute lieber an die empirischen Wissenschaften als Rettungsanker, damit es mich nicht fortspült”.

Daniel Weigelt / Albert Almering

“Ich glaube nämlich nicht, daß die Menschheit ein für immer hoffnungsloser und unheilbarer Fall ist.” Stanislaw Lem (“Mein Leben”, 1983)

Auszeichnungen:

1.    1955 Goldenes Verdienstkreuz

2.    1959 Offizierskreuz der Polonia Restituía

3.    1973 Großer Staatspreis für Literatur der Volksrepublik Polen

4.    1985 Großer Österreicher Staatspreis für Europäische Literatur

5.    1987 Literaturpreis der Alfred Jurzykowski Foundation

6.    1991 den österreichischen Kafka Preis

Teil III:

Examensarbeit

„SF im Allgemeinen und Lem im Besonderen“

von

Albert Almering Quelle: www.iion-tichv. de

Inhalt

1.    Einleitung

1.1.    Die grundlegenden Ideen

1.2.    Zu den Materialien und Quellen

1.3.    Carl Amery - Zu Person und Werk

1.4.    Stanislaw Lem - Zu Person und Werk

1.5.    Warum Science Fiction ?

2.    SF: Entwicklung, Spielregeln, Motive

2.1.    Engagierte SF zwischen “Futuria” und “Utopia”

2.1.1.    Die Betrachtung “von außen”

2.1.2.    Die “ideologiekritische” Betrachtung

2.2.    Fiktive Geschichte: Was wäre (geschehen), wenn…?

2.3.    Wissenschaftliche Fantastik (WF)

2.4.    Öffentlichkeit und SF

2.5.    Eine Zwischenbilanz: Spielregeln und Motive der SF

3.    Carl Amery: “Das Königsprojekt”

3.1.    Das Motiv der Zeitreise

3.2.    Kirche und Welt: Der regressive Ansatz

3.3.    Geschichte als “Geschichte der Sieger”

4.    Stanislaw Lem: “Kyberiade”

4.1.    Märchenwelt und Zukunftswelt in den “Fabeln zum Kybernetischen Zeitalter”

4.2.    Menschheit und “Roboterheit”: Auf der Suche nach Werten

4.3.    “Experimenta Felicitologica”: Trurl und Klapauzius als ohnmächtige “Götter”

5.    Carl Amery: “Der Untergang der Stadt Passau”

5.1.    Die Weltkatastrophe als Strukturelement

5.2.    Die Wiedergeburt der Politik

5.3. Inkonsequenter und ökologischer Materialismus

6.    Stanislaw Lem: “Der Futurologische Kongreß”

6.1.    Die “Erlebensebenen” in der Erzählung Tichys

6.2.    Die Linguistische Prognostik Trottelreiners

6.3.    Chemokratie und Psivilisation

7.    Stanislaw Lem und Carl Amery im Vergleich

7.1.    Verschiedene Methoden der Abstraktion

7.2.    Transzendenz und Kultur

7.3.    Kulturkritik in Geschichte, Zukunft und fiktiven Welten

7.4.    Zwei Mahner

8.    Schlußbemerkung und Ausblick 10. Quellen- und Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Science Ficion ^ als literarische Gattung betrachtet 1, wird wie kaum eine andere Gattung in der Literaturkritik kontrovers behandelt.

Die Mehrzahl der Kritiker der SF konzentrieren sich vor allem auf den Massenproduktionsaspekt, bei dem die anspruchsvollen Werke durch eine Flut von sogenanntem “Pulp” verdeckt werden - letzterer wird aber dann von diesen Kritikern als repräsentativ für die ganze Gattung betrachtet. Beim “Pulp” steht das Abenteuer im Vordergrund, das so gestaltet ist, daß es beim Leser eine Bedürfnisbefriedigung erwirkt, die aus einem veränderten Erleben der Wirklichkeit besteht. Doch ist in diesem Punkt der These Jörg Hiengers zu folgen, wenn er feststellt: “Weisen die Abenteuer allzu nachdrücklich über sich hinaus, so daß ihre Voraussetzungen und Folgen wichtiger werden, als sie selbst, dann sind sie schon nicht mehr bloße Abenteuer.” (Hienger 1972, S. 214)

Obwohl der Unterhaltungscharakter der Gattung ein wichtiges Element ist, wird doch die Untersuchung der SF besonders an den Stellen interessant, wo das bloße Abenteuer verlassen wird. In diesem Zusammenhang soll in dieser Arbeit geklärt werden, ob und inwiefern beispielsweise die utopische Tradition in der SF fortgeführt wird.

Die Gegenposition zu der oben genannten Kritikern der SF neigt wiederum dazu, die Leistungsmöglichkeit der SF in das Gegenteil zu übertreiben; besonders in der Tradition der amerikanischen SF existieren

Ansätze, die SF durch die Möglichkeiten des Gedankenspiels der übrigen Literatur überzuordnen. Eine vertretbare Position liegt zwischen den beiden Extremen; eine Einschätzung der Grenzen der Möglichkeiten soll in 2. 1. (Engagierte SF zwischen Futuria und Utopia) anhand des Begriffs “Engagierte SF” beschrieben werden, in Verbindung mit einem Querschnitt durch verschiedene Positionen innerhalb der Literaturkritik (vgl. 2. 1.1. und 2. 1. 2.). Der Begriff “Engagierte SF” wurde der Dissertation von Ulrike Gottwald (Gottwald 1990, S. 23) zur SF als Literatur in der Bundesrepublik der siebziger und achziger Jahre entlehnt. Im Unterschied zu Gottwald soll in dieser Arbeit das Engagement neu definiert werden, besonders im Hinblick auf ihre These, daß sich die Aspekte des Spiels und die Aspekte des Engagements umgekehrt proportional zueinander verhalten. Als ebenso problematisch erweist sich ihr Versuch, definitorische Kriterien zu finden, die “SF als Literatur” von “SF als Trivialliteratur” sachlich zu unterscheiden. Den Einwänden zum Trotz soll die SF-Definition von Gottwald aber im Kern beibehalten werden, da sie im Kern zutreffend ist: SF bedient sich der Methode der “erkenntnisbezogenen Verfremdung” und hat grundsätzlich unterhaltenden Charakter.

Es zeigt sich, daß der Begriff SF vor allem auf zwei Wegen zu definieren versucht wird: die “integrative” Position (vgl. 2.1.1.) bestimmt den Begriff sehr umfassend (beispielsweise durch die Rezeption der Leser); die “ausgrenzende” Position (vgl. 2.1.2.) sucht nach textimmanenten und eindeutigen Kriterien für eine Definition. Die letztere Position hat sich schließlich als ergiebiger für die Diskussion (besonders im Hinblick auf die Frage der Literatizität) erwiesen, da in ihr die Ideologien, die die Gattung begleiten, aufeinandertreffen.

“Engagierte SF” ist ein Hilfsbegriff der innerhalb dieser Arbeit auf einer Arbeitshypothese basiert: da es nahezu unmöglich ist, triviale SF von literarischer SF definitorisch zu unterscheiden, soll dieser Begriff eine Tendenz, eine nicht einheitliche Strömung innerhalb der Gattung beschreiben, die über die Abenteuerdarstellung zu vorwiegend kommerziellen Zwecken hinausgeht (das soll nicht bedeuten, daß Engagierte SF nicht kommerziell erfolgreich sein darf; man denke an die hohen Auflagen Lems).

Alle Regeln und Ordnungen unserer erfahrbaren Wirklichkeit sind in der SF veränderbar; die in der SF dargestellte Wirklichkeit ist aber selbst nicht ohne Regeln und Ordnung und sollte sie es sein, so gibt es dafür eine rationale Erklärung (zum Beispiel halluzinatorische Erlebnisse des Erzählers in Lems Werk “Der Futurologische Kongreß“). Dabei sollte nicht außer acht gelassen werden, daß neben der Rationalität die Handlung zusätzlich über emotionale Faktoren bestimmt wird, vergleichbar mit jeder beliebigen Erzählung, die nicht aus dem SF-Bereich stammt.

Die Plausibilität der Erklärung ist ein entscheidendes Kriterium für die Qualität eines SF-Romans oder einer Kurzgeschichte, auch bezogen auf ein mögliches Engagement.    Die Ausnahme davon bilden    die

satirischen Darstellungen, in denen das rationale Element bewußt auf den Kopf gestellt wird.

Neben dem    Element des Abenteuers und    der

Rationalität ist das dritte prägende Element der SF die Darstellung.    Eine Besonderheit ist, daß die    SF-

Erzähler im    Prinzip keine anderen Formen    der

Kurzgeschichte oder des Romans benutzen, als Erzähler, die mit unserem Realitätsbegriff übereinstimmende Begebenheiten fingieren. Das SF-Verfahren ist seit Verne und Wells, “Unglaubliches plausibel zu erklären” (Hienger 1972, S. 16), obwohl nicht allein dadurch aus einer Erzählung eine SF-Erzählung wird.

Das Unglaubliche läßt sich in einem relativ klar eingrenzbaren Fundus von Motiven und Requisiten wiederfinden (vgl.: 2. SF: Entwicklung, Spielregeln, Motive), entscheidend ist die Art und Weise, wie es dem Leser präsentiert wird. Der Begriff “Engagierte SF” ist so weit gefaßt, daß er auch das künstlerische Spiel mit der Wirklichkeit als Engagement umfaßt. Das Engagement ist also nicht so eng zu verstehen, daß es sich auf das didaktische Moment konzentriert, daß eine “Botschaft”, die über das SF-Modell transportiert wird, das literarische Spiel in den Hintergrund drängt 2. Die Didaktik wird auf einer tieferen, verborgenen Ebene durch einen Mechanismus vermittelt, der auf “Lernen durch Analogien” basiert, eine Methode, die in jüngster Zeit in der Gedächtnis-, Lern- und Denkpsychologie starke Beachtung findet. Das Lernen durch Analogien leitet sich von der Annahme kognitiver Schemata ab, die durch das Erkennen verwandter Strukturen übertragen, ausgebaut und umstrukturiert werden können:

“Die Schemata des vorhandenen Wissens dienen dabei als Schablonen, die die Elemente des neuen Wissens provisorisch aufnehmen und ihnen teilweise die Struktur des alten Wissens aufprägen. Dadurch entstehen a priori Zusammenhänge, die Ausgangspunkt für weitergehende korrigierende, differenzierende oder integrierende Verarbeitungsprozesse sein können.” (Rüppell 1991, S. 13)

Die bekannten “Aha”-Erlebnisse (jemand erkennt: “Das ist ja genau wie…”) gehen meist auf die erfolgreiche Umgestaltung eines Schemas zurück. Die Gattung SF ist besonders dafür geeignet, Modellstrukturen zu entwerfen, ohne daß die Variabeln, die ein solches Beziehungsnetz enthält, eindeutig definiert werden müssen (jeder hat ein Konzept, wie er sich gegenüber einem “Fremden” verhält, doch wie reagiert man bei der Begegnung mit einem “Alien”?). Ein eigenes Kapitel über die Didaktik der SF hätte den Rahmen dieser Arbeit gesprengt, doch sei verwiesen auf die Kapitel 7.1. bis 7.4., in denen Konstruktion und Intention von Modellen exemplarisch anhand der besprochenen Werke nachvollzogen werden wird.

Neben einem Engagement für die spezifisch literarische Seite der Gattung, das bei Lem ausgeprägt, bei Amery aber nur andeutungsweise vorhanden ist, wurden mit diesen beiden Autoren bewußt solche ausgesucht, bei denen sich hinter dem künstlerischspielerischen merklich etwas wie eine “Botschaft” 3 verbirgt. Den Rückschluß auf diese “Botschaft” erlaubt bei beiden Autoren die die belletristischen Werke begleitenden diskursiven Schriften, zusätzlich aber auch ihr jeweiliges, auch außerliterarisches Engagement in Politik und Wissenschaft. Daher sollen die Werke von Carl Amery und Stanislaw Lem zusätzlich auf die bestimmten Kriterien hin untersucht werden, die auf dieses “Engagement 2. Ordnung”, das über die SF-Erzählung hinaus wieder auf die Wirklichkeit verweist, referieren, auch wenn dieser Arbeit die Gefahr droht, sich vom Allgemeinen (der Untersuchung der Möglichkeiten der SF) im sehr Speziellen zu verlieren.

Abgesehen von der unterschiedlichen literarischen Gestaltung lassen sich bei beiden Autoren unterschiedliche philosophische Positionen extrahieren, die zunächst auf eine umfassende Kulturkritik, aber auch auf eine Untersuchung des transzendentiellen Faktors als kulturstabilisierendem Element hinauslaufen. Die beiden Aspekte Transzendenz und Kultur werden in 7.2. (Transzendenz und Kultur) und 7. 3. (Kulturkritik durch Geschichte, Zukunft und fiktive Welten) gesondert und in 7.    4. (Zwei Mahner) im

Zusammenhang und in bezug zu den analysierten Werken untersucht. Dabei ergeben sich bei aller Verschiedenheit der Autoren Berührungspunkte, die im einzelnen herausgearbeitet werden, so vor allem im Moment der literarischen Umsetzung philosophischer Ideen, in einer umfassenden Zivilisationskritik und (damit verbunden) einer Suche nach Transzendenz als kulturstabilisierendem Faktor. Es muß zugegeben werden, daß die ausgewählten Autoren mit ihren anspruchvollen Ansätzen eher die Ausnahme als die Regel unter den SF-Autoren darstellen; Lem 4 ist bemüht, losgelöst von der Geschichte die Grenzen der Gattung zu sprengen, um so den Bereich des Erfahrbaren, die Perspektive zu erweitern. Amery dagegen ist mehr an einer neuen Fokussierung historischer Ereignisse gelegen. Eine Durchleuchtung seiner wissenschaftsorientierten Methode des “Was wäre gewesen, wenn..” wurde in 2.2. versucht. Künstlerische Aspekte in Sprache und Stil werden jeweils in den Punkten 3.1., 4.1, 5.1. und 5.2. im Bezug zu den einzelnen Werken, schließlich vergleichend in

7.1. angesprochen werden. In den verschiedenen Ansätzen zur Abstraktion ihres “Engagements” zeigen sich große programmatische Divergenzen der beiden Schriftsteller, die dann in der Aussage zum Teil konvergieren:

>    in der Kritik an bestehenden Zuständen kulturellen “Mismanagements”; zur Herausarbeitung dieses Punktes wurden besonders Amerys “Der Untergang der Stadt Passau” und Lems “Der Futurologische Kongreß” zum Vergleich ausgewählt,

>    für die Suche nach absoluten Werten5 und Transzendenz, aber auch für Kritik an Wertverfall und -mißbrauch werden vor allem die “Kyberiade” Lems und “Das Königsprojekt” Amerys vergleichend herangezogen.

Diese Unterscheidung kann nicht mit voller Konsequenz beibehalten werden, da sich in jedem Werk mehrere verschiedene Aspekte belegen lassen.

1.1. Grundlegende Ideen

Genauer betrachtet ist das Verfassen einer Zukunftsgeschichte ein unmögliches Unterfangen. Erzählen lassen sich nur “vergangene” Geschichten, deren Umrisse sich durch den Rückblick auf bereits Erfahrenes formen. In der SF-Geschichte muß sich der Erzähler meistens an eine Zukunft “erinnern”, die logischerweise niemals stattgefunden haben kann 6. Somit präsentiert sich dem Leser von Anfang an eine paradoxe Erzählsituation, die er geneigt sein muß, hinzunehmen, wenn er ein Buch dieser Gattung aufschlägt. “… der Erzähler und sein Publikum müßten eigentlich Zeitgenossen der Romanhelden sein, um sich über deren Taten verständigen zu können.” (Jehmlich/Lück 1974, S. 22) Sie sind es jedoch in den seltensten Fällen. Dennoch ist das Interesse vorhanden, an einer Zukunft teilzuhaben, die noch nicht die eigene ist, die es durchaus sein könnte, die aber auch völlig verschieden sein kann.

Aus der vorausgesetzten Bereitschaft, sich auf die “Spielregeln” der Erzählung einzulassen, ohne das Erzählte sogleich mit Empörung als Absurdität von sich zu weisen, löst sich die Irrationalität der Erzählsituation. Hier zeigt sich am deutlichsten die Verwandtschaft der SF mit dem Märchen: niemand würde sich bei der Lektüre eines Märchens über eine Gans aufregen, die goldene Eier legt. Im Unterschied zum Märchen muß in einer SF - Erzählung wenigstens angedeutet werden, warum denn eine Gans goldene Eier legt 8. Für die Begründung darf die SF als Kunstgriff sogar falsche Hypothesen verwenden, nur muß die Erklärung letztlich akzeptabel sein, um der Gattung gerecht zu werden.

Anhänger der SF wie Robert A. Heinlein 7 und Darko Suvin, der mit Lem “Contributing Editor” der “Science Fiction Studies” (vgl. 1. 2.) ist, sehen in der SF eine Möglichkeit, über die Grenzen der realistischen Literatur hinauszugehen. Sie gehen sogar so weit, SF letzterer als angemessener Ausdruck der gegenwärtigen Stituation und ihrer Entwicklung überzuordnen.

Tatsächlich ergeben sich für die “realistische” Literatur Probleme aus dem Zwiespalt, auf eine allegorische Darstellung der Wirklichkeit zu verzichten, auf der anderen Seite aber für die “Wahrhaftigkeit des Individuellen” einzutreten und über den psychologischen Wahrscheinlichkeitsbegriff den Weg zu einer “schrankenlosen Subjektivität” zu öffnen (vgl.: Dieter Penning in: Thomsen/Fischer 1980, S. 41). Wenn also der “realistische” Roman niemals realistisch sein kann und auch die erfahrbare “Wirklichkeit” durch ihre Komplexität kaum noch Ausblicke auf größere Zusammenhänge erlaubt, scheint es folgerichtig, sich einer Literaturgattung zu widmen, die das Signum des Fiktionalen demonstrativ trägt. Der vordergründige Verzicht auf den Anspruch, die Realität wiederzugeben, macht es dem Leser somit leicht, sich auf neue Perspektiven einzulassen und sich einem subtilen, modellhaften Realismus hinter der fiktionalen Fassade auszusetzen. Das allerdings hieße die Problemstellung verkürzen. Häufig beschränkt sich die Spekulation über die Zukunft darin, die Neugier des Lesers (und des Autors) zu befriedigen und die Veränderung um der Veränderung willen auszuspielen, nicht aber, um eine Sinnfrage in der Veränderung zu klären.

Bei Lem und Amery wird schon durch das begleitende diskursive Werk deutlich, daß sie in ihrem belletristischen Werk die Entwicklung der Neuzeit zu beleuchten versuchen. “Es ist ein durchgängiger Befund der folgenden Studien, daß im Maße als die eigene Zeit als eine immer neue Zeit, als ‘Neuzeit’ erfahren wurde, die Herausforderung der Zukunft immer größer geworden ist.” (Kossellek 1979, S. 12.) Die Zukunft ist spürbar greifbarer geworden, so daß Versuche entstehen, sie zu verwalten (man denke an den populär gewordenen Begriff des “Zukunftsministers”).

Viele literarische Fiktionen, wie beispielsweise Vernes Mondreise, sind bereits von der Wirklichkeit überholt worden; im Fall von Orwells “1984” hat die Wirklichkeit einen anderen Verlauf genommen, ohne daß das Werk seine Aktualität völlig verloren hätte (obwohl Huxley’s “Brave New World‘ den modernen Verhältnissen weit besser entspricht, wie noch dargelegt werden wird). Da sich SF vorwiegend in der Zeit bewegt, ist eine gewisse Übertragbarkeit des Dargestellten trotz aller spielerischen Elemente möglich. Insofern ist SF eine gute Möglichkeit, auf gegenwärtige Probleme aufmerksam zu machen; wie gut dies gelingt, ganz gleich ob als auf die Realität bezogene Literatur oder als SF, hängt vom einzelnen Werk ab. Inwieweit die in dieser Arbeit besprochenen Werke diese Möglichkeit nutzen, ist ein wesentlicher Bestandteil der Untersuchung.

1.2. Zu den Materialien

Bevor die eingangs genannten Werke von Amery und Lem näher untersucht werden können, müssen einige Prämissen geklärt werden :

> Amery ist von der Kritik und der rezensierenden Literatur kaum beachtet worden;    eine

“literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Carl Amery findet nicht statt” (Kurtz 1992, S. 4) 8. Bei Lem dagegen ist die Auswahl unter den Rezensenten schwierig:    Von den halbwissen

schaftlichen Veröffentlichungen bis zu Universitätsschriften findet er internationale Beachtung, so daß eine vollständige Sichtung kaum möglich ist. Den meiner Ansicht nach besten Überblick bietet die Bibliographie von Wolfgang

Thadewald (Thadewald in: Marzin 1985, S. 179-322)

11

>    Lem ist gebürtiger Pole, ist des Deutschen jedoch fließend mächtig 9. Dennoch mußten die meisten seiner Werke übersetzt werden. Die Übersetzungen von Jens Reuter, Caesar Rymarowicz, Karl Dedecius, Klaus Staemmler, die die Fabeln der “Kyberiade” bearbeiteten und die Übersetzung des “Kongreß” von Ingrid Zimmermann-Göllheim, die als Vorlage verwendet wurden, sind vom Autor autorisiert worden, aber letztlich konnten vermutlich nicht alle Eigenheiten des polnischen Orginals berücksichtigt werden.

>    Lem und Amery stehen in verschiedenen Traditionen, sowohl im politischen, kulturellen als auch literarischen Bereich (vgl. 2.2 und 2.3.).

Die vier Werke stammen aus dem relativ dichten Zeitraum von 1974 - 1983. Diese Zeitangabe ist allerdings gemessen am Erscheinungsdatum der Werke in Deutschland; Lem wird vielfach falsch beurteilt, weil man bei ihm den großen Verzugszeitraum zwischen Verfassungstermin und dem Erscheinen nicht berücksichtigt. Da es aber in dieser Arbeit vorwiegend um die Rezeption im deutschsprachigen Raum geht, ist die oben angegebene Zeitgrenze als Arbeitsgrundlage für diese Arbeit legitim.

Seit 1985 werden die “Gesammelten Werke in Einzelausgaben” Carl Amerys in der Süddeutschen Verlags-GmbH (Süddeutscher, Nymphenburger und List-Verlag) herausgegeben.

Lem wird in der BRD hauptsächlich als gebundene Ausgabe vom Insel-Verlag und als Taschenbuchausgabe von Suhrkamp publiziert. Diese Publikationen wurden als Grundlage für diese Arbeit verwendet; zitiert wird entsprechend den Erscheinungsdaten der deutschen Ausgabe.

Das Zeitschriftenmaterial zur SF allgemein gliedert sich in die “Fanzines” 10 (aus “Fan” und “Magazine”, gekennzeichnet durch ausgedehnten Leserbriefanteil und vielfach unkritischen Insider-Berichten), die halbprofessionellen Veröffentlichungen und die Universitätsschriften. Die ersteren scheiden für diese Arbeit aus, da weder Lem noch Amery in ihnen größere Beachtung finden.

Von den halbprofessionellen Veröffentlichungen sind im deutschen Sprachraum vor allem interessant:

> Die “Science Fiction Times“, 1958 gegründet von Rainer Eisfeld, heute herausgegeben von Alpers und Hahn: neben biographisch orientiertem Material bietet sie vor allem Angaben zu Detailproblemen; eine spezielle Rubrik “Sozialistische Alternative” stellt sozialistische SF im Gegensatz zu “bürgerlicher SF” vor (zu letzterem wird beispielsweise der Heroismus in “ Perry Rhodan” gezählt).

> Der Quarber Merkur11 Franz Rottensteiners bewegt sich bereits im halbwissenschaftlichen Bereich:

“Obwohl der Quarber Merkur im wesentlichen ein EinMann-Unternehmen ist und keinen institutionalisierten Bezug zu einer Universität hat, verschafft er von allen Amateurzeitungen doch den besten Überblick über den derzeitigen Forschungsstand.” (Jehmlich/Lück 1974, S. 57.)

Nicht nur der amerikanische Markt, auch Literatur aus den sozialistischen Ländern und die europäische SF finden in ihm Beachtung. Die Auflage bewegt sich zwischen 25 und 300 Exemplaren; der Herausgeber der Science Fiction Times” ist zugleich auch Herausgeber, Verleger und Drucker des Quarber Merkurs”. 12 Den halbprofessionellen Veröffentlichungen ist gemeinsam, daß sie sich nicht nur an eine Fangemeinde richten, sondern allgemein die Diskussion der literarischen Gattung ermöglichen.

Von den Universitätsschriften ist für diese Arbeit besonders die von Mullen und Survin (Lems Übersetzer ins Englische) redigierte Science Fiction Studies” von Bedeutung, in der auch Lem häufig publiziert. Sie erscheint an der Indiana State University. Ein deutschsprachiges Dependant gibt es leider noch nicht. Wichtig ist besonders die dort ausgedehnt geführte Methodikdiskussion, die sonst im Bereich der SF wenig behandelt wird.

Christian Anton Mayer, der seinen Namen später in Carl Amery ändert, wird am 9. April 1922 in München geboren. Nach Abschluß seiner Schulzeit in Freising und Passau zieht man ihn zum Kriegsdienst ein, aus dem er nach dreijähriger Kriegsgefangenschaft (19431945) zurückkehrt.

In München studiert er Neuere Philologie und erhält 1948 ein Studienstipendium für Literaturkritik und -theorie an der Catholic University in Washington. Seit 1950 lebt Amery als freier Schriftsteller in München und arbeitet dort zeitweilig als Dramaturg und Redakteur.

1954 veröffentlicht er seinen ersten Roman “Der Wettbewerbvier Jahre später folgt “Die große deutsche Tour“, eine ironische Reflexion auf den mißlungenen Neubeginn in der Bundesrepublik. Amery beginnt, sich politisch zu engagieren: in der Gruppe 47 (1955-67) und in der neugegründeten “Gesamtdeutschen Volkspartei” Gustav Heinemanns.

In den sechziger Jahren richtet Amery mit einer Reihe von Streitschriften    und    Essays    sein kritisches

Augenmerk auf die Institution der katholischen Amtskirche:    Die Kapitulation oder Deutscher

Katholizismus heute (1963), eine Streitschrift, mit der er auf sich aufmerksam macht, die Essaysammlung Fragen an    Welt    und    Kirche    (1967) und

Katholizismus    und    Faschismus.    Analyse einer

Partnerschaft. (1970).

Von 1967 bis    1971    leitet    Amery    die Städtischen

Bibliotheken in München, engagiert sich im Verband Deutscher Schriftsteller (VDS), zugleich beteiligt er sich 1969 und 1972 an der Sozialdemokratischen Wählerinitiative.

In den siebziger Jahren erweitert sich der Bezugsrahmen der Werke Amerys:    der gesell

schaftskritische Ansatz nimmt globalen Charakter an. Diese Tendenz beginnt in Das Ende der Vorsehung. Die gnadenlosen Folgen des Christentums (1972) und tritt in seinem zweiten großen Essayband Natur als Politik. Die ökologische Chance des Menschen (1976) vollends in den Mittelpunkt.

Zwischen diesen beiden theoretischen Veröffentlichungen liegen die für diese Arbeit ausgewählten Romane Das Königsprojekt (1974) und Der Untergang der Stadt Passau (1975), eine Weltkatastrophenerzählung des SF-Genres13. Vier Jahre später erscheint der Alternativwelt-Roman Mn den Feuern der Leyermark (1979).

1974 tritt Amery aus der SPD aus, da sie ihm zu “industriefreundlich” erscheint. Im gleichen Jahr übernimmt Amery zunächst den Landesvorsitz des Verbandes deutscher Schriftsteller (jetzt VS) und 1976/77 den Bundesvorsitz. Zusätzlich arbeitet er im “Komitee gegen Atomrüstung” und in der “E. F. Schumacher-Gesellschaft für politische Ökologie” und ist Gründungsmitglied der Grünen.

Nach 1980 verfaßt Amery noch einige kurze SF-Erzählungen (“Im Namen Allahs des Allbarmherzigen” 1981 und Nur einen Sommer gönnt ihr Gewaltigen” 1984; die bei Gottwald 1990 genannte Erzählung Begegnung am Strand” von 1986 kann nicht auf Amery zurückgeführt werden) und den phantastischhistorischen Roman Die Wallfahrer” (1986), den er persönlich für den wichtigsten seiner Romane hält; “ Das Geheimnis der Krypta” (1990) ist sein vorerst letztes nicht-theoretisches Werk. Es gehört bereits nicht mehr zur Gattung SF. Als Nachfolger des verstorbenen Martin Gregor-Dellin wurde Amery 1989 für zwei Jahre zum Präsidenten des P.E.N.-Zentrums gewählt.

1994 erschien in der Reihe der “Gesammelten Werke” “Die Botschaft des Jahrtausends. Von Leben, Tod und Würde. ” Dieser jüngste diskursive Band soll besondere Beachtung in dieser Arbeit finden, da er sich in einer “Prognose auf kurzer Distanz” versucht, mit der Amery die Menschheit vor die Wahl zwischen Leben und Tod stellt. Im gleichen Jahr wird Amery zu einem Gastvortrag auf den 40. Deutschen Historikertag 14 nach Leipzig eingeladen.

Reclams Science-Fiction-Führer bemerkt zu Amery:

“A. ist einer der wenigen wichtigen deutschen Gegenwartsautoren, der sich der SF nicht nur annähert und ihre Form als Verfremdung benutzt, sondern den auch SF-Thematik als solche interessiert, der ihre Möglichkeiten

nutzt, um historische Materialien aufzuarbeiten, Geschichtsabläufe transparent zu machen und mit historischen Alternativen Gedankenspiele zu betreiben.” (Alpers/Fuchs/Hahn 1982, S. 13.)

Diese Aussage stimmt nur zum Teil: Amery ist, wie richtig beschrieben, historisch interessiert, im Gegensatz zu Lem aber nicht an der SF-Thematik als solcher 15. Für Amery ist SF sowohl eine Gattung, als auch vor allem eine “Attitüde”, die für den literarisch Tätigen entscheidend ist. Die letztliche Einordnung ist seiner Ansicht nach abhängig von der Erwartungshaltung des Lesers (Amery-Interview 1995, S. 15-17). 16

1.4. Stanislaw Lem - Zu Person und Werk 17

Stanislaw Lem wird am 12. September 1921 in Lwow geboren. Seine Kindheit, in der er sich schon früh für mechanisches Spielzeug und später für Elektronik interessiert, beschreibt Lem autobiographisch in “Das hohe Schloß” (1975). Trotz seiner Vorlieben für Physik studiert er aus familiärer Tradition18 Medizin. Während des Krieges ist Lem als Autoschlosser tätig; seine Erlebnissse mit den deutschen Besatzern sind für ihn, der bis dahin wohlbehütet aufgewachsen ist, prägend 22. Von 1946 bis 1948 beendet Lem sein Medizinstudium ohne Abschlußprüfung (vgl.: Lem

1986, S. 23).

Sein erster großer SF-Roman, die “Astronauten” (in einer anderen Ausgabe Planet des Todes 1954), wird 1951 veröffentlicht; nach dessen Erfolg blieb Lem der Gattung SF treu, obwohl er selbst gerade diesen Roman später kritisiert.

Lems persönliche Situation in den frühen fünfziger Jahren ist trotz des Erfolges der “Astronauten19 alles andere als vielversprechend:

“During the early 1950s, Lem was in a delicate situation politically as a person without a visible career. He had been expelled from the Authors League in 1951 for not having a published book to his credit, he had no medical diploma, and he had no job because he had been forced to relinguish his editorial position with Zycie Nauki (eine staatlich finanzierte Zeitschrift, für die Lem arbeitete, AA).” 20 (Ziegfeld 1985, S. 6)

Durch die Arbeit für diese Zeitschrift wird Lem mit der Wissenschaft konfrontiert, die sein ganzes literarisches Schaffen prägen soll: der Kybernetik 21.

1956 erlebt Lem den “Polnischen Oktober” mit; er zieht Diskussionen über die Probleme des polnischen “Sozrealismus” nach sich (der in Polen zugegebenermaßen nie so streng durchgesetzt wurde wie in anderen sozialistischen Ländern jener Zeit). Die Konsequenzen für das Werk Lems sind unübersehbar: in den “ Astronauten” ist der Glaube an den unbegrenzten menschlichen Verstand (und die kommunistische Idee) ehrlich, sogar fast naiv und nicht versetzt mit Ironie. Das Jahr 1956 und die ihm folgende Ernüchterung inspirieren Lem zu einer “reiferen”, differenzierteren Art der Darstellung. Im gleichen Jahr verfaßt er die “Dialoge“, in denen er sich mit den Möglichkeiten der Kybernetik auseinandersetzt. Einen besonderen Akzent legt er dabei auf die Übertragbarkeit menschlichen Bewußtseins auf

Maschinen, beziehungsweise auf das artifizielle Bewußtsein überhaupt.

Bis 1956/57 ist es in Polen fast unmöglich, Bücher aus dem westlichen Ausland zu erwerben, so daß Lem bis dahin kaum Vergleiche zu ausländischer SF ziehen kann. Die polnische SF-Tradition selbst ist wenig ausgeprägt, man kann Lem somit beinahe als Autodidakten betrachten. Zur gleichen Zeit erlebt allerdings die sowjetische “Wissenschaftliche Fan-tastik” eine Blüte, an der Lem sich sicherlich orientiert hat (vgl. 2. 3.).

Die anschließende Zeit zwischen 1956 und 1968, Lems “zweite Phase”, ist mit neunzehn Projekten besonders produktiv; in dieser Periode entstehen viele der Fabeln aus “Kyberiade” und die “Summa technologiae” (1964).

Der Erfolg im Ausland zeigt sich zunächst bei den russischen Lesern. Im Vergleich zur sowjetischen Literatur sind die Übersetzungen der Werke Lems weitgehend unzensiert, obwohl sie ein kritisches Potential enthalten (so die allgemeine Tyranneikritik in den Kyberiaden“). In dieser zweiten Schaffensphase entstehen auch die großen Erfolgsromane wie “ Solaris” (1961) und Der Unbesiegbare”    (1964). Die

Auseinandersetzung mit der Gattung SF ist in dieser Zeit am deutlichsten, während er sich in der folgenden “dritten Phase” enttäuscht von ihr zu distanzieren versucht (ohne sich allerdings lösen zu können).

In der “dritten Phase” (die Phaseneinteilung dient nur der Übersichtlichkeit) ab 1968 versucht Lem verstärkt, die Grenzen der Gattung hinter sich zu lassen, zum Beispiel durch Rezensionen fiktiver Bücher, fiktiver Lexikoneinträge oder Einleitungen zu nichtexistenten Werken (“Die vollkommene Leere “ 1971; “Imaginäre Größen” 1973).

Mit ihr einher geht aber auch eine Krise im Schaffen Lems. Er beginnt, seine Unzufriedenheit mit seinem bisherigen Werk, aber auch dem anderer SF-Autoren zu formulieren. Es entstehen theoretische Werke, an denen Lem, wie er im Nachwort der “Dialoge” feststellt, weit mehr liegt, als an seinem fiktionalen Werk.

Bezogen auf die Darstellung von “Welten” läßt sich ein Tryptichon in den belletristischen Werken feststellen: es gibt Werke, die sich direkt auf die Zukunft des Menschen beziehen (“Der Futurologische Kongreß“), Werke, in denen Menschen mit fremden Kulturen zusammentreffen (vor allem die Sterntagebücher“, in denen der Pilot Pirx Abenteurer im Weltraum und in den verschiedensten Kulturen erlebt und schließlich Werke, in denen die fremde Kultur im Vordergrund steht (z.B. “Eden“; in “Kyberiade” wird ebenfalls eine fast menschenlose Kultur beschrieben).

Parallel zu seinen Experimenten innerhalb der Gattung entwickelte Lem in verschiedenen theoretischen Werken seine eigene Metatheorie zur SF. Diese Werke beziehen sich allerdings nicht nur auf diesen Bereich:

>    In Summa technologiae    (1964) faßt Lem

Ergebnisse bereits bestehender futurologischer Konzeptionen zusammen und entwickelt eigene Varianten durch die Auswertung der Invarianten einer zukünftigen Welt

>    In der Philosophie des Zufalls (1968) versucht er, eine empirisch begründete Theorie des literarischen Werkes zu formulieren. Im Vordergrund steht dabei eine Analyse des Begriffes “Kultur”.

>    In Phantastik und Futurologie (1970) äußert Lem seine Enttäuschung sowohl über die belletristische, als auch die sich als Wissenschaft ausgebende Literatur, weil beide nicht auf den “tatsächlichen Verlauf der Dinge” hinweisen. Lem fordert, daß die Literatur ihre

Verbindung mit der Wissenschaft pflegt und damit Verantwortung über die Auseinandersetzung mit der heutigen Welt übernimmt.

Während Lem die Philosophie des Zufalls verfaßte, bemerkte er, wie wenig er von linguistischen Theorien versteht. Er beschäftigt sich daraufhin ein ganzes Jahr mit deren Problemstellungen und stößt somit zwangsläufig auf die Theorien des Strukturalismus, den er schärfstens ablehnt 22. Die Auseinandersetzung mit der theoretischen Seite der Sprache beeinflußt vor allem das späte belletristische Werk (beispielsweise in den fiktiven Lexikoneinträgen)

>    Lems Bibliothek des 21. Jahrhunderts”, auf drei Bände angelegt, besteht bisher aus zwei Bänden:

Eine Minute der Menschheit” ist vordergründig eine fiktive Rezension; besprochen wird das auf dem Mond (!) verlegte One Human Minute von Johnson und Johnson: Letztlich beschreibt es eine auf realen Fakten basierende statistische Erfassung des Weltgeschehens in einer Minute: die Zahl der Tode und Todesarten, die Zahl der Zeugungen und Geburten etc. .

Das Katastrophenprinzip” bezieht sich auf Waffensysteme, Militärtechnologie und Strategien der Zukunft.

Der letzte und dritte Band Die Entdeckung der Virtualität über die Standortbestimmung des Menschen in der Welt steht noch aus; entgegen der Ankündigung des Verlages erschien das Buch weder im Februar 1995, noch später. Die Einsicht in ein Vorexemplar wird vom Verlag ebenfalls nicht gestattet.

>    Die Essays liegen in zwei Versionen vor: als Sammlung im Insel-Verlag und als Triologie späteren

Datums im Suhrkamp-Verlag ( “Sade und die Spieltheorie“;    ”Über    außer sinnliche

Wahrnehmungen”;    “Science    Fiction:    Ein

hoffnungsloser Fall mit Ausnahmen“); sie beziehen sich auf verschiedene Bereiche der Gattung und enthalten Rezensionen zu den Werken anderer SF-Autoren.

Lem engagiert sich in der polnischen kybernetischen Gesellschaft, auch ist er Mitbegründer der polnischen Gesellschaft für Astronautik; ein direktes politisches Engagement wie bei Amery liegt nicht in seinem Interesse, da er sich bis heute lieber aus der Öffentlichkeit zurückzieht.

Ziegfeld faßt die für Lem interessanten Themen wie folgt zusammen:

“He regularly raises the subject on the individual and his relationship to other man, to the universe, to other nonhuman civilisations, to space, and to machines. He is just as likely, however, to worry over bureaucracy, the military, communication, mysterious phenomena, biological (and technical AA.) evolution, particle theorie, and the orign of the universe. Space travel, statistical probability, genetic theory, the state of western science fiction, and the philosophical theories on God, epistemologie, and ethics are also major concerns.” (Ziegfeld 1985, Introduction IX.)

Bemerkenswert ist die Mischung aus typischen SF-Motiven wie    der    Raumfahrt, aus    Motiven der

erlebbaren Realität wie Bürokratie und Militär und abstrakten Themen aus Wissenschaft und Philosophie. Lems Kunst    besteht vor allem    darin, diese

verschiedenen Elemente zu einem homogenen Text verschweißen    zu    können, obwohl    ihm Kritiker

vorwerfen, seine    Romane durch    überbordende

diskursive Einschübe unlesbar zu machen. Tatsächlich tritt das Abenteuer häufig in den Hintergrund, doch

357

wird dies zumeist mit einer phantasievollen Führung durch die Ideenwelt des Autors ausgeglichen.

1.5. Warum Engagierte SF?

“Jenes letzte Stadium der Erschöpfung, für uns noch so unglaublich weit entfernt, ist für die Marsbewohner eine Tagesfrage geworden.” (Wells 1974, S. 8) schrieb bereits 1898 Wells in der Einleitung zu “Der Krieg der Welten”; er hatte bereits die Bedeutung der SF in der Bildung von Analogien erkannt. SF-Literatur läßt sich (ebenfalls analogisch) auf der Ebene der Bedeutung in einer gedachten “Skala” bewerten, deren unterste Werte die Perpetuierung von Denkgewohnheiten unter dem Deckmantel der Phantastik beschreiben. Ein Beispiel dafür ist die häufig beschriebene Eroberung fremder Welten durch den Menschen, bei der dieser sich nicht anders verhält, als seine imperialistischen Vorbilder aus dem 19. Jahrhundert - nur daß er nicht mit Dampfschiffen anlandet, sondern mit Raumschiffen.

Die oberen Werte dieser Skala, für die sich natürlich keine Maßzahl angeben läßt, beziehen sich auf den Grad, inwieweit die Darstellung auf eine Einübung in das analogische Denken hinausläuft, das heißt in diesem Fall: wie kunstvoll der Autor seine Modelle gestaltet. Diese Skala ist in beide Richtungen offen, wobei sich Lem und Amery am oberen Ende aufhalten. Lem bemerkt zu Wells: “Er ist ja diesen ersten Feldherrenhügel hinaufgestiegen, von dem aus man die Gattung in einer Extremlage beobachten kann” (Lem

1987, S. 16.) Diesen Ausgangspunkt, die Betrachtung der Gattung in Extremlage, will Lem weiterentwickeln; so sind nach eigener Aussage seine ersten Werke eine

Revolte gegen die Paradigmatiker der Gattung, wie sie sich in den USA entwickelt hat23. Lem durchbricht die Grenzen durch eine betonte Loslösung von der Geschichte, während Amery besonders das historische Moment betont, das er nach eigenen Ansichten gestaltet.

Einer der Ausgangspunkte für diese Arbeit ist die SF-Definition, die Ulrike Gottwald in ihrer Dissertation entwickelt (Gottwald 1990). Es gelingt ihr, das Veränderungsdenken terminologisch klar zu gliedern, doch zieht sie dabei gleichzeitig wieder Grenzen, die gerade durch den Veränderungscharakter der Gattung durchbrochen werden müssen; als Beispiele werden die in dieser Arbeit analysierten Werke herangezogen werden. Ulrike Gottwald unterscheidet für die Gattung der SF in der BRD drei Bipolaritäten (Gottwald 1990, S. 183-188), nach denen sich die wichtigsten Tendenzen sichtbar machen lassen:

1.    Prägung durch amerikanische versus Prägung durch deutsche Tradition (im Falle Lems müßte die polnische Tradition hinzugefügt werden, die aber nicht sonderlich ausgeprägt ist und in der Wissenschaftlichen Fantastik aufgeht, vgl. 2.3.),

2.    politisch sozial engagierte versus spielerische SF,

3.    literarische versus trivial-literarische SF.

Diese nach binären Oppositionen    getroffenen

Unterscheidungen sind besonders in den Punkten 2. und 3. problematisch in der Anwendung: Aus welchen Gründen müssen Spiel und Engagement definitorisch getrennt werden 24? Die hier von Gottwald verwendete

Bezeichnung des Engagements gab die Anregung für den Titel dieser Arbeit - allerdings mit einer Erweiterung in der Bedeutung. Der in dieser Arbeit verwendeten Begriff der “Engagierten SF” soll die im Punkt 2. aufgeführten Gegensätze zu einem Ganzen vereinen. Gleichzeitig soll er die Diskussion umgehen, die Gottwald in Punkt 3. angeworfen hat: Die Frage der Trivialität ist letztlich nicht befriedigend zu klären

29

“Trivial ist, wenn man so will, dann doch durch den Anspruch zu messen, die Welt, wenn nicht zu verändern, dann doch zusätzlich zu beleuchten, eine Erfahrung zu erweitern.” (Amery-Interview 1995, S. 17) Ein Beispiel aus der Zeitgeschichte ergab sich durch die folgende, häufig angeführte Anekdote:

Als Orson Welles 1938 den Roman “Kriegder Welten” als Hörspiel im Radio übertrug, brach Panik in der Bevölkerung aus, denn man glaubte an das Ende der Welt. Diese beeindruckende Wirkung veranschaulicht sicherlich, welche Eigendynamik eine geschickt formulierte Erzählung entwickeln kann, die Rationalität und Emotionalität (in diesem Falle die Furcht vor einer Invasion) plausibel verbindet. In diesem Fall ist die Wirkung sicherlich an das Medium Radio gebunden, doch erschien die Eroberung der Erde durch Marsbewohner keinesfalls als etwas völlig Unglaubwürdiges. Letzlich ergab sich die überraschende Wirkung nur im Hinblick auf eine allgemeine Anspannung am Vorabend eines großen Krieges, der alle Vorstellungen übertraf - nur nicht die der Fiktion.

2. SF: Entwicklung, Spielregeln, Motive

Es ist häufig nicht leicht SF von verwandten Gattungen deutlich abzugrenzen. In der wissenschaftlichen Forschung zur phantastischen Literatur unterscheidet man auf der obersten Ebene die Phantastik, die Utopie und die SF. Ihre Wurzeln reichen zurück bis zur Romantik und der Märchenerzählung. Die utopische Erzählung ist noch wesentlich älter, aber es ist nicht möglich, in dieser Arbeit bis an die Wurzeln zurückzugehen. Auf das Verhältnis von Utopie und SF soll im folgenden Kapitel dieser Arbeit näher eingegangen werden.

Die Phantastik - der Schauerroman beispielsweise -konzentriert sich vornehmlich auf tiefenpsychologisch interpretierbare Handlungskonstruktionen, so beispielsweise die Berührung latenter Ängste in den Werken Poes. Psychologische und psychoanalytische Ansätze, die die Phantastik beispielsweise als Wiederkehr des Verdrängten interpretieren 25, sollen in dieser Arbeit wenig Beachtung finden, da nicht die Individualproblematiken der Werke im Vordergrund stehen. Vereinfachend kann man sagen: SF bemüht sich um die Plausibilität des Erklärbaren, Phantastik bemüht sich um die Plausibilität des Nicht-Erklärbaren (vgl. Kurtz 1992, S. 87).

In der neueren SF sowie in der Utopie wird die Perspektive häufig auf einen (kosmo-) politischsoziologischen Rahmen gelenkt und die auftretenden Phänomene werden (pseudo-) wissenschaftlich erklärt. Die Betonung liegt auf dem rationalen Element 26: Tote entsteigen nicht wie in der Phantastik dem Grab, sondern werden wie im “Futurologischen Kongreß” aus einem Kälteschlaf erweckt. Es gibt allerdings immer wieder Beispiele in der SF, wo Horrorelemente eingeführt werden, die sich nicht ganz durch die Ratio auflösen lassen.27 Letztlich ist es seit Verne und Wells das Verfahren der SF, “Unglaubliches plausibel zu erklären” (Hienger 1972, S. 16), obwohl dadurch aus einer Erzählung noch kein SF wird.

Die Begriffe SF, Utopie und Phantastik sind zu unterschiedlichen Zeiten entstanden und hatten zunächst jeweils einen relativ klaren und eng begrenzten Bezugskontext. Schließlich wurden sie aber im Spiel mit der Gattung immer mehr “entgrenzt”, so daß die Unterscheidung in manchen Grenzfällen schwer ist.

Bei der Gattung SF ist es ebenso schwer, eine Abgrenzung nach “außen”, gegen verwandte Gattungen vorzunehmen, als eine klare innere Einteilung zu finden. Neben der chronologischen gibt es auch unterschiedliche regionale Entwicklungen, die im folgenden nur grob und bezogen auf diese Arbeit entwickelt werden können (zum Beispiel das Verhältnis von “Wissenschaftlicher Fantastik” und SF der europäischen und amerikanischen Stilrichtung).

Das Kapitel über “Fiktive Geschichte” steht an sich außerhalb des gesteckten Rahmens; auf keinen Fall läßt sich beispielsweise “Fiktive Geschichte” unter eine phantastische Literaturgattung einordnen, denn dieser Begriff beschreibt einen sich entwickelnden Zweig der historischen Wissenschaften. Durch die literarische Bearbeitung einer solchen Thematik beispielsweise durch Carl Amery kann dieser Zweig für die Belletristik vereinnahmt und der Trias von Spiel, Zeit und Kunst als wissenschaftliche Fiktion mit eigenem Charakter zugeordnet werden.

Die Wurzeln der SF sind schwer zu fixieren; Hugo Gernsback gilt als offizieller “Erfinder” des Begriffes 33; seine Definition lautet: “By ‘scientification’ I mean the Jules Verne, H. G. Wells and Edgar Allan Poe type of story - a charming romance intermingled with scientific fact and prophetic vision.” 28 Eigentümlich ist die Erwähnung Poes in dieser Reihung, der nach der damaligen als auch der heutigen Begrifflichkeit eher dem Horror oder den “Weird Tales”, der Phantastik zuzurechnen ist. Lange Zeit war SF besonders in den USA tatsächlich eine vorwiegend kommerzielle Gattung, in der sich Grenzen zu den “Weird Tales” oder zur Fantasy leicht verwischten.

“Die Frage aller Fragen lautet: Und wenn auch die SF als ‘pulp’ im Rinnstein geboren ist und vom Kitsch sich jahrelang ernährte, warum vermag sie nicht, sich von ihm endgültig loszureißen?” (Lem 1987, S. 44) Lem irrt in diesem Punkt: die Wurzeln der SF liegen nicht im “Pulp”; angefangen mit Verne und Wells gab es lange vor ihm “literatisierte Formen”29. Dennoch ist seine These vom “Eisernen Vorhang”, der sich in den 1920er Jahren zwischen die “mainstream”- Literatur und die SF, den Wildwestroman usw. legte, durchaus zutreffend.

“Mit Science Fiction … wird häufig das gleichnamige Subgenre der Trivialliteratur bezeichnet.” (Gottwald 1990, S. 15) Gottwald bemüht sich wie bereits erwähnt in ihrer Arbeit um eine Differenzierung zwischen “ SF als Literatur” und “SF als Trivialliteratur” Dabei stellt sie als Problem der Unterscheidung die Heterogenität des Genres heraus; so “verwandelt” Lem in “Kyberiade” Fabeln mittels der Verwendung typischer SF-Motive (Roboter, Raumfahrt) in das andere Genre. Nach Gottwald gibt es zwei Möglichkeiten, die Gattung zu umgrenzen:

1. in einer weiten Fassung, die viele Werke miteinbezieht, aber dafür auch wenig Trennschärfe besitzt (vgl. auch 2.1.1.) und

2. in einer Definiton von notwendigen und hinreichenden Bedingungen für SF als Literatur, ohne dabei Grenzen fest zu umreißen (vgl. 2.1.2.).

Dabei definiert sie für “SF als Literatur” folgende Kriterien als notwendig:    einen differenzierten

Sprachgebrauch, eine Appellation an die gedanklich aktive Mitarbeit des Lesers, den Verzicht auf Klischees und überbordende Phantastik in Bildhaftigkeit und Motivik. (vgl.: Gottwald 1990, S. 29, 30). Gerade die Anwendung von Klischees, die überbordende Phantastik und die gleichzeitig ihr gegenübergestellte banale Welt sind es, die die Komik in Lems “Kyberiade” erzeugen. Gottwald hat in ihrer Definition die (häufig vorkommende) satirische Variante der SF nicht mitberücksichtigt.

Im folgenden sollen die Meinungen weiterer Kritiker zu dem Problem der Möglichkeiten in der SF verglichen werden. Es ist in diesem Zusammenhang interessant zu betrachten, wie sich die moderne SF zu der Tradition der Utopie verhält, in die sie besonders von den Enthusiasten häufig gestellt wird. Sicherlich kann man von einer direkten Anknüpfung absehen, da sich die Parameter für eine Utopie in der gegenwärtigen Welt geändert haben, aber vielleicht kann man von einer Fortsetzung mit anderen Mitteln und an die gegenwärtige Weltsituation angepaßt sprechen.

Verbunden mit dem Begriff der “Engagierten SF” soll zunächst einmal eine qualitative Grundlage angenommen und entwickelt werden, die einen Vergleich mit der Utopie zuläßt. Im Sinne Gottwalds ist dieser Begriff immer noch sehr weit gefaßt und unterscheidet nicht eindeutig notwendige und hinreichende Bedingungen (die bei ihr entgegen den eigenen Absichten schon zu fest umrissen sind). Sie beschreibt eine Teilströmung innerhalb der Gattung, deren

Konturen bei Hienger sehr ungenau mit “adult SF” im Unterschied zu SF für den “juvenilen Geschmack” (vgl. Hienger 1972, S. 240) umschrieben werden.

2.1. Engagierte SF zwischen “Futuria” und “Utopia”30

Nachdem die Literaturwissenschaft SF und Phantastik lange ignoriert hatte, stieg das Interesse in den fünfziger Jahren - mit völlig verschiedenen Ergebnissen von Land zu Land:

>    In Frankreich wurde SF als Weiterentwicklung der “contes fantastiques” interpretiert; ihre Unterordnung unter die Phantastik (nicht zu verwechseln mit dem Oberbegriff der phantastischen Literatur) findet sich in dieser Arbeit beispielsweise bei Todorov wieder, soll aber nicht eingehend untersucht werden.

>    In Deutschland wurde eine enge Bindung zwischen dem utopischen Roman und der SF in den Vordergrund gestellt (so daß die Begriffe oft als Synonyme verwendet wurden, z. B. bei Schwonke 1957).

>    Die amerikanische Forschung ging so weit, daß sie “SF selbst zu einer Leitkategorie erhob, ihr nicht nur die Phantastik, sondern auch und vor allem die ‘normale’ Literatur unterordnete.” (Thomsen/Fischer 1980, S. 17/18). Diese Tendenz ist inzwischen wieder rückläufig, doch erkennt man bei einigen Verfechtern dieser Richtung (zum Beispiel Darko Suvin) noch heute Ansätze, SF möglichst abstrakt und umfassend zu definieren.

Die Utopie hat im Gegensatz zur SF eine lange und eigenständige Tradition, darüberhinaus fest umrissene definitorische Grenzen. Der Sprachwissenschaftler Heinz Vater definiert den Begriff in einer Studie zur Raumlinguistik sehr zutreffend so:

“Die literarische Gattung der ‘Utopie’ hat sogar ihren Namen von räumlichen Verhältnissen, denn es geht hier wörtlich um den ‘Nicht-Ort’. Die 1516 von Thomas Morus veröffentlichte ‘Utopia’, die dieser Gattung den Namen gab, behandelt einen konstruierten Idealzustand der Gesellschaft, der im Nirgendwo angesiedelt ist.” (Vater 1991, S. 2)

Diese Definition bezieht sich allerdings nur auf die positive Utopie, doch kann die Definition leicht ergänzt werden, indem man auch die Möglichkeit eines nicht-idealen Zustand einer Gesellschaft zur Konstruktion einer Gegenutopie integriert. Auffällg ist die Exklusion der Utopie aus der Geschichte; SF ist in vielen Fällen historisch an den Geschichtszeitstrom angebunden, sei es, daß eine ferne Zivilisation Reste der menschlichen Kultur findet, oder daß Menschen von einem historischen Zeitpunkt aus in die Zukunft reisen, um nur zwei Beispiele zu nennen.

Die Beziehung zwischen Utopie und SF ist zwar nicht eindeutig, aber besser zu umreißen, als vergleichsweise die Beziehung von Phantastik oder gar Fantasy zu SF. Im Unterschied zur SF ist die Utopie nicht vorwiegend Spiel, sondern will richtungsweisend andeuten, wie eine Gesellschaft sein kann und soll - auch wenn sie dabei genau das Gegenteil der angestrebten Ziele

367

darstellt und vor diesen gegenteiligen Entwicklungen warnt. Kennzeichnend für die literarischen Utopien ist jeweils verschiedenes Mischverhältnis von politischer Philosophie und Erzählung. Die Engagierte SF lebt vielfach ebenso von philosophischen Ideen, die aber durch den Charakter der Erzählung viel stärker abstrahiert werden. Hier ergeben sich durchaus Anknüpfungspunkte an die utopische Tradition, auch wenn SF viel stärker als die Utopie an die Spielregeln der Gattung (diese werden in 2.4. kurz zusammengefaßt) gebunden sind. Wie der “Krimi” ist auch die SF im Hinblick auf ihre Motive eine Variationsgattung. Somit muß der SF-Autor nicht nur die gesellschaftlichen Zustände analysieren und sie in einem fiktiven Rahmen kritisieren oder optimieren, er muß auch - um mit Amery zu sprechen - die richtige “Attitüde”31 entwickeln. Obwohl die SF als Gattung des Veränderungsdenkens gilt, hat der SF-Autor andere Tribute an die Gattung zu entrichten, als der Utopist an seine.

Der Soziologe Schwonke hat einen großen Teil dazu beigetragen, in der Forschung die Bindung zwischen SF und der Utopie zu festigen. Ihm zufolge geht es bei der Fortsetzung der Utopie in der SF nicht um das Fortleben der literarischen Utopietradition, sondern um das Weitergeben des utopischen Denkens 32, das in der Gegenwart sich auf neue Dimensionen ausweiten muß. Das utopische Denken lebt sicher noch in der SF-“Attitüde” weiter, denn die meisten Autoren müssen immer noch ihre Helden in eine soziale Ordnung (der Zukunft) plazieren. Leider zeigt diese allzu häufig feudalistische Züge (beispielsweise in “Der Wüstenplanet” von Frank Herbert), man muß unterstellen, der Einfachheit halber - aber auch, um den Protagonisten (und den Leser) einen rapiden sozialen Aufstieg erleben zu lassen.

Platon versuchte in der “Politeia” die Gestalt der Idealstruktur einer Gesellschaft zu entwerfen, die allein von sittlichen Normen der Einsicht in die Vernunft bestimmt war. Sein Modell war über die Wirklichkeit gestellt als Norm, nach der man sich richten kann, die sich aber nicht verwirklichen läßt. Das Denken, das sich nach der Zukunft orientiert, ist einer Zeit fern, die von einem festgefügten Weltbild ausgeht. Plato wird somit zum Begründer der statischen Utopie, wie sie sich bis in die heutige Zeit tradiert hat. Der Entwurf des idealen Staates 33, der bei Thomas Morus noch Gegenstand ernstzunehmender Überlegungen war, ist nicht mehr zeitgemäß; der Glaube an einen allgemeingültigen Gesellschaftsentwurf (wie das Beispiel des kommunistischen Niedergangs zeigt) hat in neuester Zeit wenig Wert, da feste Definitionen viel zu schnell von der Wirklichkeit überholt werden. Utopien müssen sich zu dynamischen Systemen wandeln.

Engagierte SF beschreibt - wenn die Ordnung nicht nur für den Hintergrund der Handlung konstruiert wird - in den seltensten Fällen ein statisches System; das perfekte statische System ist vielleicht ein Endziel der Handlung (zum Beispiel die Schöpfung einer vollkommen glücklichen Gesellschaft in Lems “Kyberiade”). Viel häufiger dagegen werden Ordnungen (Gesellschaften, Galaxien, usw.) in ein Ungleichgewicht gebracht, das entweder in den Untergang führt, das eine Metamorphose einleitet oder das zu einer Restabilisierung führt.

In der Entwicklung der SF nimmt die Bedeutung von Gesellschaftsordnungen zu: Asimov unterteilt die Geschichte der SF (unter Ausgrenzung des deutschen Raumes) in drei Perioden: die “abenteuer - dominante” Periode bis 1938, die “wissenschaftlich-dominante” Periode bis 1950 und die “soziologisch-dominante” Periode ab 1950 (Schulz 1987, S. 119). Diese letzte Periode setzte nach dem II. Weltkrieg ein und fügte Themen aus der Anthropologie, Psychologie und Soziologie in das Genre ein. Parallel zu Asimov unterteilt Krysmanski die SF in verschiedene Etappen speziell in bezug zu dem deutschsprachigen Raum: bis ca. 1910 stand die “soziale Frage” im Vordergrund; die technische Problematik blieb bis zum Ende der dreißiger Jahre aktuell und ab 1940 wurden die Möglichkeiten einer globalen Industriegemeinschaft erkundet. (Krysmanski 1963, S. 108) Neben dem Schrecken des Totalitarismus waren nach Krysmanski in erster Linie der Atomkrieg Gegenstand des deutschen “utopischen Romans”, der deutschen SF (leider geht Krysmanskis Untersuchung nur bis 1963 und kann die sich anschließende Blüte der SF in den siebziger Jahren nicht miteinbeziehen).

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß es übertrieben ist, mit Schwonke die SF direkt in die utopische

Tradition zu stellen; sicherlich sind aber Züge des utopischen Denkens in der “Attitüde” vor allem der Engagierten SF enthalten.

In den nächsten beiden Kapiteln dieser Arbeit soll nun näher auf verschiedene Interpretationsansätze dieser “Attitüde” eingegangen werden. In 2.1.1. werden Versuche beschrieben, das Wesen der SF nach äußeren Kriterien (zum Beispiel die Erwartungshaltung der Leser) zu definieren, während die “ideologiekritische” Betrachtung die Potentiale der SF in den Werken selbst sucht.

Auffällig dabei ist, daß nicht klar unterschieden wird, ob es sich bei der SF um eine ästhetische Kategorie handelt oder eine Gattung. Ulrike Gottwald hat dieses Problem erkannt; sie versucht die Bewältigung der Heterogenität der SF durch die Aufteilung in zwei Klassen: SF als Genre untersucht sie durch die Kennzeichnung von Merkmalen und SF als Literatur betrachtet sie unter dem Aspekt der ästhetischen Wertung. Eine ähnliche Unterscheidung soll auch für diese Arbeit gelten.

“Gleichviel, ob man die Definition so weit faßt, daß sämtliche Werke darunter subsummiert werden können … oder einen Aspekt des Genres herausgreift, ihn zum Kriterium ‘guter’ Science-fiction ernennt und durch Ausgrenzung eines Teils der Werke homogenisiert (wie Lem, Suvin und Gottwald) - die grundsätzlichen Probleme der Gattungsdefinition bleiben davon unberührt.” (Kurtz 1992, S. 56/57)

Folgerichtig fordert Kurtz eine “beschreibende Definition”; aus diesem Grund wird in dieser Arbeit auf einen eigenen konkreten Definitionsversuch verzichtet. Statt dessen wird versucht, den Begriff der “Engagierten SF” in Abgrenzung zu bestehenden Ansätzen zu umschreiben und dabei beide oben genannten Positionen, sowohl die integrative, als auch die “ausgrenzende” zu vereinen.

1

   Die Möglichkeit, SF als ästhetische Kategorie zu interpretieren, wird im Folgenden noch gesondert betrachtet werden.

334

2

“Für engagierte SF, die einen politischen oder erzieherischen Auftrag wahrnehmen will, eignen sich einfachere Strukturen … weitaus besser, da bei diesen die Vermittlung des Inhalts vordergründig ist.” (Gottwald 1990, S. 64) Gottwald übersieht die Erwartungshaltung, die der Gattung entgegengebracht wird: ein “Kenner” wird einem Autor eine schlecht konstruierte Zeitreise auch dann nicht verzeihen, wenn er einen sozialkritisch hohen Anspruch in dem Werk entdeckt. Insofern bedingen sich Spiel und Kritik durchaus gegenseitig; zudem ist das Argument recht fragwürdig, daß einfach strukturierte Darstellungen bestimmte Inhalte besser ausdrücken können, als komplexe.

337

3

Der an sich zu hochgreifende Begriff ist hier als Anspielung gedacht auf das jüngste diskursive Werk von Amery “Die Botschaft des Jahrtausends” (1994), das eine maßgebliche Richtlinie für die Interpretation seiner belletristischen Werke innerhalb dieser Arbeit ist.

4

Eigenarten, die in Verbindung stehen mit einem anderen politischen Hintergrund, kurz skizziert werden.

5

Der Begriff “Wert” wurde hier bewußt wegen seines allgemeineren und übergreifenden Charakters dem Begriff “Norm” vorgezogen, da beide Autoren Tendenzen und Strömungen der Zeit übergreifend und nur zur Veranschaulichung im Detail betrachten.

6

Im “Königsprojekt” Carl Amerys liegt eine besondere Situation vor, auf die noch eingegangen wird, denn dort werden historische Element und SF-Technik auf besondere Weise verbunden; der Leser wird während der Lektüre im Unklaren gelassen, ob sich am Ende des Romans nicht seine ihm bekannte Gegenwart verwandelt hat - beispielsweise zu einer Gegenwart mit einem katholischen englischen Königshaus.

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   Nicht alle Phänomene müssen erklärt werden:    eine

Strahlenpistole beispielsweise gibt es nicht in unserer Gegenwart, doch ist es für die Handlung meist unwichtig, ob sie nun Strahlen oder Kugeln schießt. In den meisten Fällen ließe sie sich durch einen gewöhnlichen Revolver ersetzten, ohne eine größere Veränderung der Handlung zu bewirken. Dagegen kann eine Zeitreise nicht einfach geschehen, sondern muß erklärt werden.

7

   “Mit ihren Gedankenspielen erfülle die vielfach belächelte Science Fiction eine sehr ernste Aufgabe, der sich die allgemein ernst genommene Literatur weitgehend verschließe… “ (Hienger 1972, S. 240) Hienger faßt so die Position Heinleins zutreffend zusammen.

8

Nur vier Titel sind hier zu zitieren:

-    der KGL - Artikel von Smith - Töteberg (1988)

-    eine Rezension von Kiermeier - Debre (1984)

-    ein Kapitel in Gottwald (1990)

-    die Staatsarbeit von Kurtz (1992)

Desweiteren sind noch bis 1988 in verschiedenen Tageszeitungen 64 Artikel zu fest umrissenen Themenbereichen erschienen. Wegen des Umfanges wurde auf die Aufführung im Anhang verzichtet, die Liste kann aber auf Anfrage eingesehen werden.

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   So schrieb er für RIAS Berlin einige Stücke direkt in Deutsch, vor allem Rezensionen. Zu einem Schriftsteller, der in Deutsch schreibt (und oft erst später die Texte ins Polnische übersetzte, zum Beispiel die Kritik an Todorov) entwickelte sich Lem durch die Zusammenarbeit mit Franz Rottensteiner im “Quarber Merkur“.

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Die “Fanzines” sind Bewahrer einer SF-Tradition, die von der Variation des Abenteuers, nicht aber von Innovation lebt. Die Fans haben eine Erwartungshaltung, die sie nicht durch Experimente mit der Gattung enttäuscht sehen wollen. Vermutlich ist das der Grund für die weitgehende Abwesenheit von Lem und Amery.

11

   Der Name stammt vom Redaktionssitz in einem winzigen Talabschnitt in Niederösterreich.

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   Der Verdacht der Kartellbildung, den die kritischen SF -Forscher an die “Fanzines” richten, kann somit gegen die Kritiker selbst angewendet werden.

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Nur dieser Roman wurde vom Verlag in der ersten Ausgabe auch als Science Fiction gekennzeichnet; den anderen (gebundenen) Ausgaben fehlte dieses Signum. Erst die Taschenbuchausgaben wurden wieder als SF gekennzeichnet.

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Der 40. Historikertag hatte einen eigenen Themenbereich “Alternativ- und Parallelgeschichte”, der von dem Kieler Historiker Michael Salewski geleitet wurde. Seine Einführung behandelt das Thema “Wie ist es eigentlich gewesen?” und spricht damit die Relativität der Geschichtsinterpretation an. Alternativgeschichte ist weit weniger abwegig, als vielfach von “ernstzunehmenden” Historikern angenommen wird:    “Der

großgermanische Seekrieg gegen die USA und Japan im Jahr 1949” (Salewskis Vortragsbeispiel) ist als Plan der Seekriegsleitung als “Generalplan Fern-Ost und Süd des Führers” quellenmäßig belegt, zumal erstere schon statistisch die Flottenstärken gegeneinander aufgerechnet hatte. Neben Amery und Salewski sollte auch Alexander Demandt aus Berlin, dessen Traktat “Ungeschehene Geschichte” (1984) einen wichtigen Beitrag zum Kapitel “Fiktive Geschichte” dieser Arbeit leistet, einen Vortrag halten. Amerys Vortrag “Mit Pierre in Borodino, oder Lew Tolstoj und andere SF-Autoren” entfiel leider, da er an einem Aortaleiden erkrankt war.

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   In einem einzigen Aufsatz “SF - Ware und Erwartungshaltung” (in Amery 1991) ist seine Einstellung gegenüber der Gattung zusammengefaßt.

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   Für nähere Informationen zu seiner Einstellung gegenüber der SF, zu seiner kulturkritischen und politischen Einstellung und seiner Interpretation des Katholizismus der Gegenwart stellte sich mir Carl Amery am 08. Juni 1995 in München für ein Interview zur Verfügung. Das Verlaufsprotokoll des Interviews ist im Anhang beigefügt und wird im Folgenden mit “ Amery-Interview 1995” zitiert werden.

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   Die Ausführlichkeit diese Kapitels ist nicht zu interpretieren als Gewichtung zugunsten Lems, sie ergibt sich vielmehr aus seinem weit umfangreicheren und weniger kohärenten literarischen Schaffen.

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   Sein Vater, den Lem sehr bewunderte, war Arzt; an einer Stelle seiner Biographie führt Lem aus, daß er vorwiegend deswegen Atheist wurde, weil sein Vater Atheist war. Dieser Aspekt soll noch in 7.2. bedeutsam werden.

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Die offizielle Literaturkritik in Polen lehnt den Roman allerdings ab, da trotz aller kommunistischer Tendenzen die ideale Gesellschaft nicht identisch war mit der kommunistischen Gesellschaft. Der Erfolg in der Öffentlichkeit ließ sich dadurch nicht beeinflussen.

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   Die bibliographischen Angaben zu Lem sind durchaus widersprüchlich: in den Klappentexten der Suhrkamp-Bände war er “nach dem Staatsexamen als Assistent für Probleme der angewandten Psychologie tätig.” Nach eigenen Angaben beendete er sein Studium niemals, um nicht zum Dienst als Militärarzt gezwungen zu werden. Zwischen 1948 und 1951 brach Lem sein Studium ab und widmete sich ausschließlich der Schriftstellerei.

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   Der heutige Sinn des Wortes wurde 1947 von Norbert Wiener eingeführt; wie die Evolutionstheorie ist die Kybernetik keine Einzelwissenshaft. Die Kybernetik ist eine Sammlung von Ideen und Theorien, deren Zusammengehörigkeit um die Mitte dieses Jahrhunderts entdeckt wurde, im Kern aber ist sie eine mathematische Wissenschaft mit den spezifischen Teilgebieten der Informationstheorie, der Theorie der Regelsysteme und der Automatentheorie (vgl.: Anschütz 1967, S. 9, 10).

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22

Am deutlichsten zeigt sich diese Ablehnung in seinem Kommentar zu Todorovs “Theorie der Phantastik” (vgl. 2.1.).

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   Dazu gehört zu Beispiel sein Werk “Die Astronauten” (1974), in dem eine “böse” Welt in eine “gute” verwandelt werden sollte; Lem distanziert sich heute von diesen Anfängen.

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Lüge’ und zur intelligenten wissenschaftlich-historischen Spekulation besitzen.” (Gottwald 1990, S. 260)

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Eine frühe Auseinandersetzung findet sich beispielsweise bei Freud, der das Unheimliche im Zusammenhang mit E. T. A. Hoffmanns “Der Sandmann” deutete (vgl. Freud 1969-1972).

361

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   Hier zeigt sich auch die Grenze zur “Fantasy”: in der Fantasy müssen auch die zentralen Phänomene nicht rational erklärt werden, oft genügt die Erklärung durch Magie oder dämonischen Einfluß. Der gelegentlich von Kritikern an die SF gerichtete Vorwurf, in ihrer Art der Wissenschaftsdarstellung gelegentlich die Grenze zum Okkulten zu durchbrechen, ist in der “Fantasy” oft Gegenstand der Erzählung (beispielsweise in Marion Zimmer Bradlys berühmt gewordener Artus-Erzählung “Die Nebel von Avalon”).

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   Ein Beispiel dafür ist Ray Bradburys Erzählung “The Third Expedition” (in: “The Silver Locusts”, London 1960): Eine gespentische Erscheinung auf dem Mars stellt sich als Illusion der Marsianer heraus, um einer irdischen Invasion entgegenzuwirken. Doch nachdem die Illusion ihre Schuldigkeit getan hat und die Mitglieder der Marsexpedition tot sind, wird die Illusion ohne erkennbaren Grund in einem makaberen Begräbnisritual zu Ende geführt.

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   In: Amazing Stories I. 1, 5. 4. 1926)

29

   Amery unterscheidet “Literatur-Literatur” und “SF-Literatur”. (Gottwald 1990, S. 250)

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Theoretiker der Utopie - Forschung wie Schwonke und Hienger treten dafür ein, Utopie und Gegenutopie getrennt zu behandeln. “Zweckmäßig wäre es, von einer Utopie nur dann zu sprechen wenn nicht nur eine mögliche Welt, sondern die Möglichkeit einer besseren den Gedankenspieler beschäftigen…” (Hienger 1972, S. 15). Eine solche definitorische Trennung soll für diese Arbeit nicht gelten, sowohl die positive Utopie als auch “cautionary tales” wie Samjatins “Wir” sollen der Einfachheit halber gemeinsamunter dem Begriff der Utopie geführt werden.

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   ”…es gibt da beim SF einen Versuch, da ist ein Band erschienen von Gerhard Hoffmann, Verkabelte Gesellschaft’, da hat der Böll dringeschrieben … die haben da so SF -Formen versucht, das ist nichts geworden. Das ist nicht ihr Ingenium, ihre Attitüde…” (Amery-Interview 1995, S. 17)

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   Insofern ist die Behauptung von Darko Suvin, daß sich in der SF der Staatsroman der Antike fortsetzt, sehr weit hergeholt (vgl.: Suvin in: Berthel 1976, S. 157).

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Weitere Entwürfe idealer Staaten, die die Moderen geprägt haben, finden sich bei Francis Bacon in seinem Werk vom “Neuen Atlantis” (die “machbare Welt” der regierenden Naturwissenschaften), bei Adam Smith und Macchiavelli; auffällig ist bei diesen Autoren das Ziel der restlosen Regulierbarkeit, der Beherrschbarkeit der Welt durch die Naturwissenschaften. Dieses Gedankengut war sicher angemessen für die Entwicklungen in der Zeit, hat aber nichts von seiner Aktuallität verloren.