Kapitel 3

Michaela

Es dauerte fast zehn Minuten, bis Marc mir ins Wohnzimmer folgte. Und selbst dann sah er noch ziemlich mitgenommen aus. Es erfüllte mich mit einer fast perversen Zufriedenheit, dass ich ihn derart aus dem Konzept gebracht hatte. Ich würde ihm eine Chance geben, mir zu beweisen, dass ihm meine Freundschaft wichtig war. Aber es würde von ihm ausgehen müssen. Ich wollte, dass er sich mal wieder bei mir meldete, nur um zu fragen, wie es mir ging. Dass wir uns wieder auf einen Kaffee trafen, wie wir es früher so oft getan hatten. Auch wenn die Abfuhr mich am meisten aus der Bahn geworfen hatte, fehlten mir vor allem Marcs Freundschaft und die Gespräche mit ihm.

Marc erntete einige skeptische Blicke, als er sich zu uns gesellte, aber niemand fragte ihn, was los war. Mittlerweile glaubte ich, dass unsere Freunde insgeheim darauf warteten, dass wir endlich zusammenkamen oder alles in einem großen Streit endete.

»Wollen wir Pizza bestellen?«, fragte Jaxon in die eingetretene Stille hinein. Viel zu laute Zustimmung kam von allen Seiten, als wäre jeder froh, dieser seltsamen Situation zu entkommen. Wie von Zauberhand zog David das Menü einer Pizzeria hervor.

Während wir auf unser Essen warteten, zockten die Jungs irgendein Rennspiel auf der Konsole. Obwohl ich damit nicht wirklich etwas anfangen konnte, ließ ich mich von der ausgelassenen Stimmung mitreißen. Emma hatte für uns Mädels eine Flasche Sekt besorgt, und diesmal lehnte ich das Glas nicht ab. Alkohol war nie mein Problem gewesen. Ich hatte nie viel getrunken, weswegen es mir auch nicht schwergefallen war, nach meinem Entzug darauf zu verzichten. Das Problem mit Alkohol war nur, dass er die Hemmschwelle senkte und ich Angst gehabt hatte, dadurch eher wieder zu Drogen greifen zu wollen. Aber ein Gläschen unter Freunden konnte sicher nicht schaden.

Als es endlich an der Tür klingelte, sprang Marc auf, um den Pizzaboten zu bezahlen. Mit zwei Familienpizzen kam er zurück und stellte sie auf den Tisch.

»Ein Dank an den Spender.« Cole prostete Marc mit seiner Bierflasche zu.

»Ich habe zu danken. Ohne euch hätte ich weder so schnell eine neue Bleibe gefunden, noch wäre der Umzug so fix vonstattengegangen.«

»Für Speis und Trank kannst du uns jederzeit buchen.« Coles Grinsen wurde eindeutig zweideutig.

»Dein Ernst?«, fragte David kopfschüttelnd.

»Ich möchte da gleich Einspruch einlegen«, stimmte Julian zu. »Wenn du Hilfe beim Umzug, Renovieren und solchen Dingen brauchst, bin ich gerne zur Stelle. Bei anderen… handwerklichen Dingen frag doch am besten …« Sein Blick wanderte durch die Runde und blieb unweigerlich an mir hängen. Julian öffnete bereits den Mund, als ich langsam den Kopf schüttelte. Er zuckte mit den Schultern. »Ja, keine Ahnung, aber an der TU wird es sicherlich einige willige Damen geben.«

Erleichtert atmete ich aus. Das hätte mir gerade noch gefehlt, dass Julian meine nicht vorhandene Beziehung zu Marc ins Rampenlicht rückte, nachdem wir uns gerade erst wieder zusammengerauft hatten.

***

Lucy wartete bereits vor der Tür, als ich in ihre Straße einbog. Obwohl Sonntag war, hatte ich eine Stunde gebraucht, um nach Somerton zu fahren. Dem Vorort, in den Lucy zusammen mit Emma, Jaxon und Julian gezogen war. Hier fühlte man sich fast nicht mehr wie in einer Großstadt. Die Häuser standen ein Stück von der Straße entfernt und hatten einen kleinen Garten hintenraus. Nur die Hochhäuser der Skyline in der Ferne erinnerten daran, dass wir uns noch immer in Philadelphia befanden.

Lucy trug eine Reithose, Stiefel und eine gelbe Winterjacke. Spencer saß schwanzwedelnd neben ihr. Meine Lippen verzogen sich bei seinem Anblick zu einem Lächeln. Wie alle anderen hatte Spencer auch mich sofort um den kleinen Finger gewickelt.

Lucy riss die Beifahrertür auf, kaum dass ich am Straßenrand anhielt. »Hi, Michi, schon aufgeregt?«

»Ein wenig.« Ich hatte Angst, entweder nicht aufs Pferd draufzukommen oder direkt auf der anderen Seite wieder runterzufallen. »Willst du Spencer mitnehmen?«

»Ja, meinst du, das wäre okay? Julian ist heute auch unterwegs, und ich will ihn in der neuen Umgebung noch nicht so lange alleine lassen.« Sie kaute auf ihrer Unterlippe und sah mich nachdenklich an.

»Klar, wieso nicht. Solange er die Pferde nicht fürchtet.« Früher hatte es einige Hunde auf dem Pferdehof gegeben, ich konnte mir nicht vorstellen, dass jemand damit ein Problem haben würde.

Lucy riss die Hintertür auf und legte eine Decke auf den Rücksitz. »Vor Pferden hat er keine Angst, das sollte also okay sein.« Sie bedeutete Spencer, auf die Rückbank zu springen, und machte ihn mit einem speziellen Haltegurt fest, den sie mitgebracht hatte.

Dann stieg sie neben mir ein. »Wir können los.«

»Habt ihr euch schon gut eingelebt?« Ich nickte in Richtung des Hauses, das sie mit Julian, Jaxon und Emma erst vor einer Woche bezogen hatte, während ich den Wagen auf die Straße lenkte.

»Puh, gute Frage.« Lucy lachte kurz. »Es herrscht noch das totale Chaos. Überall stehen Kisten rum, die ausgepackt werden müssen. Das Gästezimmer muss noch gestrichen werden, was wir eigentlich dieses Wochenende machen wollten, aber durch Marcs Umzug ist daraus nichts geworden. Es liegt noch viel Arbeit vor uns, aber grundsätzlich ist es toll.« Sie strahlte über das ganze Gesicht.

»Die Hauptsache ist, dass ihr euch wohlfühlt. Den Rest könnt ihr nach und nach erledigen.«

»Das stimmt. Ich habe mich übrigens auch dafür entschieden, endlich meinen Führerschein zu machen. Die Praxis liegt zwar eigentlich nicht so weit entfernt, aber mit dem Bus muss ich zweimal umsteigen, was ganz schön nervig ist.«

»Lucy, das ist klasse, ich bin stolz auf dich.« Sie hatte mir mal erzählt, sich nie an den Führerschein gewagt zu haben, aus Angst, bei der theoretischen Prüfung durchzufallen. Durch ihre erst kürzlich überstandene Amnesie konnte sie sich manche Dinge schlecht merken.

Lucy zuckte mit den Schultern, als wäre es keine große Sache. »Wie lange ist es eigentlich her, seit du geritten bist?«, wechselte sie das Thema.

»Ich war noch klein, vielleicht acht oder neun. Mein Dad war noch bei uns. Ich weiß auch gar nicht mehr, wie viele Stunden ich damals genommen habe, aber ich kann mich noch an das Gefühl der Freiheit erinnern, wenn ich ausgeritten bin.«

»So geht es mir auch immer. Und genau das ist es auch, was ich vermisse, seit ich in Philadelphia bin.« Lucy betrachtete mich nachdenklich. »Hast du noch Kontakt zu deinem Dad?«

»Nur sporadisch.« Ich schob mir eine Haarsträhne hinter das Ohr. »Als Dad uns damals verlassen hat, habe ich ihm die Schuld dafür gegeben, die Familie zerstört zu haben. Er wollte den Kontakt zu mir aufrechthalten, aber ich war so sauer auf ihn, weil wir damals alles verloren haben. Wir mussten aus dem Haus in eine kleine Wohnung umziehen, ich musste die Schule wechseln und habe alle meine Freunde verloren. In meinen Augen hat er mein Leben zerstört.«

Lucy schenkte mir ein mitfühlendes Lächeln. »Wie alt warst du damals?«

»Zehn.« Noch heute sehe ich ihn vor mir, wie er sein Hab und Gut erst in seinen Koffer und, als dieser voll war, ohne Ordnung in den Kofferraum seines Autos geschmissen hatte, um bloß so schnell wie möglich verschwinden zu können. Während Mom teilnahmslos zugeschaut hatte, als wäre es ihr egal, hatte ich mit meinem Bitten und Flehen die halbe Nachbarschaft auf die Straße getrieben. Dass alle Dads lieblosen Abgang ‒ er hatte sich nicht einmal richtig von mir verabschiedet ‒ mitbekommen hatten, war rückblickend noch viel schwerer zu verkraften gewesen.

»Eine Trennung kann für ein Kind nie einfach sein«, sagte Lucy mitfühlend und blies sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

Schulterzuckend sah ich in den Rückspiegel, um das Auto vor uns überholen zu können. »Manchmal habe ich das Gefühl, als würde ich von allen verlassen werden. Dad, Jaxon, Marc.«

Lucy lehnte sich gegen die Beifahrertür und sah mich direkt an. »Kann ich fragen, was genau bei dir und Marc vorgefallen ist? Als ich euch kennengelernt habe, wart ihr schon nicht mehr richtig zusammen.«

»Wir waren nie richtig zusammen«, erklärte ich und versuchte das schmerzhafte Ziehen in meinem Brustkorb zu ignorieren. »Marc und ich hatten so eine Art Deal abgeschlossen. Ich sollte herausfinden, was ich mir von der Zukunft wünsche und was mich glücklich macht, dann würde er mir dabei helfen, es zu erreichen. Das hat anfangs auch gut funktioniert. Während ich im Entzug war, hat er mir immer wieder E-Mails mit Dingen geschickt, von denen er dachte, sie könnten mein Interesse wecken. Hobbys, die mir gefallen könnten, oder Bücher und so was. Es war schön zu wissen, dass er an mich dachte, aber ich hätte nie vermutet, dass mehr dahinterstecken könnte.« Unwillkürlich breitete sich ein Lächeln auf meinen Lippen aus, als ich daran zurückdachte. Marcs E-Mails waren mein tägliches Highlight gewesen, weil seine Vorschläge immer gut durchdacht, dabei aber lustig verfasst waren.

Ich unterdrückte ein Lächeln und redete weiter. »Als ich aus dem Entzug entlassen wurde, hat er vor der Klinik auf mich gewartet, obwohl ich ihm gesagt habe, er müsse das nicht tun. Aber er wollte nicht, dass ich alleine in eine verlassene Wohnung zurückkomme. In den folgenden Wochen haben wir uns häufig gesehen. Wir sind nicht gleich miteinander ins Bett gesprungen, sondern es hat sich zuerst eine Freundschaft entwickelt, ehe ich Gefühle für ihn bekam. Anfangs konnte ich sie auch gar nicht richtig deuten. Ich war noch nie zuvor verliebt und habe das Herzrasen und die Schmetterlinge, die ich in Marcs Gegenwart verspürt habe, zuerst mit Nachwirkungen des Entzugs verwechselt.«

Lucy lächelte leicht. »Das kenne ich. Ich wusste zuerst auch nichts mit dem Gefühlschaos anzufangen, das Julian in mir ausgelöst hat. Aber ich wollte es vermutlich auch nicht wahrhaben.«

Ich schnaubte. »Ich auch nicht. Mich zu verlieben, war so ziemlich das Letzte, wonach mir der Sinn stand.«

»Aber was ist dann passiert?«

»Ich habe keine Ahnung.«

Mit verengten Augen legte Lucy den Kopf schief. »Aber du musst doch irgendwas vermuten.«

»Nein, wirklich nicht. Von einem auf den anderen Tag war alles anders. Mittwochs waren wir noch im Café, da war alles in Ordnung, und Donnerstag hat Marc zum ersten Mal unsere Verabredung abgesagt und mich auf nächste Woche irgendwann vertröstet. Von da an war er kühl und reserviert und hat nur noch so viel Zeit wie absolut nötig mit mir verbracht. Ich dachte zuerst, er würde denken, ich hätte kein Interesse an ihm, aber als ich ihm meine Gefühle gestanden habe, wurde es noch schlimmer.«

Rechts von uns sah ich die Zufahrt zum Pferdehof, und meine trüben Gedanken verpufften wie eine Seifenblase. Freudige Aufregung machte sich in mir breit und auch Lucy neben mir klatschte vergnügt in die Hände. »Sind wir da?«

»Sind wir.« Ich bog auf den vereisten Schotterweg ab, der zwischen zwei leeren Koppeln hindurchführte. Zwei Hunde spielten vor dem Haus, denen die Kälte nichts auszumachen schien. Bei ihrem Anblick begann Spencer zu kläffen und aufgeregt mit dem Schwanz zu wedeln.

Ich parkte meinen Toyota neben dem schwarzen Pick-up, als die Tür zum Haus sich öffnete und eine Frau im mittleren Alter heraustrat. Sie trug eine dicke Wollmütze, unter der vereinzelte blonde Strähnen herauslugten, und kam zielsicher auf mein Auto zu.

»Du musst Michaela sein, ich bin Madison.« Für eine so kleine Person hatte sie einen überraschend kräftigen Händedruck.

»Freut mich. Das ist meine Freundin Lucy.«

Lucy winkte kurz. »Ich habe meinen Hund Spencer dabei. Ist es okay, wenn ich ihn rauslasse?« Sie deutete über ihre Schulter zu den spielenden Hunden.

»Klar. Nemo und Dori freuen sich immer über Gesellschaft und kommen auch mit den meisten Hunden klar.«

»Nemo und Dori?«, fragte ich lachend, während Lucy Spencer, der sofort auf die beiden zusagte, aus dem Auto ließ.

»Meine jüngste Tochter war gerade im Findet-Nemo-Fieber, als wir die beiden bekommen haben. Ich hatte keine andere Wahl, als sie so zu nennen.«

»Ich mag die Namen.« Lucy war zu uns gekommen. »Sie sind außergewöhnlich, und jeder weiß sofort, wer damit gemeint ist.«

»Dafür ist Spencer aber ein sehr alltäglicher Name«, warf Madison ein.

»Das stimmt. Zu meiner Verteidigung ist zu sagen, dass ich ihm den Namen nicht gegeben habe. Es war auch lange Zeit nicht geplant, ihn zu adoptieren, aber Spencer ist der Grund, dass ich meinen Freund kennengelernt habe, er gehört daher einfach zur Familie.«

»Das ist aber schön. Kommt, ich zeig euch alles.«

Madison führte uns in die Stallungen, wo sie bereits zwei Pferde für uns gesattelt hatte, die wir in die Halle führten. Lucy stieg mit Leichtigkeit auf das Pferd, als hätte sie ihr Leben lang nichts anderes gemacht, während es mir bereits Probleme bereitete, den Fuß so weit anzuheben, um in den Steigbügel zu kommen.

Ich hatte in den letzten Jahren vergessen, wie groß und einschüchternd Pferde waren, aber sobald ich darauf saß, war es, als würde mein Körper sich wieder an das Reiten erinnern. Instinktiv setzte ich mich gerade hin und griff nach den Zügeln, dann ging es auch schon los. Vaiana ‒ auch die Pferde waren nach Zeichentrickfiguren benannt ‒ tänzelte leichtfüßig durch die Halle, zuerst in einem gemächlichen Tempo, doch dann immer schneller.

Es war ein berauschendes Gefühl. Nicht nur, weil sich mein Körper an die früher einstudierten Bewegungsabläufe erinnerte, sondern auch, weil Vaiana meinen Befehlen folgte. Wenn ich die Zügel zurückzog, wurde sie langsamer. Wenn ich sie in eine Richtung dirigierte, folgte sie dieser, und wenn ich mit der Zunge schnalzte, verfiel sie in einen leichten Galopp. So musste es früher schon gewesen sein, auch wenn ich mich nicht daran erinnerte. Aktuell war es eine völlig neue Erfahrung für mich. Meistens hatte ich das Gefühl, nichts bewirken zu können und dass niemand mir zuhörte, egal was ich sagte. Aber Vaiana befolgte alle meine Anweisungen, als würde ich endlich mal etwas richtig machen.

Nach einer Stunde brannten meine Muskeln von der Anstrengung, aber es war ein tolles Gefühl. Diese Leichtigkeit, die ich auf dem Rücken eines Pferdes empfand, hatte ich vermisst und wollte sie unbedingt wieder erfahren. Lucy schien es ähnlich zu gehen, denn sie strahlte über das ganze Gesicht, als wir die Pferde zurück in den Stall brachten.

»Du siehst aus, als hätte es dir gefallen«, sagte sie schmunzelnd, als sie den Sattel von Olaf runternahm.

Erst als Lucy es ansprach, fiel mir auf, dass ich lächelte. Was ich selten tat. Lachen ja, wenn jemand etwas Lustiges gesagt hatte, aber lächeln? Noch dazu unbewusst? Ich wusste nicht, wann mir das zum letzten Mal passiert war.

Das Lächeln verschwand auch nicht, als wir die Pferde mit Stroh abrieben und sie mit Äpfeln fütterten. Als es Zeit wurde, uns von Madison zu verabschieden, meldeten wir uns für den wöchentlichen Kurs an. Ich freute mich darauf, von nun an regelmäßig herzukommen und dem Alltag für eine kurze Zeit entfliehen zu können.

Zurück im Auto, griff ich zuerst nach meinem Handy. Ich hatte drei Nachrichten von Marc erhalten, der wissen wollte, ob ich Lust hätte, mich mit ihm auf einen Kaffee zu treffen. Also hatte er es tatsächlich ernst gemeint, dass ihm unsere Freundschaft wichtig war. Einerseits war ich erleichtert, weil ich ihn als Freund ebenfalls nicht verlieren wollte. Andererseits wusste ich nicht, ob es eine gute Idee war. Ich wollte so viel mehr von Marc, dass mir Freundschaft eigentlich nicht genug war. Aber wenn es das Einzige war, das ich von ihm bekommen würde, musste ich mich damit arrangieren.

***

Zwei Tage später trafen wir uns bei unserem Lieblingscafé. Als ich ankam, wartete Marc bereits vor der Tür. Sein bloßer Anblick ließ mein Herz höherschlagen, dabei sah er in seiner weißen Daunenjacke und der Wollmütze aus wie ein Michelin-Männchen. Aber ich wusste genau, welcher Körper sich unter der dicken Kleidung verbarg. Und vor allem wusste ich, welch wunderbare Person in diesem Körper steckte. Denn sein Geist, seine Loyalität und sein großes Herz waren es, in die ich mich verliebt hatte.

»Hey, Marc.« Ich blieb in sicherer Distanz zu ihm stehen. Früher hatten wir uns zur Begrüßung immer umarmt, aber war das noch angebracht?

»Hi, Michaela. Schön, dass du gekommen bist.« Er hörte sich unsicher an, was mich aufhorchen ließ.

»Natürlich bin ich gekommen, wir waren doch verabredet.«

Marc zuckte mit den Schultern. »Aber ich war nicht sicher, ob du auch wirklich… verdient hätte ich es.«

Entgeistert starrte ich ihn an. »Du dachtest, ich würde dich versetzen? Als Retourkutsche?«

»Nein, nein«, wiegelte er schnell ab. »Nicht absichtlich, eher… wie erkläre ich das am besten? Weil du selber nicht wusstest, wie ernst es mir mit dem Treffen war.«

Langsam schüttelte ich den Kopf. »So denke ich nicht. Jetzt lass uns reingehen. Mir ist kalt, und du hast mir etwas zum Aufwärmen versprochen.«

Ich schob mich an ihm vorbei und betrat das Café. Es war ein kleiner, rustikal gehaltener Laden. Eichenholztische und Eisenstühle, auf denen selbst bestickte Kissen lagen, verströmten ein Ambiente im Landhausstil.

Wir suchten uns einen ruhigen Platz in der Ecke und bestellten unsere Getränke. »Wie ist das Zusammenleben mit David?«, wollte ich wissen.

Marc grinste. »Es ist anders.«

»Gut anders oder schlecht anders?«

»Einfach anders, als ich es gewohnt bin. Jaxon war immer sehr reserviert, auch als ich ihn besser kennengelernt habe. Er hat nie viel über sich erzählt und nie viele Fragen gestellt. David ist das komplette Gegenteil dazu. Er hat keine Hemmungen, auch über unangenehme Themen zu reden, wie sein gespaltenes Verhältnis zu seinem Bruder zum Beispiel.«

Das überraschte mich. »Ich dachte, sie wären immer gut ausgekommen.«

»In letzter Zeit wohl nicht mehr. Andrew scheint sich verändert zu haben, seit er aufs College geht. Es geht wohl irgendwie um Keiran und dass Andrew Davids Sexualität nicht mehr so akzeptiert, wie er es früher getan hat. So genau blicke ich da aber nicht durch.«

»Solange du kein Problem damit hast.«

»Dass David schwul ist? Wieso sollte ich? Er ist ein anständiger Kerl und endlich ein Mitbewohner, der mit mir zockt. Für mich macht es keinen Unterschied, ob er auf Frauen oder Männer steht.«

»Das sehen viele aber anders.«

»Ja, leider. Dabei sollte man echt denken, dass wir im 21. Jahrhundert aufgeklärter sind.«

Die Bedienung brachte unsere Getränke und unterbrach unser Gespräch kurzzeitig. Sobald meine Tasse vor mir stand, legte ich meine Hände darum, um meine kalten Finger etwas aufzuwärmen.

»Wie geht es deiner Mom?«, fragte Marc, als die Bedienung wieder gegangen war.

»Ganz gut so weit. Martin behandelt sie immer noch anständig, er scheint wirklich ein guter Typ zu sein.« Meine Mom hatte nie Glück mit dem männlichen Geschlecht gehabt. Seit Dad uns verlassen hatte, war Mom von einer schrecklichen Beziehung in die nächste geschlittert. Die Typen hatten sie entweder ausgenutzt, bestohlen oder geschlagen. Als sie meinen Stiefvater Lenny kennengelernt hatte, dachte ich zum ersten Mal, die schlimme Zeit wäre vorbei. Anfangs war er der perfekte Gentleman gewesen, hatte meiner Mom Geschenke gemacht und sie auf Händen getragen. Bis er sich dann sicher gewesen war, sie um den kleinen Finger gewickelt zu haben. Dann war er zum Monster mutiert.

Während Marc einen Schluck von seinem Kaffee trank, betrachtete er mich mit diesem intensiven Blick, als wollte er bis auf den Grund meiner Seele vordringen. »Hat sich euer Verhältnis gebessert?«

Ich verzog den Mund. »Wir arbeiten daran.« Ich liebte meine Mom, aber ich hatte ihr bisher nicht verzeihen können, was sie mir zugemutet hatte. Zwar hatte sie mir nie absichtlich wehtun wollen, aber sie war auch nicht eingeschritten, als Lenny mich mit Drogen ruhiggestellt hatte, was ich einfach nicht vergessen konnte. Eine Mutter sollte ihr Kind doch um jeden Preis beschützen und nicht den Anschein erwecken, als wäre es ihr egal.

Marc griff über den Tisch hinweg nach meiner Hand. Ein Flattern machte sich in meinem Magen breit und Gänsehaut bildete sich auf meinen Armen. Ich konnte die Reaktionen meines Körpers auf ihn einfach nicht unterdrücken, auch wenn ich wusste, dass meine Gefühle nicht erwidert wurden. »Aber wenigstens arbeitet ihr daran«, sagte er sanft.

Ich zuckte mit den Schultern. »Ich will auch wieder ein normales Verhältnis zu ihr haben. So wie es jetzt ist, ist es total unbefriedigend. Aber ich kann einfach nicht vergessen, was geschehen ist. Und dass Martin mir ständig sagt, ich soll auf Mom zugehen, hilft mir auch nicht weiter.«

»Drängt er dich dazu?« Marc setzte sich aufrecht hin und festigte den Griff um meine Hand.

»Nein, das nicht«, beschwichtigte ich ihn. »Er wünscht sich halt, dass wir wieder besser miteinander auskommen, und sagt mir auch immer, Mom würde mich vermissen. Aber das ist genau das Ding. Ihm sagt sie es, aber mir nicht. Sie hat sich bisher nicht mal bei mir entschuldigt. Ich merke zwar, dass es ihr leidtut, aber es wäre schön, das auch von ihr zu hören.«

»Völlig verständlich«, stimmte Marc mir zu. »Mir würde es an deiner Stelle genauso gehen. Aber ihr seht euch noch regelmäßig, oder?«

»Mehr oder weniger. Aber Mom ruft mich einmal die Woche an.«

»Dann seid ihr auf einem guten Weg. Solche Dinge brauchen Zeit und für manche ist es eine Überwindung, über ihren Schatten zu springen und sich zu entschuldigen.« Marc drückte meine Hand ein letztes Mal, ehe er sie losließ.

Sofort spürte ich den Verlust und ein kalter Schauer raste meinen Rücken hinab. Ich schob meine Finger unter meinen Oberschenkel, um die Kälte wieder zu vertreiben.

»Aber wie geht es dir? Wie läuft das Studium?«, lenkte ich von mir ab.

»Es wird immer anspruchsvoller, aber das gefallt mir.«

»Du bist auch nicht glücklich, wenn du nicht bis zu den Ohren in Arbeit versinkst, oder?«, fragte ich schmunzelnd. Marc studierte nicht nur Medizin und hatte zwei Jobs. Dazu kamen seine Verpflichtungen beim Selbstverteidigungs- und Boxkurs, ganz zu schweigen davon, dass er auch lernen musste. Wie er es schaffte, zudem noch Freizeit zu haben, war mir schleierhaft.

Marc grinste breit. »Dafür habe ich ja den Sonntag, an dem ich immer ausspanne.«

Sonntag war der Tag, an dem Marc nie Zeit hatte. Ich hatte ihn nie gefragt, was er an diesen Tagen machte, obwohl es mir unter den Fingern brannte. Aber Marc, der sonst sehr freizügig mit persönlichen Informationen umging, hatte nie von sich aus verraten, was den Sonntag so besonders machte. Ich biss mir auf die Unterlippe, um meine Neugierde im Zaum zu halten.

»Irgendwann werde ich herausfinden, was du da machst.«

Er wackelte mit den Augenbrauen. »Vielleicht, vielleicht auch nicht.«