Marc
»Du bist unkonzentriert.« Paxton verpasste mir einen Schlag gegen den Kopf, der meine Gehirnzellen ordentlich durchschüttelte, obwohl ich einen Kopfschutz trug. »Deine Deckung ist fürn Arsch heute.«
»Ich weiß.« Genervt von mir selber, korrigierte ich meine Armhaltung und tänzelte um meinen Boxpartner herum. Normalerweise war Boxen mein Ausgleich. Sobald ich die Handschuhe anzog, konnte ich alles um mich herum vergessen und mich ganz dem Sport hingeben. Aber heute ließ sich mein Hirn nicht abschalten.
Unweigerlich kreisten meine Gedanken um Michaela und unser Treffen vor einigen Tagen. Sie hatte ausgeglichener gewirkt, reifer, als wüsste sie genau, was sie wollte. Aber war es wirklich eine kürzliche Wandlung, oder war Michaela schon länger verändert und ich hatte es bloß nicht wahrhaben wollen? Oder bildete ich mir das alles nur ein, weil ich insgeheim nach einem Grund suchte, doch mit ihr zusammen sein zu können?
Paxton durchbrach erneut meine Deckung und verpasste mir einen schmerzhaften Hieb in die Seite, der sämtliche Luft aus meiner Lunge presste.
»Fuck.« Ich taumelte einige Schritte zurück und hielt die schmerzende Stelle.
»Was ist los mit dir, Mann?« Paxton riss sich den Kopfschutz vom Gesicht, spuckte den Mundschutz aus und sah mich irritiert an. Es war überhaupt nicht meine Art, derart unkonzentriert zu sein. »Ist irgendwas passiert?«
»Nein, ich bin heute einfach nicht bei der Sache. Ich weiß auch nicht warum.« Eine glatte Lüge, die mein Trainingspartner mir nicht abkaufte, wenn ich seinen kritischen Blick richtig deutete.
Schließlich zuckte er jedoch mit den Schultern. Er wusste, dass ich von mir aus auf ihn zukommen würde, wenn ich reden wollte. Aber das wollte ich nicht. Ich musste mir Michaela aus dem Kopf schlagen, denn ich konnte mir einen weiteren Fehler wie mit Shawna nicht erlauben.
»Willst du weiter trainieren oder sollen wir abbrechen?« Paxton streifte sich bereits die Handschuhe ab.
»Ich mach noch ein paar Kombinationen am Sandsack.« Dabei könnte ich wenigstens unkonzentriert sein, der Sandsack konnte nicht zurückschlagen.
»Ist es okay für dich, wenn ich schon abhaue? Ich habe später noch ein Date.« Das Funkeln in seinen Augen ließ mich innehalten.
»Oh? Wer ist sie?«, fragte ich interessiert.
»Sie heißt Cassidy und studiert mit mir zusammen. Ich finde sie schon länger toll, hatte bisher aber immer das Gefühl, sie sei nicht an mir interessiert.«
»Scheint so, als hätte dich dein Gefühl getrogen.«
»Ganz offensichtlich.« Paxton hob die Hände in einer »kann mal passieren«-Geste.
Ich klopfte ihm auf die Schulter. »Dann bereite dich mal auf dein Date vor, und versau es nicht.«
»Ja, ja.« Er verdrehte die Augen. »Mach nicht mehr so lange.« Er wandte sich ab und lief in Richtung Umkleiden. Nach einigen Schritten blieb er jedoch stehen und drehte sich um. »Weißt du, vielleicht ist es genau das, was dir fehlt. Du musst mal wieder rauskommen, eine schöne Frau treffen und einen Abend deinen Spaß haben.«
Unwillkürlich erschien Michaelas Gesicht vor meinem inneren Auge und mir fielen die Tage ein, an denen wir unseren Spaß gehabt haben. Es stimmte, dass mir genau das fehlte, trotzdem schob ich die Gedanken resolut weg.
»Spaß kann ich haben, wenn ich mein Diplom in der Tasche habe«, entgegnete ich.
Paxton schüttelte den Kopf, als könnte er das nicht nachvollziehen. »Bis nächste Woche«, sagte er, ehe er endgültig aus der Halle verschwand.
Kaum war die Tür hinter Paxton ins Schloss gefallen, musste ich erneut an all die schönen Stunden denken, die ich mit Michaela verbracht hatte. Mein Herz wurde schwer, denn ich vermisste diese Leichtigkeit, die anfangs zwischen uns herrschte. Es war einfach gewesen, mich an Michaela zu gewöhnen und ‒ ja ‒ mich in sie zu verlieben. Wir hatten viele Gemeinsamkeiten, aber auch eine ganz gravierende Sache, in der wir völlig unterschiedlicher Meinung waren.
»Ich glaube nicht, dass man das so einfach pauschalisieren kann«, begann Michaela und unterbrach sich, als sich eine Frau mit zwei kleinen Kindern an den Nebentisch setzte.
Wie so oft hatten wir uns in dem kleinen Café verabredet, das wir so gerne besuchten, und bis eben hatten wir uns gut unterhalten. Doch jetzt verfinsterte sich Ihre Miene und ihre Aufmerksamkeit schweifte von mir ab.
»Was ist los?«, wollte ich wissen.
»Nichts.« Michaela zwang ein Lächeln auf ihre Lippen und sah erneut zu mir. »Wo war ich stehen geblieben?«
»Du denkst nicht, dass man es so einfach pauschalisieren kann«, half ich ihr auf die Sprünge.
»Genau. Sicher gibt es noch genug ‒ zu viele ‒, die sich nicht darum scheren, was wir mit unserer Umwelt anstellen, wie unsere aktuelle Regierung ja eindrucksvoll beweist. Aber es gibt auch genug, die versuchen, dagegen anzukämpfen, und…« Am Nebentisch wurde es lauter, als die zwei Kinder sich darum stritten, wer zuerst mit der Barbiepuppe spielen durfte. Michaelas Blick zuckte zu ihnen und ihr Mund verzog sich zu einem Strich.
Erst als es dort ruhiger wurde, wandte sie sich erneut mir zu.
»Es gibt genügend, die Aufklärungsarbeit leisten, was wir unserer Umwelt antun und wie die Folgen in den nächsten Jahren aussehen könnten.«
»Das Problem dabei ist nur, dass niemand genau weiß, was durch die Klimaerwärmung auf uns zukommen wird, weshalb viele sich dahinter verstecken können, dass es ja vielleicht gar nicht so schlimm wird wie befürchtet.«
»Es ist auch einfach, sich dahinter zu verste-« wieder kam es zum Aufruhr am Nebentisch und erneut glitt Michaelas Blick hinüber. »Kann die ihre Kinder nicht mal ruhig halten?«, zischte sie verärgert, ihre Blicke erdolchten die Kleinen regelrecht und obwohl ich den Lärm auch nicht super fand, kam mir ihre Reaktion überzogen vor.
»Es sind Kinder, lass sie spielen«, sagte ich nur.
Michaela verdrehte die Augen und setzte an, wo sie zuvor aufgehört hatte, ich versuchte mich auf ihre Worte zu konzentrieren, aber es gelang mir nicht recht, zu geschockt war ich von Michaelas Reaktion auf die spielenden Kinder, wann immer es am Nebentisch lauter wurde, ließ sie einen bissigen Kommentar los, und als der kleine Junge zu weinen begann, weil seine Schwester ihm die Barbie weggenommen hatte, sagte sie sogar, dass man Mütter mit schreienden Kinder der Lokalität verweisen sollte.
Es war eine völlig neue Seite gewesen, die Michaela mir an diesem Tag gezeigt hatte, und eine, mit der ich einfach nicht klarkam. Es war eine Sache, wenn jemand keine eigenen Kinder haben wollte, aber alle Kinder von vornherein abzulehnen, war etwas anderes und zeigte mir, dass das mit uns nicht gut gehen konnte.
Die nächste Stunde powerte ich mich am Sandsack aus. So lange, bis mein Kopf herrlich leer war und ich nur noch das Brennen meiner Arme und die Erschöpfung in meinen Gliedern spürte. Erst dann hörte ich auf und ging duschen.
»Hey, David.« Ich stellte meine Tasche hinter der Tür ab und hängte meine Jacke an der Garderobe auf.
David stand in der Küche und schien irgendwas im Kühlschrank zu suchen.
»Hey Marc, schon zurück?« Er schloss den Kühlschrank, ohne irgendetwas rauszunehmen.
»Ja, es gibt einfach so Tage, an denen nichts funktioniert.«
»Kenne ich. Ich war mir absolut sicher, dass ich gestern Milch gekauft habe, aber ich kann sie nirgendwo finden. Es sei denn, du hast sie getrunken?«
»Ganz bestimmt nicht, ich hasse Milch«, entgegnete ich lachend. »Aber ich kann dir trotzdem behilflich sein. Du hast sie nämlich einfach auf dem Herd stehen lassen, deswegen hab ich sie weggestellt.« Ich drehte mich um und zog die Schublade auf, in der ich die H-Milch verstaut hatte.
»Ah.« Davids Gesicht hellte sich auf. »Das war die Einzige, in der ich nicht nachgesehen hab.« Er nahm einen Karton heraus und riss die Lasche auf. »Aber wie kann man keine Milch mögen?«
Bevor ich dazu kam, ihm zu antworten, begann mein Handy zu klingeln. Ich zog es aus meiner Hosentasche und ging mit einem Augenrollen ran, nachdem ich sah, dass es meine Mom war. Ich hatte so eine Ahnung, worum es ging. »Hi, Mom.«
»Hallo, mein Junge. Lange nichts mehr von dir gehört«, sagte sie strafend.
So begrüßte sie mich immer, selbst wenn wir uns am Tag zuvor gesehen hatten. Diesmal hatte sie jedoch recht. Es war einige Wochen her, seit wir zuletzt gesprochen hatten. »Sorry, aber ich war zu sehr mit meinem Studium und dem Umzug beschäftigt.«
»Und eingeladen in deine neue Wohnung hast du uns auch noch nicht.« Sie schnalzte missbilligend mit der Zunge.
»Ich gelobe Besserung. Ihr könntet nächste Woche vorbeikommen«, bot ich an.
»Nächste Woche ist die Hochzeit deiner Cousine. Das hast du hoffentlich nicht vergessen.«
Oh verdammt, und wie ich das vergessen hatte. Dabei schickte Shania mir wöchentlich Bilder, um mich über die Hochzeitsvorbereitungen auf dem Laufenden zu halten. Mir war jedoch völlig entfallen, dass es bereits nächste Woche so weit war.
»Dein Bruder und ich werden bereits am Dienstag nach New York fahren und Shania bei den letzten Vorbereitungen helfen.«
Das ließ mich aufhorchen. »Hat Décio keine Schule?«
»Er…« Mom seufzte und ich konnte sie praktisch vor mir sehen, wie sie sich mit Daumen und Zeigefinger in die Nasenwurzel kniff. »Es ist kompliziert, wir sprechen nächste Woche darüber.«
»Moin«, protestierte ich. »Was hat er angestellt?« Décio war 16 und schon immer ein kleiner Wildfang gewesen. Als ich über Weihnachten zu Hause gewesen war, war er zudem verschlossen und schlecht gelaunt gewesen. Damals hatte ich es als das typische Teenagergebaren abgetan, aber wenn er jetzt nicht einmal mehr zur Schule ging, steckte vielleicht etwas anderes dahinter.
»Décio hat sich geprügelt«, sagte Mom nach einigen Sekunden Schweigen. »Und zwar nicht einfach mit irgendwem, sondern mit dem Sohn des Direktors. Laut ihm ist Décio völlig grundlos auf ihn losgegangen, aber dein Bruder schweigt zu dem Thema. Deswegen wurde er für zwei Wochen suspendiert, und bevor ich ihn unbeaufsichtigt hierlasse, damit er wieder sonst was anstellen kann, kommt er mit nach New York.«
Mir schwirrte der Kopf, denn Décio war eigentlich kein aggressiver Typ. Klar, er schlug mal über die Stränge, blieb abends zu lange weg oder hatte sich mit 14 mal mit einem Freund am Weinregal unserer Mom vergangen, bis den beiden so schlecht gewesen war, dass sie das komplette Badezimmer vollgekotzt hatten. Aber meines Wissens hatte er sich noch nie geprügelt.
»Bist du sicher, dass er es war?«
»Absolut. Seine Knöchel waren aufgeplatzt und geschwollen. Außerdem hätte er doch etwas gesagt, wenn er es nicht gewesen wäre.«
»Stimmt auch wieder.«
»Vielleicht kannst du nächstes Wochenende mal in Ruhe mit ihm sprechen, ich finde neuerdings keinen Zugang mehr zu ihm.« Mom seufzte erneut. »Aber deswegen habe ich gar nicht angerufen.«
»Du wolltest mich nur an die Hochzeit erinnern.«
»Und daran, dass du mir versprochen hast, deine Freundin mitzubringen und sie uns vorzustellen.«
Oh, fuck.
Fuck, fuck, fuck.
Das hatte ich völlig verdrängt, ich war so ein Idiot.
»Ihr seid doch noch zusammen?«, fragte Mom in mein Schweigen hinein. »Weil ansonsten kann ich noch immer Danielle fragen, ob sie dein Date sein möchte.«
Bloß nicht. Moms Versuche, mich mit einer von Shanias Freundinnen zu verkuppeln, waren genau der Grund, warum ich meine angebliche Freundin überhaupt erfunden hatte.
»Nein, wir sind noch zusammen«, brachte ich hervor.
»Hervorragend, ich freue mich darauf, sie kennenzulernen.« Damit legte sie auf und ließ mich verzweifelt zurück.
»Gottverdammt.« Kraftlos ließ ich mich auf den nächsten Stuhl fallen und rieb die Hände über mein Gesicht. Was für ein Schlamassel. Als ich aufsah, entdeckte ich David mit einem wissenden Grinsen vor mir.
»Mütter sind eine ganz besondere Spezies, oder?«
»Wem sagst du das. Aber dass ich mich dazu hab hinreißen lassen, ihr meine nichtvorhandene Freundin bei Shanias Hochzeit vorstellen zu wollen, ist an Dummheit fast schon nicht mehr zu überbieten.«
David zuckte mit den Schultern. »Frag Michaela.«
»Nein.« Entschieden schüttelte ich den Kopf. Auch wenn der Gedanke, ein ganzes Wochenende mit ihr abseits vom alltäglichen Stress zu verbringen, mein Herz höherschlagen ließ, wäre das eine ganz schlechte Idee.
David setzte sich zu mir an den Tisch und betrachtete mich eingehend. »Warum eigentlich nicht? Ich hatte bisher das Gefühl, du stehst auf sie.«
»Vielleicht tue ich das auch, aber bei ihr bin ich mir da nicht sicher.«
»Warum nicht?«
»Weil Michaela sprunghaft ist. Als ich mit Jaxon zusammengezogen bin, war sie völlig auf ihn fixiert. Er wollte nie etwas von ihr und es lief auch nie etwas Festes zwischen ihnen, aber für Michaela war Jaxon so etwas wie der Heilsbringer, während sie mich überhaupt nicht beachtet hat. Nachdem Jaxon dann mit Emma zusammengekommen ist, ist sie in ein tiefes Loch gefallen, und als Jaxon mich zu ihr geschickt hat, wollte sie meine Hilfe zuerst auch nicht. Aber dann war es von einem auf den anderen Tag plötzlich so, als hätte sie Jaxon nie interessant gefunden, sondern immer nur mich gewollt.«
Ich griff nach einem Bierdeckel auf dem Tisch und drehte ihn in meinen Fingern. »Ich habe einfach Angst, dass Michaela auch an mir nicht wirklich interessiert ist, sondern mich nur mag, weil ich ihr eine Stütze bin und ihr geholfen habe. Versteh mich nicht falsch, ich will ihr auch weiterhin zur Seite stehen, aber mehr hätte glaube ich keinen Sinn.« Das war zwar nicht die ganze Wahrheit, aber der einzige Grund, den ich David geben konnte.
David war einige Sekunden ruhig, ehe er langsam den Kopf schüttelte. »Bist du sicher? Ich meine, ich verstehe deine Denkweise, aber Michaela wirkt für mich nicht wie jemand, der nicht weiß, was er will.«
»Und was war mit Fenton?«, fragte ich herausfordernd. Beim bloßen Gedanken an diesen Typen wollte ich irgendwo reinschlagen.
David lachte. »Du weißt schon, dass sie ihn nur deswegen zu Brittanys Geburtstag mitgenommen hat, um dich eifersüchtig zu machen, oder?«
»Und deswegen war sie auch zwei Monate mit ihm zusammen?«, konterte ich.
David zuckte mit den Schultern, als hätte er darauf auch keine Antwort.
»Eben.« Ich deutete mit dem Bierdeckel auf ihn. »Nee, lass mal, das ist schon besser so, wie es ist.« Und wenn ich mir das lange genug einredete, glaubte ich das vielleicht auch.
Michaela
»Ich kann sehr gut verstehen, dass Sie verärgert sind, Mrs White, dieser Fehler hätte nicht geschehen dürfen. Ich werde umgehend einen Techniker benachrichtigen, der sich der Sache annehmen wird. Und als Entschädigung würde ich Ihnen gerne einen Gutschein zukommen lassen, da wir Sie als gute Kundin nicht verlieren wollen.«
Während ich sprach, tippte ich auf der Computertastatur herum, um der Kundin das Gefühl zu geben, als würde ich eine Nachricht an den Techniker schicken.
»Das ist sehr freundlich von Ihnen, Miss Hernandez, aber bis heute Abend muss das Problem wirklich behoben sein«, sagte Mrs White nachdrücklich.
Ich schluckte eine bissige Bemerkung runter und sagte mit meiner freundlichsten Stimme: »Machen Sie sich keine Sorgen, es ist bereits jemand zu Ihnen unterwegs.«
»Wenn in zwei Stunden niemand hier ist, werde ich Sie wieder anrufen«, sagte Mrs White und legte einfach auf.
Gefrustet klickte ich das Feld am Computer an, um das nervige Tuten abzustellen, und war versucht, mein Headset einmal durch den ganzen Raum zu pfeffern. Warum musste so etwas immer passieren, wenn ich Dienst hatte?
Heute Abend spielten die Philadelphia Eagles, und ausgerechnet heute versagte einer der Funkmasten, sodass fast die Hälfte von Philadelphia kein Fernsehbild hatte. Im Minutentakt klingelte das Telefon und verärgerte Kunden ließen ihren Frust an mir aus. Einige waren dabei durchaus nett und verständnisvoll, der Großteil jedoch pampte mich gleich an, als sei ich persönlich dafür verantwortlich, dass sie kein Fernsehbild hatten und hätte das zudem absichtlich gemacht.
Das einzig Gute war, dass ich in zehn Minuten Feierabend hatte und sich dann wer anders um den ganzen Mist kümmern durfte.
Als ich das Gebäude verließ, atmete ich das erste Mal seit acht Stunden tief durch und wollte dann laut schreien, als mein Handy zu klingeln begann. Nach diesem Tag hatte ich wirklich keine Lust mehr, mit irgendwem zu sprechen. Einen Fluch unterdrückend, zog ich es aus meiner Handtasche, während ich mit den Zähnen den Handschuh meiner anderen Hand abzog. Vielleicht war es langsam mal an der Zeit, mir welche zuzulegen, mit denen man das Display bedienen konnte.
»Hey, Marc, was gibt’s?« Ich hielt mir das Handy ans Ohr und stopfte den Handschuh in meine Jackentasche.
»Hi, Michaela. Störe ich gerade? Du klingst so gehetzt.«
»Ich bin gerade auf dem Heimweg von der Arbeit«, erklärte ich.
»Ah, das ist gut. Es ist nur…« Marc räusperte sich und klang plötzlich nervös. »Ich hab da ein Problem, bei dem ich deine Hilfe gebrauchen könnte.«
»Du? Ein Problem?« Beinahe hätte ich gelacht. Marc hatte sonst immer alles unter Kontrolle, dass er jetzt ausgerechnet mich um Hilfe bat, war wie ein Sechser im Lotto.
»Ich habe Mist gebaut«, seufzte er. »Ich habe meiner Mom erzählt, ich würde meine Freundin mit zur Hochzeit meiner Cousine bringen, damit sie nicht auf die Idee kommt, mich mit einer von Shanias Freundinnen verkuppeln zu wollen.«
»Und dein Problem ist, dass du gar keine Freundin hast?«, schlussfolgerte ich.
»Genau.« Er hörte sich zerknirscht an.
Ich wollte ihm gerade viel Spaß dabei wünschen, in kürzester Zeit jemanden aufzutreiben, der sich als seine Freundin ausgab, als mir der Grund für seinen Anruf klar wurde.
»Und jetzt willst du, dass ich deine Freundin spiele? Das kannst du vergessen.« Ganz bestimmt würde ich diesen Part nicht übernehmen und vor seiner Familie ein verliebtes Paar mit ihm abgeben. Alleine beim Gedanken daran verkrampfte sich mein Herz schmerzhaft.
»Michaela, bitte.« Bei seinem flehenden Tonfall konnte ich ihn praktisch vor mir sehen, wie er mich aus diesen unergründlichen dunkelbraunen Augen ansah, in denen ich immer zu versinken drohte.
Und auch wenn ich es nicht zugeben wollte, aber ein kleiner Teil von mir wollte Ja sagen. Wenn ich Marc schon nicht komplett haben konnte, dann wenigstens für dieses Wochenende. Einmal daran schnuppern, wie es sich anfühlen würde, die Frau an seiner Seite zu sein, auch wenn es danach umso mehr schmerzen würde, von ihm getrennt zu sein.
»Du hast was gut bei mir, wenn du mir hilfst«, riss Marc mich zurück in die kalte Realität.
Ich biss mir auf die Unterlippe, weil ich ihm selten etwas abschlagen konnte.
»Bin ich eigentlich die Letzte in einer langen Liste mit Frauen, die du angerufen hast?«, fragte ich, anstatt ihm zu antworten.
Für einen Moment war es still am anderen Ende der Leitung. »Nein, du bist die Einzige, die ich mir in dieser Rolle vorstellen kann«, sagte er leise.
Mein Herz fühlte sich seltsam an, als wollte es gleichzeitig stehen bleiben und zu schnell weiterschlagen, und für eine Sekunde blieb mir die Luft weg. Ich fragte mich, ob ich ihn richtig verstanden oder mir seine Worte bloß eingebildet hatte. Denn das konnte er nicht wirklich gesagt haben, oder?
»Was hast du gesagt?«, brachte ich etwas atemlos hervor.
»Dass ich mir niemand anderen als dich an meiner Seite vorstellen kann«, wiederholte er.
»Okay«, hörte ich mich sagen, während ich noch darüber nachdachte, was das überhaupt bedeutete. Konnte er sich mich nur deswegen an seiner Seite vorstellen, weil ich eine gute Schauspielerin war und seine Mom überzeugen würde? Oder steckte doch mehr dahinter? Aber das konnte eigentlich nicht sein. Er wollte mich nicht, das hatte er mir gesagt. Dabei hatte er vor einigen Sekunden absolut ernsthaft geklungen.
Mir schwirrte der Kopf von den ganzen Fragen und mein Unterleib zog sich vor lauter umherflatternden Emotionen zusammen. Wie durch dichte Watte hörte ich, dass Marc mir erleichtert dankte und sich von mir verabschiedete, während ich regungslos auf dem Bürgersteig verharrte und die Atemwölkchen beobachtete, die beim Ausatmen Mund verließen.
Was hatte ich getan?