Marc
»Gut so, schön aus der Drehung heraus schlagen«, lobte ich Dennis. Er war erst seit zwei Wochen in unserer Truppe dabei, hatte aber schon gute Fortschritte gemacht. Er arbeitete konzentriert, versuchte Ratschläge umzusetzen und hatte den Ehrgeiz, sich zu verbessern.
Keuchend trat er einen Schritt vom Sandsack zurück. »Ich habe das Gefühl, ich krieg das noch nicht richtig hin.« Er drehte sich aus der Hüfte raus und brachte mit perfektem Schwung die Faust nach vorne.
»Doch, du machst das richtig, genauso sollte es sein. Es kommt dir wahrscheinlich vor, als hättest du noch nicht genügend Kraft, um etwas auszurichten, aber das ist reine Übungssache. Die Kraft entsteht aus der Schnelligkeit der Bewegung, sobald du die verinnerlicht hast, kommt der Rest von ganz alleine.«
Dennis sah mich für einen Moment an, ehe er nickte und sich wieder dem Sandsack widmete. Ich ging weiter durch die Turnhalle und betrachtete unsere Schüler, die wir heute in drei Gruppen aufgeteilt hatten. Ich beaufsichtigte die, die an den Sandsäcken arbeiteten, Daniel hatte einige zum Zirkeltraining verdonnert und der Rest versuchte sich am Sparring. Ich hatte extra eine Gruppe übernommen, in der Michaela nicht war, um mich auf die Arbeit konzentrieren zu können, aber es hatte keinen Wert. Ständig war ich abgelenkt, entweder weil ich über sie nachdachte oder weil ich zu ihr rübersah.
Heute wurde mir zum ersten Mal bewusst, welche Fortschritte Michaela im letzten Jahr gemacht hatte. Als sie nach dem Entzug zum ersten Mal mit mir hergekommen war, war sie völlig untrainiert gewesen. Beim Seilspringen hatte sie keine zwei Minuten durchgehalten und nach der Stunde hatte sie mir eine Woche lang vorgejammert, solchen Muskelkater zu haben, dass sie kaum laufen konnte. Heute war von diesem Mädchen nichts mehr zu sehen. Sie hatte sich Kraft und Ausdauer erkämpft. Die Präzision, mit der sie aktuell den Medizinball zwischen ihren Knien balancierte, glich der eines Profis. Doch es waren nicht die einzigen Veränderungen an ihr, auch wenn mir das durch das Gespräch mit Emma erst klar geworden war.
Michaela hatte sich perfekt in unsere Clique integriert und war immer für andere da, wenn man sie brauchte. Völlig egal, ob zum Anpacken beim Umzug oder zum Reden, sie war sofort da. Sie rauchte auch nicht mehr, und es war mir wirklich unangenehm, dass ich nicht sagen konnte, wann sie damit aufgehört hatte, weil mich das früher sehr gestört hatte. Sie schien verantwortungsvoll geworden zu sein.
»Michaela, warte mal«, rief ich ihr hinterher, als sie nach dem Training zu den Umkleiden gehen wollte.
Sie drehte sich zu mir um, während sie mit einem Handtuch den Schweiß von ihrem Gesicht wischte. »Was gibt’s?«
Ich schloss zu ihr auf. Ihre Wangen waren gerötet, ihre Lippen glänzten feucht und erweckten den Wunsch in mir, sie auf der Stelle zu küssen. Nur mit Mühe konnte ich mich zurückhalten, doch Michaela schien es trotzdem bemerkt zu haben, denn ihre Pupillen weiteten sich überrascht. Die Luft zwischen uns war wie elektrisiert und ich musste einen Schritt zurückgehen, um mich ihrer Anziehungskraft zu entziehen. Ich wollte nicht mitten in der Sporthalle über sie herfallen. »Hast du jetzt noch was vor?«, fragte ich sie stattdessen.
»Nein, ich muss nur kurz nach Hause, um zu duschen, warum?« Sie wirkte skeptisch, was ich ihr nicht mal verübeln konnte. So oft, wie ich sie abgewiesen hatte, grenzte es an ein Wunder, dass sie überhaupt noch mit mir sprach. Aber ich plante, das wiedergutzumachen.
»Wäre es okay, wenn ich in einer halben Stunde zu dir komme? Ich wollte mit dir reden.« Als Michaela noch immer zögerte, fügte ich an: »Ich bringe auch Pizza mit.«
Sie grinste. »Mit Pizza kann man mich immer überzeugen.«
»Perfekt, dann bis in einer halben Stunde.«
»Bis gleich.«
Ich sah ihr hinterher, bis sich die Tür hinter ihr schloss, ehe ich mich ebenfalls umziehen ging.
40 Minuten später stand ich mit zwei dampfenden Pizzen vor ihrer Haustür. Der Geruch von geschmolzenem Käse drang mir in die Nase und ließ meinen Magen knurren. Der Türöffner summte und ich erklomm die Treppen in den zweiten Stock. Nur mit Leggings und einem übergroßen Shirt bekleidet, öffnete Michaela mir. Die Haare hatte sie zu einem losen Dutt zusammengesteckt, aus dem einzelne Strähnen auf ihre Schultern fielen, die von ihrer Dusche noch feucht waren. Ich war erneut gebannt von ihrer Fähigkeit, selbst in gemütlichen Klamotten umwerfend auszusehen.
Michaela jedoch hatte nur Augen für die Pizza. »Oh Gott, was zu essen.« Sie entriss mir die Kartons und verschwand in der Wohnung, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Ich folgte ihr ins Wohnzimmer, wo bereits Teller und Besteck bereitlagen. Schmunzelnd beobachtete ich, wie Michaela die Pizzen aus dem Karton auf die Teller schob und sich sogleich über ihre hermachte.
»Hast du etwa Hunger?«
»Und wie«, sagte sie mit vollem Mund. »Nach dem Training könnte ich regelmäßig ein halbes Schwein verputzen.«
»Hm, vielleicht hätte ich doch die großen Pizzen holen sollen«, überlegte ich.
Michaela verdrehte die Augen. »Setz dich und iss.«
Ich kam ihrer Aufforderung nach und wir aßen schweigend, während ich darüber nachdachte, wie ich das Gespräch am besten beginnen könnte. Ich ließ meinen Blick durch das Zimmer gleiten, das sich kaum verändert hatte, seit ich zum ersten Mal hier gewesen war. Dieselbe dunkle Ledercouch, der viel zu kleine Fernseher und die alte Schrankwand, die Michaela vom Vormieter übernommen hatte, standen im Wohnzimmer. Einzig ein Spruch, der über dem Fernseher an die Wand geklebt war, war neu: Life isn’t about waiting for the storm to pass, it’s about learning to dance in the rain.
»Der Spruch gefällt mir.«
Überrascht blickte Michaela auf. »Den habe ich letztens gefunden, als ich mit Lucy für die neue Wohnung shoppen war. Ich finde ihn passend.«
Das war er auch. Wir konnten das Wetter nicht beeinflussen, aber wir konnten entscheiden, wie wir damit umgingen. Dasselbe galt auch für Probleme und Ereignisse in unserem Leben, was eine schöne Analogie war.
»Wie geht es eigentlich Shania und Ben?«
»Sie verbringen gerade ihre Flitterwochen auf Hawaii. Shania schickt mir ständig Bilder von endlos langen Stränden und dem Meer, nur um mich neidisch zu machen.«
Michaela lachte. »Wenn ich mal nach Hawaii komme, werde ich das auch jedem unter die Nase reiben. Es muss unglaublich schön dort sein.«
»Laut den beiden ist es das auch.«
»Hofft deine Familie eigentlich darauf, dass es jetzt die ersten Enkelkinder geben wird?«
Mein Magen sank ins Bodenlose. Es war eine berechtigte Frage und ich war mir sicher, dass Michaela sie ohne Hintergedanken gestellt hatte, trotzdem traf sie mich völlig unvorbereitet. Es wäre die perfekte Vorlage, um ihr endlich von Ninho zu erzählen, aber eigentlich hatte ich das zu einem späteren Zeitpunkt vorgehabt. Heute hatte ich mit ihr darüber reden wollen, ob es eine Chance für uns gab, ein Paar zu werden, oder ob ich diese Möglichkeit bereits verspielt hatte.
Bevor ich mich für eine Antwort entscheiden konnte, klingelte mein Telefon. Wer auch immer dran war, hatte sich den denkbar ungünstigsten Moment ausgesucht. Fluchend griff ich nach meiner Jacke und zog das Telefon aus der Tasche. Eine mir unbekannte Nummer aus Philadelphia blinkte auf dem Display. »Rodriguez?«, ging ich ran.
»Spreche ich mit Marc Rodriguez?«, wollte eine Frauenstimme wissen.
»Ja, ich bin dran.«
»Mein Name ist Detective Jessica Waters vom 9. Polizeidistrikt in Philadelphia. Wir haben Ihren Bruder Décio heute beim Dealen an der Highschool aufgegriffen. Normalerweise sind wir bei Minderjährigen dazu angehalten, die Erziehungsberechtigten zu verständigen, aber Ihr Bruder hat sehr vehement darauf bestanden, dass wir Sie kontaktieren sollen, um ihn abzuholen.«
Abrupt setzte ich mich auf und hoffte für einen Moment, mich bloß verhört zu haben.
»Das ist nicht Ihr Ernst«, platzte es aus mir heraus. Seit Mom mir erzählt hatte, dass Décio einen Mitschüler verprügelt hatte, vermutete ich zwar, dass noch etwas anderes hinter seinem Verhalten steckte. Doch damit hätte ich nie gerechnet.
»Junger Mann, ich bin nicht zu Scherzen aufgelegt, wenn es um meine Arbeit geht. Wann können Sie hier sein, um Ihren Bruder abzuholen? Wir sind in der 21. Straße.«
Das war in der Nähe von Décios Highschool. »Ich bin in einer halben Stunde da«, sagte ich und legte auf.
»Was ist passiert?«, fragte Michaela, als ich das Handy sinken ließ.
»Décio wurde an der Highschool beim Dealen erwischt.«
»Fuck. Gib mir zwei Minuten.« Sie sprang auf und verschwand im Schlafzimmer, ehe ich reagieren konnte. Ich saß noch immer zur Salzsäule erstarrt auf der Couch und konnte es nicht fassen, dass Décio tatsächlich Drogen verkaufte. Wusste er denn nicht, in welch dunklen Sumpf ihn das ziehen konnte? Noch etwas benommen folgte ich Michaela.
In der Tür zum Schlafzimmer blieb ich stehen. Michaela hatte die Leggings durch eine Jeans getauscht und streifte sich gerade einen hellblauen Rollkragenpulli über. »Warum hast du dich umgezogen?«
»Ich begleite dich, aber in den Gammelklamotten wollte ich nicht vor die Tür.«
»Du musst das nicht machen«, beeilte ich mich zu sagen. Das war mein Problem, nicht ihres, und ich wollte sie nicht damit belasten. Erst recht nicht, weil das die schlimmen Erinnerungen an ihren Stiefvater wieder hervorrufen könnte.
Michaela wandte sich mir zu und sah mich verständnisvoll an. »Ich möchte dir aber beistehen. Außerdem könnte ich Décio vielleicht besser erklären, warum sein Verhalten nicht gut ist. Du weißt schon, so als Betroffene.«
Für einige Sekunden sah ich sie fassungslos an, während mein Herz einen verrückten Tanz in meiner Brust vollführte, ehe ich zustimmend nickte.
Eine halbe Stunde später parkte ich meinen Wagen vor dem 9. Polizeidistrikt.
»Es bedeutet mir unheimlich viel, dass du mich begleitest«, sagte ich zum wiederholten Mal. Ich wusste, wie schwer es Michaela fallen musste, sich mit den Dämonen ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen und mit ihrer eigenen Sucht konfrontiert zu werden. Es war keinesfalls selbstverständlich, dass sie das für mich auf sich nahm.
»Für dich würde ich es mit der ganzen Welt aufnehmen.« Sie sagte das mit einer Selbstverständlichkeit, die mir die Luft zum Atmen nahm. Wieso war mir vorher nicht aufgefallen, wie ernsthaft und erwachsen sie geworden war? Oder war sie es schon immer gewesen und ich hatte es nicht wahrhaben wollen? Ehe ich meine Gefühle wieder unter Kontrolle hatte, stieß sie bereits die Beifahrertür auf. »Lass uns deinen Bruder abholen, damit wir ihm den Marsch blasen können.«
Lachend folgte ich ihr aus dem Auto. Jetzt tat Décio mir fast leid, denn ich wusste genau, wie furchteinflößend Michaela sein konnte, wenn sie wütend wurde.
Ich entdeckte Décio, sobald ich die Tür öffnete. Er saß auf einer Holzbank direkt vor dem Empfang. Es erleichterte mich, dass sie ihn nicht in eine Zelle gesperrt hatten. Auch wenn er großen Mist gebaut hatte, wollte ich ihn mir nicht in einem Raum mit Kriminellen vorstellen. Er war doch fast noch ein Kind.
»Marc.« Erleichterung spiegelte sich in seinen Zügen, als er mich entdeckte. Sobald Michaela neben mich trat, verfinsterte sich sein Blick. »Was macht sie hier? Ich wollte extra, dass du mich abholst, damit niemand davon erfährt.«
Verärgerung machte sich in mir breit. »Du hast nicht wirklich gedacht, du würdest einfach so davonkommen, wenn ich dich abhole. Mom wird davon erfahren, darauf kannst du dich gefasst machen. Und Michaela kann dir aus erster Hand erzählen, wo dein Verhalten hinfuhren kann.«
»Aber ich hab doch gar nichts gemacht.« Décio schmiss die Hände in die Luft, als würden wir ihn grundlos behelligen.
»Lassen Sie sich keine Märchen erzählen«, ertönte plötzlich eine Stimme. Hinter mir stand eine Polizistin, die ich auf Mitte 40 schätzte. Ihre blonden Haare waren zu einem strengen Pferdeschwanz gebunden und in ihrem Blick lag die Resignation von Leuten, die sich beruflich tagtäglich mit Lügen auseinandersetzen mussten.
»Keine Sorge, das hatte ich nicht vor. Ich bin Marc Rodriguez.«
»Detective Jessica Waters.« Ihr Handdruck war überraschend kräftig. »Kommen Sie mit.«
Während ich ihr folgte, setzte Michaela sich zu meinem Bruder. Vielleicht konnte sie ihm ins Gewissen reden, während sie alleine waren.
Mrs Waters führte mich in ihr Büro und schloss die Tür hinter uns. »Ihr Bruder hat uns leider nicht besonders bereitwillig Informationen über den Vorfall gegeben«, sagte sie, als wir uns gesetzt hatten.
»Wundert mich nicht«, gestand ich. »Er ist im letzten halben Jahr etwas … schwierig, um es vorsichtig auszudrücken. Zuerst dachten wir, er sei jetzt einfach in diesem Alter, in dem Teenager mit niemandem reden und alles scheiße finden, aber mittlerweile frage ich mich, ob nicht mehr dahintersteckt.« Ich spürte den Druck von nahenden Kopfschmerzen hinter meinen Augen und rieb über meine Schläfen.
»Das sehen wir leider häufiger. Ich will Sie auch gar nicht zu sehr alarmieren, denn in den meisten Fällen handelt es sich tatsächlich um das trotzige Aufbäumen Heranwachsender und geht nach einiger Zeit von alleine weg. Manchmal steckt allerdings auch ein Hilferuf dahinter. Außerdem…«
»Sind wir nicht weiß«, unterbrach ich sie, weil ich sicher war, was kommen würde. Das Klischee der einwandernden Mexikaner, die die Drogen mit sich gebracht hatten, war nicht erst seit Trumps Machtübernahme weitverbreitet.
Die Detective sah mich verwirrt an. »Das wollte ich gar nicht sagen. Ich wollte nur verdeutlichen, dass sich in der Nähe der Highschool einige Banden herumtreiben, und wenn Ihr Bruder denen in die Quere kommt, könnte er in größeren Schwierigkeiten stecken.«
»Oh.« Damit hatte ich nicht gerechnet. »Was genau ist denn vorgefallen?«
Mrs Waters schlug die Akte vor sich auf. »Ihr Bruder wurde von zwei Streifenbeamten dabei beobachtet, wie er vor der Schule Marihuana an zwei Mitschüler verkauft hat. Die Kollegen haben gesehen, dass er dafür Geld angenommen hat, deswegen sagte ich gerade, lassen Sie sich von Ihrem Bruder nicht erzählen, die Drogen wären nur für seinen Eigenbedarf gewesen, das wollte er mir nämlich weismachen. Was wir ansonsten an Drogen in seinem Besitz gefunden haben, ist eine sehr geringe Menge. Vielleicht wollte er wirklich nur seinen Freunden etwas von sich abgeben, aber dass er das außerhalb der Schule getan hat, lässt mich aufhorchen. Viele Banden arbeiten nach diesem Prinzip. Die Kontaktperson soll herausfinden, wer wie viel benötigt, in der Mittagspause holen sie genau diese Mengen an einem bestimmten Ort ab, und nach der Schule bringen sie das Geld zu ihrem Dealer. Daher halten Sie die Augen offen.«
Mir schwirrte der Kopf von allem, was die Polizistin mir erzählt hatte. Décio sollte in einen organisierten Drogenring involviert sein? Ich konnte es kaum glauben. Egal wie sehr er sich in den letzten Monaten verändert hatte, ich hatte ihm mehr Verstand zugetraut.
»Was geschieht jetzt mit ihm?«, fragte ich, ehe ich mich noch mehr in meinen Gedanken verlieren konnte.
»Wir müssen Anzeige erstatten.« Fast schon entschuldigend zuckte sie mit den Schultern. »Aufgrund seines Alters, der geringen Menge und weil es der erste Vorfall dieser Art war, wird diese aber mit hoher Wahrscheinlichkeit fallen gelassen. Die Gerichte haben genug damit zu tun, sich um die schweren Delikte zu kümmern. Der Eintrag in seiner Akte aber bleibt, sollte er sich also erneut etwas zuschulden kommen lassen, wird er nicht so glimpflich davonkommen.«
Ich war zu gleichen Teilen erleichtert und enttäuscht darüber. Erleichtert, dass es nicht zu einer Verurteilung kommen würde, und enttäuscht, weil er nicht wenigstens Sozialstunden aufgebrummt bekam. Es schien, als hätte Décio mehr Glück als Verstand.
»Danke, Detective Walters.« Ich stand auf und reichte ihr die Hand.
»Nehmen Sie das nicht persönlich, aber ich hoffe, dass ich weder Sie noch Ihren Bruder je Wiedersehen muss.« Sie zwinkerte mir zu.
»Geht mir genauso«, gab ich schmunzelnd zurück, ehe ich das Büro verließ. Michaela und Décio saßen noch immer auf der Bank. Während mein Bruder genervt wirkte, schien Michaela der Verzweiflung nahe.
»Aus Décio etwas rauszubekommen, ist schwieriger, als einem Elefanten die Stoßzähne zu ziehen«, meckerte sie und stand auf.
»Ich wüsste auch gar nicht, was dich das angeht«, entgegnete Décio und erhob sich ebenfalls. »Nur weil du mit Marc zusammen bist, gehörst du nicht plötzlich zur Familie. Einen Ex-Junkie will ohnehin niemand haben.«
Ehe ich wusste, was ich tat, hatte ich ihn am Oberarm gepackt und vor die Tür gezerrt.
»Was nimmst du dir eigentlich raus? Schlimm genug, dass wir dich bei der Polizei abholen müssen, weil du gedealt hast, aber anstatt Reue zu zeigen, beleidigst du meine Freundin?«
»Ich habe nicht…«, wollte Décio widersprechen, doch ich unterbrach ihn sofort.
»Erzähl mir nicht, du hättest nicht gedealt. Die Polizisten haben dich nicht nur dabei beobachtet, sie haben dich sogar gefilmt«, log ich, um ihm den Wind aus den Segeln zu nehmen.
»Was?« Décio klappte der Mund auf. »Aber…« Mehr schien ihm nicht einzufallen.
»Du entschuldigst dich jetzt bei Michaela und dann gehst du vor ins Auto, wir haben noch etwas zu besprechen.«
Décio wandte sich Michaela zu, aber nur widerstrebend. Seine Abneigung, sich zu entschuldigen, war seinem abweisenden Blick zu entnehmen. Er verschränkte die Arme, bevor er hervorpresste:
»Tut mir leid.« Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich um und stapfte zum Auto.
»Sorry deswegen«, sagte ich zu Michaela, als Décio eingestiegen war.
»Du musst dich nicht entschuldigen«, versicherte sie mir.
»Doch, wir haben ihn eigentlich besser erzogen.«
»Dessen bin ich mir sicher, aber ich kann ihn auch irgendwie verstehen. Er scheint absichtlich nur dich angerufen zu haben, um dir eine Ausrede zu erzählen.« Michaela wickelte eine Haarsträhne um ihren Finger und blickte in die Ferne. »Er hat mir genau das erzählt, was mein Stiefvater uns früher auch aufgetischt hat. Es waren nicht meine Drogen, ich habe das nur für einen Freund gemacht, das Geld war für etwas ganz anderes bestimmt. Ich habe ihn sofort durchschaut und ihm auch gesagt, dass seine Ausflüchte nicht besonders gut sind. Er hat mir zwar weiter widersprochen, aber nur noch halbherzig.«
»Ich kann es nicht fassen, dass er das getan hat«, stöhnte ich. Ich sah Décio noch als den kleinen Bruder vor mir, den ich jahrelang auf den Schultern getragen hatte. Wie war aus diesem Jungen ein Kleinkrimineller herausgewachsen?
Michaela griff nach meinen Händen und trat so dicht an mich, dass ich sie ansehen musste. Ihre Augen hielten mich gefangen und ihr Duft hüllte mich wie eine Wolke ein, aus der ich nie wieder auftauchen wollte.
»Das muss noch nichts bedeuten. Vielleicht hat er wirklich nur einen Fehler gemacht, den er bald einsieht. Aber du solltest mit ihm reden. Du. Denn ich weiß, dass er zu dir aufsieht, auch wenn er das gerade nicht zeigen will. Aber ich wäre bei diesem Gespräch fehl am Platz, deswegen werde ich jetzt nach Hause fahren.«
Ich wollte protestieren, denn ich wollte nicht, dass Michaela ging. Eigentlich hatte ich den Abend mit ihr verbringen und über unsere Gefühle reden wollen, anstatt mit meinem Bruder über seine Verfehlungen zu diskutieren. Es fühlte sich wie eine persönliche Niederlage an, dieses Gespräch verschieben zu müssen. Gleichzeitig wusste ich, dass Michaela recht hatte. Mit Décio stimmte etwas nicht und da Mom schon länger keinen Zugang mehr zu ihm hatte, musste ich es zumindest versuchen.
»Ich weiß, dass wir reden wollten«, sagte Michaela, als könnte sie meine Gedanken lesen. »Aber das können wir auch ein anderes Mal machen. Ich laufe nicht weg, versprochen, und es ist wichtig, dass du dich um deine Familie kümmerst. Du hast bei mir gesehen, was passieren kann, wenn einer auf der Strecke bleibt.«
Ich zog Michaela in die Arme und vergrub mein Gesicht in ihrer Halsbeuge.
»Du hast recht«, murmelte ich. »Auch wenn ich den Abend viel lieber mit dir verbringen würde. Ich melde mich morgen auf jeden Fall und dann machen wir ein neues Treffen aus, okay?« Ich lehnte mich zurück, bis ich sie ansehen konnte, und versuchte mit meinen Augen auszudrücken, was ich ihr sagen wollte. Michaela schluckte und befeuchtete ihre Lippen. Ihr Blick bohrte sich regelrecht in meinen, bis ich eine Gänsehaut davon bekam, ehe sie nickte. »Okay.«
Ich legte meine Hand an ihre Wange, beugte mich vor und presste meine Lippen sanft auf ihre. »Alles klar, bis morgen.«
Erst als ich im Auto saß und bemerkte, dass sie noch immer unbeweglich an derselben Stelle stand, fiel mir auf, was ich getan hatte.