Kapitel 11

Michaela

Marc hatte mich geküsst. Einfach so und auf offener Straße, als wäre es völlig normal, sich so von mir zu verabschieden. Ungläubig strich ich mit meinen Fingern über meine Lippen, die noch immer kribbelten. War das gerade wirklich passiert oder war der Wunsch, von Marc geküsst zu werden, so übermächtig geworden, dass ich zu halluzinieren begonnen hatte?

Marcs ständiges Hin und Her hatte mich derart verunsichert, dass ich meinen eigenen Gefühlen nicht mehr traute. Vielleicht hatte er sich nur von der Situation zu dem Kuss hinreißen lassen, wie es bei Shanias Hochzeit auch schon der Fall gewesen war, und sobald die Sache mit Décio geklärt war, würde er sich ärgern, nicht vorsichtiger gewesen zu sein. Dabei hatte er heute mit mir reden wollen, wenn der Anruf uns nicht in die Quere gekommen wäre, und er hatte sich schon seit dem Spieleabend nicht mehr abweisend mir gegenüber verhalten. Vermutlich klammerte ich mich an einen Strohhalm, aber ein Strohhalm war besser als nichts, oder?

Ich beobachtete, wie Marc den Wagen vom Parkplatz dirigierte. Kurz bevor er auf die Straße fuhr, warf er mir im Rückspiegel einen Blick zu, der mir durch Mark und Bein fuhr. Ein Schauer durchlief mich und ich trat unwillkürlich einen Schritt nach vorne, als wollte mein Körper ihm folgen. Als mir bewusst wurde, was ich tat, schüttelte ich über mich selbst den Kopf und marschierte in die entgegengesetzte Richtung davon, um die nächste U-Bahn-Station zu suchen.

***

Emma und Lucy warteten bereits vor der Franklin-Mills-Mall auf mich, als ich dort ankam. Katy hatte bald Geburtstag und wir wollten uns auf die Suche nach einem passenden Geschenk für sie machen.

»Habt ihr eine Ahnung, worüber Katy sich freuen würde?«, fragte ich, nachdem wir etwas planlos durch die ersten Geschäfte gelaufen waren. Egal, was ich entdeckte, nichts erschien mir passend für Katy. Obwohl ich Katy schon länger kannte, fiel mir erst jetzt auf, wie wenig ich eigentlich von ihr wusste.

»Nicht so wirklich«, gestand Lucy zerknirscht. »Ich weiß zwar, dass Katy Karate macht, aber damit kenne ich mich zu wenig aus, um zu wissen, was man ihr schenken könnte.«

»Katy strickt auch«, fügte Emma an.

»Ach, echt? Das wusste ich gar nicht.«

»Hat sie mir letztens erzählt, aber erstens ist Wolle für mich kein schönes Geschenk und außerdem weiß ich nicht mal, welche Wolle für was gebraucht wird.«

»Ich dachte immer, nur Omas stricken«, sagte Lucy grinsend.

»Nee, das ist auch unter jungen Leuten aktuell im Trend, aber der ist an mir auch vorübergegangen«, erklärte ich. »Meine Mom hat das letztens probiert und sich dabei fast die Finger gebrochen.«

Wir gingen weiter durch die Mall, stöberten in einigen Geschäften und betrachteten die Auslagen in den Schaufenstern, fanden aber nichts Passendes für Katy. Nachdem wir alle Geschäfte abgeklappert hatten, setzten wir uns ernüchtert in ein Café.

»Leute, wir sind so schlechte Freundinnen. Es kann doch nicht sein, dass wir kein passendes Geschenk für Katy finden«, jammerte Emma.

»Ich hätte eventuell eine Idee«, begann Lucy.

»Schieß los«, forderte ich sie auf. Mittlerweile war mir jeder Vorschlag recht.

»Wir könnten ihr doch einen Gutschein für unseren nächsten Mädelsabend schenken. Es gibt da dieses neue japanische Restaurant, das sie unbedingt ausprobieren will. Wir schenken ihr den Gutschein und reservieren gleich für die Woche nach ihrem Geburtstag einen Tisch dort.«

»Das ist gut.« Emma nickte.

»Finde ich auch«, stimmte ich zu. »Weißt du, wo das Restaurant ist?«

»Ja, ganz in der Nähe vom Campus, ich könnte dort morgen Vorbeigehen.«

»Perfekt, dann machen wir es so.«

Unsere Cappuccinos kamen und wir stürzten uns regelrecht darauf, jeder froh, dass wir ein Geschenk gefunden hatten, über das Katy sich freuen würde.

»Wie ist eigentlich das Zusammenleben im neuen Haus?«, fragte ich. »Und wann gibt es die versprochene Einweihungsparty?« Dass meine Freunde in ein Haus außerhalb von Philadelphia gezogen waren, war eine große Sache. Sie konnten es sich nur leisten, weil Lucy und Jaxon im letzten Jahr das Erbe von ihrer Mom ausbezahlt bekommen hatten. Zuerst hatten sie das Geld gar nicht verwenden wollen, weil es die Erinnerungen an ihre schlimme Kindheit mit sich brachte. Doch dieses Haus brachte die Zwillinge, die jahrelang getrennt gewesen waren, wieder näher zusammen. Daher freute es mich umso mehr, dass sie sich zu diesem Schritt durchgerungen hatten.

Emma und Lucy warfen sich einen bedeutungsschweren Blick zu und brachen gleichzeitig in Gelächter aus. Mit hochgezogenen Augenbrauen betrachtete ich meine Freundinnen, bis sie sich ein wenig beruhigt hatten.

»Sorry«, sagte Lucy und japste nach Luft. »Aber nach aktuellem Stand wird es die Einweihungsparty frühestens 2022 geben.«

»Aber nur, wenn Jaxon und Julian sich bis dahin entschieden haben, ob es jetzt einen Partykeller oder doch eher eine Lounge im Garten gibt«, fügte Emma kichernd an.

»Davon abgesehen, dass sie sich auch noch nicht über das Gästezimmer einig sind.« Lucy verdrehte die Augen.

»Moment mal«, ging ich dazwischen. »Was genau ist denn jetzt das Problem?«

»Das Problem ist«, erklärte Emma, »dass die beiden sehr genaue Vorstellungen davon haben, wie unser Haus aussehen und was es beinhalten soll, und diese Vorstellungen völlig voneinander abweichen. Jaxon will einen Partykeller, Julian eine Lounge im Garten. Seit Tagen diskutieren sie darüber und kommen nicht vorwärts, weil keiner der beiden bereit ist, auch nur einen Millimeter von seiner Meinung abzuweichen. Es ist echt ermüdend.«

»Oh, Mann, das kann ich mir vorstellen. Warum fragen sie euch nicht einfach?«

Emma lachte erneut. »Das haben sie.«

»Aber nur, um uns gleichzeitig auf ihre Seite ziehen zu wollen. Wir haben ihnen gesagt, dass es uns echt egal ist, solange wir für den Sommer einen Pool im Garten bekommen.« Lucy trank einen weiteren Schluck Cappuccino. »Und nachdem sie dem zugestimmt haben, können sie sich jetzt meinetwegen streiten, bis sie grün und blau werden.«

Ich wollte gerade darauf antworten, als ich eine Bewegung im Augenwinkel bemerkte. Eigentlich nichts Ungewöhnliches, da wir am Fenster saßen und draußen ständig Leute durch die Mall liefen, trotzdem lief mir diesmal ein eiskalter Schauer über den Rücken. Ich scannte den Platz vor unserem Fenster und rutschte vor Schreck fast vom Stuhl, als ich eine allzu bekannte Person entdeckte.

Obwohl er in einiger Entfernung stand, erkannte ich meinen Stiefvater sofort. Sein Profil würde ich überall ausmachen, dazu dasselbe verdreckte blaue Käppi, das er früher schon getragen hatte. Wie für ihn üblich, trug er selbst bei diesen niedrigen Temperaturen nur einen Kapuzenpulli, in dessen Taschen er die Hände vergraben hatte.

Mein Herz begann zu rasen und ich musste den Impuls unterdrücken, mich unter dem Tisch zu verstecken. Was zur Hölle machte er hier? Meines Wissens war er zu der Zeit aus Philadelphia verschwunden, als Mom Martin geheiratet hatte. Damals hatte sie endlich den Mut gefunden, meinem Stiefvater zu sagen, dass er seine Drogen nicht mehr bei ihr verstecken konnte. Niemand wusste damals, wohin er abgehauen war, selbst sein Sozialarbeiter hatte ratlos bei uns geklingelt und nach ihm gefragt. Warum war er jetzt zurück?

Oder war er es gar nicht? Spielten meine Augen mir bloß einen Streich, weil wir gestern Décio von der Polizei abgeholt hatten und der ganze Mist aus meiner Vergangenheit seitdem präsenter in meinen Gedanken war als je zuvor? Ich wagte einen weiteren Blick auf den Platz und entdeckte, dass sich die Person entfernt hatte. Abrupt stand ich auf, rief den Mädels ein »Bin gleich wieder da« zu und stürmte aus dem Café. Ich lief in die Richtung, in der ich den Mann zuletzt gesehen hatte, konnte ihn aber nicht mehr finden. Auch als ich zur nächsten Gabelung weiterging und mich überall umschaute, war er nirgendwo zu sehen. War er in eins der Geschäfte gegangen? Er konnte sich schließlich nicht in Luft aufgelöst haben. Oder hatte ich ihn mir komplett eingebildet? Im ersten Moment war ich absolut sicher gewesen, dass es Lenny sein musste, aber vermutlich hatte die Person ihm bloß ähnlich gesehen, und ich hatte wegen der Entfernung die Unterschiede nicht ausmachen können.

Ich versuchte mich mit diesem Gedanken zu beruhigen, aber mein Herz ließ sich nicht so einfach überzeugen. Es pochte noch immer ängstlich. Aber es ergab überhaupt keinen Sinn, dass er zurückgekehrt war. Nach ihm wurde polizeilich gesucht, es wäre viel zu riskant für ihn, sich hier aufzuhalten.

Vermutlich hatten meine Augen mir wirklich nur einen Streich gespielt. Ich schüttelte den Kopf über mich selbst, konnte das beklemmende Gefühl aber trotzdem nicht abschütteln.

»Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen. Alles okay?«, fragte Lucy, als ich mich wieder an den Tisch setzte.

»Ich dachte, ich hätte jemanden gesehen, aber ich muss mich verguckt haben«, erklärte ich, weil ich sie nicht unnötig beunruhigen wollte.

»Okay.« Emma wirkte nicht überzeugt, hakte aber nicht weiter nach.

Zu Hause angekommen, zog ich als Erstes meine Jeans aus und schlüpfte in eine bequeme Jogginghose und mein geliebtes Slytherin-Shirt. Zwar konnte ich mit Lesen nicht viel anfangen, aber nach dem ganzen Hype um die Harry-Potter-Bücher hatte ich es mir nicht nehmen lassen, die Filme zu sehen. Die Geschichte von Harry, Ron und Hermine hatte mich von der ersten Sekunde an fasziniert, aber es war eine andere Person gewesen, mit der ich mich verbunden gefühlt hatte: Draco Malfoy. Damals hatte ich noch bei Mom und meinem Stiefvater gelebt und viele Dinge getan, die mir eigentlich zuwider waren. Genau dasselbe hatte ich in Draco gesehen. Eine fehlgeleitete Seele, die eigentlich ganz anders sein könnte, wenn sie in einer vernünftigen Familie aufgewachsen wäre. Zugegebenermaßen war ich auch ein wenig in Tom Felton verliebt gewesen, aber das stand auf einem anderen Blatt.

Nachdem ich mich umgezogen hatte, ging ich in die Küche, um eine Kanne Tee aufzusetzen, mit der ich es mir vor dem Fernseher gemütlich machen konnte. Als das Wasser gerade zu kochen begann, klingelte mein Handy. Ich schaltete den Teekocher aus und flitzte ins Wohnzimmer, wo es auf dem Tisch lag.

Mein Herz machte einen überraschten Satz, als ich Marcs Namen auf dem Display aufblinken sah.

»Hey«, ging ich etwas atemlos ran.

»Hi, bist du gerannt?«, fragte er sogleich. Ich konnte das Schmunzeln in seiner Stimme hören und sah seinen Gesichtsausdruck regelrecht vor mir. Seine vergnügt funkelnden Augen und den verschmitzten Zug um seine Lippen.

»Ja, von der Küche zum Wohnzimmer. Du hast mich gerade beim Teekochen gestört.«

»Du trinkst Tee? Bist du krank?«

»Nein, aber jetzt im Winter, wenn ich einen gemütlichen Filmabend machen möchte, trinke ich dazu ganz gerne mal einen Tee«, erklärte ich.

»Hmm«, kam es nachdenklich durch den Hörer. »Das wusste ich gar nicht von dir.«

Ich musste schmunzeln. »Es gibt sicher noch einiges, das du nicht von mir weißt.«

»Auch wieder wahr, aber wir haben noch ganz viel Zeit, diese Dinge vom anderen zu erfahren.«

Marcs Worte lösten ein wohliges Gefühl in meinem Inneren aus, das mich besser wärmte, als eine Tasse Tee es jemals gekonnt hätte.

»Hast du mich deswegen angerufen? Um mich besser kennenzulernen?«, fragte ich neckend.

»Unter anderem, immerhin wollte ich fragen, wann wir uns treffen können. Aber erst mal…« Marcs Stimmung wechselte so schnell, dass mir davon schwindelig wurde. »Können wir über Décio reden?«

»Klar, hast du gestern noch was aus ihm herausbekommen?« Ich ging zurück in die Küche, um das heiße Wasser in meine Teekanne zu gießen, mit der ich ins Wohnzimmer zurückkehrte. Während ich Marc zuhörte, setzte ich mich im Schneidersitz auf die Couch und kuschelte mich unter meine Decke.

»Nicht wirklich. Er behauptet weiterhin, gar keine Drogen verkauft zu haben, und meint, die Polizei hätte sich das ausgedacht, um einem Nicht-Weißen etwas anzuhängen.« Marc stieß ein trauriges Lachen aus. »Es macht mich so wütend, dass er etwas, was vielen wirklich Unschuldigen tagtäglich widerfahrt, dafür missbraucht, um sich selbst besser darzustellen.«

»Jugendliche denken oft nicht darüber nach, was sie sagen«, beschwichtigte ich Marc. Natürlich war es nicht richtig, was Décio getan hatte, aber wenn ich überlegte, was ich in dem Alter angestellt hatte, war er fast schon ein Heiliger.

»Das ist wohl wahr, aber gestern war einfach ein ätzender Tag. Décio verhält sich wie ein bockiges Kind und als Mom nach Hause gekommen ist, wurde es noch schlimmer. Die beiden haben sich angeschrien, dass mir die Ohren geklingelt haben. Und natürlich haben wir noch mehr Gras in seinem Zimmer gefunden.« Marc seufzte schwer und am liebsten hätte ich ihn in den Arm genommen.

Plötzlich kam mir eine Idee. »Was hältst du davon, wenn ich Décio zu meinem nächsten Treffen mit den Narcotics Anonymous mitnehme? Vielleicht hilft ihm das dabei, etwas klarer zu sehen, in welche Gefahr er sich mit Drogen begeben kann.«

»Das würdest du tun?«

»Ja, klar. Wenn du willst, kannst du auch mitkommen. Um genau zu sein, wäre das vielleicht sogar besser, immerhin ist Décio auf mich nicht sonderlich gut zu sprechen.«

»Der beruhigt sich schon wieder, das ist nur eine seiner Phasen. Aber ich begleite euch gerne. Wann ist das nächste Treffen?«

»Nächsten Freitag um 15 Uhr.«

»Dann bin ich um viertel vor mit Décio bei dir. Meinst du, wir können danach noch etwas trinken gehen? Nur wir beide?«

Schmetterlinge zogen in meinen Magen ein und ich musste eine Hand auf meinen Bauch legen, um von diesem Gefühl nicht überrannt zu werden. »Ich denke, das lässt sich einrichten«, sagte ich langsam, um nicht zu übereifrig zu erscheinen. Ich wollte Marc nicht das Gefühl vermitteln, ich hätte nur auf diese Einladung gewartet. Andererseits wollte ich auch nicht zu desinteressiert klingen.

Oh Gott, so langsam drehte ich völlig durch.

»Ich kann für uns einen Tisch im Hispaniola reservieren, dann können wir auch gleich etwas essen«, schlug Marc vor.

Das Hispaniola war eine Tapas-Bar, in der wir schon mal gewesen waren. Es war nicht unbedingt günstig dort, dafür schmeckte das Essen hervorragend.

»Sehr gerne«, stimmte ich zu.

»Dann sehen wir uns nächsten Freitag.«

»Und vorher schon beim Box- und Selbstverteidigungskurs«, gab ich schmunzelnd zurück.

Für einen Moment war es still am anderen Ende der Leitung, dann drang Marcs tiefes Lachen an mein Ohr. »Du hast recht, da sehen wir uns auch. Ich freu mich, bis dann.«

»Bye, Marc.« Mit wild klopfendem Herzen legte ich auf und griff nach der Fernbedienung für den Fernseher. Mein Daumen verharrte kurz über dem Knopf zum Anschalten, ehe ich die Bedienung unverrichteter Dinge wieder auf den Tisch legte. Ich war viel zu aufgewühlt und nervös, um mich auf eine Serie konzentrieren zu können, daher wählte ich auf meinem Handy einen passenden Radiosender aus, lehnte mich mit meiner Teetasse auf der Couch zurück und ließ meine Gedanken treiben.