Marc
Die nächste Woche verbrachte ich wie in Trance. Ich ging zu meinen Vorlesungen, zur Arbeit und zum Sport, machte all die Dinge, die von mir erwartet wurden, konnte mich am Ende aber kaum erinnern, sie getan zu haben. Ich wusste nicht, welchen Stoff wir an der TU durchgenommen hatten, und wenn ich in meine Unterlagen schaute, konnte ich dort auch keine Notizen finden. Dass ich beim Boxtraining gewesen war, wusste ich hinterher nur, weil meine Tasche mit den verschwitzten Klamotten noch neben der Eingangstür stand, worauf David mich mit gerümpfter Nase aufmerksam machte.
Die restliche Zeit verbrachte ich damit, nach Michaela zu suchen. Jeden Tag ging ich an ihrer Wohnung vorbei und suchte diverse Parks und zwielichtige Ecken in Philadelphia nach ihr ab, in denen sich Dealer und ihre Kunden trafen. Jedoch ohne Erfolg. Nirgendwo konnte ich sie entdecken und egal, wen ich fragte, niemand hatte sie gesehen oder kannte sie. Mit jedem Tag, der ohne ein Lebenszeichen von ihr verstrich, wurde meine Verzweiflung größer. Es fühlte sich an, als würde ich einen Geist jagen, und mittlerweile fragte ich mich, ob Jaxons Vermutung überhaupt die richtige war. Doch was konnte es sonst sein? Bevor ich auch nur darüber nachdachte, dass sie mich wirklich nicht wollte, würde ich die ganze Stadt und zur Not auch den Bundesstaat umkrempeln, um sie zu finden.
Generell fühlte ich mich wie in Watte gepackt und von der Außenwelt abgeschottet. In dem verzweifelten Versuch, den Schmerz von Michaelas Verschwinden nicht zu fühlen, schien ich auch davon abgesehen nichts mehr wahrzunehmen. Aktuell konnte ich nicht mal entscheiden, ob das nun gut oder schlecht war. Es war mir schlicht egal. Denn als Michaela sang- und klanglos aus meinem Leben verschwunden war, hatte sie auch meine Lebensfreude mitgenommen.
Der einzige Lichtblick war Ninho. Mein Sohn war noch immer mein Sonnenschein und würde es auch weiterhin bleiben. Der Sonntag bei ihm war das Einzige, was mir im Gedächtnis geblieben war. Zwar war ich auch bei ihm nicht so lebensfroh gewesen wie üblich, aber wenigstens hatte ich es für einige Stunden geschafft, mich aus meinem Kokon der Trauer zu befreien und mit ihm zu spielen. Shawna war ebenfalls verwundert gewesen, dass ich ohne Michaela aufgeschlagen war, und hatte mich mit der Frage nach ihr beinahe wieder zurückkatapultiert. Ich hatte ihr eine ausweichende Lüge aufgetischt, dass Michaela sich nicht wohlfühlte, weil ich noch nicht bereit war, über das zu reden, was passiert war. Wie blöd hätte ich auch dagestanden? Eine Woche, nachdem ich ihr von Michaela erzählt hatte, war schon wieder alles vorbei?
Aber ich wollte nicht wahrhaben, dass es vorbei war. Zu lange waren Michaela und ich umeinander herumgetanzt, bevor wir zu unseren Gefühlen stehen konnten. Dabei hatte diese knisternde Anziehung von Anfang an zwischen uns bestanden. Es war unmöglich, dass das einfach weg war. Vielleicht machte mich das schwach, lächerlich oder anhänglich, aber ich würde Michaela nicht aufgeben, ehe ich die Worte nicht aus ihrem Mund gehört hatte und ihr dabei in die Augen blicken konnte. Denn in ihnen würde sie die Wahrheit nicht verstecken können.
***
»Hast du die Unterlagen für mein Pre-Med-Studium gesehen?«, fragte ich David einige Tage später. Mein Dozent hatte mich heute darauf angesprochen, ob ich mich bereits für eine Schule entschieden hätte. Erst da war mir eingefallen, dass ich mich noch gar nicht darum gekümmert hatte, dabei war in wenigen Tagen Bewerbungsschluss. Zu Hause angekommen, hatte ich mich darüber hermachen wollen, doch die Prospekte waren unauffindbar.
David blickte mit gerunzelter Stirn von seinem Buch auf und schüttelte den Kopf. »Hast du sie nicht in dein Zimmer gelegt?«
Hatte ich. »Dort habe ich schon alles abgesucht. Zweimal.« Sie konnten sich doch nicht in Luft aufgelöst haben. Normalerweise wäre ich mir sicher, sie nicht verlegt oder versehentlich weggeschmissen zu haben. Aber in meinem aktuellen Zustand war das durchaus denkbar. Shit.
David betrachtete mich eingehend. »Was willst du jetzt machen?«
Ich massierte meine Schläfen und setzte mich neben ihn. Die Lust, zu suchen oder die Unterlagen durchzugehen, war mir vergangen. »Meinem Dozenten morgen beichten, dass ich sie verlegt habe. Da ich normalerweise zuverlässiger bin, hat er vielleicht Mitleid mit mir und gibt mir eine Kopie.« Ich ärgerte mich über mich selbst, dass ich die Sachen verschlampt hatte. Wegen Michaela in ein tiefes Loch zu fallen, war eine Sache, deswegen aber gleich nachlässig zu werden, eine ganz andere. So etwas durfte mir als angehendem Mediziner nicht passieren. Nicht auszudenken, wenn deswegen später Menschen zu Schaden kommen würden.
Davids Räuspern riss mich aus meinen Gedanken. »Mal was anderes. Hast du in letzter Zeit Keiran gesehen? Er war seit einer Woche weder an der Uni noch beim Footballtraining.«
Erstaunt sah ich ihn an. Ich hatte gedacht, er hätte mit dem Thema abgeschlossen. »Habe ich nicht, aber das ist auch nicht ungewöhnlich. Er hat keine Vorlesungen in der medizinischen Fakultät.«
»Oh, okay. Ich mache mir nur Sorgen.« Den letzten Satz sagte David so leise, dass ich ihn kaum verstehen konnte.
»Wenn du willst, höre ich mich mal nach Keiran um«, sagte ich, da ich Davids Wunsch, über Keirans Wohlbefinden Bescheid wissen zu wollen, nachvollziehen konnte. Mir ging es mit Michaela ähnlich. Der Schmerz über ihren Weggang war nach wie vor präsent, aber die Ungewissheit, ob es ihr gut ging, war noch viel schlimmer.
Erstaunt blickte David zu mir auf. »Bist du sicher?«
Ich nickte. »Ich mache es auch unauffällig. Einer seiner Footballfreunde ist in meinem Boxkurs, den kann ich morgen fragen.«
Erleichterung zeichnete sich auf Davids Zügen ab. »Das wäre wirklich nett.«
Bevor ich dazu kam, ihm zu antworten, klingelte mein Handy. Für einen winzigen Moment lang glaubte ich, dass es Michaela war. Mein Herzschlag beschleunigte sich und ich konnte das Smartphone nicht schnell genug aus meiner Hosentasche ziehen. Doch sobald ich auf das Display blickte, machte sich bittere Enttäuschung in mir breit.
»Hey, Mom«, sagte ich, um einen neutralen Tonfall bemüht.
»Marc, du musst sofort herkommen.« Mom klang hektisch und etwas schrill, was meinen Puls erneut in die Höhe schnellen ließ.
»Was ist passiert?« Ich ging bereits zur Tür, als mir einfiel, dass ich nur meine Jogginghose und ein T-Shirt trug. Mitten im Flur blieb ich stehen.
»Dein Bruder… Er wurde zusammengeschlagen und er will mir nicht sagen, was passiert ist. Er hat sich in seinem Zimmer verbarrikadiert und die Musik bis zum Anschlag aufgedreht. Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll. Er redet nicht mehr mit mir und ich habe Angst, dass er in etwas Schlimmes verwickelt sein könnte.«
»Fuck, ich komme sofort.« Ich schmiss das Handy auf die Kommode im Flur und eilte in mein Zimmer, um mich umzuziehen, während ich David in knappen Sätzen berichtete, was passiert war. Dann war ich schon aus der Tür und raste mit überhöhter Geschwindigkeit zum Haus meiner Mom.
Sie öffnete die Tür, kaum dass ich geparkt hatte, und scheuchte mich durch zu Décios Zimmer. Die Musik plärrte so laut, dass ich meine eigenen Gedanken nicht verstehen konnte, und es grenzte an ein Wunder, dass die Nachbarn sich noch nicht beschwert hatten. Mit voller Wucht schlug ich die Faust mehrfach gegen seine Tür, bis die Musik etwas leiser gedreht wurde. Nur ein bisschen, aber genug, dass er mich darüber verstehen konnte.
»Décio? Ich bin’s, mach die Tür auf.«
Keine Erwiderung von drinnen, aber die Musik wurde auch nicht wieder aufgedreht, was ich als gutes Zeichen wertete. Trotzdem kam es mir wie eine Ewigkeit vor, bis der Schlüssel umgedreht und die Tür einen Spalt geöffnet wurde.
»Was willst du?«
Ich konnte nur Décios linke Gesichtshälfte sehen, die völlig unversehrt war. Wäre da nicht der panische Ausdruck in seinen Augen gewesen, hätte ich denken können, dass Mom sich das alles nur eingebildet hatte. Aber ich glaubte ihr, deswegen stieß ich meine Schulter mit Wucht gegen die Tür. Décio war untrainiert und hatte meiner Kraft nichts entgegenzusetzen. Die Tür flog auf und mein Bruder stolperte einige Schritte zurück, bis er gegen den Schreibtisch prallte.
»Spinnst du?« In seiner Verärgerung wandte er sich mir komplett zu und gab den Blick auf seine rechte Gesichtshälfte frei.
Sie sah aus, als hätte ihn jemand als Punchingbag missbraucht. Sie war von einem tiefen Blau und so geschwollen, dass Décio das Auge nicht mehr öffnen konnte. Selbst sein Mundwinkel war seltsam verzogen.
»!Chin! Décio, wer war das?«
»Niemand.« Er wandte sich ab, als könne er damit ungeschehen machen, was ich gesehen hatte, doch ich ließ mich nicht so einfach abschütteln.
In zwei Schritten war ich bei ihm und zwang ihn dazu, mich anzusehen. »Du sagst mir jetzt sofort, wer das gewesen ist …«
»Sonst was? Sonst machst du mit der anderen Seite dasselbe?«
Erschrocken ließ ich ihn los und trat zwei Schritte zurück. »Was? Nein! Wie kannst du so etwas überhaupt denken?« Ich versuchte, seine Worte nicht zu nah an mich ranzulassen, konnte aber nicht verhindern, dass sie mir einen schmerzhaften Stich versetzten. Niemand aus unserer Familie hatte je die Hand gegen ihn erhoben, das hätte Mom niemals zugelassen. Dass er dachte, ich könnte ihn schlagen, verletzte mich zutiefst.
Décio schien zu merken, dass er mich getroffen hatte, und ließ sich fluchend auf den Schreibtischstuhl fallen.
»Das denke ich nicht wirklich«, sagte er kleinlaut.
Ich schloss die Tür hinter mir und setzte mich ihm gegenüber ans Fußende des Bettes. »Willst du mir nicht sagen, was passiert ist?«, versuchte ich es, um einen ruhigen Tonfall bemüht. Es machte mich unfassbar wütend, was ihm angetan worden war, und ich fühlte mich hilflos, weil mein Bruder sich mir nicht anvertrauen wollte.
»Nichts«, wehrte Décio erneut ab.
»War es derjenige, den du letztens verprügelt hast?« Vielleicht hatte er seine Freunde zur Rache auf meinen Bruder gehetzt. Verdenken könnte ich es ihm nicht.
»Wovon redest du?« Décio sah mich an, als hätte er keine Ahnung, wovon ich sprach.
»Na, der Typ, den du verprügelt hast, weswegen du suspendierst wurdest.«
»Oh Mann, das war ich doch gar nicht«, platzte es aus Décio heraus, ehe er die Hände vor den Mund schlug.
In meinem Kopf begann es zu arbeiten. Ich wusste genau, wann mein Bruder mich anlog, und war mir ziemlich sicher, dass er diesmal die Wahrheit sagte. Nur wie konnte das sein? Wenn er den Sohn des Direktors nicht geschlagen hatte, warum hatte er die Suspendierung dann anstandslos hingenommen? Und vor allem, wer hatte den Jungen stattdessen verprügelt?
»Décio, rede mit mir«, sagte ich eindringlich. In was auch immer er verstrickt war, es musste ein Ende haben, wenn er fast krankenhausreif geprügelt wurde.
»Versprich mir, dass du Mom nichts sagst.«
Ich zögerte kurz, denn es widerstrebte mir, Mom darüber im Unklaren zu lassen, aber ich wusste auch, dass Décio mir andernfalls nichts verraten würde. »Versprochen.«
»Derjenige, der Nick verprügelt hat, ist derselbe, der mich so zugerichtet hat.«
Wie in Zeitlupe setzten sich die Puzzleteile in meinem Kopf zusammen. »Dein Dealer?«
Ein kurzes Zögern, dann nickte mein Bruder. »Nick hat uns damals außerhalb der Highschool erwischt und gedroht, uns an seinen Vater zu verpetzen, der ja der Schulleiter ist. Nick ließ überhaupt nicht mit sich reden und da hat der Dealer, lass ihn uns Gregory nennen, ihm zuerst gedroht und ihn dann verprügelt, als das nicht gewirkt hat. Ich bin dazwischengegangen, als Nick bereits am Boden lag, deswegen hatte auch ich Schrammen.« Er hielt seine Hand hoch, die natürlich längst verheilt war, aber ich konnte mich noch an die aufgeschürften Knöchel erinnern.
»Gregory hat uns eingebläut, dass ich sagen müsste, ich hätte Nick geschlagen, immerhin wäre es meine Schuld gewesen, dass er uns erwischt hat. Das war zwar Schwachsinn, immerhin hat er vor der Schule auf mich gewartet, aber zu dem Zeitpunkt war ich einfach nur froh, durch die Suspendierung zwei Wochen von der Schule wegbleiben zu können. Nick hat zum Glück mitgespielt und macht seitdem einen großen Bogen um mich, obwohl wir uns vorher gut verstanden haben.«
Ich konnte es ihm nicht mal verdenken. »Was war danach?«
»Ich hab mich absichtlich vor der Schule erwischen lassen. Ich hab die Bullen an der Straße stehen sehen und weil ich noch ein Tütchen in der Tasche hatte, habe ich rumgefragt, ob es jemand haben will. Ich dachte, man würde mich wieder suspendieren, diesmal sogar länger, weil es der zweite Vorfall so kurz hintereinander war. Aber weil es außerhalb der Schule und nach dem Unterricht war, haben die Bullen es der Schule gar nicht gemeldet.«
Ich wollte Décio schütteln, weil immer offensichtlicher wurde, dass er in etwas hineingerutscht war, das er nicht kontrollieren konnte. »Warum hast du denn nie etwas gesagt?«
»Was hättest du denn machen können? Du siehst doch, dass selbst die Bullen nichts ausrichten können.«
»Keine Ahnung«, gestand ich. »Aber wir hätten mit der Schulleitung reden können oder der Polizei Namen oder Übergabeplätze mitteilen können.«
»Geile Idee«, entgegnete Décio sarkastisch. »Dann wäre das, was heute passiert ist, einfach eher vorgefallen. Und weniger glimpflich ausgegangen.« Er verschränkte die Arme und wandte den Blick ab.
»Wie meinst du das?«
Décio zögerte kurz, ehe er resigniert seufzte. »Irgendwer hat Gregory verpfiffen. Die Bullen haben ihn festgenommen, aber weil sie bei der Adresse, die er ihnen als Aufenthaltsort genannt hat, keine Drogen gefunden haben, mussten sie ihn wieder freilassen. Er denkt jetzt natürlich, dass ich ihn angeschwärzt hab, weil ich selber erwischt wurde, dabei habe ich die Klappe gehalten. Aber das hat er mir natürlich nicht geglaubt. Das hier ‒« Décio wandte sich mir zu und deutete auf seine geschundene, rechte Gesichtshälfte. »Das war eine Warnung, bloß nicht wieder auf die Idee zu kommen, ihn zu verpfeifen, denn beim nächsten Mal würde nicht mir etwas zustoßen, sondern jemandem, der mir nahesteht. Mom, dir, Ninho. Das hat er mir vorher schon angedroht, aber jetzt hat er es zum ersten Mal wahr gemacht. Verstehst du jetzt, warum ich nie etwas gesagt habe?«
Plötzlich fugte sich alles zusammen. Ich konnte nicht fassen, dass ich es vorher nicht gesehen hatte. Er redete von Lenny und Michaela war diejenige, die ihn angezeigt hatte, nachdem sie ihn an der Schule gesehen hatte. Lenny wusste natürlich nicht, dass sie ihn ausspioniert hatte, weshalb er Décio verdächtigte, geplaudert zu haben. Aber Michaela hatte der Polizei nicht nur erzählt, dass Lenny die Schüler zum Dealen anstiftete, sondern auch, was er früher mir ihr gemacht hatte. Lenny würde wissen, dass nur sie das verraten haben konnte. Hatte er sie also ebenfalls unter Druck gesetzt? War das der Grund, warum sie überstürzt abgehauen war und mir den Laufpass gegeben hatte? Weil sie dachte, sie müsste uns schützen? Das würde zu ihr passen.
»Gregory ist Lenny, oder?«, fragte ich.
Sämtliche Farbe wich aus Décios Gesicht und er blickte sich panisch um, als befürchtete er, Lenny könnte direkt hinter ihm stehen.
»Woher kennst du ihn?«, fragte er misstrauisch.
Seufzend rieb ich über mein Gesicht. Décio war ehrlich zu mir gewesen, also verdiente er dasselbe auch von mir. »Lenny ist Michaelas Stiefvater«, begann ich und berichtete ihm dann, wie Lenny Michaela bereits als Teenager in die Drogensucht getrieben hatte, dass Michaela ihn an der Schule beobachtet und danach angezeigt hatte. »Und jetzt hat sie auf einmal mit mir Schluss gemacht und ist abgehauen, daher vermute ich, dass er sie genauso unter Druck gesetzt hat wie dich.«
Décio starrte mich einen Moment an, sein unversehrtes Auge ängstlich geweitet. »Fuck. Also ist sie für die ganze Scheiße verantwortlich?«
Ich konnte mein Augenrollen nicht verhindern. »Nein, da hast du dich ganz alleine hineinmanövriert. Wie bist du da überhaupt reingeraten?«
Décio hob die Schultern. »Durch einen blöden Zufall. Ty, mein Kumpel, hat mich einen Tag mitgenommen. Ich wusste gar nicht, was da abgeht, ich schwöre. Er hat mich nur gefragt, ob ich Lust hätte, mir ein bisschen was dazuzuverdienen. Das hat sich gut angehört, du weißt ja, dass bei Mom das Geld nicht so locker sitzt, und ich dachte, wenn ich mir davon die neuen Nikes holen kann, warum nicht? Und plötzlich standen wir in dieser Lagerhalle, wo ganze Kisten voller Dope waren. Kisten, Mann. Und sobald ich drin war, wollten die mich nicht wieder rauslassen. Lenny hat mich gleich gepackt und mir gedroht, wenn ich auch nur ein Wort verrate, wird er meine komplette Familie auslöschen. Außerdem müsste ich erst mal was für lau verticken, um zu beweisen, dass ich vertrauenswürdig bin. Die Bezahlung ist übrigens beschissen, ich habe noch nicht mal das Geld für einen Schuh zusammen, geschweige denn für ein Paar.«
Ich betrachtete ihn aus dem Augenwinkel, während seine Worte in meinem Kopf kreisten. »Das heißt, du kennst die Adresse von der Lagerhalle, wo die Drogen gelagert werden?«
»Aber ich geh damit nicht zu den Bullen, das kannst du knicken.« Er deutete auf sein Gesicht. »Hast du das schon vergessen?«
»Aber du kannst auch nicht einfach nichts tun. Du könntest die ganze Bande auffliegen lassen und wärst sie zudem selber los. Das ist doch das, was du willst, oder nicht? Wenn du weiterhin untätig rumsitzt, wirst du nur tiefer in ihre Machenschaften hineingezogen. Meinst du, sie lassen dich in Ruhe, nur weil du aufs College gehst? Oder einfach die Schule schmeißt? Dann wärst du nur noch leichtere Beute für sie.«
»Ich weiß!« Décio stand mit geballten Fäusten vor mir, zitternd vor Wut. »Aber ich weiß auch, was mit denjenigen geschieht, die petzen, und ich will nicht einer davon werden. Oder dabei Zusehen müssen, was dann mit euch gemacht wird.« Den letzten Satz sagte er leise, fast schon verzweifelt, und zum ersten Mal konnte ich nachvollziehen, welche Bürde Décio mit sich herumschleppte. Natürlich hatte er Mist gebaut, aber ich hatte bisher vermutet, dass er sich absichtlich in diesen Schlamassel befördert hatte. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass er all das ertrug, weil er dachte, keinen Ausweg zu haben und uns schützen zu müssen.
Ich stand auf und zog die Karte des Detective aus meinem Portemonnaie. »Du solltest ganz genau darüber nachdenken, wie du den Rest deines Lebens verbringen willst. Wenn du zu dem Entschluss kommen solltest, dass es anders verlaufen soll, als es momentan ist, kannst du sie anrufen.« Ich reichte Décio die Karte, der sie mit zitternden Fingern ergriff.
»Ich verspreche dir, sie wird dir glauben, wenn du ihr sagst, was du mir soeben erzählt hast. Und wenn du Bedenken um jemandes Sicherheit hast, werden sie Maßnahmen zum Schutz ergreifen.« Ich klopfte meinem Bruder auf die Schulter, ehe ich sein Zimmer verließ. Ich konnte nur hoffen, dass er gründlich darüber nachdenken würde.