Die Drehtage nach dem Unfall waren entsetzlich, weil ich es nicht erwarten konnte, aus der Gegend und aus dem Land zu verschwinden, und mir gleichzeitig klar war, dass ich den Anschein von Normalität aufrechterhalten musste. Tun konnte ich ohnehin nichts, als zu warten und zuzuschauen, wie sich die Dinge entwickelten, und meine einzige Strategie war, Stephen und Xenia möglichst auszuweichen, was einerseits kaum gelang und andererseits nur ein schwacher Versuch war, nicht daran zu denken, was da über uns schwebte und dass jederzeit ein Polizeiwagen auftauchen, ein Sheriff aussteigen und die richtigen Fragen stellen könnte. Umgekehrt suchten auch sie nicht meine Nähe, im Gegenteil, aber sie steckten die ganze Zeit zusammen und hatten plötzlich wieder einen Umgang miteinander wie in den ersten Tagen in El Paso, von Streit keine Spur mehr, man sah sie Schulter an Schulter bei einem Glas Wein, man sah sie Händchen haltend, man sah sie auf gemeinsamen Spaziergängen. Xenia stand nach ihrem Zusammenbruch wieder vor der Kamera, als wäre nie etwas vorgefallen, ihre Figur gewann durch die Abwesenheit und Kälte, die sie ausstrahlte, und Stephen, der davor zu lässig gewesen sein mochte, schien in jeder seiner Szenen mit verhaltener Wut aufzutreten. Blieb noch ich und blieben die Ungeduld und Unzufriedenheit des Regisseurs, wann immer ich einen Einsatz hatte, seine Klagen, wo ich meinen Kopf hätte, woran ich schon wieder dächte und ob es mir wirklich so schwerfalle, mich in einen Grenzer hineinzuversetzen, ich würde ihn wie einen weltfremden Träumer spielen, ein bisschen mehr Sinistrität, ein bisschen mehr Härte, ja, vielleicht sogar Bösartigkeit könnten nicht schaden.
Hatte ich mich eine Weile damit abgefunden, haderte ich jetzt in einer für mich ganz unüblichen Abwehr mit der Rolle, und unser Missverständnis gipfelte wieder einmal darin, dass er mich provozierte, er könne nicht glauben, dass er ausgerechnet einem Österreicher Nachhilfe in diesen Dingen erteilen müsse.
»Ich habe im Geschichtsuntericht in der Schule nicht wirklich aufgepasst«, sagte er. »Aber bei allem Respekt vor dem Einfallsreichtum der Brüder südlich der Grenze habt ihr doch weltweit unübertroffene und tatsächlich unübertreffbare Standards darin gesetzt, was es bedeutet, ein richtiger Gewalttäter zu sein.«
Er wartete, bis ich pflichtschuldig lachte und sagte, das seien wohl zwei ganz unterschiedliche Dinge, aber wenn er es so sehen wolle, würde ich mich damit abfinden.
»Wie sollte ich es anders sehen?«
Sein Blick war plötzlich ganz hart.
»Du musst ja nicht übertreiben«, sagte er dann. »Aber wenn man dich im Gelände sieht, denkt man an einen Angsthasen, der dort nichts verloren hat und in seiner Freizeit im schlimmsten Fall vielleicht sogar Gedichte schreibt.«
Wir drehten kleine Sequenzen, die das Milieu beleuchten sollten und von denen viele später gar nicht in den Film aufgenommen wurden, aber sie zeigten den Alltag eines Grenzers in seiner ganzen Trostlosigkeit und Brutalität. Weil der Regisseur Anhänger einer falschen Authentizität war, musste alles möglichst echt erlebt sein. Also schoss ich mit William in einer Szene am Schießstand nicht nur auf Frauenfiguren mit schwarzen Zielscheibenringen auf Vulva und Brüsten, sondern wurde in der nächsten mit der Erklärung, dass es in der Ausbildung tatsächlich so gehandhabt werde, mit einem aggressiven Pfefferspray eingesprüht, das auf der Haut brannte und die Augen verätzte, und gleich darauf in einen Schutzanzug gesteckt und von drei Kerlen verprügelt, um zu testen, wie ich mich bei einem Angriff verhalten würde. Wir filmten, wie wir mitten in der Nacht mit gezogenen Pistolen einen in der Wüste Umherirrenden anhielten, der ein T-Shirt mit der Aufschrift JESÚS CRISTO TE AMA trug und sich als harmloser, übergeschnappter Prediger herausstellte, aber als nächstes war es ein Toter, den wir fanden, und wir taten das, was man nach amerikanischen Stereotypen in einem solchen Fall tut, wir knieten uns neben ihn in den Sand und übergaben uns. Dann war ein Lager von überraschten Flüchtlingen an der Reihe, die bei unserem Herannahen alles zurückließen, und wir mussten es in genau der gleichen Weise verwüsten, wie es unsere Kollegen in der Realität getan hätten, was bedeutete, dass wir vor laufender Kamera Wasserflaschen ausleerten, dass wir Rucksäcke mit Vorräten und Kleidung umstülpten, dass wir auf der Suche nach Drogen die Teddybären von Kindern mit unseren Händen zerfetzten und dabei nicht das geringste Mitleid erkennen ließen. Am Ende schoben wir diese letzten Habseligkeiten zu einem Haufen zusammen, nahmen in einem Dreieck Aufstellung, Stephen, William und ich, knöpften unsere Hosen auf und pinkelten auf das Ganze, bevor wir es zu allem Überfluss auch noch mit Benzin tränkten und anzündeten.
Von allen grauenhaften Szenen war die grauenhafteste aber diejenige, in der wir die Vorgänge in einem sogenannten Schattenhaus überprüfen sollten, einem angeblich leerstehenden Bauwerk. Über Funk kam die Nachricht, dass dort zwei Frauen festgehalten wurden, und in der Straße am Rand von El Paso mit lauter kaum unterscheidbaren Fertigteilhäusern, wo nur ein paar Schritte weiter die Wüste begann, stürmten wir zuerst zweimal das falsche Gebäude. In beiden saß eine Familie wie aus den fünfziger Jahren beim Mittagessen am Tisch, Vater, Mutter und zwei streng gescheitelte Kinder wie aus der Retorte, die uns alle nur anstarrten, ohne etwas zu sagen. Das dritte Haus war genau gleich eingerichtet wie die anderen, aber es war verlassen, und als wir eindrangen, schlug uns aus der verstopften und bis an den Rand der Schüssel gefüllten Toilette ein Gestank nach Fäkalien und Urin entgegen. Der Boden im Wohnzimmer war übersät mit leeren Kartons und Scherben von zerschlagenem Geschirr, und dazwischen fanden sich neben Hunderten von Zigarettenkippen halb zerfetzte Pornohefte und Spritzen. Unter dem Fenster an zwei offensichtlich eigens angebrachten Metallhalterungen hingen noch Handschellen, und die rötlich braunen Flecken und Schlieren an der Wand dahinter stammten von Blut.
Das Haus, ein Musterbeispiel für die überkomplette Arbeitsweise des Regisseurs, war nach den peniblen Angaben des Beraters für die Aufnahmen vorbereitet worden, der sich in den Tagen davor nur wenig auf dem Set hatte sehen lassen. Es hieß kryptisch, er habe in einer dringenden Angelegenheit weggemusst, und als er wieder zu uns stieß, erweckte er den Eindruck, als wollte er seine Abwesenheit durch die aufdringlichste Dauerpräsenz kompensieren. Seine Kringellocken hatte er sich glätten lassen, und er schien sein nervöses Lid unter Kontrolle zu haben, war jedoch von dem neuen Tick besetzt, sich beim Sprechen wegzudrehen und einem sein Profil zuzukehren, was ihn wenig vertrauenserweckend erscheinen ließ. In seiner Zeit als aktiver Grenzer hatte er mit einem Schattenhaus genau das erlebt, was wir jetzt nachspielten, nur nicht die Verwechslung mit den beiden Häusern davor, die war eine Reminiszenz des Regisseurs, eine bittere Erinnerung an seine Jugend in El Paso in einer streng katholischen, halb mexikanischen Familie.
Xenia war an dem Tag zum Glück nicht dabei, weil sie es nicht ausgehalten hätte, wie der Berater wieder in seinen Jargon verfiel und ein weiteres Mal von zwei Körpern sprach, die in dem Haus festgehalten worden seien.
»Wenn ich mich richtig erinnere, sind es Frauen aus Guatemala gewesen, und ihre Entführer haben versucht, von ihren Familien zu Hause Lösegeld zu erpressen«, sagte er. »Wir sind leider zu spät gekommen und haben sie nicht mehr gefunden.«
Sein nervöses Lid zuckte nur kurz.
»Jedenfalls nicht lebend.«
Er fuhr sich in einer Weise über die Stirn, wie andere auf der ganzen Welt sich über ihre Kehlen fuhren, um anzuzeigen, dass jemand todgeweiht oder schon tot war.
»Gefunden haben sie später am selben Tag die Leichenspürhunde. Die Körper sind im Keller des Hauses nur notdürftig eingemauert gewesen. Wenn man genau hingeschaut hat, hat man ihre Formen an den Bodenunebenheiten erkennen können.«
Wir drehten auch das, drehten, wie die beiden Hunde ihre Führer an den Leinen durch das ganze Haus zerrten und sich im Keller wie tollwütig gebärdeten, anschlugen und an dem grobkörnigen, noch feucht wirkenden Beton zu kratzen begannen, und der Berater sagte die ganze Zeit: »Genauso war es«, oder er sagte: »So war es nicht«, und sagte, wie es stattdessen angeblich gewesen sei, bis der Regisseur ihn bat, endlich den Mund zu halten.
»Wir können uns das vorstellen«, sagte er. »Zwei eingemauerte Leichen. Dazu braucht man kein Genie zu sein. Sag uns lieber, was sie angehabt haben.«
»Sie sind nackt gewesen.«
»Damit kommen wir der Sache schon näher.«
»Sie sind vergewaltigt und gefoltert worden.«
»Verdammte Scheiße!«
Der Regisseur war den ganzen Tag schon nicht bester Laune gewesen und ließ seine wachsende Wut jetzt am Berater aus.
»Als würdest du uns damit etwas Neues sagen«, fuhr er ihn an. »Wozu hat man dich überhaupt engagiert? Wir drehen die Szene im Wohnzimmer noch einmal und legen ihre Kleider unter die Handschellen. Dann sieht es von Anfang an bedrohlicher aus. Muss man dir immer alles aus der Nase ziehen?«
Wir arbeiteten die letzten Tage unter Zeitdruck, und so diszipliniert wir uns gaben, war unübersehbar, dass manches nur hingehudelt wurde. Alma hatte keine Einsätze mehr und war mit Enrique Brausen bereits abgereist, und geblieben war bloß das ewige Reden, ob wirklich noch die Ölleute aus Dallas und Houston die Geldgeber waren und nicht längst er, El Alemán, im Hintergrund alles übernommen hatte. Sosehr er selbst damit gespielt haben mochte, hatte es keinen Grund gegeben, seine Seriosität anzuzweifeln, solange er greifbar gewesen war, aber mit seiner Abwesenheit nahmen sofort wieder die Gerüchte überhand, woher er sein Vermögen wohl hatte und wie er so viel Einfluss erlangt haben konnte. Hinter vorgehaltener Hand wurde gesagt, dass er sich ausbedungen habe, den Schnitt des Films zu überwachen, damit seine Geliebte nicht zu kurz komme, die Alma ja ohne Zweifel sei, und auf dem Set vertrat jetzt der Berater auftrumpfend ihre Interessen und wurde vielsagend ihr prestanombre genannt, was Strohmann oder Schattenmann bedeutete, aber so ausgesprochen wurde, dass es die wildesten Phantasien in Gang setzte.
Ich verbrachte die Abende mit William, der mir bei einer Gelegenheit anvertraute, wenn er das Geld von seiner Rolle nicht so dringend brauchte, hätte er schon vor Tagen die Flucht ergriffen, weil er sich von Stephen nicht länger schikanieren lassen wolle. Er war nicht der erste, der dem Drehbuch gegenüber Skepsis äußerte, in den vergangenen Tagen waren immer wieder Stimmen laut geworden, es gab eigentlich niemanden auf dem Set, den nicht manchmal der Verdacht beschlich, dass wir uns mit dem Projekt verrannten, aber so deutlich wie er war noch keiner geworden. Ich hatte ihm eine Vorlage geliefert, indem ich gesagt hatte, wir benötigten schon viel Glück, wenn wir am Ende nicht auf einem Fehlschlag in Westernmanier sitzenbleiben wollten, auf den kein Mensch warte, und er nahm das zum Anlass, grundsätzlich zu werden.
»Wir tun gut daran, uns nicht zu fragen, wofür der ganze Aufwand sein soll«, sagte er. »Da stehen wir tagelang in der Landschaft herum, und als Höhepunkt fällt uns nicht mehr ein, als eine Frau umbringen zu lassen.«
Er sah sich um, als hätte er keine Orientierung.
»Dieser Mord geschieht nur für das Publikum.«
Damit drehte er sich schließlich doch in die Richtung, wo kaum zwei Kilometer entfernt die Grenze war, und machte eine resignierte Handbewegung.
»Wenn du wenigstens einen Weg gefunden hättest, Alma zu verschonen. Vielleicht hättest du den Auftrag nur zum Schein annehmen und sie laufen lassen können. Dann wärest du über die Grenze zurückgegangen und hättest gesagt, es sei alles erledigt.«
Jetzt sah er mich an.
»Wäre das nicht die bessere Geschichte?«
Ich spürte seinen Blick auf mir, und obwohl ich ihn nicht erwiderte, konnte ich nicht verhindern, dass ich nickte.
»Sicher hätte ich sie genausogut laufen lassen können, und sie wäre noch am Leben«, sagte ich, als hätte ich den Mord wirklich begangen und nicht nur im Film. »Sie hätte Jahre und Jahre gehabt.«
Dann schaute ich selbst Richtung Grenze.
»Es wäre definitiv die bessere Geschichte.«
Wir trennten uns an diesem Abend betreten, und etwas von der Stimmung blieb von da an zwischen uns. Er hatte das Gespräch auch auf Stephen und Xenia zu bringen versucht, aber ich war nicht darauf eingegangen, und bei unserem Aufbruch nahm er einen neuen Anlauf, nannte ihn einen widerwärtigen Grobian, sie ein Mädchen, das viel zu fein für ihn sei. Dann kam er dennoch zu dem Schluss, es habe alles seine Richtigkeit, solange es uns nur gelinge, unseren Mord im Film zu halten, und ließ mich mit der Auflösung ein paar Sekunden warten.
»Ich verstehe nicht, wie sie es neben einem solchen Kerl nur einen Tag aushält«, sagte er dann. »Sie braucht bloß ein Wort zu sagen, und ich schieße ihn über den Haufen.«
Natürlich traf ich Xenia im Hotel, wo sich Begegnungen nicht vermeiden ließen, aber ich saß erst an dem Tag, bevor Casey Beck abreiste, wieder an einem Tisch mit ihr. Zwar gehörte er nicht zum Filmteam, doch seine Anwesenheit an den Abenden hatte etwas so Selbstverständliches bekommen, dass sein Abschied wie der vorgezogene Abgang von uns allen war. Er lud ein paar von uns auf ein Glas ein, und so kam die alte Runde zusammen, neben Xenia auch Stephen, William und ich, und ich hatte das Gefühl, dass er ständig zwischen mir und ihr hin- und herschaute, als wäre er endgültig kurz davor zu begreifen, was uns verband, weil sie ostentativ an mir vorbeisah und kein Wort an mich richtete und selbst meine Ironie, mit der ich sie einmal als die zukünftige Mrs O’Shea ansprach und sie fragte, ob ich ihr von der Bar etwas mitbringen könne, nicht verfing. Ihre Wunde auf der Stirn war verheilt, aber noch deutlich zu sehen, und wann immer sein Blick darauf ruhte, wartete ich nur, dass er etwas sagte, das Xenia und mich in die Bredouille bringen würde.
Er hatte auch den Sheriff eingeladen, auf den Stephen und ich nach unserer Rückkehr von der Unfallstelle in der Hotellobby gestoßen waren, und als er Xenia in dessen Gegenwart fragte, ob es ihr wieder bessergehe, dachte ich tatsächlich einen Augenblick, es stehe alles auf der Kippe und sie könnte unser Geheimnis preisgeben.
»So schlimm war es nicht«, sagte sie stattdessen jedoch nur. »Ich habe ein paar anstrengende Tage gehabt, aber zum Glück sind die vorbei. Wenn wir schreckliche Szenen drehen, vergesse ich manchmal, dass sie Teil eines Films sind. Für mich ist dann alles Realität.«
Er erwiderte nickend, er könne sich vorstellen, dass das nur schwer auseinanderzuhalten sei und dass genau diese Unentschiedenheit am Ende manchmal wohl auch die Qualität eines Films ausmache.
»Schließlich drehen Sie kein Märchen.«
»Nein«, sagte sie. »Alles andere als das. Aber Sie müssen bei jeder Szene überlegen, ob es die Gewalt braucht oder nicht. Wenn Sie zu viel davon haben, kann es sein, dass Ihnen am Ende vorgeworfen wird, dass Sie sich daran berauschen. Haben Sie zu wenig, verharmlosen Sie vielleicht alles.«
»Ich weiß«, sagte er. »Ich überlege bei einem Artikel manchmal einen ganzen Tag, ob ich die genauen Umstände eines Mordes erwähnen soll oder nicht.«
»Die genauen Umstände?«
Jetzt sah sie ihn an wie ertappt, aber er achtete nicht darauf, weil er seinen Blick auf den Sheriff gerichtet hatte, als erwartete er Hilfe von ihm.
»Ich meine, wie ein Täter vorgegangen ist«, sagte er. »Muss die Öffentlichkeit das wissen, oder reicht die Tatsache selbst? Ist es etwas anderes, wenn er eine Frau stranguliert, als wenn er sie ersticht? Ist es brutaler, wenn er sie irgendwo am Straßenrand liegen lässt oder wenn er sie notdürftig verscharrt? Soll ich darüber schreiben, wenn er sie bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt hat, oder soll ich Rücksicht nehmen und es verschweigen, und Rücksicht worauf? Auf die Würde der Toten oder nur auf die feinen Nerven meiner Leser?«
Es war der Sheriff, der ihn schließlich bremste.
»Wenn Sie bloß Rücksicht auf die Lady nehmen würden …«, sagte er. »Das wäre schon ein Anfang.«
Damit wandte er sich an Xenia.
»Sie sind ja ganz blass geworden.«
Das war vielleicht der kritischste Augenblick, aber Xenia sah ihm nur direkt ins Gesicht, und er richtete sich in seinem Sessel auf, straffte seine Brust und klopfte sich ein paarmal gegen die ausgebeulte linke Seite unter der Achsel, wo er wohl versteckt eine Pistole trug, weil er auch in Zivil nicht ohne Waffe aus dem Haus ging.
»Selbstverständlich verstehe ich die Bedenken«, sagte er dann, bevor es noch brenzliger werden konnte. »Wahrscheinlich habe ich mehr Mordopfer vor Augen gehabt als alle anderen hier zusammen. Man gewöhnt sich nie daran, aber es geht nicht so sehr darum, wie sie zugerichtet sind. Das Schreckliche ist, was man in ihren Gesichtern erkennen kann. Ist jemand hinterrücks umgebracht worden, ohne etwas zu ahnen, oder hat er den Tod kommen sehen? Niemand will sterben oder jedenfalls nicht ermordet werden, und ich schwöre Ihnen, wenn sich die Panik der letzten Augenblicke in einer Miene konserviert …«
Ich konnnte ihm nicht sagen, dass auf dem Antlitz der Toten nach dem Unfall nichts davon zu sehen gewesen war und dass es auf mich eher außerirdisch und selig gewirkt hatte, aber als Stephen mich am letzten Tag zum Flughafen brachte, genügten die schockhafte Wahrnehmung der Wüste und ihrer Leere und mein paradoxes Verlangen danach, dass ich wieder daran dachte. Wir hatten am Abend davor eigentlich noch eine kleine Abschiedsfeier geplant gehabt, doch dann war die Atmosphäre auf dem Set so schlecht gewesen, dass alle genug voneinander hatten und wir auseinandergingen wie Leute, die ihre gegenseitigen Animositäten viel zu lange schon in Schach gehalten hatten und jetzt fürchten mussten, dass jeden Augenblick offener Streit ausbrach. Der Regisseur hatte wegen der lächerlichsten Kleinigkeiten herumgebrüllt, und als er sich darauf hinausreden wollte, das sei nur für das Gelingen des Ganzen, mochte keiner mehr es hören, und wir ließen ihn mit seinem auf offenem Feuer gebratenem Lamm und der eigens aus San Antonio gekommenen Violinistin einfach sitzen.
Es war wieder einer dieser Tage, an denen das Jahr mitten im Frühling schon über seinen Zenit zu sein schien, und als wir schweigend aus El Paso hinausfuhren, lag ein Flimmern und Flirren in der Luft, das eher von der Hitze herrührte als von dem aufgewirbelten Staub, der uns an so vielen anderen Tagen zu schaffen gemacht hatte. Zwei Grenzerautos kamen uns im Abstand von nur ein paar hundert Metern entgegen, und während ich dachte, wie froh ich war, all das hinter mir lassen zu können, ging es doch nicht ohne den Stich im Herzen, womöglich nie wieder hierher zurückzukehren. Der Reflex war eine plötzliche Sehnsucht, für immer zu bleiben und ein Leben unter diesem weiten Himmel zu führen, in dieser Landschaft mit ihrem in hundert Filmen beschworenen Pathos, und wenn es nur ein Pathos aus furchtbarster Einsamkeit und himmelschreiender Verzweiflung war.
Wir standen schon auf dem Parkplatz vor dem Eingang zur Abflughalle, als Stephen meinte, er glaube, die Geschichte sei ausgestanden, er könne sich nicht vorstellen, dass noch Indizien auftauchen würden, die auf Xenia und mich als Unfallverursacher deuteten, aber bald nach meiner Rückkehr nach Hause rief sie mich dennoch plötzlich alle paar Tage an, manchmal mitten in der Nacht, sie hatte gewöhnlich getrunken und steigerte sich in die wüstesten Szenarien hinein. Jeder, der nur ein paar Kriminalfilme gesehen hatte, hätte ihr sagen können, am Telefon darüber zu sprechen sei die größte Dummheit, die wir im Augenblick begehen konnten, und ich brachte sie wenigstens soweit, dass sie sich aller konkreten Hinweise enthielt. Dabei fragte sie mich hundertmal, ob ich sicher niemandem etwas erzählen würde, und am Ende weinte sie immer. Sie war mit Stephen noch einen Tag in El Paso geblieben und dann nach Montana gefahren, aber er hatte gleich wieder von dort weggemusst, und wahrscheinlich war der Grund für ihre neuerliche Unsicherheit, dass sie allein auf der Ranch war und mit ihrem Alleinsein nicht umgehen konnte.
Zu Hause war das für mich auch deshalb ein Problem, weil ich Riccarda nicht einweihen wollte, ihr aber die häufigen Anrufe zu den unmöglichsten Zeiten irgendwann nicht mehr zu verheimlichen vermochte. Ich brauchte gar nicht erst zu versuchen, ihr weiszumachen, es sei wegen der Arbeit, also konnte es nur eine banale Geschichte sein, ich musste eine Affäre gehabt haben, wenn ich keine andere Erklärung dafür hatte, warum mich eine Frau aus Amerika in einem fort so dringend kontaktierte. Schließlich verlangte sie, dass ich für eine Weile in ein Hotel zog, vier Wochen zuerst, dann noch einmal vier, und am Ende wurde es so selbstverständlich, dass es zu einem Dauerzustand hätte werden können, finanziert, auch das, mit dem Schwarzgeld meiner Großmutter, und war vielleicht ein Anfang von dem, was uns Jahre später auseinanderbringen sollte, weil ich auf den Geschmack kam, wie man so sagt, und zum ersten Mal seit langem Tage und Wochen nur für mich verbrachte und richtiggehend süchtig danach wurde.
Von Xenia und Stephen hörte ich danach über Monate nichts mehr. Die Einladung zur Hochzeit sagte ich ab, seit dem Unfall war einfach noch zu wenig Zeit vergangen, und zum nächsten Kontakt kam es erst wieder ein paar Wochen nachdem der Film in Amerika in den Kinos angelaufen war. Der Start hatte sich mehrfach verzögert, zuerst, weil es weiter um Fragen der Finanzierung ging, dann, weil der Regisseur gesundheitliche Probleme hatte, schließlich gab es Streit um den Schnitt, und auf Betreiben von Enrique Brausen wurde zweimal neu nachjustiert, so dass alle Vorzeichen denkbar ungünstig waren und zumindest ich mich nicht wunderte, als es ein Flop wurde.
Der Misserfolg an den Kassen war das eine, etwas anderes war, dass die Kritiker in den einflussreichen Zeitungen kaum ein gutes Haar an dem Film ließen und insgesamt den Vorwurf erhoben, dass der Regisseur, mochte er auch aus der Gegend stammen, die Realität in El Paso Mitte der neunziger Jahre auf allen Ebenen, die interessant gewesen wären, entweder gar nicht verstanden oder für zu leicht genommen habe. Man erfahre viel zu wenig von der verschärften Dynamik an der Grenze, die seit Einsetzen des Freihandelsabkommens mit Kanada und Mexiko zum Alltag geworden sei, hieß es, viel zu wenig von den Machtkämpfen der Drogenkartelle, die zu der Zeit einem bösen Höhepunkt entgegensteuerten, von den Folgen der zum ersten Mal in größerem Umfang errichteten Grenzzäune, die Flüchtlinge auf gefährliche Ausweichrouten zwangen, um erst gar nicht zu reden von dem Milieu der Grenzer voller gewaltbereiter Waffennarren und Veteranen, von der Ausbeutung der Arbeiterinnen in den Montagefabriken in Juárez, oft noch halben Kindern, und von der Serie von scheußlichen Frauenmorden dort, und wie das alles miteinander zusammenhänge. Dafür gefalle sich der Film darin, vor einem Hintergrund, vor dem sich eine grundsätzliche Geschichte über Gerechtigkeit und Ungerechtigheit auf der Welt hätte erzählen lassen, ein triviales Eifersuchtstableau zu entfalten, und weil damit das meiste, was in Wirklichkeit von Belang hätte sein können, zur Kulisse verkomme, sei das ganze Unterfangen eine Lappalie und als Lappalie ein Skandal.
Ich glaube, Stephen nahm die verheerenden Kritiken bloß als Vorwand, um sich endlich wieder bei mir zu melden. Entsprechend winkte er ab, er wolle sich gar nicht damit beschäftigen, und sagte, wenn das so weitergehe, habe man auch in Amerika bald deutsche Verhältnisse und ein Film gelte nur als ernsthafter Film, sofern man möglichst das Knirschen und Ächzen des Getriebes zeige, mit dem er in Gang gehalten werde, und ihn mit so vielen aktuellen Themen belade, dass er als Problemfilm durchgehe, was man dann nicht als Gemurkse sehe, sondern als Ausdruck höchster Kunst. Das war das einzige, wozu er sich hinreißen ließ, und dann meinte er, Xenia komme weniger gut mit der Ablehnung zurecht, sie habe im Augenblick eigentlich etwas ganz anderes gebraucht, und überraschte mich mit der Eröffnung, sie sei wegen des Unfalls seit drei Monaten in Behandlung.
»Sie trifft einen Therapeuten und erzählt ihm von eurer Sache«, sagte er. »Um sich nicht in Bedrängnis zu bringen, verdreht sie alles angeblich so weit, dass weder Ort noch Zeit stimmt, noch ist in dieser Version sie selbst am Steuer gesessen. Sie verlegt das Ganze nach Europa. Der Fahrer ist ein Schauspielkollege, sie Beifahrerin, und richtig bleibt nur, dass es eine Tote gegeben hat und sie sich deswegen Vorwürfe macht, und dazu natürlich die Fahrerflucht.«
Die Details rüttelten mich auf, aber wenigstens würde in dieser Konstellation und bei einem Unfall, der sich in einem anderen Land ereignet hatte, niemand nähere Nachforschungen anstellen, und wenn sie sich daran hielt, musste sie es mit sich selbst abmachen.
»Solange sie nicht wirklich etwas ausplaudert, kann sie reden, soviel sie will«, sagte ich. »Es fragt sich nur, ob ihr das hilft.«
Ich hörte, wie Stephen laut aufstöhnte.
»Offen gesagt habe ich auch keine Ahnung, wie die Behandlung bei ihr anschlagen soll, wenn sie sich in grundlegenden Dingen nicht an die Wahrheit hält«, sagte er. »Manchmal kommt es mir vor, als bildete sie sich ernsthaft ein, sie sei nicht selbst gefahren, sobald sie es nur treuherzig genug vorbringt. Sie sieht ihren Therapeuten einmal in der Woche, und wenn sie von einer Sitzung zurückkehrt, scheint sie jeweils ein neues Bausteinchen für ihre Geschichte zu haben. Wie auch immer die das machen, ich male mir aus, er fragt sie und sie erinnert sich, und wenn sie die Rolle erst einmal angenommen hat, ist sie Schauspielerin genug, sie auch zu glauben.«
Bis dahin hatte ich keinen Augenblick darüber nachgedacht, wie wenig Beweise, im Grunde genommen gar keine, es zum Unfallhergang gab, und als ich jetzt dachte, Xenia könnte im Zweifelsfall tatsächlich behaupten, ich sei am Steuer gesessen, erschien mir das einerseits als reine Absurdität, weil ich sie so nicht einschätzte, andererseits plötzlich aber doch als Möglichkeit.
»Es kann nicht sein, dass sie das auch nur einen Augenblick wirklich annimmt«, sagte ich und konnte meine Aufregung nicht mehr unterdrücken. »Muss ich mich fürchten?«
»Nicht im geringsten!«
»Was soll dann der Unsinn?«
»Das ist nur ihr momentaner Spleen«, sagte er. »Wenn es darauf ankommt, wird sie die Dinge schon auseinanderhalten. Außerdem gibt es keine Verbindung zu dir. Sie hat dich ganz aus dem Spiel gelassen und nicht erwähnt, wer der Schauspielkollege gewesen sein soll.«
Ich erkundigte mich, ob Xenia in der Nähe sei, und bat ihn, sie ans Telefon zu holen, als er ja sagte, aber mit ihr verlor ich dann kein Wort darüber. Sie damit zu konfrontieren, ob sie schon noch wisse, wie sich alles in Wirklichkeit zugetragen habe, erschien mir lächerlich, und sie war ohnehin überdreht, sagte, wie sehr sie sich freue, mich zu hören, und wie oft sie an die Drehtage in Texas denke, dass ich mich erst mühsam zum Problem hätte vorarbeiten müssen. So, wie sie tat, schien es andererseits nie eines gegeben zu haben oder jedenfalls keines, das sie bedrückte, und selbst die Verrisse des Films konnten ihr ganz gegen Stephens Behauptung allem Anschein nach wenig anhaben.
»Für mich gibt es Schlimmeres im Leben«, sagte sie, und auch das war nur ein Spruch und keine Anspielung. »Es bedeutet mir nichts. Soll ich deswegen weinen? Dazu müsste ich naiver sein, als ich bin.«
Das nächste Mal hatte ich mit Xenia und Stephen erst im Sommer darauf zu tun, und es war wieder im Zusammenhang mit dem Film. In Deutschland hatte sich kein Verleih gefunden, aber beim Filmfest in Köln sollte es im Rahmen eines Schwerpunkts zum Thema »Grenzen« zu einer Aufführung kommen, und die beiden hatten sich dafür angesagt, mich dann aber im letzten Augenblick wissen lassen, sie würden doch zu Hause bleiben. Xenia drehte da längst schon mit dem kanadischen Regisseur, mit dem sie später eine Affäre haben sollte, verbrachte viel Zeit in Toronto und war von einem Tag auf den anderen nicht mehr abkömmlich, und Stephen wollte ohne sie nicht reisen.
»Ihr geht es gut«, sagte er am Telefon. »Der Therapeut ist zum Glück passé, und sie scheint die Geschichte überwunden zu haben. Jedenfalls spricht sie nicht mehr von dem Unfall. Sie hat ihre Art, damit umzugehen.«
Dann folgte aber wieder etwas, das mich aufhorchen ließ und mich von neuem in den Schlamassel hineinzog, dass ich dachte, ich würde ihm niemals entkommen.
»Sie hat für die beiden Kinder der verunglückten Frau ein Konto eingerichtet. Offenbar leben sie ja nicht mehr bei ihrem Vater, und ein Detektiv forscht gerade aus, wo sie untergebracht sind. Dann bleibt nur die Aufgabe zu lösen, wie das Geld an sie gelangen soll, ohne dass sich die Spuren zu ihr zurückverfolgen lassen.«
»Die Leute werden Fragen stellen.«
»Vermutlich werden sie das«, sagte er. »Aber niemand wird je herausfinden, dass die Zuwendungen von ihr stammen. Sie kann sie sich leisten, ohne dadurch in Bedrängnis zu kommen. Am liebsten würde sie die beiden adoptieren, was natürlich nicht geht.«
Mit Xenia sprach ich bei dieser Gelegenheit nicht, aber sie rief mich nach dem Festival an, als ich gerade mitten in meiner Auseinandersetzung mit dem Kritiker war, der mir in der Zeitung nicht nur völlige Talentlosigkeit vorgeworfen hatte, sondern zudem behauptete, ich würde in einer Weise in meiner Rolle als Grenzer aufgehen und ihn mit einem Testosteronüberschuss und einer buchstäblich an allen Gliedern sichtbaren Erektion spielen, dass es einem Angstschauer über den Rücken jage. Ich hatte schon viel erlebt, aber wie er sich über mich ausließ und mir zu verstehen gab, dass einer wie ich in der Branche nichts verloren hätte, hatte eine neue Qualität. Er schrieb, ich hätte die Figur so breitbeinig und schwanzbetont und mit einer solchen Lust am Tragen der Waffe angelegt, dass man nicht umhinkomme, Rückschlüsse auf mich und meinen Geisteszustand zu ziehen, um von den politischen Implikationen gar nicht zu reden. Ich war so leichtfertig gewesen, ihm bei einem Glas Wein nach der Premiere von meiner Begegnung mit Dubya erzählt und mich auf sein Drängen nicht von ihm distanziert zu haben, und das war die erste Quittung, die ich dafür bekam, nur ein kleiner Vorgeschmack auf das, was Jahre später mit viel größerer Wucht über mich hereinbrechen sollte. Er bezeichnete mich als einen dieser heimischen Schauspieler, die schlechte Parodien von zweit- und drittklassigen amerikanischen Darstellern seien, was in meinem Fall besonders tragisch wirke, weil es mir in dreißig Jahren auf der Bühne nicht gelungen sei, meine Herkunft zu überwinden, und ich immer noch daherkäme wie der Dorfkasper aus dem Bauerntheater, für den Deutsch eine Fremdsprache bleibe und der die Schauspielerei mit dem schmierigen Charmieren eines Skilehrers verwechsle. Dann folgte noch ein Schlag gegen meine Familie, und wenn ich ihm alles andere schon nicht verzeihen konnte, verzieh ich ihm den Hotel- und Skiliftbesitzersohn am allerwenigsten, von dem er in der Vergangenheit schon viele Filme nicht gesehen habe und sich in Zukunft mit Sicherheit keinen mehr anschauen werde.
Natürlich wusste ich, dass es sinnlos war, darauf zu reagieren, aber in diesem Fall hatte ich reagiert, und Xenia hatte Wind davon bekommen und war deswegen jetzt am Telefon. Ich hatte ein Interview dazu benutzt, zu sagen, ich würde den Kritiker am liebsten zum Duell fordern. Er nannte sich selbst einen Linken, war aber in Wirklichkeit bloß ein glattgewichster Opportunist, der wusste, wie man Karriere machte, sein Fähnchen nach jedem Lüftchen hängte, seine Meinung bereits dreimal gewechselt hatte, bevor man soweit war, sich eine zu bilden, und sich genausogut einen Rechten hätte nennen können, wenn nur der Zeitgeist anders gewesen wäre. Das war für mich so offensichtlich, dass ich mir die Umstände unseres Aufeinandertreffens im ersten Morgengrauen auf einer Lichtung derart genüsslich ausmalte, dass es für einen kleinen Skandal reichte, und Xenia kostete jedes Detail aus und agierte wie ein Kind, das die Geschichte schon kannte und doch nie genug kriegen konnte, sie wieder und wieder und in immer neuen Ausschmückungen zu hören.
»Falls Frauen dafür überhaupt zugelassen sind, möchte ich deine Sekundantin sein«, sagte sie schließlich. »Ich würde hinter dir stehen und dich auffangen, wenn du fällst. Du könntest in meinen Armen dein Leben aushauchen. Es wäre ein Tod erster Klasse.«
Dann meinte sie, es gebe noch eine andere Möglichkeit, an die ich längst schon hätte denken können, wenn mir alles zuviel werde.
»Was hältst du davon, ganz zu uns zu kommen?«
Ich verstand sie zuerst nicht, aber sie sagte, wenn ich mich entscheiden müsste, in einer Welt zugrunde zu gehen, die in ihrer Großartigkeit keinen Platz für mich habe, oder in eine vielleicht weniger großartige, dafür jedoch freiere aufzubrechen, sollte mir die Wahl nicht schwerfallen.
»Schließlich gibt es hier immer noch Orte, wo du in jede Richtung ein paar Tage gehen kannst, ohne auf irgend jemanden zu stoßen, der sich für das Maß aller Dinge hält und meint, dich belehren zu müssen.«
Wir sprachen wieder nicht über den Unfall, und gerade dass sie sich für solche Abstrusitäten interessierte, stärkte mein Vertrauen, dass ich von ihr, zumindest im Augenblick, nichts zu fürchten hatte. Sie erzählte, dass der Film in Mexiko begeistert aufgenommen worden sei, und auch wenn das nicht ohne Eifersucht auf Alma ging, die damit zwar weiter auf ihren Durchbruch im englischsprachigen Raum warten müsse, aber wenigstens ihren Triumph zu Hause habe, war doch Genugtuung aus ihrer Stimme zu hören. Dann wiederholte sie ihren Verdacht, dass das ganze Unternehmen ohnehin nur ein Vehikel gewesen sei, Alma über ihr angestammtes Publikum hinaus bekannt zu machen, womit er sein eigentliches Ziel dann wohl doch verfehlt habe, und bei der Erwähnung von Enrique Brausen beschlich mich sofort ein unangenehmes Gefühl. Sie sprach den Namen aus, als könnte er unmöglich echt sein, und als sie meinte, es gebe immerhin noch Weltgegenden, in denen man es als Bedrohung empfinde, wenn einer sich El Alemán nenne, war die alte Ungewissheit über sein Tun und Treiben augenblicklich wieder da.
»Es würde mich nicht wundern, wenn er dafür gesorgt hätte, dass Alma von der Kritik mit Samthandschuhen angefasst worden ist«, sagte sie. »Immerhin ist es offensichtlich, dass sie mit ihrer Rolle in jeder einzelnen Sekunde überfordert war. Nimm nur die Szene, in der du sie erwürgst. Sie hat ihrem eigenen Tod entgegengeschmachtet, und die größte Zeitung des Landes entblödet sich nicht, von der göttlichen Alma del Campo zu schwärmen.«
Sie schnaubte vor Verachtung.
»Glaubst du, das kann jemand ernsthaft über sie und ihren Auftritt schreiben, wenn er nicht eine Faust im Nacken hat?«
Ich versuchte ihr zu widersprechen, aber sie schnitt mir das Wort ab und schien einen Augenblick nicht zu wissen, gegen wen sie ihre Wut richten sollte.
»Als ob ausgerechnet du das beurteilen könntest«, sagte sie. »Du warst doch bis über beide Ohren in sie verliebt.«
Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Enrique Brausen etwas gesteuert hatte, aber nach dem Gespräch mit Xenia bekam ich ihn lange nicht mehr aus dem Kopf. Sosehr ich mich dagegen gewehrt hatte, in ihm jemand anders als einen Geschäftsmann zu sehen, so sehr hatte doch auch ich stets den Eindruck gehabt, er könne jederzeit, wenn er nur wollte, im Hintergrund die Fäden ziehen, und hatte mich dann doch wieder gegen das Klischee gewehrt, ein mexikanischer Geschäftsmann sei nicht einfach nur ein Geschäftsmann, sondern müsse mindestens auch noch ein Krimineller und Drogenbaron sein, der eine ganze Armee von Helfern und Helfershelfern hinter sich habe, die zu allem bereit wären. Auf jeden Fall blieb dieses Unbehagen neben den jeweils neuesten Entwicklungen in Xenias Leben und der damit verbundenen Frage, ob sich für sie die Umstände so grundlegend änderten, dass sie vielleicht mit jemandem über den Unfall sprechen wollte und Dinge verursachte, die ich nicht im Griff hätte, und das einmal deutlichere, dann wieder in den Hintergrund tretende Empfinden, da noch etwas an mir hängen zu haben, bestimmte die folgenden Jahre, manchmal fast als eine Art Garantie, dass Enrique Brausen plötzlich am Telefon sein könnte und sagen, es gebe da noch eine offene Rechnung zwischen uns, die zu begleichen wäre.
Xenia hatte dann zwei sehr erfolgreiche Filme hintereinander, einmal als Börsenmaklerin im New York der achtziger Jahre, einmal als Schlittenhundführerin in Alaska, die ihren Mann ohne ersichtlichen Grund ermordet und an seine geliebten Huskys verfüttert, und in beiden Rollen bescheinigte ihr die Kritik unter einer Oberfläche der Kälte einen existentiellen Hitzeglutkern, der einen in Bann zog. Für mich hatte sie eine Gelassenheit in ihrem Spiel erreicht, in der Kunst und Leben so ineinandergreifen, dass einem das eine wechselweise als die höchste Ausdrucksform des anderen erscheint. Beide Figuren waren Frauenfiguren in Männerdomänen, sogenannte starke Frauen, und mehr brauchte es nicht, um ihr in der öffentlichen Wahrnehmung auch selbst genau diese Rolle zuzuschreiben. Sie hatte ihre dunklen Phasen, wie Stephen es nannte, Zeiten, in denen sie die Ranch in Montana über Wochen nicht verlassen wollte, und sie hatte ihre Alkoholeskapaden, war dreimal auf Entzug und fing nur wenige Wochen danach wieder mit dem Trinken an, wurde einmal halb erfroren auf einer Parkbank gefunden, ging ein anderes Mal auf einen Polizisten los und steuerte schließlich ihren Jeep in den Wald, stieg jedoch unverletzt aus dem kaum mehr wiedererkennbaren Wrack.
Die Ehe hielt knappe drei Jahre, ich weiß nicht, ob die Affäre mit dem kanadischen Regisseur der Grund für die Trennung war, aber Xenia lebte fortan in Toronto, und obwohl ich weniger Nachrichten von ihr hatte, weil auch Stephen nichts weiter wusste, war das vielleicht die unsicherste Phase. Ich konnte mir an einem Tag einreden, dass sie einem neuen Mann die Geschichte von dem Unfall selbstverständlich erzählen würde, und war am nächsten Tag vom Gegenteil überzeugt, aber wie auch immer ich es drehen und wenden mochte, die Sache verfolgte mich bis in den Schlaf, und wenn es eine Zeit gab, in der ich ernsthaft überlegte, selbst den ersten Schritt zu tun und mich an die Behörden zu wenden, dann war es diese. Ich hätte nur zur Polizei gehen müssen und wäre von einem Augenblick auf den anderen von aller Unsicherheit befreit gewesen, aber dann stellte ich fest, dass die sich auch so auflöste. Denn mit jedem Tag, an dem nichts geschah, wurde dieser eine Ausfall in meinem Leben mehr und mehr zu einer Normalität, bis es gar nichts Besonderes zu sein schien, Beifahrer bei einem Unfall gewesen zu sein, bei dem eine Frau umgekommen war. Da brauchte es schon Luzies Fragen und ihr Nachhaken viele Jahre später, um das Vergangene wieder aufzuwirbeln und mir klar zu machen, dass ich mich an das Schlimmste in meinem Leben ganz einfach gewöhnt hatte und dass es vielleicht nicht einmal das Schlimmste gewesen war, weil ich dadurch auch wieder an Sagrario dachte und die schreckliche Situation vor dem Club in Juárez, in der ich meine Hände in ihrem Haar gehabt hatte und sie von einem Augenblick auf den anderen erstarrt war.
Ich erinnere mich noch an den Moment der Angst bei der ersten Wiedereinreise in Denver. Es war nicht lange nachdem Riccarda mich verlassen hatte, und nur meiner Aufgelöstheit geschuldet, ich wäre sonst wahrscheinlich auf lange Zeit hinaus nicht auf die Idee gekommen, das Land so schnell wieder zu betreten, und dennoch waren es immerhin mehr als fünf Jahre, die ich Stephen nicht mehr gesehen hatte. Die Sicherheitskontrollen waren seither auf eine Weise verschärft worden, dass ich mich von dem Einwanderungsbeamten durchschaut fühlte, als er mich aufforderte, zuerst den Daumen, dann die Finger der einen Hand und dann in der gleichen Reihenfolge die der anderen auf den Scanner zu legen, mich fotografierte und fragte, was der Grund meiner Reise sei.
Während ich mich verhaspelte, sah ich vor mir, wie ich die Leiche der verunglückten Frau in der Wüste von New Mexico hinter das Gebüsch am Straßenrand gezogen hatte, und natürlich gab es keinen Zweifel, dass ich dabei eine Vielzahl von Spuren hinterlassen haben musste. Dass ich ihre Finger mit Xenias Desinfektionsmittel abgewischt hatte, war nicht mehr als eine Übersprungshandlung gewesen, weil ich sie an ihren Lippen, ihren Händen, ihrem Parka, ihrem BH und womöglich sogar an ihrem Slip berührt hatte und überall auf ihrem Körper und auf ihrer Kleidung Hautabschilferungen von mir gefunden worden sein dürften. Es genügte meine DNA-Probe und eine entsprechende Datenbank, mit der sie abgeglichen werden konnte, und schon wäre ich mit einer lächerlichen Restunsicherheit von vielleicht eins zu hundert oder zweihundert Billionen überführt, und der Beamte brauchte mich nicht aus schierem Vorurteil anzustarren wie einen Ganoven, sondern er hätte sein Urteil und seinen Beweis, dass ich genau das war, was er sich von Anfang an von mir gedacht hatte.
Die Fahrt durch Colorado und das winterstarre Wyoming nach Montana gehört zum Erhabensten, was ich je erlebt hatte, und als ich Helena schließlich erreichte, wäre ich an Stephens Ranch am liebsten vorbeigefahren. Es war Anfang Dezember, die Temperaturen weit unter null, und der erste richtige Blizzard der Saison hatte die Prärie mit einer Schneeschicht bedeckt, die sich, vom Wind festgepresst, in dem diesigen und gleichzeitig sanften Licht Welle um Welle in alle Richtungen bis zum Horizont erstreckte. Wohin auch immer man sah, der Blick verlor sich in mindestens einem Dutzend Schattierungen von Weiß, gelblich hier, bläulich dort, die am Abend alle in ein einziges Schwarz flossen. Die Pflüge kamen mit dem Räumen nicht nach, und auf der Fahrbahn lag über viele Kilometer Schnee, weshalb es manchmal kaum schneller als im Schritttempo voranging und bei den weiten Entfernungen unmöglich schien, dass überhaupt jemand noch ein Ziel haben konnte. Ich war erst knapp eine Stunde unterwegs, als ich auf einen Truck stieß, der in den Straßengraben gerutscht war, und das wiederholte sich dann, mehrere Polizeiwagen mit flackernden Lichtern standen jeweils an der Stelle, ohne dass es so aussah, als ob etwas getan würde oder auch nur geschähe, im Gegenteil, es hätte von Mal zu Mal ein Bild für die Ewigkeit sein können.
Zweimal nahm ich ein Zimmer in einem Motel, und beide Male brauchte ich den Fernseher bloß anzumachen und hatte augenblicklich Dubya auf dem Bildschirm. Ich schaute ihm eine Weile bei ausgeschaltetem Ton beim Reden und Gestikulieren zu und war nicht mehr gerührt, sondern abgestoßen von seinem gehetzten Ausdruck. Drei Monate war es jetzt her, und er hatte immer noch sein Elfter-September-Gesicht und würde es wahrscheinlich zeit seines Lebens nie wieder verlieren. Das Überforderte seiner ganzen Existenz war unübersehbar, und er wirkte, als wollte er sich verkriechen, und preschte genau deswegen weiter und weiter vor, wie ich es von ihm schon kannte und wie es für mich längst ein Symbol dafür geworden war, dass die Welt nicht mehr die alte sein konnte. Es war sein erstes Jahr in Washington, und der mächtigste Mann auf dem Erdball schien nur darauf zu warten, dass hinter ihm zwei schwarzgekleidete Herren in Zylindern auftauchten, ihn abführten, in eine Kiesgrube brachten, ihn sich dort hinknien hießen und ihn mit einer auf seiner Schläfe aufgesetzten Pistole erschossen, ohne dass er je begriffen hätte, was er verbrochen hatte, aber er wusste, dass es etwas war, das zum Himmel schrie und sein Blut verlangte.
Stephen erwähnte Xenia nur bei der Begrüßung und sprach dann weder über sie noch über den Unfall. Das einzige, was auf der Ranch an sie erinnerte, war ausgerechnet ein Filmplakat, das uns alle zeigte, sie, ihn, Alma und mich, und auch William war darauf abgebildet. Über unseren Köpfen prangte der Titel SOUTH OF THE BORDER, und es hing vielleicht bloß deshalb überhaupt noch in der Gästetoilette, weil er diese selbst nie betrat und es schlichtweg nicht wusste. Denn sonst waren alle Spuren von Xenia beseitigt, und es gab auch keine andere Frau im Haus und keine Zeichen, dass es eine andere Frau in seinem ganzen Leben geben könnte.
»Du musst mit mir allein vorliebnehmen«, sagte er, als ich einen Tag später als geplant ankam. »Wie du weißt, ist mir meine Mrs O’Shea abhanden gekommen.«
Er versuchte ein Lachen, das zu einem Knurren verkam, und machte eine wegwischende Handbewegung vor seinem Gesicht.
»Ich habe schon gedacht, du wärest bei der Einreise festgenommen worden. Was ist los mit dir? Du hättest wenigstens anrufen können.«
Er hatte mir vor meinem Aufbruch am Telefon verkündet, es sei der erste Winter seit seiner Kindheit, den er ganz in Montana verbringen werde, und ich spielte jetzt darauf an.
»Du hast mir gesagt, du willst dich einschneien lassen«, sagte ich. »Ich wollte dich nicht unnötig stören.«
»Aber wenn sie dich wirklich festgenommen hätten?«
»In dem Fall hätte ich natürlich angerufen«, sagte ich. »Dann wärest du jetzt auf dem Weg nach Denver, um die Kaution zu hinterlegen und mich herauszuholen.«
Er verbarg nicht, wie sehr ihn das erheiterte.
»Bist du dir sicher?«
Dann lachte er richtig, und ich erwiderte sein Lachen.
»Ich bin mir ganz sicher.«
Darauf schwiegen wir, und an all den Tagen, die ich bei ihm verbrachte, ertappte ich ihn immer wieder dabei, wie er mich in einem Augenblick, in dem ich scheinbar nicht achtgab, zu taxieren versuchte, aber auch ich sah ihn daraufhin an, wie es um ihn stand. Es war kurz vor meinem fünfzigsten Geburtstag, seiner war ein paar Monate später, und wir waren noch zu jung dafür, uns gegenseitig auf die eigene Sterblichkeit abzutasten, doch ein Element davon hatte es, wenn auch ein wohlwollendes und nicht das triumphierende und schadenfrohe, das den wirklich Alten nachgesagt wird, die den anderen nicht früh genug in der Grube sehen können. Er hatte seit unseren Tagen in El Paso ganze drei Filme gedreht und kokettierte damit, dass er keine Angebote mehr bekam, aber die Wahrheit war wohl eher, dass er sich nicht darum riss. Wir machten weite Wanderungen auf Schneeschuhen, in die knöchellangen Pelzmäntel gehüllt, die er zu diesem Zweck auf der Ranch verwahrte, und mussten mit unseren Biberfellmützen auf dem Kopf einen ebenso lächerlichen wie vielleicht bedrohlichen Anblick abgeben, nur dass uns niemand so sah und wir auf dem weiten Gelände, das sein Eigentum war, auch keine Jäger zu fürchten hatten, die uns ins Visier nehmen konnten. Er bestand auf der Verkleidung, und als ich begriff, dass es nicht nur wegen der Kälte war, lehnte ich mich zuerst dagegen auf, fügte mich aber schnell, stapfte am Anfang trotzig, dann immer mutiger hinter ihm her und gewann der Vorstellung, wir könnten zwei Exemplare einer aussterbenden Tierart sein, immer mehr ab, wenn er auf einer Anhöhe stehenblieb und wartete, bis ich den Blick in die Ferne in mich aufgesogen hatte. Mich zu einem Ausritt auf den inzwischen geräumten Wegen überreden zu wollen, gab er schnell auf, aber er ritt bei Einbruch der Dunkelheit, wenn wir zurückkehrten, oft selbst noch aus, damit sein Pferd Bewegung bekam, immer noch der Wallach namens Clouds, und tauchte eine halbe oder dreiviertel Stunde später mit geröteten Wangen aus einer anderen Richtung wieder auf.
Im Kaminzimmer brannte zu jeder Tageszeit ein Feuer. Dort trug uns am Abend ein Bediensteter das Essen auf, und wir saßen danach noch in den Fauteuils und redeten, als ginge es beim Reden nur darum, Schweigen herzustellen, Stille. Dabei entspannte er sich um so mehr, je mehr er merkte, dass ich keine Fragen an ihn richten würde, mir ging es nicht anders, und so verblasen das auch klingen mochte, am Ende war ein solches Einvernehmen zwischen uns, dass jede Frage möglich gewesen wäre, aber keine mehr notwendig war. Ich blieb acht Tage auf der Ranch, und als ich am neunten Tag aufbrach, war es nur eine knappe Woche bis zum 21. Dezember, es schneite wieder, und Stephen montierte einen Pflug vor einen seiner Pick-ups und bahnte mir den Weg nach Helena, wo ich mich von ihm verabschiedete.
Nenn es nicht den Hauptteil,
und nenn es nicht
Der Tod und das Mädchen