6.
Larissa hatte ihrer Mutter versprochen, die gesamten Semesterferien bei ihr zu bleiben, bis der Verkauf von Großvater Hugos Villa abgewickelt war. Schließlich konnte und wollte sie ihrer Mutter nicht die ganze Arbeit allein überlassen, vor allem, weil sie die Villa nur ungern betrat.
Als es auch am nächsten Tag wie aus Kübeln schüttete, entschieden sie sich für eine erste Sichtung der persönlichen Gegenstände in der Villa. Nachdem sie im Baumarkt zwei Dutzend Umzugskartons und Säcke geordert hatten, fuhren sie zum Haus. Als Larissa den Wagen vor der Villa parkte, sah sie Christa Gerber am Fenster, die sie beobachtete. Sie hob die Hand zum Gruß und verließ ihren Posten. Kurz darauf trat sie aus der Haustür, spannte einen Schirm auf und eilte zu ihnen, als sie gerade ausstiegen.
»Hallo, ihr beiden, vielleicht braucht ihr noch ein Paar Hände, die euch helfen«, schlug sie lächelnd vor. Larissa bemerkte, wie sehr sich ihre Mutter über Christas Angebot freute.
»Das ist wirklich sehr nett von Ihnen«, antwortete Larissa.
Die Nachbarin folgte ihnen ins Haus, wo sie die großzügige Diele mit dem weißen Marmorfußboden empfing. Wie von Zauberhand flammte das Deckenlicht auf. Ihr Großvater hatte darauf Wert gelegt, dass alles so komfortabel wie möglich war. Auf der glattpolierten Oberfläche des Steinfußbodens spiegelten sich die Lichter des Deckenleuchters. Sie spannten ihre Regenschirme zum Trocknen neben der Haustür auf. Ihre Schritte hallten von Wänden und Decke wider.
Larissa blieb stehen und ließ den Blick umherschweifen. Immerhin lag ihr letzter Besuch bereits eine halbe Ewigkeit zurück. Doch nichts schien sich verändert zu haben. Die gleichen weißen Wände, weißen Böden und Decken. Auch die wenigen Dekorationsgegenstände waren in der Lieblingsfarbe ihres Großvaters. »Weil Weiß die Unschuld verkörpert«, hatte er immer
gesagt. Weiß, Unschuld … Unwillkürlich musste sie an seine Worte auf dem Sterbebett denken, wo er vom Gegenteil gesprochen hatte. Es war nur intuitiv, aber sie glaubte, dass es einen Zusammenhang zwischen beidem geben könnte. Ihr Bauchgefühl hatte sie noch nie getrogen.
Obwohl Larissa früher öfter hier gewesen war, sah sie die Villa an diesem Tag mit anderen Augen. Kein zerdrücktes Kissen, kein Krümel auf der Erde, kein Staubkorn waren zu sehen. Die Villa glich eher einem Museum als einem bewohnten Haus und strahlte Kälte aus. Es fehlte Schnickschnack hier und da, die persönliche Note.
Das Haus ihrer Mutter hingegen bildete einen krassen Kontrast. Es gab überall etwas zu entdecken, weil allerlei Trödel das Haus bewohnte. Ella fand, dass jeder Gegenstand auf seine Art interessant war. Und sie kannte zu jedem Möbel eine Geschichte. Über ihrem Bett baumelten gleich ein halbes Dutzend Traumfänger, die sie von einer Reise aus Arizona mitgebracht hatte.
Larissa hatte als Kind und Jugendliche nie über die Einrichtung der Villa nachgedacht, weil es ihr nicht wichtig erschien. Sie schaute durch die Tür ins Wohnzimmer mit der weißen Ledercouch vor dem Kamin. Auch die restlichen Möbel waren in Weiß gehalten und mit lindgrünen Gardinen und Tischdecken farblich aufgepeppt. Auf viele wirkte das Haus hell und freundlich. Für Larissas Geschmack jedoch steril. Wie passte das nur mit dem Bäckerladen zusammen? Es schien, als hätte ihr Großvater eine klare Grenze zwischen Beruf und Privatleben gezogen. Während er es beruflich eher antik und traditionell mochte, dominierten in seinem privaten Bereich klare Konturen und helle Farben. In den Vitrinen und Regalen war keinerlei Nippes zu finden. Alles hatte er nach Großmutters Tod entfernen lassen. In den Dielenwänden eingelassene Nischen beherbergten Marmorbüsten von Persönlichkeiten, die ihr Großvater verehrt hatte, von Schiller und Diesel über Planck bis Einstein. Alle waren auf seinen Wunsch nach Originalvorlagen von einem Bildhauer angefertigt worden.
Ihr Großvater hatte nach dem Tod seiner Frau oft Gäste eingeladen. Larissa konnte ihn verstehen, in der Einsamkeit war ihm wahrscheinlich die Decke auf den Kopf gefallen. Aber verstehen konnte sie auch, dass ihre Mutter ihn nicht besucht hatte, die sich in
der häuslichen Umgebung nach dem viel zu frühen Tod der Großmutter vermutlich unwohl gefühlt hatte.
»Er hat es doch tatsächlich hingehängt. Das hätte ich nie gedacht!« Ihre Mutter deutete mit dem Kinn auf ein Landschaftsgemälde an der Wand neben der Treppe, das wie ein Fremdkörper neben denen mit moderner Kunst wirkte.
»Was ist denn mit dem Bild?«, fragte Christa neugierig und stellte sich neben sie.
»Das Gemälde war ein Zankapfel. Meine Mutter hatte es auf einer Auktion ersteigert. Sie war so glücklich darüber. Mein Vater aber hat es gehasst. Er wollte sogar, dass sie es zurückbringt. Ein Wort gab das andere, bis meine Mutter es schließlich heimlich auf den Dachboden gebracht hat. Trennen konnte sie sich davon nie. Ich erinnere mich noch, dass sie ihn kurz vor ihrem Tod gebeten hat, es in ihrem Zimmer aufzuhängen. Hat er nicht gemacht, und jetzt hängt es hier in der Diele. Ich finde es wirklich wunderschön und möchte es eigentlich nicht verkaufen. Was meint ihr?«
Christa nickte. »Ja, das Gemälde hat schon was …« Sie nickte anerkennend.
Angezogen von der wiedergegebenen Stimmung des Gemäldes ging Larissa darauf zu, um es sich aus der Nähe anzusehen. Das herrschaftliche Haus mit dem malerischen Garten faszinierte sie auf Anhieb. Diese Ausstrahlung, diese Stimmung. Sie konnte ihre Großmutter verstehen, dass sie in das Bild vernarrt gewesen war. Summertime 89
stand auf dem kleinen Messingtäfelchen, das neben dem Bild hing.
Larissa konnte sich an diesem Gemälde nicht sattsehen. Es war ein Haus aus gelblichem Sandstein. Säulen über einer Tür trugen einen halbrunden Balkon. Zweigeteilte Sprossenfenster komplettierten den Anblick eines britischen Landsitzes. Üppige Stauden in Rosa- und Lilatönen blühten in den Beeten vor dem Haus, weiße Rosen setzten Akzente. Das Sonnenlicht ließ es golden schimmern. Summertime
. Der Titel gab die Stimmung wieder, sodass sie fast den süßen Geruch der Blumen riechen und das Summen der Bienen zwischen den Blüten hören konnte.
Larissa kniff die Augen zusammen und streckte den Kopf vor, um noch mehr Details auf der Leinwand zu entdecken. Sie erkannte eine
Bank unter der mit Clematis berankten Pergola, auf der zwei Frauen in ein Gespräch vertieft saßen. Vor ihnen auf einem runden Tischchen standen zwei Gläser und eine Karaffe, die mit einer gelben Flüssigkeit gefüllt waren. Vielleicht Zitronenlimonade, denn am Glasrand steckte eine Zitronenscheibe. Die beiden Frauen trugen hochgeschlossene, helle Spitzenblusen, knöchellange Röcke und die Haare altmodisch hochgesteckt. Der Kleidung nach konnte es sich unmöglich um das zwanzigste Jahrhundert handeln. Larissa tippte eher auf das Jahr 1889. Eine von ihnen fächerte sich Luft zu, während die andere sich mit einem Tuch abtupfte. Man konnte fast die Hitze fühlen.
»Larissa?« Die Stimme ihrer Mutter zerstörte den Bann.
»Ja?« Larissa wandte sich um.
Ihre Mutter trat aus Großvaters Küche und starrte auf das Gemälde.
»Ist das nicht toll?«, fragte Larissa und lächelte versonnen. »Weißt du zufällig, wer es gemalt hat?«
»Keine Ahnung. Irgendein unbekannter britischer Künstler. Deiner Oma war das nicht so wichtig, auch wenn sie in das Bild vernarrt gewesen ist. Ich muss zugeben, dass es sich um ein Meisterwerk handelt. Schau doch nur die Pinselstriche … einfach perfekt. Findest du nicht?« Sie zog mit dem Finger eine imaginäre Linie nach. »Diese Linienführung kriegt nur ein Könner hin. Ich wünschte, ich würde diese Technik auch so beherrschen«, sagte sie seufzend.
»Aber Mama, du malst doch toll. Schau mich an, ich kann außer Strichmännchen zeichnen gar nichts«, antwortete Larissa lächelnd.
»Na, es kann ja nicht jeder ein berühmter Maler oder eine Malerin werden«, gab Christa ihren Senf dazu.
Ihre Mutter beugte sich noch einmal zum Gemälde vor, nahm die Brille aus ihrer Hosentasche und betrachtete es.
»Lichthelle Landschaftsaufnahmen … dramatische Lichteffekte wie Dürer oder atmosphärische Szenerien wie Lorrain … Das konnten nur wenige Meister der Romantik aus dem neunzehnten Jahrhundert, wie Manet oder …« Ihre Mutter stockte und schien plötzlich zu grübeln. »Diese realistischen Darstellungen eines englischen Künstlers … das könnte Turner gewesen sein. Joseph
Mallord William Turner. Ich habe während meines Studiums über ihn und seine Gemälde recherchiert.«
»Du meinst, Oma könnte einen echten Turner ersteigert haben?«, fragte Larissa und spürte vor lauter Aufregung ein Kribbeln im Bauch.
»Na, das muss ja ein Vermögen wert sein«, warf Christa ein.
»Wenn die 89
eine Jahreszahl ist, dann ist es nicht von Turner. Der hat 1889 nicht mehr gelebt«, sagte Ella. »Vielleicht ist es von jemandem, der ein großer Bewunderer seiner Kunst gewesen ist und es nachgeahmt hat. Auf jeden Fall ist der Schöpfer dieses Gemäldes ein Ausnahmetalent.«
Das konnte ihre Mutter beurteilen, weil sie während ihres Studiums von einem bekannten Maler unterrichtet worden war und im Gremium des hiesigen Kunstvereins saß.
Das Einzige, was Larissa jetzt noch einfiel, war, das Gemälde abzunehmen und auf den Rücken zu schauen, ob ihre Mutter richtiglag. Vielleicht würde sie einen Hinweis auf den Künstler finden.
Wider Erwarten hatte sich der Maler aber auch auf der Rückseite nicht mit einer Signatur darauf verewigt.
»Und?«, fragten ihre Mutter und Christa gleichzeitig und starrten sie neugierig an.
»Nichts, kein Hinweis. Nichts.«
»Vielleicht ist es gar nicht so viel wert gewesen, wie Angelika dafür bezahlt hat«, mutmaßte Christa. »Könnte doch sein«, schob sie nach, als Larissa und ihre Mutter sie vorwurfsvoll anblickten.
»Ja, schon möglich«, gab ihre Mutter zu.
Beim Wiederaufhängen entdeckte Larissa in der Rockfalte einer der Frauen tatsächlich eine Jahreszahl. Die würde Christas Vermutung sicher unterstützen.