19.
Der Abend war lau, weshalb Rowan sich entschieden hatte mit Holly noch einen Spaziergang zu unternehmen. Er hatte oft viel zu wenig Zeit für seine Golden-Retriever-Hündin und deshalb ein schlechtes Gewissen. Die Sonne stand bereits tief am Horizont, als er vom Hotel in Richtung Klippen aufbrach. Er wollte Col besuchen, getrieben von seiner Neugier. Der Künstler arbeitete an einer Skulptur, die Rowan bei ihm für den Hotelgarten in Auftrag gegeben hatte. Brav trabte Holly neben ihm her. Hin und wieder blieb sie stehen, um an etwas zu schnüffeln. Rowan schritt unbeirrt den Coastway entlang, der am Rande der Klippen verlief. Rechts unterhalb hörte er das Rollen der Wellen gegen die zerklüfteten Felsen und das Schäumen der Gischt. In der Dämmerung schallte noch immer das Geschrei der Seevögel vom Bass Rock herüber. Erst wenn es dunkel war, verstummte es. Am Horizont erkannte er die Umrisse eines Segelschiffs. Sicher war es eines der Ausflugsschiffe für Touren auf den Spuren der Wikinger, die bei seinen Gästen sehr beliebt waren. Ein von der Wikingerzeit begeisterter Historienclub hatte eine Knorr nachgebaut und bot Törns darauf an.
Kurz danach erreichte er Cols Haus auf dem Klippenvorsprung. Aber es war verwaist. Er linste durchs Fenster. Dort stand die Skulptur, jedoch von weißem Tuch verhüllt. Schade. Zu gern hätte er einen Blick darauf geworfen. Wo steckte Col nur? Dann erinnerte er sich, dass sein Freund ihm erzählt hatte, ein Stück weiter hätte er einen besseren Blick auf Bass Rock, das er malen wollte. Doch auch dort war Col nicht. Enttäuscht trat Rowan den Rückweg an. Plötzlich stürmte Holly davon.
»Holly!«, rief er. »Holly, komm zurück! Holly, Fuß!« Aber die Hündin kehrte nicht um. Das entsprach so gar nicht ihrer Art. Sie hatte sich noch nie weiter als zehn Meter entfernt. Das bereitete ihm Sorge.
»Verdammt!«, fluchte er. Im Dunkeln nach dem Hund zu suchen, hatte ihm gerade noch gefehlt. Inzwischen war auch noch der Mond hinter einer Wolke verschwunden. Holly kannte sich hier oben zwar aus, dennoch konnte es auch für sie gefährlich werden allein in der Dunkelheit. Er hätte sie anleinen sollen. So könnte sie einem Tier nachjagen und hinabstürzen. Und ich bin schuld an dem Desaster! Er könnte es sich nicht verzeihen, wenn dem Hund etwas zustieße. Als ihm der kalte Wind entgegenblies, stellte er den Kragen auf und stapfte weiter.
»Holly!«, rief er. Er war wütend auf die Hündin, die ihm den Gehorsam verweigerte, aber vor allem auf sich selbst. Zu allem Unglück hatte Rowan keine Taschenlampe mitgenommen. Rowan lief voran, stets darauf bedacht, den Pfad nicht zu verlassen. Er lauschte auf jedes Geräusch.
Nach einiger Zeit, inzwischen war es stockfinster, hörte er Holly knurren, nur wenige Meter vor ihm. Er wollte sie gerade rufen, als die Hündin von allein zu ihm zurückkehrte. Als er sich bückte, um sie am Halsband zu greifen, prallte er mit jemandem zusammen. Er gab einen überraschten Laut von sich. Der schmalen Statur nach handelte es sich um eine Frau.
»Großer Gott! Was treiben Sie sich hier oben in der Dunkelheit herum?«, blaffte er sie an.
»Das Gleiche könnte ich Sie auch fragen.« Als sie das sagte, kam der Mond wieder hinter der Wolke hervor, und er sah, wie sie den Arm ausstreckte. »Halten Sie mir bloß den Hund vom Leib! Der wollte mich anfallen!«, rief sie mit zittriger Stimme, dass Rowan sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte.
»Holly, sitz!«, befahl er seiner Hündin, die diesmal brav seinem Befehl folgte und sich neben ihn setzte.
»Keine Angst, Holly beißt nicht. Sie ist ein sehr freundlicher Hund«, verteidigte er Holly und fasste in deren Halsband.
»Na, das habe ich gemerkt, so wie der mich angeknurrt hat.« Die Frau klang verärgert. Jetzt bückte sie sich.
»Haben Sie vielleicht eine Taschenlampe oder ein Handy mit?«, fragte sie ihn.
»Leider kann ich nicht damit dienen.« Er sah nicht, was sie machte, weil der Mond wieder hinter einer Wolke verschwunden war, hörte aber ein Scharren. »Suchen Sie was?«
»Ja, verdammt. Mein Handy. Ich bin vorhin gestolpert und habe es hier irgendwo verloren.«
»Ich glaube, da müssen Sie Ihre Suche auf morgen verschieben. In der Finsternis werden Sie nichts finden. Sind Sie ein Gast des Hotels?«, fragte Rowan. Sie sprach mit einem leichten Akzent, den er nicht einordnen konnte.
»Nein, ich habe nur einen Spaziergang unternommen und bin von der Dunkelheit überrascht worden.«
Diese Begründung hatte er von seinen Gästen oft gehört. Wieder schmunzelte er.
»Kommen Sie, nehmen Sie meinen Arm, ich kenne mich hier aus und führe Sie zum Hotel zurück. Dort rufen wir Ihnen ein Taxi.« Er tastete nach ihr und ergriff sanft ihren Arm.
»Holly tut Ihnen nichts, vertrauen Sie mir.«
Einen Moment lang zögerte sie noch, bevor sie an seine Seite trat und zuließ, dass er ihren Arm in seinen legte. Deutlich spürte er, wie sehr sie zitterte. Gemeinsam liefen sie den Pfad zurück.
»Sie sind keine Waliserin?«, fragte er.
»Nein, ich komme aus Deutschland.« Sie lachte leise.
»Süden oder Norden?«, bohrte er weiter.
»Aus Oldenburg, um genau zu sein.«
»Das ist im Norden«, stellte er fest. Seine Schwester Rachel hatte vor drei Jahren Norddeutschland bereist und euphorisch von den Städten dort berichtet. Auch von Oldenburg. Der Name war ihm seltsamerweise im Gedächtnis geblieben.
»Sind Sie schon einmal dort gewesen?« Er hörte Neugier aus ihrer Frage heraus.
»Nein, ich bin noch nicht in Deutschland gewesen. Sie machen hier Urlaub?«, lenkte er auf ein anderes Thema. Rowan sprach nicht gern über sich und seine Familie.
»So was Ähnliches. Ich habe gerade Semesterferien und recherchiere.«
Recherche? Es hörte sich interessant an.
»Was recherchieren Sie? Studieren Sie vielleicht Geschichte?«
Der Druck ihrer Hand auf seinem Arm wurde unerwartet stärker.
»Nein, ich recherchiere in einer Familienangelegenheit.«
Rowan kannte diese Antwort. Nicht schon wieder eine Deutsche, die glaubte, britische Wurzeln zu besitzen und Ansprüche zu erheben. Früher hatten viele Deutsche in Großbritannien nach ihren Vätern gesucht. Auch in seiner Familie.
Vor einigen Jahren war plötzlich eine junge Frau aus Deutschland aufgetaucht und hatte behauptet, sein Vater wäre auch der ihre. Sein Vater war tatsächlich in Deutschland für eine Zeit lang zur Weiterbildung gewesen. Vehement hatte er eine Affäre abgestritten. Ein Vaterschaftstest schließlich bewies die Lüge der jungen Frau. Die Behauptung hatte die gesamte Familie belastet. Fast wäre die Ehe seiner Eltern daran zerbrochen. Seitdem reagierte Rowan äußerst sensibel auf dieses Thema. Er kannte seine Begleitung nicht, aber immerhin wirkte sie offen und ehrlich.
»Suchen Sie hier in Schottland etwa Ihren britischen Großvater?«, fragte er trotzdem leicht spöttisch.
»Nein, nein. Ich suche nach jemandem, der mit meiner Familie befreundet gewesen ist und auf Morham Manor gewohnt hat. Ich habe Briefe gefunden mit dem Absender des Herrenhauses.«
»Morham Manor stand viele Jahre leer …«, antwortete er.
»War denn das Herrenhaus nach dem Krieg unbewohnt?«
Was bezweckte sie nur mit ihrer Fragerei? Aber ihre Beharrlichkeit gefiel ihm.
»Die meiste Zeit. Dazwischen wurde es von karitativen Institutionen für alle möglichen Zwecke genutzt.«
»Hm.« Es klang enttäuscht. »Auch während der Nachkriegszeit?«
Hatte sie ihn angelogen und suchte sie doch nach ihrem angeblichen Großvater wie viele vor ihr?
»Bis zu seinem Tod 1956 wohnte auf Morham Manor der letzte Earl of Keith. Der hatte zwar einen Sohn, aber der galt als verschollen und konnte sein Erbe nicht antreten. Seitdem hat das Herrenhaus wechselhafte Zeiten hinter sich. Vielleicht hat sich die Schreiberin oder der Schreiber nur wichtigmachen wollen. Immerhin macht sich eine noble Adresse auf einem Briefkuvert besser als eine x-beliebige.«
Seine Begleitung zuckte leicht zusammen, dennoch so, dass er es bemerkte.
»Ich glaube nicht, dass er sich wichtigmachen wollte, wie Sie behaupten. Es muss noch jemand auf Morham Manor gewohnt haben.«
Aha, sie sprach also von einem Mann. Wenn sie nicht nach einem vermeintlichen Vorfahren suchte, was interessierte sie dann der Verfasser der Briefe? Irgendetwas stimmte hier nicht.
Rowan rollte mit den Augen und war froh, dass sie es nicht sehen konnte.
»Das Herrenhaus wurde wie gesagt vielfältig genutzt für Kinderbetreuung, als Heilanstalt und vieles mehr, aber nicht privat.«
»Sind Sie sicher?« Sie stellte seine Erklärung tatsächlich infrage.
»Vertrauen Sie mir, ich weiß es eben«, antwortete er und hoffte, dass sie das Fragen aufgeben würde. Er wollte mehr über sie wissen.
»Nichts für ungut, aber ich möchte doch lieber den Earl of Keith selbst fragen. Als Eigentümer weiß er sicher alles über sein Anwesen«, antwortete sie bestimmt.
Fast hätte Rowan losgelacht.
»Deshalb wollen Sie den Earl aufsuchen?«, fragte er leicht belustigt.
Zielstrebig ist sie ja.
»Ja, warum denn nicht? Selbst wenn er es selbst nicht weiß, kann er mir vielleicht weiterhelfen. Mit einer Chronik oder anderen Aufzeichnungen oder so.«
Wieder schmunzelte Rowan. »Das glaube ich nicht«, erwiderte er.
»So? Ist er so ein adliger Snob, dass er mich für ein Gespräch nicht empfangen würde?«
Sie scheint sich ja bereits ein festes Bild von mir gemacht zu haben, ohne mich zu kennen.
Er war schon manches Mal kritisiert worden, aber niemand hatte ihm bislang vorgeworfen, ein Snob zu sein.
Bevor er antworten konnte, erreichten sie sein Hotel.
»Wir sind da«, sagte er. Holly bellte freudig, wie immer, wenn sie nach Hause zurückkehrten. Rowan ließ ihr Halsband los, und die Hündin flitzte sofort zur Hotelterrasse, wo ein Napf mit Wasser stand.
»Ich dachte nicht, dass ich einmal so über den Anblick eines Hotels erleichtert sein würde«, bemerkte seine Begleiterin. »Es ist ein prachtvolles Hotel. Ich habe immer davon geträumt in solch einem zu arbeiten. Aber man kann eben nicht alles haben.«
»Es freut mich, dass es Ihnen gefällt.«
Unter der Gartenlaterne blieb er stehen und wandte sich zu ihr um. Im Lichtschein konnte er ihr Gesicht erkennen. Es war schmal, mit hohen Wangenknochen, dunklen Augen und einem herzförmigen Mund, der zum Küssen einlud. Seine Begleiterin war sehr schlank und wirkte fast zerbrechlich. Sie war keine klassische Schönheit wie Brenda, aber ihre Ausstrahlung nahm ihn gefangen. Ihr Gesicht kam ihm seltsam vertraut vor. Im Hotel begegnete er vielen Menschen. Wahrscheinlich erinnerte sie ihn an einen Gast.
»Danke, dass Sie mich gerettet haben. Entschuldigung, ich habe mich Ihnen noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Larissa Gottwald.« Sie reichte ihm die Hand, eiskalt und zitternd. Ihr Händedruck war überraschend fest.
»Ich bin Rowan Ruglen, Earl of Keith«, stellte er sich vor.
Ihre Augen weiteten sich vor Erstaunen.
»Sie … Sie sind der Earl of Keith? Warum haben Sie das denn nicht gleich gesagt?« Ärger schwang in ihrer Stimme mit.
»Wissen Sie, ich habe die Erfahrung gemacht, dass es besser ist, nicht jedem gleich auf die Nase zu binden, wer man ist«, erklärte er ihr.
»Keine Sorge, ich möchte nichts von Ihnen … außer Antworten auf meine Fragen.« Sie winkte ab.
»Schade«, entfuhr es ihm. Was war nur in ihn gefahren?
Er bemerkte, wie sie sich versteifte. Selbstbewusst reckte sie ihr Kinn in die Höhe und musterte ihn.
War es ein Schatten, oder lag Röte auf ihren Wangen?
Ihr Blick verwirrte ihn. Es lag etwas Geheimnisvolles darin …