24.
Die Schweizer Delegation würde schon eine Woche früher als geplant in Morham Manor eintreffen. Es galt noch vieles dafür vorzubereiten. Er schaute zum Fenster hinaus, wo über dem Klippengrat gerade die Sonne aufging. Es war ein klarer Morgen, die Luft war lau, und es roch nach Salz und Heideblüten. Heute war sein Terminkalender vollgepackt. Ein Spaziergang an der frischen Luft, bevor eine Besprechung die andere jagte, würde ihm sicher guttun. Holly musste sowieso hinaus. Oft blieb ihm viel zu wenig Zeit fürs Gassigehen. Meistens musste er schweren Herzens diese Aufgabe an einen seiner Mitarbeiter delegieren.
Als hätte Holly sein Vorhaben geahnt, kam sie mit der Leine im Maul angerannt und ließ sie vor seine Füße fallen, bevor sie erwartungsvoll zu ihm aufschaute.
Wie könnte ich diesem flehenden Blick aus samtbraunen Augen widerstehen?
»Eins zu null für dich, Holly.« Liebevoll tätschelte er sie. Rowan lief zur Tür, und Holly folgte ihm schwanzwedelnd.
»Auf geht’s«, forderte er sie auf. Kaum hatte er die Tür geöffnet, stürmte sie nach draußen.
Auf dem Spaziergang genoss Rowan die Morgenstimmung von Morham Manor. Kein Motorengeräusch, kein Flugzeug, das über ihm kreiste, er wurde nur vom Gesang der Singvögel begleitet. Die Blumen hatten bereits mit dem ersten Sonnenstrahl ihre Blütenköpfe geöffnet und verströmten einen süßlichen Duft, der sich mit dem Geruch feuchter Erde vermischte. Das leise Plätschern des Springbrunnens besaß etwas Beruhigendes. Keine Wolke war am Himmel zu sehen, und es war windstiller als sonst, dass man in der Ferne das Rollen der Brandung hören konnte. Beschwingt von den Eindrücken der Natur nahm er sich vor, Col noch einen kurzen Besuch abzustatten.
Holly lief voraus, als gäbe es keinen steilen Anstieg, die Nase stets
am Boden. Der Weg wand sich in leichten Kurven bis zum Klippengrat hinauf. Hinter der nächsten Biegung verschwand die Hündin aus seinem Blickfeld.
Rowan pfiff nach ihr, aber sie kehrte nicht zurück.
»Holly!«, rief er.
Als er sie weder sah noch hörte, fluchte er. »Wo zum Teufel steckt dieser Hund?«
Er warf sich vor, sich nicht genügend Zeit für die Erziehung seiner Hündin genommen zu haben, und war fest entschlossen, es ab sofort zu ändern. Wütend stapfte er voran. Plötzlich ertönte ein Schrei, nicht weit vor ihm. Rowan nahm den Anstieg und erreichte atemlos den Grat.
Holly saß winselnd neben einer Gestalt, die bäuchlings ausgestreckt auf dem Boden lag und ein geblümtes Sommerkleid trug.
Mit wenigen Schritten war er bei ihr und hockte sich besorgt neben sie.
»Sind Sie verletzt? Darf ich Ihnen aufhelfen?«, fragte er, als sie sich aufrichtete. Sanft umfasste er ihren Ellbogen, um ihr behilflich zu sein, während er seiner Hündin einen wütenden Blick zuwarf.
Aber sie schüttelte seine Hand ab und erhob sich allein. »Ich bin über Ihren Hund gefallen! Der hat es wohl auf mich abgesehen«, kam es vorwurfsvoll zurück. Rowan stutzte. Larissa Gottwald.
»Miss Gottwald? Es tut mir leid. Holly ist manchmal sehr stürmisch«, sagte er mitfühlend.
»Stürmisch? Ich glaube vielmehr, dass Ihr Hund unerzogen ist, denn er pellt sich ein Ei darauf, wenn Sie ihn zurückrufen, geschweige denn pfeifen! Das Tier hat meinen Arm beleckt. Haben Sie bitte ein Taschentuch für mich?« Vorwurfsvoll deutete sie auf ihren bloßen Arm, der feucht glänzte.
Larissas hübscher Mund war vor Ärger zusammengekniffen. Es ärgerte Rowan, dass sie Holly allein für diesen kleinen Unfall verantwortlich machte.
»Haben Sie Holly denn nicht gesehen?«, fragte er. Immerhin gehörte ein Golden Retriever nicht gerade zu den kleinen Rassen.
»Nein, ich habe hinten im Kopf keine Augen. Und als ich mich umgedreht habe, war es zu spät. Außerdem dachte ich, zu dieser
frühen Stunde allein hier oben zu sein.«
Sie hat recht, ich habe Holly nicht unter Kontrolle.
Vielleicht hätte er das sogar zugegeben, wenn Larissa ihn nicht angeblafft hätte.
»Was wollten Sie denn zu so früh da oben auf dem Klippengrat, noch dazu allein?«, fragte er.
»Vermutlich das Gleiche wie Sie. Spazieren gehen. Das ist doch wohl nicht verboten? Warum haben Sie Ihren Hund denn nicht angeleint, obwohl Sie die Leine dabeihaben?« Sie deutete auf die Hundeleine, die um seinen Nacken baumelte.
Touché.
»Holly liebt die Freiheit und normalerweise hört sie auch …« Er sah zu seiner Hündin, die noch immer neben Larissa saß, als müsse sie sie beschützen.
»Aber sie scheint Sie wirklich zu mögen, sonst wäre sie längst zu mir zurückgekommen.«
Holly saß zwischen ihnen und blickte beide unschuldig an.
Seufzend sah Larissa an sich herunter. Es war zwar kein Matsch, aber auf ihrem hellen Sommerkleid waren grüne Flecken zu sehen.
»Schauen Sie sich das an. So kann ich doch nicht ins Büro.« Ihre Stimme vibrierte vor Ärger. Larissa versuchte vergeblich, die Flecken mit einem Tuch und Spucke herauszureiben.
»Ich sagte doch, es tut mir leid. Selbstverständlich gestatte ich Ihnen, nach Hause zu gehen und sich dort umzuziehen«, schlug er vor.
»Der Tag fängt ja schon gut an.« Larissa schnaubte.
Rowan verkniff sich ein Grinsen.
»Wenn Sie sich wegen Miss Baillie Sorgen machen … Ich rede mit ihr. Für die Reinigung Ihres Kleides komme ich selbstverständlich auf.«
Larissa schaute auf seine Hündin herab. »Man kann dir ja nicht böse sein«, sprach sie zu dem Tier. Zögerlich streckte sie den Arm aus und strich Holly über den Kopf. Die Hündin genoss sichtlich die Streicheleinheit.
»Ich begleite Sie. Ich könnte es nicht verantworten, wenn Sie noch einmal stürzen würden.«
Er reichte ihr den Arm zum Unterhaken. Nur zögernd kam sie der
Aufforderung nach.
»Ich lasse Ihnen ein Taxi rufen, das Sie zur Pension der Dunns bringt und zurück.«
Die Haut auf seinem Arm brannte an der Stelle, auf der ihre Hand ruhte. Sie roch angenehm nach frischer Rosenseife und einem blumigen Parfüm.
»Das ist wirklich sehr freundlich von Ihnen, Mylord, aber ich gehe lieber zu Fuß.«
Sie ist sauer auf mich und geht auf Distanz.
»Ich muss leider auf dem Taxi bestehen, das ist das Mindeste, was ich für Sie tun kann. Außerdem wären Sie viel zu lange unterwegs.«
»Sie haben gewonnen, ich nehme das Taxi.«
Eine Weile folgten sie schweigend dem Pfad zum Hotel. Holly lief mit gesenktem Kopf neben ihnen her, als plage sie das schlechte Gewissen.
»Oben auf den Klippen steht doch dieses windschiefe Haus. Ich habe von den anderen gehört, dass dort seit Jahren jeden Sommer ein Künstler wohnt. Einige seiner Radierungen hängen in Ihrem Hotel. Kennen Sie ihn näher?«
»Nur flüchtig«, log er. »Was ist denn mit ihm?«
Col hatte ihn darum gebeten, nichts über ihn zu erzählen, nachdem einige Touristen zum Haus auf den Klippen aufgestiegen waren, um ihn wie ein Zootier anzustarren. Sein Freund hatte ein Recht auf seine Privatsphäre.
»Ich wollte heute mit ihm sprechen, aber er war sehr abweisend.«
Rowan atmete auf. »Kauzig trifft es doch wohl eher. Er ist schon über achtzig Jahre alt und lebt sehr zurückgezogen. Da werden manche Menschen wunderlich.«
»Trotzdem schlägt man keinem die Tür vor der Nase zu«, beschwerte sie sich.
Typisch Col.
»Darf ich wissen, was Sie von ihm wollten?«
»Mrs Dunn meinte, er würde schon viele Jahre im Sommer da oben wohnen. Ich forsche nach einem Mann aus East Morham, oder genauer gesagt hat er auf Morham Manor gelebt. Eine Zeit lang war er Besatzungssoldat in meiner Heimatstadt gewesen. Er hieß Gordon
Hamilton oder vielleicht auch Gordon H. Colomb. Ich dachte, wenn der Maler so viele Sommer hier verbracht hat, kannte er ihn vielleicht. Darum habe ich ihn gefragt.«
Rowan hatte diesen Namen schon einmal gehört. Vor einer halben Ewigkeit.
»Was hatte er mit Ihrer Familie zu tun?«, hakte er nach.
»Darüber möchte ich jetzt nicht reden«, antwortete sie.
Er hätte zwar gern mehr erfahren, aber er spürte, dass es keinen Sinn hatte, weiterzubohren.
Briefe, die Suche nach dem Schreiber … das hatte den Anschein einer unerfüllten Liebe. Seine Gedanken schweiften ab zu Col, der nur selten über seine Empfindungen sprach. War sein Freund vielleicht verbittert durch einen ähnlichen Schicksalsschlag?
Im selben Augenblick meldete sich die Rezeption telefonisch, dass das Taxi vorgefahren sei.
»Ihr Taxi ist da. Es wartet am Personaleingang«, teilte er Larissa mit.
»Danke«, antwortete sie und lächelte ihn an.
Durchs Fenster beobachtete er, wie sie wenig später einstieg.
Larissa hatte ihn zum Grübeln gebracht.
Nachdem Larissa gefahren war, ließ er Miss Baillie eine Nachricht zukommen, dass sich die neue Mitarbeiterin verspäten würde. Dann begab er sich in sein Büro. Auf seinem Schreibtisch türmten sich Verträge, Briefe und Anfragen. Während er ein Schriftstück nach dem anderen vom Stapel zog, musste er an die erneute Begegnung mit Larissa Gottwald denken. Er mochte ihr Lächeln, denn dann lag jedes Mal ein Strahlen in ihren Augen. Jede Berührung von ihr löste in ihm ungeahnte Gefühle aus, wie er sie schon lange nicht mehr gespürt hatte. Was Frauen anbetraf, war er weiß Gott nicht unerfahren, aber keine von ihnen hatte in ihm das ausgelöst. Jede seiner Freundinnen war wie ein offenes Buch gewesen. Nur Larissa umgab etwas Geheimnisvolles. Da lag etwas in ihrem Blick, das er nicht zu deuten vermochte. Es reizte ihn besonders, ihr Geheimnis zu entdecken. Holly hatte Larissa längst ins Herz geschlossen. Wie ängstlich Larissa zuerst mit dem Hund umgegangen war. Desto mehr
hatte es ihn überrascht, als sie die Hündin zaghaft gestreichelt hatte.
Seufzend klappte er die Unterschriftenmappe zu. Larissa beschäftigte seine Gedanken mehr, als es seiner Arbeit und seinem Seelenleben zuträglich war.
Es klopfte an seine Tür.
»Herein!«, rief er, und Phil trat ein.
»Ich habe hier den Personalbogen von Miss Gottwald und den befristeten Vertrag zur Unterschrift.« Er legte die Mappe vor Rowan auf den Schreibtisch.
Neugierig schlug Rowan den Pappdeckel auf und studierte die Daten.
Bachelor in Englisch und Französisch, Ausbildung zur Hotelkauffrau … ledig. Sie war damit eine harte Konkurrentin für seine Hotelmanagerin.
»Und die hätten Sie fast nicht eingestellt.« Rowan konnte sich diese Bemerkung nicht verkneifen. Phil wirkte zerknirscht.
»Na ja, sie machte auf mich zunächst einen sehr seltsamen Eindruck …«, antwortete er ausweichend.
»Ich glaube eher, Sie haben sich von Fiona Baillies Meinung beeinflussen lassen.«
Phil errötete und räusperte sich.
»Natürlich nicht«, stritt er ab. »Aber Miss Gottwald wirkte so …«
Rowan winkte ab. »Ich wünsche nicht, dass Sie mit Miss Baillie über Bewerbungen sprechen«, sagte Rowan und blickte seinen Mitarbeiter streng an. »In Zweifelsfällen haben Sie das mit mir zu klären.«
»Ja, selbstverständlich. Fiona und ich haben nur über ihr seltsames Verhalten geplaudert und darüber, warum sie nach Schottland gekommen ist.«
»Das geht uns nichts an. Vielmehr ist es entscheidend, ob Miss Gottwald ihre Arbeit ordentlich erledigt. Sie spricht übrigens ausgezeichnet Englisch. In Deutschland war sie bereits für ein Hotel als Übersetzerin tätig. Ich möchte sie deshalb bitten, beim Empfang der Schweizer zu dolmetschen. Bitte prüfen Sie doch nach, wie viel wir dem letzten Dolmetscher gezahlt haben.«
Phil wirkte sichtlich überrascht und trat näher an Rowans Schreibtisch. »Sie können doch die Deutsche nicht in unsere
Hotelpläne einweihen!«, empörte er sich. »Außerdem sollte das doch Fiona übernehmen. Sie hat schließlich das letzte Meeting organisiert und gemanagt.«
»Aber Miss Baillie spricht nicht fließend Deutsch. Gerade beim letzten Meeting habe ich gemerkt, dass wir ohne einen versierten Dolmetscher nicht auskommen können. Verträge müssen ausgehandelt werden, Wirtschaftlichkeitsbetrachtungen diskutiert werden … und so weiter. Miss Baillies Kenntnisse in Ehren, aber ich glaube nicht, dass sie diesen Anforderungen gerecht werden kann.«
Rowan spürte deutlich, dass seine Entscheidung Phil missfiel. Aber darauf konnte er keine Rücksicht nehmen.
»Sie müssen ja wissen, was Sie tun«, erwiderte Phil. »Aber ich könnte mir vorstellen, dass Fiona das nicht gutheißen wird.«
»Das ist mir durchaus bewusst. Bitte, Phil, schicken Sie Miss Gottwald zu mir, sobald sie wieder zurück ist.« Er verzichtete darauf, seinem Mitarbeiter die Umstände zu erklären, warum die neue Kollegin heute nicht pünktlich zum Dienst erschienen war, denn er war sich sicher, dass Phil es Fiona Baillie brühwarm erzählen würde. Er wollte Tratsch und Klatsch in seinem Hotel vermeiden.
»Gut, mache ich«, versprach Phil. Aber es war ihm deutlich anzumerken, wie wenig ihm das gefiel.
Bereits wenig später bat Rowan Larissa, auf einem der Stühle vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen. Das lindgrüne Wickelkleid, das sie jetzt trug, stand ihr ausgezeichnet und betonte ihre schlanke Taille.
»Sie wollten mich sprechen, Mylord?«
Rowan nickte.
»In zwei Tagen treffen Schweizer Kommissionsmitglieder der Tourismusbranche ein. Mein Hotel könnte, wenn wir uns einigen, in deren Rubrik exklusiver Hotels aufgenommen werden. Da Sie bereits als Übersetzerin tätig gewesen sind und Deutsch Ihre Muttersprache ist, möchte ich Sie bitten, während dieser Zeit für uns als Dolmetscherin zu arbeiten. Was halten Sie von meinem Angebot? Selbstverständlich werden Sie angemessen bezahlt.«
Larissa runzelte die Stirn und zögerte mit der Antwort. Rowan,
der mehr Begeisterung für diese Aufgabe von ihr erwartet hatte, war enttäuscht.
»Sie bräuchten während der drei Tage auch nicht im Hotelbüro zu arbeiten. Pausen stehen Ihnen zur freien Verfügung. Wenn Sie natürlich nicht so eng mit mir zusammenarbeiten möchten …«
»Doch, doch, das ist es nicht«, unterbrach sie ihn.
»Was ist es dann?«
»Wäre das nicht die Aufgabe von Miss Baillie gewesen? Wie ich von Nettie gehört habe, hat sie auch das letzte Treffen organisiert.«
»Das ist richtig, aber Miss Baillie spricht leider nicht fließend Deutsch.«
»Sicher wird doch vorrangig Schwyzerdütsch gesprochen, und das beherrsche ich leider auch nicht.«
»Die Herren sprechen Deutsch, Schwyzerdütsch ist nicht notwendig. Also, möchten Sie mich und mein Hotel nun dabei unterstützen oder nicht?«
Larissas Züge entspannten sich.
»Gern, ich übernehme diesen Job«, antwortete sie und strahlte. Rowan fiel ein Stein vom Herzen, und insgeheim freute er sich auf diese Zusammenarbeit, bei der sie sicher näher kennenlernen würden.
»Schön. Dann herzlich Willkommen.«
»Allerdings müssten Sie mich thematisch auf das Meeting vorbereiten, damit ich mich darauf einstellen kann.«
»Ich schlage vor, wir setzen uns heute Nachmittag zusammen, und ich erkläre Ihnen das Wichtigste.«
»Gern«, antwortete sie und erhob sich. Eine leichte Röte überzog ihre Wangen. Sie leckte sich über die Lippen, die jetzt im Licht glänzten. Rowan konnte nicht den Blick von ihr abwenden. In seinem Bauch kribbelte es, als hätte er zu viel Champagner getrunken. Diese Frau ging ihm unter die Haut.
»Also dann, bis heute Nachmittag«, verabschiedete sich Larissa und verließ fluchtartig sein Büro.
»Yes!«, rief Rowan aus und ballte die Hand zur Faust, nachdem die Tür hinter ihr zugefallen war. Er freute sich auf die gemeinsame Arbeit und Zeit, die er mit Larissa verbringen würde.