29.
Larissa war froh, dass sie dem Earl alles hatte glaubhaft erklären können. Die Arbeit im Hotel und insbesondere mit ihm machte ihr Spaß. Sie mochte ihn, seine ruhige, besonnene Art und seinen Humor.
Umso mehr hatte sie sein Vorwurf getroffen, sie würde seine Mitarbeiter über ihn und seine Familie ausfragen. Doch dann sagte sie sich, dass sicher Fiona Baillie hinter den Anschuldigungen steckte, um sie beim Earl schlechtzumachen. Die Hotelmanagerin war kurz vorher bei ihm gewesen. Mit einem triumphierenden Lächeln hatte sie Larissa ausgerichtet, dass der Earl sie sprechen wolle. Oft genug hatte sie Larissa zu verstehen gegeben, wie sehr es ihr missfiel, dass sie die Übersetzertätigkeit übernehmen sollte, wenn die Schweizer eintrafen.
Im selben Augenblick, als sie aus dem Büro des Earls trat, wäre sie fast mit Fiona Baillie zusammengestoßen.
»Können Sie nicht aufpassen, wohin Sie laufen?«, fuhr die Hotelmanagerin sie an.
»Sorry, aber ich habe nicht direkt vor der Tür mit Ihnen gerechnet. Haben Sie etwa gelauscht?«, entgegnete Larissa ruhig und erwiderte den Blick ihres Gegenübers. Fiona Baillie schien mit ihrem Leben unzufrieden zu sein.
»Unverschämtheit!«, schimpfte Miss Baillie und verschwand in ihrem Büro.
An ihrem Platz angekommen, betrachtete Larissa den Stapel Aktenordner, die laut dem beiliegenden Zettel von Miss Baillie ins Archiv getragen werden sollten.
»Soll ich Ihnen vielleicht helfen?«, bot Nettie sich an und deutete mit dem Finger auf die Ordner.
»Danke, aber ich denke, ich schaff das schon«, erwiderte Larissa. Sie wollte nicht, dass die anderen Kolleginnen ihretwegen Ärger bekämen.
Nettie blieb weiter vor ihrem Schreibtisch stehen und wirkte bedrückt.
»Es tut mir leid …«, sagte sie nach einer Weile und kaute auf dem Piercing an ihrer Unterlippe.
Larissa blickte sie an. »Was denn?«
»Ich … ich habe mich neulich verplappert bei Miss Baillie. Sie hat mich gelöchert, was wir uns am Kopierer unterhalten hätten. Sie hat gebohrt, gebohrt und gebohrt. Ich kann nicht lügen, und da ist es mir so rausgerutscht, dass … dass Sie mich nach dem Earl und seiner Familie gefragt haben. Das tut mir wahnsinnig leid. Haben Sie jetzt großen Ärger bekommen?«
Nettie tat ihr fast leid.
»Nein, ich konnte dem Earl alles erklären. Am Anfang war er ganz schön sauer auf mich, aber dann hat er verständnisvoll reagiert. Machen Sie sich keine Gedanken.«
»Na, Gott sei Dank.« Nettie atmete laut aus. Sie schien wirklich erleichtert zu sein.
Nach der Mittagspause fieberte Larissa dem Feierabend entgegen. Immer wieder blickte sie zur Uhr. Pünktlich um fünf Uhr verabschiedete sie sich von Nettie und Lucy. Moira hatte erst in einer Stunde Dienstschluss. Weil das Wetter draußen so herrlich war, beschloss Larissa, zu Fuß zum Antiquariat in East Morham zu laufen. Es war ein sonniger Spätsommertag mit angenehmen Temperaturen. Am Horizont waren die Spitzen der Berge zu sehen. Leider hatte sie von Schottland noch nicht allzu viel gesehen. Aber das, was sie gesehen hatte, gefiel ihr. Diesmal folgte sie der Hotelauffahrt und erreichte nach wenigen Minuten die Landstraße. Auf einer der angrenzenden Wiesen grasten zottelige Highland-Rinder, die die Köpfe hoben, als sie sich ihnen näherte.
East Morham lag am Fuß der Klippen. Wenn der Wind vom Meer aufs Land wehte, konnte man das Rollen der Brandung hören. Inmitten des Ortes befanden sich die Kirche und der Friedhof mit seinen typisch keltischen Grabkreuzen. Als Larissa an ihm vorbeiging, musste sie an Großvater Hugo denken. Sie vermisste ihn so sehr, sein dröhnendes Lachen, wenn er sie beim Mensch-ärgere-
dich-nicht-Spiel geschlagen hatte, oder auch die vielen Tomatenpflänzchen, die auf der sonnigen Fensterbank gestanden hatten. All das gehörte der Vergangenheit an. Wie Gordon.
Die Kirchturmuhr schlug, und Larissa musste sich beeilen, weil das Antiquariat um sechs Uhr schloss. Sie eilte über den unebenen Fußweg und erreichte den winzigen Laden zehn Minuten vor Verkaufsschluss. Bain’s Antiquarian Bookshop
stand auf dem Schild über dem Eingang. Larissa zog die Ladentür auf und trat ein. Die Luft drinnen war trocken, dass es in ihrem Hals kratzte. Deckenhohe Regale standen an den Wänden, vollgestopft mit unzähligen Büchern, die meisten von ihnen ledergebunden. Ein Mann mittleren Alters mit schütterem grauem Haar stand auf einer Leiter vor einem der Regale und ordnete die Bücher. Er wandte sich zu ihr um und schaute durch die halbe Brille, die weit vorn auf seiner Nase saß.
»Guten Tag, Miss. Wie kann ich Ihnen helfen?«, wandte er sich Larissa zu.
»Guten Tag. Ich suche die Chronik von East Morham. Ihr Verfasser ist …«
»Ich weiß. Mein Vater hat sie geschrieben. Gott hab ihn selig«, fiel er ihr ins Wort, bekreuzigte sich und stieg die Leiter hinab.
»Ich würde sie gern kaufen.«
»Sie ist unverkäuflich, weil sie das letzte Exemplar ist, das noch existiert. Das müssen Sie verstehen.«
Larissa war enttäuscht, hatte sie doch gehofft, die Chronik in Ruhe auf ihrem Zimmer lesen zu können.
»Ja, ja, natürlich verstehe ich das. Hören Sie, ich möchte sie nur bis morgen ausleihen und bringe sie Ihnen unversehrt wieder. Versprochen«, schlug sie vor.
»Ich glaube Ihnen ja, dass sie vorsichtig sein werden, aber auch da muss ich ablehnen. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass ich sie an niemanden ausleihe. Sie bedeutet mir viel wegen meines Vaters. Was wollen Sie denn mit der alten Chronik? Die müsste dringend überarbeitet werden. Manche Daten und Namen müssten korrigiert werden. Mein Vater hat nämlich das meiste nur aus mündlichen Überlieferungen.«
»Verstehe. Aber ich möchte trotzdem gern einen Blick hineinwerfen«, beharrte Larissa.
»Wenn Sie darin lesen möchten, dürfen Sie das gern hier tun. Dort hinten steht ein Clubsessel.« Er lächelte sie an und entblößte dabei seine schief gewachsenen Zähne. Wenn sie in der Chronik tatsächlich lesen wollte, blieb ihr nichts anderes übrig, als es hier zu tun.
»Gut, dann lese ich hier«, antwortete sie.
»Aber … aber wir haben gleich geschlossen«, entgegnete Jason Bain.
Auf keinen Fall wollte Larissa sich so abspeisen lassen. Sie musste endlich wissen, ob es über Gordon einen Eintrag in der Chronik gab.
»Hören Sie, ich muss in diese Chronik schauen. Ich muss etwas über die vorherigen Besitzer von Morham Manor wissen. Bitte.« Flehend sah sie ihn an, in der Hoffnung, ihn erweichen zu können.
Er sah auf seine Armbanduhr. »Meinetwegen noch bis halb sieben, weil ich noch einige Bücher katalogisieren muss. Aber danach gehe ich nach Hause. Dann müssen Sie eben an einem anderen Tag wiederkommen.«
»Danke, das ist wirklich sehr freundlich von Ihnen«, antwortete sie lächelnd.
»Warum interessieren Sie sich denn für die Besitzer?«, fragte er.
»Ich forsche nach einem Mann, der aus East Morham stammt und auf Morham Manor gelebt hat. Er war ein Freund meiner Familie, die wissen möchte, ob er noch lebt«, log sie und hoffte, dass James Bain ihr das abkaufte.
»Auf Morham Manor haben doch nur die Earls of Keith gelebt«, gab er zu bedenken.
»Sind Sie sicher?« Fragend sah Larissa ihn an.
»Ich hole Ihnen mal die Chronik. Da werden Sie es verstehen.« Er verließ den Verkaufsraum und verschwand hinter der Tür, auf der ein Schild mit der Aufschrift privat
prangte. Es dauerte nicht lange, bis er mit einem ledergebundenen Buch zurückkehrte und es ihr reichte.
Dann lief er zur Ladentür und schloss sie ab. Larissa trug die Chronik zum Sessel und ließ sich darin nieder.
Sie schlug das Buch auf, dessen Seiten bereits am unteren Rand vergilbt waren.
The Chronicle of East Morham. Written by Ron Bain
stand auf der ersten Seite. Heute fühlte sie sich Gordon und der Vergangenheit
noch näher als je zuvor. Vorsichtig schlug Larissa die erste Seite mit dem Inhaltsverzeichnis auf. Die Chronik begann im Mittelalter unter Königin Maria Stuart. Die einzelnen Zeitepochen waren in Kapiteln eingeteilt. Innerhalb der Kapitel gab es Vermerke zu den einzelnen Jahren. Im Anhang des Buches befanden sich Biografien wichtiger Persönlichkeiten East Morhams und eine Aufstellung wichtiger Ereignisse. Diese Seiten wollte sie sich erst am Schluss vornehmen. Ihr Finger glitt über das Papier, bis sie bei 1946 stoppte und schließlich die Seite des dazugehörigen Kapitels aufschlug. Sie las den Vermerk, dass in den Wirren des Zweiten Weltkriegs viele Aufzeichnungen verloren gegangen waren. Sollten sich ihre Hoffnungen erneut zerschlagen? Sie blätterte ein Kapitel weiter zurück, das die Zeit vom Ersten und dem Zweiten Weltkrieg beschrieb.
Sie erfuhr, dass ein Teil der Nebengebäude von Morham Manor bei einem Bombenangriff zerstört worden waren. Die damaligen Besitzer des Anwesens hießen Ian Colomb, 11. Earl of Keith, sowie Countess Ella Louise, seine Gattin.
Ella! Einen Moment lang war Larissas Kehle wie ausgetrocknet. Das konnten, nein das mussten Gordons Eltern sein. Es war doch kein Zufall, dass ihre Mutter den Vornamen von Gordons Mutter trug. Auch ihre Mutter hieß Ella Luise, auch wenn die Schreibweise des zweiten Namens ein wenig abgeändert war. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass Gordons Eltern mit Rowan, dem jetzigen Earl, verwandt waren. Warum hatte er ihr nichts davon gesagt? Sie musste ihn danach fragen.
Larissa blätterte das Chronikkapitel durch, aber sie fand keinen Hinweis auf Gordon. Nirgendwo stand geschrieben, dass Richard und Ella ein Kind gehabt hatten. Vor Enttäuschung seufzte sie laut. Das war auch Jason Bain nicht entgangen, der zu ihr kam.
»Gibt es ein Problem? Ich kenne vieles aus der Chronik und weiß auch einiges über deren Entstehungsgeschichte«, erklärte er.
»Ich habe die Namen von seinen Eltern gefunden.« Sie konnte es selbst kaum glauben.
Jason Bain lehnte sich über ihre Schulter und starrte auf die Stelle, auf die ihr Finger tippte.
»Also doch die Earls of Keith?«
Larissa nickte. »Nur leider finde ich nichts über den Sohn. Auch nicht im nächsten Kapitel in den Fünfzigerjahren.«
»Hm. Schade, mein Vater hätte den Namen sicher gleich gewusst. Er hatte damals alles akribisch aufgeschrieben. Überhaupt war er in diesen Dingen sehr pedantisch. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er den letzten Earl of Keith nicht erwähnt hat.«
»Vielleicht weil er verschollen ist?«, fragte Larissa.
»Nein, das glaube ich nicht. Haben Sie denn schon unter den Ereignissen nachgeschaut? Sicher hat sein spurloses Verschwinden damals hohe Wellen geschlagen.«
Darauf hätte auch sie selbst kommen können. Sie suchte die Seitenzahl und klappte das Buch an der betreffenden Stelle auf. Alle wichtigen Ereignisse in East Morham waren dort gelistet. Aber nichts stand im Zusammenhang mit Gordon.
Es war wie verhext. Ganz in Gedanken blätterte sie im Buch weiter und erreichte zufällig die Seiten der wichtigen Persönlichkeiten des Ortes. Mit dem Finger suchte sie Zeile für Zeile ab, bis sie auf die Eintragung von Gordon Hamilton Colomb, Earl of Keith traf. Vor lauter Aufregung begann sie am ganzen Körper zu zittern. Sie hatte ihn tatsächlich gefunden. Aufmerksam las sie seine Biografie. Gordon war das einzige Kind von Richard und Ella gewesen. Mit achtzehn war er auf Wunsch seines Vaters zum Militär gegangen. Aber seine Leidenschaft galt der Kunst. Einige seiner Bilder waren damals ausgestellt worden. Sein Werk Die Seemöwe
war von den schärfsten Kritikern hochgelobt worden. Larissa hätte das Bild gern gesehen, aber in der Chronik gab es zu ihrem Bedauern keinerlei Abbildungen. Die Biografie schloss mit dem Tod Gordons. Seit 1956 hatte er als verschollen gegolten und war zehn Jahre später für tot erklärt worden. Sein Schicksal ließ sie nicht unberührt. Sie fotografierte die Seiten der Biografie, die auf ihn hinwiesen, mit dem Handy, bevor sie sich bei Jason Bain bedankte.
»Sagen Sie, Mr Bain, hat Ihr Vater Ihnen etwas über Gordon Hamilton Colomb erzählt?«, fragte sie ihn zum Abschied.
»Oh ja, er muss ein außergewöhnlicher Maler gewesen sein. Niemand konnte das Licht in seinen Werken so auffangen wie Claude Monet oder er. Leider habe ich ihn persönlich nicht kennengelernt.«
»Haben Sie denn ein Bild von ihm?«
Jason Bain zog die Stirn kraus. »Ich … ich glaube, nicht.«
»Ich habe oben auf den Klippen auch einen Maler kennengelernt …«
»Ah, Sie meinen sicher den alten Col. Col Feathers.« Er winkte ab. »Ein komischer Vogel, hat immer schlechte Laune.«
»Wissen Sie vielleicht, woher er stammt?«, hakte sie nach.
»Nein, der erzählt nie etwas über sich. Aber man munkelt, dass er ein Pavee ist, ein Angehöriger dieses fahrenden Volks aus Irland. Ich halte das für möglich«, antwortete er augenzwinkernd.
Larissa überlegte einen Moment, ob es Sinn hatte, Jason Bain zu fragen, ob Col Gordon gekannt haben könnte. Doch seine Vermutung, Col könnte ein Pavee sein, ließ sie ihr Vorhaben verwerfen.
Alles in allem zufrieden verließ Larissa das Antiquariat und lief zur Pension der Dunns.
Als sie die Haustür erreichte, traf sie auf Moira, die gerade aus ihrem Wagen stieg.
»Mensch, Larissa, ich habe dich schon gesucht. Ich dachte, wir wollten zusammen nach Hause fahren. Ich muss dir nämlich etwas Wichtiges erzählen.« Moira lächelte verschwörerisch.
»Du, tut mir leid, aber ich bin zu Fuß gegangen bei dem herrlichen Wetter und war noch im Antiquariat«, entschuldigte sich Larissa, die es bedauerte, der neu gewonnenen Freundin nicht Bescheid gesagt zu haben.
»Schwamm drüber. Komm, lass uns hineingehen. Du wirst staunen, was ich heute erfahren habe.«