33.
Von Vogelgezwitscher geweckt, streckte Rowan vorsichtig seine Glieder aus. Auf seinem Bauch ruhte Larissas Arm, und ihr Kopf war an seine Schulter geschmiegt. Sie seufzte leise im Schlaf. Lächelnd streichelte er ihr Gesicht. Mit welcher Leidenschaft und Intensität sie sich in der letzten Nacht geliebt hatten. Wieder und wieder bis zum Morgengrauen. Erst dann waren sie erschöpft eingeschlafen.
Larissa war intelligent, kreativ, sensibel und humorvoll. Im Handumdrehen hatte sie mit ihrer offenen Art die Schweizer Kommissionsmitglieder für sich eingenommen und schließlich mit ihrer Ideenpräsentation überzeugt. Besonders diesen Beat. Den Anblick der lachenden Larissa und des blonden Schweizers im Hoteleingang bekam er nicht aus dem Kopf. Sie hatten miteinander geflirtet, und Rowan war rasend vor Eifersucht gewesen. In diesem Moment hatte er gespürt, dass seine Gefühle mehr als nur Bewunderung für sie waren. Larissa hatte starke Emotionen in ihm geweckt, über die er die Kontrolle verloren hatte.
Er hasste es, wenn ihm alles aus dem Ruder lief. Deshalb hatte er beschlossen, zu ihr auf Distanz zu gehen, denn er hatte sich geschworen, keinen Liebeskummer mehr zu haben. Doch im Saal war sie so hinreißend gewesen und hatte alle seine Vorsätze zunichte gemacht. Da war ihm klar geworden, dass er sich unsterblich in sie verliebt hatte. Verliebtsein machte verletzlicher. Deshalb musste er von ihr wissen, ob sie seine Empfindungen teilte.
Er beugte sich über sie und küsste ihre Nasenspitze. Sie lächelte im Schlaf.
Ein Brummen ertönte. Es kam von seinem Handy, das neben dem Bett achtlos auf dem Boden lag. Er hob es auf. Es war eine SMS von Fiona, die ihn um ein Treffen bat wegen der Abreise der Schweizer am Mittag.
In einer halben Stunde treffen wir uns an der Orangerie
, schrieb er zurück.
Rowan hätte gern mit Larissa gefrühstückt. Aber er musste seinen Pflichten nachgehen und der Kommission einen gebührenden Abschied bereiten.
»Larissa? Ich muss jetzt weg«, sprach er leise zu ihr, aber sie rührte sich nicht. »Larissa?« Als sie sich räkelte, hoffte er, dass sie aufwachte, aber sie drehte sich auf die andere Seite. »Dann schlaf weiter, Sweatheart«, flüsterte er und küsste sie auf die Stirn.
Es gab so vieles, was er ihr noch sagen wollte. Das musste leider warten. Er stand auf und lief ins Bad.
Nach seiner Dusche schlummerte Larissa noch immer. Er bückte sich nach der Kleidung, die verstreut auf dem Boden lag. Seine Sachen brachte er ins Ankleidezimmer, während er Larissas ordentlich über einen Stuhl hängte. Dann schrieb er einen Zettel, legte ihn neben sie aufs Kopfkissen und verließ auf Zehenspitzen seine Wohnung.
Er nahm den kürzesten Weg durch den Garten hinauf zur Orangerie, wo er mit Fiona verabredet war. Er musste mit seiner Hotelmanagerin sprechen. Gestern beim Dinner hatte er festgestellt, dass sie anstelle von Larissa neben ihm saß. Jemand musste die Tischkarten ausgetauscht haben. Da Fiona für die Tafel verantwortlich gewesen war, lag es nahe, dass sie es getan hatte.
Fiona wartete wie verabredet vor dem Eingang der Orangerie mit einem Klemmbrett. Sie sah wie immer sehr elegant aus in ihrem dunkelblauen Rock und der pinkfarbenen Bluse. Sie empfing ihn strahlend.
»Guten Morgen, Mylord. Danke, dass Sie es ermöglichen konnten, sich mit mir zu treffen«, begrüßte sie ihn.
»Guten Morgen. Was wollten Sie denn mit mir besprechen? Aber bitte machen Sie es kurz.«
»Na ja, wir müssen die Punkte der heutigen Abschiedsveranstaltung noch einmal durchgehen.«
Sie war korrekt wie immer, er wusste aber, dass sie gern ausschweifend erläuterte. Dafür hatte er weder die Zeit noch den Kopf. Rowan unterdrückte einen Seufzer.
»Das müssen wir auf später verschieben, Miss Baillie«, versuchte
er seine Hotelmanagerin abzuwimmeln.
»Das muss leider jetzt sein. Wir haben neben der Abschiedsveranstaltung noch die Hochzeit der McBrians im Haus. Es ist der Küche kaum zuzumuten …«
Abwehrend hob Rowan die Hände.
»Verstehe. Dann müssen Sie mich jetzt wohl oder übel ein Stück auf einen kleinen Spaziergang zum Haus auf den Klippen begleiten. Ich will Holly von meinem Freund Col abholen.« Weil seine Hündin laute Musik hasste, hatte er sich gestern entschieden, sie von einem seiner Angestellten zu Col bringen zu lassen. Er konnte nur hoffen, dass die Hündin mit ihrer jugendlichen Lebhaftigkeit seinen alten Freund nicht zu sehr beansprucht hatte.
Fiona Baillie schien davon wenig begeistert zu sein.
»Aber gern doch. Dann können wir in Ruhe alle Punkte durchgehen«, antwortete sie eine Spur zu überschwänglich. Er hätte nicht gedacht, dass sie sich darauf einlassen würde.
»Tja dann …«, sagte Rowan und schaute auf die Uhr. Bis zur Abschiedsveranstaltung blieben ihm nur noch wenige Stunden. Alles musste perfekt sein, bis ins Detail abgestimmt. Rowan nahm mit großen Schritten den Anstieg zu den Klippen hinauf. Fiona Baillie lief ihm hinterher wie Holly und war krampfhaft bemüht, in ihrem engen Rock mit ihm Schritt zu halten. Kaum hatte sie Luft geholt, redete sie weiter. Seine Versuche, sie zur Umkehr zu bewegen, winkte sie ab. Fast hatten sie Cols Haus erreicht.
»Also, ich wiederhole: Eintreffen der Gäste, Überreichung der Plakette, anschließend Ihre Dankesrede«, leierte sie herunter und keuchte. Die genaueren Details zogen an Rowan vorbei. Hin und wieder warf er ein Ja oder ein Nein ein.
»Dann hätten wir doch alle Punkte geklärt, und Sie können zum Hotel zurückkehren«, wandte er sich an Fiona und hoffte, dass sie endlich ging, denn er wollte sie nicht mit zu seinem Freund nehmen. Ihr Gesicht war von der Anstrengung gerötet. Sie blieb stehen und rang nach Atem.
»Ja, das ist richtig. Ich … ich wollte Sie aber noch fragen, ob Sie mit der gestrigen Organisation zufrieden gewesen sind.«
Da schnitt sie das Thema doch von selbst an. Eigentlich hatte er ihr das nach der Abreise der Schweizer sagen wollen, aber nun war
er gespannt, wie sich seine Hotelmanagerin herausreden würde, wenn er sie mit dem Tischkartentausch konfrontierte.
»Es ist gut, dass Sie mich fragen. Im Prinzip schon«, antwortete er ausweichend.
Fionas Kopf ruckte herum. »Im Prinzip? Aber …«
»Wenn nicht jemand die Tischkarten an der Tafel vertauscht hätte.« Rowan sah sie prüfend an. Fiona Baillie schaute auf ihre Fußspitzen.
»Aah … ist mir gar nicht aufgefallen«, erwiderte sie.
»Sie waren für die Tafel verantwortlich, Miss Baillie. Was haben Sie sich nur dabei gedacht?«, fuhr er sie an.
Plötzlich bemerkte er, wie die Hotelmanagerin ihre Hände zu Fäusten ballte und ihn wütend ansah.
»Eigentlich hätte mir die Planung und die Präsentation zugestanden, nicht dieser Deutschen!«, rief sie zornig. »Ich habe die ganze Vorarbeit geleistet, ich habe die Schweizer eingeladen, Termine abgestimmt, Ihre Korrespondenz erledigt. Da hätte auch mir der Platz neben Ihnen zugestanden!«
Rowan spürte Fiona Baillies Abneigung gegen Larissa.
»Aber Sie sprechen nicht fließend Deutsch«, entgegnete er ruhig.
»Das ist es doch nicht allein gewesen. Haben Sie gedacht, dass ich nicht bemerkt habe, dass Sie die ganze Zeit mit Miss Gottwald getanzt haben? Und wie Sie sie angeschaut haben. Da muss nur eine junge Frau daherkommen und Ihnen schöne Augen machen, und schon …«
Rowan wurde wütend.
»Das reicht, Miss Baillie!«
Aber sie holte tief Luft, und Rowan ahnte, dass weitere Worte folgen würden.
»Meiner Meinung nach haben Sie Miss Gottwald viel zu viel Internas anvertraut. Ihre Neugier, ihr angebliches Interesse an Morham Manor und wie Sie sich bei Ihnen eingeschmeichelt hat … das stinkt doch zum Himmel!«
»Ich teile Ihre Interpretationen nicht«, sagte er kühl. Ihre Anschuldigungen empörten ihn.
»Gut. Aber sagen Sie nicht, dass ich Sie nicht vor ihr gewarnt hätte. Sie steckt ihre Nase in Angelegenheiten, die sie nichts angehen. Sie hat Phil gefragt, ob sie das Foto von den vorherigen
Besitzern haben kann. Wer weiß, was sie damit will.«
Rowan stutzte. Auch wenn die Worte der Hotelmanagerin Neid entsprangen, stimmte es ihn nachdenklich, dass Larissa das Foto haben wollte. Warum hatte sie ihn nicht gefragt, sondern Phil? Und was bezweckte sie damit? Dennoch verspürte er das Verlangen, Larissa zu verteidigen.
»Und so jemand Unaufrichtiges wie Miss Gottwald sollte an Ihrer Seite sitzen? Ich habe die ganze Planung für den heutigen Tag gemacht. Und dann soll ich nicht einmal dabei sein?«
»Miss Baillie, wenn ich Anordnungen erteile, dann geschieht das nach sorgfältiger Überlegung. Sie werden heute beim Empfang der Hochzeitsgäste dringender benötigt. Das habe ich Ihnen erklärt. Wenn Sie das anders sehen, tut es mir leid. Aber als Chef bestimme ich den Einsatz der Mitarbeiter. Es wäre besser, wenn Sie jetzt sofort umkehren und Ihre Arbeit verrichten, bevor ich es mir überlege und Ihnen trotz Qualifikation kündige, weil Sie sich meinen Anordnungen widersetzen!«
Fiona Baillie schnappte wie ein Karpfen auf dem Trockenen.
»Ganz wie Sie meinen, Mylord. Sie werden es noch bereuen, Miss Gottwald vertraut zu haben«, stieß sie hervor und wandte sich wutschnaubend um. Mit dem Klemmbrett unter dem Arm lief sie den Coastway abwärts.
Nachdenklich schaute Rowan ihr nach. Es war nicht das erste Mal, dass er den Eindruck hatte, dass Fiona Baillie mehr in ihm sah als nur den Chef. Jedenfalls war sie fraglos eifersüchtig auf Larissa.
Dieses Problem konnte er nicht auch noch gebrauchen. Kopfschüttelnd lief er die letzten Meter zu Cols Haus.
Als er vor dem windschiefen Haus stand, verschwendete er keinen Gedanken mehr an Fiona Baillie und deren Vorwürfe. Vielmehr beschäftigten ihn die Worte seiner Mutter. Er war davon überzeugt, dass Col seine Vorgänger gekannt haben musste. Jetzt war die Gelegenheit, ihn danach zu fragen.
Doch das Haus war verschlossen, und auch Holly war nicht zu hören. Sicher hatte sein Freund sich wieder an den Ort zurückgezogen, von wo er den besten Ausblick auf Bass Rock besaß.
Aus der Ferne hörte er Holly bellen. Wie vermutet, stand Col vor seiner Staffelei. Die Hündin war angeleint und bellte eine Möwe an.
»Du hättest deinen Köter ruhig früher abholen können. Der hat mir mein Frühstück weggefressen.«
Rowan wusste, dass Col es nicht böse meinte und Holly sicher einen Happen Schinken gereicht hatte.
»Selbst schuld«, antwortete Rowan lachend und umarmte den Freund herzlich. Bei der Umarmung spürte er dessen knochigen Körper. Col war hochgewachsen und für sein Alter drahtig. Nur sein Rücken war leicht gekrümmt. Er hielt sich durch lange Spaziergänge fit. Rowan hatte das Foto vor Augen, das ihm seine Mutter für die Präsentation zugesandt hatte. Wie mochte Col als junger Mann ausgesehen haben? Er schaute ihn an, als wolle er sich jedes Detail seines Gesichts einprägen.
Der Maler wandte sich zu ihm um. »Was starrst du mich so an, als hättest du noch nie einen alten Kerl gesehen?«
»Sorry, war ganz in Gedanken«, redete Rowan sich heraus. Nach dem Telefonat mit seiner Mutter wollte er brennend gern die Antwort auf eine Frage haben. Er wusste, dass Col nicht gern über die Vergangenheit sprach, aber er musste sie ihm stellen.
»Du hast doch den 11. Earl of Keith gekannt, der dir dieses Haus überlassen hat. Kanntest du eigentlich auch seinen Sohn Gordon?«
Rowan suchte in Cols Gesicht nach einer Regung. Einen flüchtigen Moment lang glaubte er, im Blick seines väterlichen Freundes einen wachsamen Ausdruck wahrgenommen zu haben.
»Was soll denn diese Frage?«, blaffte Col ihn an.
Rowan berichtete ihm von dem Foto bei der Präsentation.
»Dieser Gordon war künstlerisch auch begabt. Wusstest du das? Deshalb dachte ich mir, zwei Künstler wie ihr, die hätten sich doch sicher miteinander ausgetauscht.«
Wütend warf Col Palette und Pinsel fort und funkelte Rowan zornig an.
»Da hast du falsch gedacht!«, brüllte er.
»Du hast mir immer noch nicht meine Frage beantwortet. Kanntest du Gordon oder nicht?«
»Nein! Zufrieden?«
Ein Gefühl in Rowan sagte, dass der Freund ihn anlog, und das ärgerte ihn. Warum schwieg Col so hartnäckig über die Vergangenheit?
»Bist du jemals in … Deutschland gewesen?«, bohrte Rowan weiter.
»Nein, Herrgott noch mal! Und jetzt nimm deinen Köter und lass mich endlich in Ruhe!«, schrie Col außer sich. Plötzlich fasste er sich an die Brust und schwankte. Sofort war Rowan bei ihm und stützte ihn. Er sorgte sich um den Freund und bereute, den alten Mann zu sehr aufgeregt zu haben.
»Col, komm, setz dich.« Rowan machte mit einer Hand den Hocker frei, und der Alte sank keuchend darauf.
»Hast du Schmerzen? Soll ich einen Arzt rufen?«, fragte Rowan. Sein Freund riss sich los.
»Nein, will keinen von den Quacksalbern, die mich immer nur überreden wollen, in ein Pflegeheim zu gehen.«
»Aber es wäre besser …«
»Schluss! Ich brauche keinen Arzt.« Col schloss die Augen und atmete mehrmals tief ein und aus. Allmählich beruhigte sich seine Atmung. Rowan bereute zutiefst, seinen Freund in Bedrängnis gebracht zu haben.
»Bitte verzeih, ich wollte dich nicht aufregen. Aber ich dachte, wir wären Freunde. Du weißt alles über mich, aber ich fast nichts über dich. Findest du nicht, dass es an der Zeit wäre, mir von dem Col zu erzählen, der du einst gewesen bist?«
»Du hast kein Recht dazu, das zu fordern«, erwiderte sein Freund.
»Doch. Du bist nicht nur mein Freund, sondern ein Teil von Morham Manor und seiner Vergangenheit, und damit auch von mir.« Rowan beugte sich zu ihm herunter und legte ihm die Hand auf die Schulter. Von Anfang an hatte es zwischen ihnen eine besondere Bindung gegeben. Seine Mutter hatte es einmal mit Seelenverwandten umschrieben. Das musste doch auch Col spüren. Er musste doch merken, dass er ihm vertrauen konnte. Doch Col stand auf und eilte ins Haus.
»Wovor läufst du davon, Col?«, rief Rowan ihm hinterher, bevor er ihm ins Haus folgte. Er fand den Maler im Atelier. Col blickte zu der Marmorstatue auf. Seine Augen schimmerten feucht, ein schmerzvoller Ausdruck lag darin. Sein Rücken war krumm, die Schultern nach vorn gesackt, als hätte er die Last des Lebens auf seinen Schultern getragen.
»Du willst die Wahrheit? Die Geschichte eines alten Narren?«, fragte Col nach einer Weile.
Rowan nickte. »Ja.«
»Sie war mein Modell, und ich hatte mich in sie verliebt. Aber wie so oft im Leben fand es jäh ein Ende.« Aus jedem seiner Worte sprach tiefe Traurigkeit und auch eine gewisse Bitterkeit. Eine Träne rollte die faltige Wange des Alten hinab.
»Ich habe sie nie vergessen können, meinen Engel, meine Muse. Ihr habe ich zu verdanken, dass ich der Malerei treu geblieben bin.«
»Hat sie in East Morham gelebt?«, fragte Rowan.
»Nein, sie war nicht von hier.« Schon wieder hatte Rowan das Gefühl, dass Col ihm auswich.
»Woher dann?«
»Ist das wichtig?«, fragte der Freund gereizt.
»Aber was hat sie mit dem verschollenen Erben zu tun?«
Col wandte sich zu Rowan um und sah ihn an. »Das ist eine lange Geschichte.«
»Ich bin ein guter Zuhörer«, beteuerte Rowan.
Würde Col ihm wirklich seine Geschichte und die Wahrheit über sich und Gordon erzählen?