37.
Es war noch stockdunkel draußen, als Larissa aus dem Schlaf erwachte. Sie hatte von Großmutter Angelika geträumt, die in einem Bild gefangen war und deshalb nicht mit Gordon zusammenkommen konnte. Der aufregende Traum ließ ihr Herz wie ein Trommelfeuer rasen. Sie schaltete die Nachttischlampe ein und zog Großmutter Angelikas Tagebuch aus der Nachttischschublade. In den vergangenen beiden Tagen war sie mit der Vorbereitung für den Empfang der Schweizer beschäftigt gewesen. Jetzt war es Zeit, die letzten Eintragungen ihrer Großmutter zu lesen.
Sie schlug das Tagebuch an der Stelle auf, an der das Lesezeichen steckte, und reiste in die Vergangenheit.
Wieder und wieder las Larissa die ersten Zeilen. Großmutter Angelikas Baby war geboren. Ihre Mutter! Sogar die Daten, Geburtszeit, Größe und Gewicht hatte sie notiert. Eine blonde Locke mit einer rosa Schleife klebte auf der Seite. Die liebevollen Beschreibungen rührten Larissa. Manchmal musste sie schmunzeln, und manchmal war sie den Tränen nahe.
Ella, 3243 Gramm, 51 cm, *17.06.1956 um 8.45 Uhr
19. Juni 1956
Ihr Name ist Ella. Ella Luise. Alle sind über den Namen entsetzt, bis auf Hugo. Aber es ist mir egal. Ich habe sie nach Gordons Mutter benannt. Keiner weiß es, nicht mal Silke.
Mein kleiner Sonnenschein liegt neben mir und lächelt süß im Schlaf. Sie hat die Augen von Gordon geerbt. Aber alle sagen, daß sie ganz nach Hugo kommt. Ich glaube, mein Mann ahnt, daß Ella nicht von ihm ist. Er hat sie erst einmal in den Arm
genommen und dann nur kurz. Oft drückt mich seinetwegen das schlechte Gewissen, weil ich aus Angst vor dem Leben einer ledigen Mutter in diese Ehe eingewilligt habe. Hoffentlich werde ich es nicht eines Tages bereuen.
Ich wünschte, Gordon würde seine Tochter eines Tages kennenlernen. Er würde sie lieben. Ella ist ein Sonnenschein. Sie schreit nur selten und lächelt viel. Doch Gordon bleibt für mich immer unerreichbar.
Silke und Elvira sind der Meinung, daß er nicht besser sei als James und mich ebenfalls hat sitzenlassen. Ich will so etwas nicht hören. Sie sind nur neidisch. Tief in meinem Herzen spüre ich, daß etwas anderes der Grund dafür gewesen sein muss. Schließlich weiß ich ja von den Problemen mit seinem Vater.
Neulich hat mich unsere Nachbarin Fräulein Striebeck gefragt, wer denn der fremde Besucher vor ein paar Tagen gewesen sei. Mein Gott, ist diese Frau neugierig! Sie beobachtet jeden und alles. Ich habe ihr gesagt, daß ich das nicht wissen kann, weil ich zusammen mit meinen Eltern in der Bäckerei gearbeitet hätte. Sofort habe ich an Gordon gedacht und sie gefragt, ob er eine Uniform getragen hätte. Aber sie hat verneint.
Nach dem Abendbrot habe ich Silke nach dem Fremden gefragt. Sie war so komisch und meinte, es wäre nur ein Vertreter gewesen. In ihren Augen hat ein seltsamer Glanz gelegen. Ich habe sie der Lüge bezichtigt, und sie hat natürlich alles abgestritten. Wir haben uns arg gestritten. Ich kenne meine kleine Schwester nicht wieder. Wir haben uns noch nie vorher gestritten. Sie hat mir vorgeworfen, daß ich Hugo nur ausnutze. Doch das stimmt nicht. Er ist gut zu mir und auch zu Ella. Ich mag ihn sehr.
Elvira hat mich gefragt, ob ich sie in Hamburg zu einem Konzert begleite. Da tritt ein Sänger namens Elvis Presley auf. Sie besitzt schon eine Schallplatte von ihm, und im Radio spielen sie sie oft. Die Musik gefällt mir, ich möchte gern mit
Elvira dorthin. Aber Hugo ist absolut dagegen, hat es als neumodisch und verrückt abgetan. Er hat gesagt, daß ich seine Frau wäre und tun müsse, was er mir sagt. Ich habe ihm an den Kopf geworfen, daß ich mir von ihm nicht vorschreiben lasse, was ich tun soll. Da hat er mir gedroht, allen zu erzählen, daß ich ein Verhältnis mit einem Engländer gehabt hätte und sie mir Ella wegnehmen!
Ohne mein Kind? Das könnte ich nie ertragen. Wie konnte Hugo nur so etwas sagen? Das werde ich ihm nie vergessen. Ich möchte am liebsten mit Ella fort. Aber wo soll ich hingehen?
Wie gern hätte ich ein einziges Mal Schottland gesehen! Das Schicksal hält mich hier fest.
Wo immer du auch bist, mein geliebter Gordon, du wirst immer in meinem Herzen sein.
Auf dem Papier waren Tränenspuren sichtbar. Ihre Großmutter musste Gordon sehr geliebt haben. Es enttäuschte Larissa, dass Großvater Hugo seine Frau so behandelt hatte. Jetzt war ihr klar, weshalb es immer Spannungen gegeben hatte zwischen ihrer Mutter und ihm.
Die Erkenntnis, dass nicht Hugo, sondern Gordon ihr Großvater gewesen war, saß wie ein Schock in Larissas Gliedern. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Noch vor wenigen Wochen hätte sie Stein auf Bein geschworen, dass niemand anders als Hugo ihr Großvater sein konnte – und jetzt das.
Wusste ihre Mutter davon, dass Hugo nicht ihr leiblicher Vater gewesen war? Sie hatte zu Großvater Hugo immer ein inniges Verhältnis gehabt, ihn geliebt. Das künstlerische Talent ihrer Mutter wäre erklärbar, wenn sie wirklich Gordons Tochter war. Sie musste sie benachrichtigen. Während sie nach dem Handy tastete, fiel ihr allerdings ein, dass es nachts war und ihre Mutter sicher fest schlief.
Sie holte den Flyer wieder hervor, den Moira ihr von Gordons Ausstellung gegeben hatte. Was würde ihr die Vernissage offenbaren?