Kapitel 2

Das Dorf Elmholm war ungefähr zweieinhalb Meilen von Allendale entfernt. Es bestand aus fünfundvierzig Häusern, wozu auch die Arbeitersiedlung gehörte, die rechts vom Dorfanger lag. Diese Siedlung war vor gut fünfzig Jahren errichtet worden, um die Arbeiter aus dem Bleibergwerk und den Schmelzhütten unterzubringen. Sie bestand aus niedrigen Steinhäusern mit zwei Räumen, deren Böden erst im Lauf der Zeit mit Steinfliesen ausgelegt worden waren. Die sanitären Einrichtungen hatten sich anfangs auf Abflußgräben vor den Häusern beschränkt. Mit den Jahren entschlossen sich die Leute, Senkgruben auszuheben, und zwar größtenteils hinter den Häusern oder gar erst am Gartenende. Die Dorfbewohner lebten im allgemeinen friedlich miteinander, abgesehen vom turbulenten Markttag oder freitags, wenn der Lohn ausgezahlt wurde. Dann schlugen sich die Raufbolde unter den Bergarbeitern oft die Köpfe blutig oder prügelten ihre Frauen. Aber wenn am Montagmorgen die Arbeit begann, verlief das Leben wieder in seinen gewohnten Bahnen.

Der Umriß des Dorfes ähnelte einer Birne. Die Straße von Allendale gab ihm diese Form, da sie sich zwischen der Schmiedewerkstatt von Ralph Buckman, dem Haus von Will Rickson und dem Bauhof teilte und beiderseits des Angers hinzog, um sich dahinter zwischen der Friedhofsmauer und ›Haus Elmholm‹ wieder zu vereinigen, was sozusagen den Stiel der Birne darstellte.

Die Dorfhäuser und -hütten waren von verschiedener Form und Größe. Fred Loams Haus zum Beispiel war zweistöckig, und zu ebener Erde befand sich der Metzgerladen. Die Nachbarhäuser gehörten Walter Bynge, dem Steinmetz, und Thomas Wheatley, dem Getreidehändler, der sich, obwohl er seine Hauptgeschäfte in Allendale abzuwickeln pflegte, gleichfalls im Erdgeschoß einen kleinen Laden eingerichtet hatte, wo er Mehl und Hülsenfrüchte verkaufte.

Die beiden größten Gebäude im Dorf waren die Methodistenkirche und das Gasthaus. Beide übten offenbar die gleiche Anziehungskraft auf die Einheimischen aus, denn sie pflegten nach dem Besuch der Kirche häufig auf dem kürzesten Wege in die Schenke überzuwechseln. Gleich hinter der Friedhofsmauer lag ›Elmholm House‹, Matthew Thorntons Besitz. Man konnte zwar sagen, daß jedermann im Dorf Matthew Thornton mochte, aber eines stand fest: auf seine Frau traf das keineswegs zu. Alle wußten, daß Matthew Thornton aus äußerst bescheidenen Verhältnissen stammte und es zu etwas gebracht hatte. Er hatte niemals einen Hehl daraus gemacht, daß seine Familie nur einen armseligen Kramladen in Haydon Bridge besessen hatte und daß er alles, was er an Wissen und Erziehung vorweisen konnte, einem pensionierten Lehrer verdankte, der ein paar Häuser weiter gewohnt und den aufgeweckten Jungen unter seine Fittiche genommen hatte. So hatte er ihm nicht nur das Lesen, Schreiben und Rechnen beigebracht, sondern sogar etwas Latein. Das ließ Matthew die Nase manchmal ein wenig hoch tragen, auch wenn ihm die Kenntnisse dieser toten Sprache kaum etwas nützten, als er die technische Laufbahn einschlug. Jedenfalls mußte diese Form von Bildung der »Gnädigen«, wie die Dörfler seine Frau in ihren Wirtshausgesprächen nannten, imponiert haben ‒ genauso wie die Tatsache, daß er sich gewählter ausdrückte als die anderen und eine gute Singstimme hatte. Anne Thornton stammte durchaus aus gutem Hause, sie war die Tochter eines Anwalts aus Newcastle. Über ihre Base Marion war sie zudem mit dem alten Beaumont selbst verwandt. Hätte man ihren Stammbaum weiter zurückverfolgt, so wäre man vielleicht noch direkt zu Adam und Eva gelangt. Jedenfalls erhob sie allen Ernstes Anspruch darauf, zum Adel gerechnet zu werden. Den Männern des Dorfes war dies immer wieder ein Anlaß zu lauter Heiterkeit. Die Frauen verhielten sich zurückhaltender, denn sie mußten sich der Tatsache fügen, daß Mrs. Thornton die ›First Lady‹ der Dorfgemeinschaft war.

Anne Thornton war eine große Blondine, deren blasser Teint die Klarheit ihrer großen, stahlblauen Augen nur noch unterstrich. Ihre Nase war klein, ihre Lippen waren voll, beinahe zu voll, aber wohlgeformt. Zwar verfügte sie weder über Busen noch Hüften, doch ersetzte sie das, was ihrer Anatomie diesbezüglich mangelte, durch geschickte Auspolsterung. Sie war eine tüchtige Hausfrau und ihren Kindern eine gute Mutter. Ob sie auch eine gute Ehefrau war, hätte nur Matthew Thornton beantworten können.

Hätte man ihre beiden Mägde ‒ Bella Monkton, die in der Küche das Regiment führte, und Tessie Skipton, das Haus- und Kindermädchen in einer Person ‒ nach ihrer Meinung über ihre Herrin gefragt, hätten die beiden einander nur angesehen, die Lippen zusammengepreßt und geschwiegen. Da Bella Monkton genau wußte, daß sie mit ihren vierzig Jahren keine Heiratsaussichten mehr hatte und Stellen schwer zu bekommen waren, hielt sie es für klug, keine riskanten Kommentare abzugeben. Und was die elfjährige Tessie Skipton betraf, so wußte sie aus eigener leidvoller Erfahrung, daß jeder Arbeitsplatz dem Armenhaus vorzuziehen war, aus dem Mr. Thornton sie vor vier Jahren befreit hatte. Deshalb würde sie sich für ihn, wie sie täglich beteuerte, mit Begeisterung die Finger wundarbeiten. Leider bot sich ihr nur die Gelegenheit, dies für ihre Herrin zu tun. Was dachte sie wohl über sie? Tessie sagte es nicht. Nur Bella gegenüber sprach sie sich hier und da aus, aber auch das nur unter vier Augen im Flüsterton, wenn sie in dem Dachstübchen, das sie miteinander teilten, ihre müden Glieder auf einem Strohlager ausstreckten.

Sie kamen gut miteinander aus, Bella und Tessie. Jede war für die andere der Ersatz für etwas, was sie vermißte: die eine eine Tochter, die andere eine Mutter. Ihr gutes Einvernehmen trug übrigens viel dazu bei, daß der Haushalt reibungslos lief, denn die beiden leisteten gut und gern die Arbeit von vieren.

Außer ihnen gab es im Haushalt der Thorntons noch den gleichfalls aus dem Armenhaus stammenden vierzehnjährigen Dandy Smollett, der Garten und Pferd zu versorgen hatte und im Stall schlief.

John, der älteste Sohn des Hauses, war zwölf und für sein Alter ziemlich groß. Obgleich er seiner Mutter äußerlich sehr ähnlich sah, schien er nichts von ihren Eigenschaften geerbt zu haben.

Margaret, die älteste Tochter, schlug äußerlich ihrem Vater nach, denn sie hatte das gleiche quadratische Gesicht, die gleichen lichtbraunen Haare, ebenso graue Augen und seinen großen Mund. Sie war ein sehr sensibles Wesen, das mit allen Lebewesen Mitleid hatte und oft weinte.

Der zehnjährige Robert glich äußerlich gleichfalls seinem Vater und war bereits bedeutend größer als Margaret. Er war eine Abenteurernatur und ungemein eigensinnig ‒ Eigenschaften, die er, wie man ihm erzählt hatte, seinem Großvater väterlicherseits verdankte.

Beatrice, die als jüngstes Kind meist Betsy genannt wurde, war das genaue Ebenbild ihrer Mutter ‒ nicht nur, was Gesicht und Gestalt anlangte, sondern vor allem in ihrem Wesen. Da sie noch keine neun Jahre alt und noch dazu recht klein war, wurde sie von sämtlichen Familienmitgliedern als Nesthäkchen verhätschelt und tüchtig verzogen.

Im Moment befanden sich alle Kinder daheim. John, der in Hexham ins Internat ging, hatte ebenso Ferien wie Margaret und Robert, die die Tagesschule in Allendale besuchten. Betsy ging überhaupt noch nicht zur Schule, da man sie daheim als zu zart dafür hielt, was jedoch nicht bedeutete, daß sie noch keinen Unterricht erhielt. Täglich las ihr die Mutter eine Stunde am Vormittag und eineinhalb Stunden am Nachmittag aus der Bibel vor, übte mit ihr Lesen, Schreiben und Rechnen und brachte ihr das Sticken und Spinettspielen bei.

Auch jetzt saß Anne Thornton am Spinett, die Hände auf den Tasten und den Blick auf die Noten gerichtet. John, Margaret und Betsy umstanden sie. Ohne den Blick vom Notenblatt zu wenden, rief Anne plötzlich: »Robert!« Die Kinder wurden unruhig. Margaret versetzte John einen leichten Rippenstoß, worauf der Bruder unverschämt grinste, während die kleine Betsy sich auf die Zehenspitzen stellte und sich fast den Hals verrenkte, nur um aus dem Wohnzimmerfenster hinaussehen zu können.

»Er ist aus dem Haus gegangen, Mama ‒ den Weg hinunter!« piepste sie plötzlich.

Anne Thornton erhob sich mit einem Ruck von ihrem Drehstuhl. Ihr umfangreicher Rock streifte ihre Jüngste so heftig, daß das Kind beinahe hingefallen wäre. Am Fenster angelangt, klopfte sie energisch an die Scheiben, stieß dann die beiden Flügel auf und rief in unüberhörbarem Befehlston: »Robert!«

Der Junge drehte sich um und sah seine Mutter einen Augenblick an. Dann zuckte er die Achseln und trat widerstrebend den Rückweg an.

Er hatte die lange, schmale Halle noch nicht durchquert, als seine Mutter bereits aus dem Wohnzimmer eilte. Ehe sie jedoch noch Zeit fand, ihn zu tadeln, sagte er energisch: »Wir haben Ferien, Mama. Es ist ein schöner Tag, also möchte ich auf die Hügel gehen.«

»Zwischen ›mögen‹ und ›dürfen‹ besteht ein gewaltiger Unterschied. Das habe ich dir schon gesagt. Wenn du noch ein einziges Mal ungehorsam bist, werde ich mit deinem Vater darüber sprechen!«

Diese Drohung schien keinen besonders großen Eindruck auf Robert zu machen. Er schob die Hände in die Taschen seiner Kniehose, warf den Kopf zurück und marschierte unwillig durch das Wohnzimmer, bis er bei seinen Geschwistern, die ihn verstohlen ansahen, angelangt war.

Kaum hatte Anne Thornton wieder auf dem Drehstuhl Platz genommen, ihre Röcke zurechtgeschoben und die Hände zum Spiel erhoben, als ihr schwieriger Sohn heftig protestierte: »O nein, nicht das ‒ wir sind doch keine Klageweiber!«

Anne Thornton zwang sich, ihre Ungeduld nicht zu zeigen. Sie verharrte bewegungslos und erwiderte so ruhig wie möglich: »Das ist eines von Thomas Moores schönsten Liedern. Außerdem ist es das einzige in dem Buch, das für vier Stimmen arrangiert ist, und ich möchte, daß die Überraschung für euren Vater tadellos ausfällt.«

»Als ob der sich schon was draus machte!«

Diesmal war es John, der damit herausplatzte, worauf Margaret zu kichern begann, aus Angst vor dem Zorn der Mutter jedoch gleich wieder verstummte.

Nach kurzem Zögern sagte Arme Thornton: »Ich werde die erste Strophe singen, und jeder von euch weiß, wann er einzusetzen hat. Erst du, Margaret, dann du, Robert, und dann du, John.« Nun drehte sie sich halb um, blickte ihren Zweitältesten Sohn fest an und fuhr fort: »Und denkt gefälligst daran, daß dies Lied genau wie vorgeschrieben gesungen wird: langsam und mit feierlichem Ernst.«

Nachdem sie ›Wie oft hat das Käuzchen geschrien‹ intoniert und den Kindern der Reihe nach Einsatzzeichen gegeben hatte, schwoll der Trauergesang auf und ab, bis sie gemeinsam in die Schlußworte »Seufzt über das Heldengrab« einstimmten. Da Betsy es aber nicht lassen konnte, besagtes ›Heldengrab‹ grell hervorzupiepsen, war es mit der erzwungenen Feierlichkeit auch schon zu Ende. Die Kinder lachten einfach drauflos, bis die Mutter den Anführer der Schar, ihren ungeratenen Sohn, bei den Ohren packte und aus dem Wohnzimmer bis zur Treppe zog, wo sie ihn noch einmal kräftig durchbeutelte und ihn anschrie: »Geh sofort auf dein Zimmer! Ich werde mit Vater reden, wenn er heimkommt.«

Die Hände auf die brennenden Ohrmuscheln gedrückt, stapfte der Junge hochrot die Treppe hinauf, blieb aber mit einem Ruck stehen, als ihm die Mutter zur Strafverschärfung nachrief: »Und ich werde dafür sorgen, daß er dir verbietet, zu Mr. Beaumonts Feier zu gehen, verlaß dich drauf!«

Johns Lippen begannen zu zittern, und einen Moment lang sah es aus, als würde er gleich in Tränen ausbrechen. Statt dessen hob er den Kopf, wandte der Mutter ostentativ den Rücken und eilte in sein Schlafzimmer.

Mrs. Thornton drehte sich um, musterte kurz ihre andern drei Kinder, die in der Wohnzimmertür standen, und sagte in bewundernswert beherrschtem Ton zu Margaret: »Hol das ›Buch des Wissens für junge Damen‹. Wir wollen uns das Kapitel ›Erze‹ vornehmen. Euer Vater wird begeistert sein, wenn ihr Interesse dafür zeigt.« Den Kindern in den Wintergarten vorangehend, nahm sie das von Margaret eilends herbeigebrachte umfangreiche Buch in Empfang. Als sie sah, wie ihr jüngster Sohn unwillig die Stirn runzelte, erkundigte sie sich barsch: »Was hattest du vor, wenn ich fragen darf?«

»Nichts, Mama«, kam es gedehnt zurück. Robert konnte jetzt schwerlich eingestehen, er hätte einen Spaziergang über die Hügel machen wollen, so sehr ihm auch danach zumute war.

»Nun, dann komm gefälligst mit in den Wintergarten.« Nachdem alle Platz genommen hatten, schlug Anne Thornton das Buch an der durch ein Lesezeichen gekennzeichneten Stelle auf, blickte lächelnd in die Runde und sagte: »Jedesmal, wenn ich dies Buch zur Hand nehme, erinnere ich mich an meinen vierzehnten Geburtstag, zu dem ich es von meiner lieben Mutter geschenkt bekommen habe.«

Die beiden Mädchen schauten sie an, sagten jedoch nichts. Betsy wußte zwar, daß ihre Mutter nur auf die Aufforderung wartete, über die großartige Feier ihres vierzehnten Geburtstags zu berichten, aber sie hatte sie schon zu oft gehört, um sie nicht tödlich langweilig zu finden, während Margaret sich fragte, weshalb Märchen einen immer wieder zu fesseln vermochten, wohingegen Geschichten über Erwachsene es nicht einmal beim ersten Mal vermochten.

Aufseufzend begann Margaret nun das Kapitel über die Erze vorzulesen. Matt und langsam buchstabierte sie ihr schwierig erscheinende Worte, die keinen Sinn für sie ergaben: »Ist es nicht sonderbar, daß Erze manchmal so ganz anders sind als Metalle? Viele Minerale bekommen wir in ihrem natürlichen Zustand zu Gesicht, aber nur wenige Menschen sind mit den Metallen vertraut, die ganz allgemein in Gebrauch sind, oder denken auch nur im entferntesten an die vielen Arbeitsgänge, die nötig sind, um daraus Gebrauchsgegenstände herzustellen, die wir Tag für Tag zur Hand nehmen. Was sieht wohl weniger wie Kupfer aus als der wunderbar wirkende Malachit, nicht wahr? Und nehmen wir einmal …«

An dieser Stelle wurde der schwerfällige Monolog glücklicherweise dadurch unterbrochen, daß die Tür zum Wintergarten ohne vorheriges Anklopfen aufgerissen wurde und Tessie in höchst ungebührlicher Form hereingestürzt kam. »Missis, Ned Ridley steht mit zwei Leuten vor der Haustür!« stieß sie hervor.

»Ned Ridley?«

»Ja, Missis, mit zwei Leuten.«

Anne Thornton erhob sich, ging langsam auf Tessie zu, baute sich vor ihr auf und fragte: »Was soll das heißen: zwei Leute? Drück dich gefälligst deutlicher aus, Mädchen.«

»Nun, Missis, die beiden sehen wie richtige Landstreicher aus, schlimmer sogar, schmutzig und… Also, es ist eine Frau und ein Kind.«

Anne Thornton stützte die Hände in die Hüften und wies Tessie an: »Sag allen dreien, daß sie zur Hintertür gehen sollen, und bitte die Köchin, sie zu fragen, was sie wollen.«

»Ja, Missis.«

»Setz dich, John!«

Der Junge hatte versucht, vom Ende des Wintergartens aus einen Blick auf die zur Haustür führenden Stufen zu werfen. Auch Anne Thornton nahm wieder ihren Platz ein, forderte ihre Tochter jedoch nicht dazu auf, mit dem Lesen fortzufahren. Statt dessen saß sie, wie ihre Kinder, abwartend da.

Tessie kehrte derart rasch zurück, daß keiner der Anwesenden sich vorstellen konnte, daß sie in der kurzen Zeit tatsächlich an der Haustür gewesen war. Sie bewies es jedoch dadurch, daß sie gleich nach dem Eintreten herausplatzte: »Er will sich nicht von der Stelle rühren, Missis! Ned… Ned Ridley. Er sagt, die beiden seien von weit her gekommen, um mit dem Master zu sprechen.« Abermals erhob sich Anne Thornton langsam, legte die Fingerspitzen aufeinander, rückte sich die Gürtelschnalle zurecht, ebenso Spitzenkragen und Leinenhäubchen, dann durchquerte sie wortlos den Wintergarten und ging durch die Halle zur Haustür.

Tessie, die die Tür kurz zuvor geschlossen und die Besucher draußen stehengelassen hatte, war ihr vorausgelaufen. Nun öffnete sie wieder, trat zurück und sah ihre Herrin neugierig an.

Als Anne die drei Leute auf den Stufen erblickte, wurde ihre Miene eisig. Sie konnte sich nicht denken, was die zwei schmutzigen Fremden wünschten, aber daß Ned Ridley es wagte, einfach mir nichts, dir nichts am Haupteingang aufzutauchen, war in ihren Augen eine glatte Unverschämtheit. Es hatte sie damals schon genug gedemütigt, ihre Hilfsmaßnahmen dem kleinen Ned gegenüber scheitern zu sehen. Noch erniedrigender war der Spott gewesen, den sie später von dem Heranwachsenden geerntet hatte. Die Erinnerung an ihr letztes Zusammentreffen war ihr nach wie vor gegenwärtig. Da war sie zur Weihnachtszeit mit John und Robert den Hügel hinaufgegangen. Sie wollten Neds Großvater, obwohl dieser als ausgemachter Grobian galt, ein Geschenk bringen. Aber sie hatten kein Wort des Dankes zu hören bekommen, sondern waren von den beiden nur verhöhnt worden.

»Was soll ich wohl Ihrer Meinung nach dafür tun, Missis?« hatte der Alte zu ihr gesagt, nachdem er das Stück Bauchfleisch ausgewickelt hatte. »Erwarten Sie nun etwa, daß wir Ihnen für dieses Almosen auf den Knien danken? Da hat die Frau des Pastors schon mehr Großzügigkeit bewiesen, die hat uns nämlich eine dicke Fleischpastete und Zuckerzeug gebracht, müssen Sie wissen. Und trotzdem werden wir deswegen keine eifrigen Kirchgänger, jawohl!«

Die ärgste Beleidigung hatte ihr jedoch der Junge zugefügt, als er ihr, nachdem er sie bis ans Ende des Hofes begleitet hatte, grinsend zugeflüstert hatte: »Wenn Sie ihm statt dessen eine Flasche Schnaps mitgebracht hätten, Madam, dann wäre er am Ende wirklich hinuntergekommen und hätte vor Ihrer Haustür gesungen ‒ wenn auch nicht gerade Kirchenlieder. Aber so…« Oh, diese Ridleys!

»Was willst du?« fragte sie barsch.

»Guten Tag, Madam.« Der junge Bursche zog mit einer schwungvollen Geste seine Mütze und sagte: »Ich hab die beiden Leute hierhergeführt, die in aller Frühe bei uns droben aus dem Nebel aufgetaucht sind. Sie haben auf dem Weg zu Ihnen die ganze Nacht im Freien verbracht.«

Ein Ausdruck äußersten Staunens lag nun auf Anne Thorntons Gesicht, als sie von der Frau zu dem kleinen Mädchen blickte. Dann wandte sie sich an die Frau. »Weshalb wollt ihr mich sprechen?«

Nancy Boyle hustete zweimal kurz, schluckte und antwortete schleppend: »Ich komme nicht zu Ihnen, sondern zu Ihrem Mann.«

»Mein Mann ist nicht daheim. Sagen Sie also mir, was Sie von ihm wünschen.«

Wiederum mußte Nancy husten, diesmal heftiger. Aber sie hielt dem durchdringenden Blick der stahlblauen Augen stand. »Das ist meine und seine Angelegenheit«, erwiderte sie stolz.

Einen Moment lang verschlug es Anne Thornton die Sprache. Dann schaute sie jedoch in das Gesicht Ned Ridleys, dessen ernsthafter und feierlicher Ausdruck von dem Lachen in seinen Augen Lügen gestraft wurde. Das war zuviel!

»Was diese Leute meinem Mann auch zu sagen haben mögen ‒ ich bin sicher, daß sie es sehr gut ohne deine Hilfe zustande bringen werden!« fuhr sie ihn an. »Also sei so freundlich und verschwinde. Und vergiß in Zukunft nicht, daß wir einen Hintereingang haben.«

»O ja, Madam, natürlich, Madam!« Der junge Mann setzte seine Mütze mit einer heftigen Bewegung wieder auf, trat feixend zwei Schritte zurück und sagte dann zu Nancy: »Viel Glück, Missis, viel Glück, was Sie auch Vorhaben mögen.«

Anne Thornton sah ihm nach, als er die Auffahrt hinunterlief, das Gittertor aufriß, es hinter sich zuschlug und abermals spöttisch an den Mützenrand tippte.

Was für ein Flegel! Wenn irgend jemand auf der Welt imstande war, sie zu ärgern, dann war es dieser Bursche. Seit sie ihn als kleinen Jungen zum ersten Mal gesehen hatte, hatte er sie gereizt und verärgert, und auch die folgenden Begegnungen hatten sie stets mit Zorn und Abscheu erfüllt…

»Ich möchte Ihren Mann sprechen«, brachte sich die Fremde wieder in Erinnerung.

Mrs. Thornton wurde dadurch jäh in die Gegenwart zurückgeholt. Hochmütig wandte sie sich der noch immer auf der untersten Stufe stehenden Frau zu und fragte verächtlich: »Was haben Sie mit meinem Mann zu schaffen?«

»Das ist meine Angelegenheit.«

»Wer sind Sie überhaupt?«

»Ich heiße Nancy Boyle, und das hier ist meine Tochter Hanna.« Die Frau legte die Fingerspitzen auf die Schulter des Kindes.

Anne Thornton starrte die Kleine an, ehe sie sagte: »Falls Sie Vorhaben zu betteln, ist es nicht mein Mann, an den Sie sich zu wenden haben. Diese Angelegenheiten erledige ich. Wir geben Almosen zugunsten der Kirche und …«

»Ich will kein Almosen, Missis ‒ ich möchte Ihren Mann sprechen.«

»Mein Mann befindet sich in seinem Büro. Wenn Sie etwas mit ihm zu besprechen haben, können Sie das getrost mir sagen.«

Nancy Boyle blickte unerschrocken in das abweisende Gesicht der Hausherrin, ehe sie ruhig erwiderte: »Sie werden es früh genug erfahren. Ich kann warten, bis er zu Hause ist. Komm!« Sie drehte die Kleine um und schob sie zum Eisentor.

Anne Thornton sah den beiden vom Treppenabsatz aus nach. Sie kniff die Augen zusammen, kaute auf der Unterlippe und überlegte ziemlich beunruhigt, welche Verbindung es zwischen diesen abgerissenen Geschöpfen und ihrem Mann geben konnte. Es waren doch hoffentlich keine Verwandten von ihm? Natürlich wußte sie, daß er einfacher Herkunft war. Hatte sie nicht seit Jahren versucht, diesen Umstand durch tadelloses Verhalten in Vergessenheit geraten zu lassen? Aber wie ärmlich die Verhältnisse auch sein mochten, aus denen ihr Mann stammte ‒ seine Verwandten hätten sich gewiß dagegen gewehrt, mit dieser Person und ihrem Kind in Verbindung gebracht zu werden.

Als die Standuhr in der Halle rasselnd die vierte Stunde schlug, überlegte sie, daß bis zu seiner Heimkunft noch zwei Stunden vergehen würden. Was war, wenn dieses Weib sich währenddessen auf die Bank am Dorfanger setzte, sich mit Vorbeikommenden auf ein Gespräch einließ und ihnen erzählte, daß sie hier sei, um Matthew Thornton aufzusuchen? Sie hätte die beiden im Hof warten lassen sollen. Wie hatte sie nur so unvorsichtig sein können!

Aufgeregt drehte sie sich um, hob die Rockschöße hoch und eilte durch die Halle, vorbei an Tessie, deren Miene deutlich zum Ausdruck brachte, wie erstaunt sie darüber war, ihre sich stets so würdevoll gebende Missis laufen zu sehen. Noch erstaunter sah sie drein, als Anne Thornton, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, nach oben hastete. Sie erriet sogleich, daß ihre Herrin ins Schlafzimmer der Knaben wollte, und konnte sich gut vorstellen, weshalb sie dies tat.

Auch Robert war verblüfft, mit welcher Heftigkeit seine Mutter das Schlafzimmer betrat. Sie stieß ihn beinahe von der breiten Fensterbank, kauerte sich nun selbst darauf und drückte ihr Gesicht an die Fensterscheibe. Von hier aus hatte man nämlich einen ungehinderten Blick auf die zur Dorfmitte führende Straße. Alles, was Anne im Moment von ihrer Warte aus sehen konnte, waren die beiden Bynge-Mädchen Alice und Mary, die mit Bill Buckman plauderten, übertrieben lachend die Köpfe zurückwarfen und sich überhaupt recht unziemlich benahmen. Wo nur die Mutter der beiden war? Jeder wußte, daß Bill Buckman verheiratet war, angeblich lebte seine Frau in Hexham. Und nicht nur seine Frau, auch seine Freundin… Ach, was zerbrach sie sich über derlei Dinge eigentlich den Kopf? Von ihren beiden »Besucherinnen« war jedenfalls weit und breit nichts zu sehen!

»Nach wem hältst du Ausschau, Mama?« Die Stimme des Jungen verriet keinerlei Groll darüber, daß sie ihm erst vor kurzem eine Strafe verpaßt hatte.

»Nach niemandem.«

»Handelt es sich um die Leute, die vorhin an der Haustür waren?«

Sie fuhr herum und sah ihren Sohn an. Natürlich hatte er die beiden gesehen!

»Sie sind nicht ins Dorf gegangen, Mama«, erklärte Robert, »sondern in die entgegengesetzte Richtung, die Kirchhofmauer entlang hügelan. Sieh nur« ‒ er trat neben sie und deutete hinunter ‒, »dort sitzen sie.«

Anne schaute in die angegebene Richtung. Tatsächlich, dort saß die Frau. Und das Kind stand neben ihr. Von diesem kleinen Hügel neben dem Friedhof konnte man die Straße sehr gut überblicken, auf der ihr Mann heimzureiten pflegte, wenn er aus dem Bergwerk kam. Wußte das Weib das? Es war möglich, daß Ned Ridley es ihr gesagt hatte. Was wollte sie? Was wollte sie nur?

»Behalt die beiden weiter im Auge, Robert«, befahl sie ihrem Sohn. »Wenn sie den Hügel verlassen, gibst du mir Bescheid, verstanden?«

»Ja, Mama. Weshalb wollen die beiden mit Papa sprechen?«

Anne Thornton blieb auf dem Weg zur Tür unvermittelt stehen, drehte sich jedoch nicht um, als sie antwortete: »Ich weiß es nicht.«

Dieser Junge! Er mußte vorhin das Fenster geöffnet und ihr Gespräch mitangehört haben. Aber dann hatte auch Tessie heimlich gelauscht, und das bedeutete, daß Bella gleichfalls bereits Bescheid wußte. Und was Bella wußte, würde in Kürze das ganze Dorf erfahren.

Was war nur plötzlich los hier? O wäre es doch nur schon sechs Uhr…

Matthew Thornton, der sich gerade auf den Heimweg machen wollte, warf einen Blick auf das scheinbare Durcheinander, das Joe Robson, ein erfahrener Bergmann, seinem Sohn Peter soeben erklärte: Es handelte sich um die beste Art des Erzwaschens. Die Kunst bestand darin, den Rechen so hin- und herzuschieben, daß das Gestein auf einem von einem Holzrahmen umgebenen großen Sieb von allen Seiten einem kräftigen Wasserstrom ausgesetzt wurde.

Mit einem zweifelnden Kopfschütteln bestieg Thornton sein Pferd. Der kleine Peter war ‒ obwohl bereits vierzehn und recht stämmig ‒ noch nicht kräftig genug fürs Erzwaschen. Aber nachdem Joe ihn eigens dämm gebeten hatte, es den Jungen versuchen zu lassen, hatte er schließlich eingewilligt, denn Joe war ein guter, verläßlicher und ‒ im Gegensatz zu den meisten Kumpeln ‒ stets nüchterner Arbeiter. Vier seiner Söhne waren bereits im Bergwerk beschäftigt: Zwei davon, nämlich Archie und Hai, beide noch keine siebzehn, arbeiteten als Hauer im Erzabbau, der dritte half beim Zerkleinern der großen Gesteinsbrocken, und der vierte und jüngste Sohn ‒ er war erst zwölf Jahre alt ‒ stand am Handsieb seinen Mann. Am Zahltag kassierten die Robsons mit den meisten Lohn. Thornton hätte sich mehr Arbeiter vom Schlag dieses Joe gewünscht.

Alles in allem war es eine gute Woche gewesen, überlegte er. Mr. Byers hatte sich mit den Schürfergebnissen überaus zufrieden gezeigt, und da er ein rechtschaffener Verwalter war, ließ er diese Zufriedenheit seine Mitarbeiter auch fühlen. Wäre dieser Sopwith drüben in Allenheads ein ebenso rechtschaffener Mann wie Mr. Byers gewesen, dann hätte es in Allenheads im vergangenen Jahr niemals diese schreckliche Streikwelle gegeben.

Die Ader, die sie heute in Angriff genommen hatten, hatte sich als fündig herausgestellt. Man war auf gut zwanzig Prozent Erz gestoßen. So etwas ereignete sich nicht alle Tage.

Thornton ritt um den Stausee und an den Absetzbecken entlang, kürzte ab, indem er den Fuhrweg über den Hügel einschlug, und erreichte schließlich die Straße, die breit genug war, daß ein Reiter einen Ponyzug passieren konnte, ohne erst mühsam die Böschung erklimmen zu müssen.

Er war hungrig und verschwitzt und sehnte sich danach, daheim zu sein, am Kopfende des Tisches zu sitzen und in die strahlenden Gesichter seiner vier Sprößlinge zu blicken. Morgen wollte er John ins Bergwerk mitnehmen ‒ vorausgesetzt, daß Anne nichts dagegen einzuwenden hatte. Nun, sollte sie doch! Letzten Endes würde der Junge ja doch seinen eigenen Neigungen folgen, ob es sich nun um die Jurisprudenz handelte, wie sie es wünschte, oder um Bleigewinnung, wie er selbst es gern gesehen hätte.

Als er den Fuß des Hügels umrundete, ließ er sein Pferd im Schritt gehen. Vor ihm tauchte die wohlvertraute Gestalt Ned Ridleys auf, der ein Pony ritt und zwei weitere mit sich führte. Matthew Thornton holte ihn ein und rief fröhlich: »Hallo, Ned, bist du schon wieder zum Hufschmied unterwegs?«

»Stimmt genau, Mr. Thornton.« Der Bursche drehte sich lachend im Sattel um. »Wenn sie spuren sollen, muß man für guten Beschlag sorgen, sag ich immer. Und für die Biester kann das Eisen gar nicht hart genug sein, ob Sie’s glauben oder nicht!«

»Ich glaub’s dir ja«, erwiderte Matthew gut gelaunt. »Wenn ich auch mal in unserer Werkstatt nachfragen könnte, ob die nicht inzwischen auf was noch Besseres gekommen sind, hm?«

»Jawohl, das könnten Sie.« Lachend ritten sie Seite an Seite weiter.

»Wie geht’s deinem Großvater?« fragte Matthew nach einiger Zeit. »Ich habe ihn schon lange nicht mehr beim Markttag unten gesehen.«

»Ha, der wird auf seine alten Tage langsam faul. Er rührt sich nicht einmal mehr vom Fleck, wenn ich ihm verspreche, Bull Tiffit nach allen Regeln der Kunst zusammenzuschlagen.«

»Dein Kampf neulich war eine Glanzleistung!«

»Nun, es gehört auch eine Portion Glück dazu. Jedesmal gelingt es nicht.«

Matthew betrachtete das kühne Profil des jungen Mannes, der kerzengerade wie ein Soldat auf seinem Pony saß. »Im Grunde genommen ist die ganze Boxerei eine reichlich verrückte Angelegenheit, Ned«, gab er zu bedenken. »Du könntest einen Schaden fürs ganze Leben davontragen.«

»Inwiefern?«

»In jeder Hinsicht. Bull Tiffit ist meiner Meinung nach ein übler Bursche, außerdem um einiges schwerer als du.«

»Das ist nur ein Vorteil, Mr. Thornton. Gegen diesen schwerfälligen Karrengaul bin ich flink wie ein Wiesel. Meine Beinarbeit ist bestens.«

»Weshalb verwendest du deine Muskelkraft nicht darauf, auf solidere Art regelmäßig und ordentlich zu verdienen, und kommst ins Bergwerk?«

»Ach, Mr. Thornton!« Ned warf übermütig den Kopf zurück und lachte. »Das soll wohl ein Scherz sein! Ich habe Ihnen schon hundertmal gesagt, daß Sie mich um keinen Preis der Welt in die Schächte kriegen. Ich beliefere Sie gern mit Eseln, Maultieren, Ponys, ja von mir aus auch mit Rennpferden ‒ aber sonst mag ich mit dem Bergwerk nichts zu tun haben. Damit will ich aber nicht sagen, daß ich im Prinzip nicht für Sie arbeiten möchte… Nein, wenn ich mich einem Vorgesetzten unterordnen müßte, dann würde ich mir garantiert einen wie Sie aussuchen.«

»Besten Dank, Ned, das ist ja ein richtiges Kompliment. Das weiß ich zu schätzen, besonders wenn es von einem Rauhbein wie dir kommt.« Abermals sahen sie einander an und lachten.

Als der Hügel neben dem Friedhof in Sicht kam, blickte Ned erst nach unten, dann seinen Begleiter an. Thornton hatte offensichtlich nur noch Augen für seinen eigenen Besitz und verabschiedete sich eilig: »Wiedersehen, Ned. Hab mich gefreut, dich zu treffen.«

»Ich mich auch, Mr. Thornton. Ich mich auch.«

Dandy Smollett wartete im Hof bereits auf seinen Herrn, um dessen Pferd in Empfang zu nehmen. Matthew saß ab und übergab ihm die Zügel mit den Worten: »Sei heute nicht so sparsam wie sonst mit dem Abreiben, Dandy, verstanden?«

»Nein, nein, Master, gewiß nicht!« beteuerte der Junge. Gewohnheitsgemäß betrat Thornton das Haus durch den Kücheneingang, nahm wie immer auf dem Holzstuhl neben der Tür Platz, öffnete die Schnallen seiner Gamaschen, schnürte sich die Schuhe auf und griff nach den Hausschuhen, die Tessie ihm reichte.

»Wird langsam Zeit, daß ich mir neue anschaffe, was meinst du?« Scherzhaft zwinkerte er der Kleinen zu.

Zu einem anderen Zeitpunkt hätte Tessie sicherlich vor sich hingekichert und wäre auf die Neckerei eingegangen. Aber heute nahm sie sich keine derartige Freiheit heraus, sondern sah ihn nur schweigend an, bis er fragte: »Was ist denn? Hast du die Sprache verloren, Tessie?«

»O nein, Master.«

»Oder hat dein Kätzchen wieder mal was angerichtet, hm?« Er erhob sich und legte seinen staubigen Rock ab. Als sie wieder nichts darauf sagte, sondern nur verneinend den Kopf schüttelte, blickte Matthew zu Bella hinüber, die vor dem Küchentisch stand und mit hochrotem Gesicht gerade damit beschäftigt war, den brutzelnden Lammbraten anzurichten. Er schnupperte genußvoll und sagte anerkennend: »Hm! Darauf hab ich mich schon den ganzen Tag gefreut, Bella. Ich kann dir gar nicht sagen, wie mir der Magen knurrt.«

»Es ist alles fertig, Master. Ich trage ihn auf, sobald Sie soweit sind.«

Er sah sie erstaunt an. Auch Bellas Gesicht war ungewöhnlich ernst. Irgend etwas stimmte nicht. Was war nur mit den beiden los? Wahrscheinlich hatten sie Anne geärgert und einen Rüffel dafür einstecken müssen. Nun, am besten, er erkundigte sich gleich, was geschehen war.

Matthew verließ die Küche und betrat die Halle. Seine Frau wartete dort bereits auf ihn. Auch das war ungewöhnlich! Bei ihrem Anblick schoß ihm der Gedanke durch den Kopf, wie sehr er sich wünschte, daß sie zum richtigen Zeitpunkt mit solcher Ungeduld auf ihn warten würde.

»Komm bitte einen Moment ins Wohnzimmer, Matthew.«

»Ich habe mich noch nicht frisch gemacht«, sagte er. Sie schien jedoch die Regel, daß er nach dem Heimkommen erst Rock und Schuhe abzulegen und sich zumindest die Hände zu waschen pflegte, heute außer acht lassen zu wollen.

»Es ist wichtig! Ich muß mit dir reden.«

Während er ihr langsam folgte, erschien plötzlich Robert oben auf der Treppe und rief: »Mama, Mama ‒ sie kommen zurück!«

Matthew warf seinem Sohn einen erstaunten Blick zu. Diese für ihn rätselhafte Bemerkung schien für Anne jedoch von großer Bedeutung zu sein, statt wie sonst gelassen dahinzuschreiten, ging sie rasch ins Wohnzimmer voran. Kaum hatte er es betreten, schloß sie die Tür hinter ihm, sah ihn durchdringend an und fragte: »Hast du irgendwelche Verwandte in Haydon Bridge, von denen du mir nichts gesagt hast oder vielleicht selbst nichts weißt?«

»Verwandte in Haydon Bridge? Du weißt genau, daß ich dort keine habe.«

»Und in Hexham?«

»Auch dort gibt es keine Menschenseele, die zu mir gehört. Was ist denn los?«

»Nun, dann muß ich dich darauf aufmerksam machen, daß wir gleich Besuch bekommen werden. Vor zwei Stunden etwa ist eine schmutzige und abgerissene Person in Begleitung ihres Kindes an unserer Haustür gestanden und wollte dich sprechen. Dieser gräßliche Ned Ridley hat die beiden hergebracht.« Sie atmete heftig. »Die Frau wollte mir nicht verraten, worum es sich handelt oder was sie will. Bist du sicher, daß du keine Verwandten besitzt außer denen, von denen du mir erzählt hast?«

»Das weißt du doch. Die letzte war meine Großmutter, und die ist vor neun Jahren in Newcastle gestorben.« Aufseufzend drehte Anne sich um, durchquerte das Zimmer, blieb vor dem Sofa stehen, umklammerte mit beiden Händen dessen Lehne und sagte: »Diese Frau will aus offensichtlich ganz persönlichen Gründen mit dir reden. Da … horch!« Sie fuhr herum und deutete auf die Tür. »Das wird sie sein. Sie hat auf dem Hügel hinter dem Friedhof gesessen, um auf dich zu warten.«

»Bis jetzt? Nun, das werden wir gleich haben.« Matthew nahm seine Manschettenknöpfe ab, krempelte sich die Hemdsärmel auf, lockerte seinen Kragen und ging mit großen Schritten zur Haustür.

Anne Thornton stand neben ihm, als er sie öffnete, und blickte nun weder die Frau noch das Kind an, sondern nur ihren Mann. Sie beobachtete, wie er die Augen erst zusammenkniff, dann jedoch erstaunt aufriß.

»Ich bin es, Matthew ‒ Nancy Boyle. Erinnern Sie sich?«

Und ob er sich erinnerte! Das war es ja, was ihn so sprachlos machte. Die zerlumpte, verhärmte Frau, die da auf den Stufen seines Hauses stand, war tatsächlich Nancy Boyle. Wenn sie auch mit dem jungen Ding, das er gekannt hatte, nicht mehr viel Ähnlichkeit besaß. Weshalb, um alles in der Welt, suchte sie ihn hier auf? Wie sollte er das bloß Anne erklären? Er würde niemals imstande sein, ihr das begreiflich zu machen.

Während Matthew Thornton noch immer sprachlos dastand, spürte er direkt, wie sein bisheriges Leben gleich einem Kartenhaus über ihm zusammenstürzte. In diesem Moment wurde ihm klar, daß er von nun an bis zum Tag seines Todes auf die eine oder andere Weise darunter zu leiden haben würde, daß Nancy Boyle aus irgendeinem Grund, den im Augenblick nur sie selbst kannte, aus der Vergangenheit aufgetaucht war.

Noch hatte er kein einziges Wort gesprochen oder offen zu erkennen gegeben, daß er sie wiedererkannt hatte. Nun streckte er der Frau jedoch unwillkürlich die Hand entgegen, die sie aber eines quälenden Hustenanfalls wegen nicht ergreifen konnte. Sie schien heftige Schmerzen zu haben, während sie in einen rotbraunen Leinenlappen spuckte.

»Komm herein.«

»Matthew!« Die Art, wie Anne seinen Namen ausgesprochen hatte, war ein einziger Vorwurf. Er drehte sich zu ihr um und flüsterte: »Was soll ich machen? Sollen wir an der Türschwelle miteinander verhandeln?«

Als die Frau und das Kind die Halle betreten hatten, wollte er sie schon ins Wohnzimmer führen, was einen neuerlichen Protest Annes hervorrief, die sich das energisch verbat.

»Wohin sollen wir denn dann?« schrie er sie an.

»Ins … ins Frühstückszimmer.«

Nun war sie es, die voranging. Als sie im Frühstückszimmer standen und Matthew die Tür geschlossen hatte, zog er einen Stuhl heran und sagte, ohne die Frau anzusehen: »Setz dich.«

Nancy Boyle nahm Platz, lehnte sich zurück und blickte zu dem Mann auf, den sie seit beinahe neun Jahren nicht mehr gesehen hatte. Er schien größer, breiter und hübscher geworden zu sein, als sie ihn in Erinnerung hatte. Es kam ihr sonderbar vor, daß sie in all ihrer Angst und Pein einen Moment lang so etwas wie Mitleid für ihn empfand, bis er äußerst förmlich fragte, was er für sie tun könne. In diesem Augenblick erlosch ihr Mitleid, und sie antwortete schroff: »Nur eines ‒ sich um Ihr Eigentum kümmern. Sie gehört Ihnen!« Mit diesen Worten schob sie ihm das Kind zu.

Matthew trat bestürzt und hastig einen Schritt zurück, als hätte ihn eine Kobra gebissen.

Obwohl er Anne keuchen hörte und wußte, daß sie beide Hände vors Gesicht geschlagen hatte, blickte er nicht zu ihr hinüber, sondern starrte betroffen das Mädchen an, das gleichfalls zu ihm aufblickte.

»Newton«, sagte Nancy Boyle mit unsicherer Stimme, als wäre sie betrunken, »… klingt gar nicht soviel anders als Thornton… Erinnern Sie sich ans ›Temperance-Hotel‹? Die alte Hausmagd sagte mir, einen Gast, der Newton heiße, kenne sie nicht, es sei auch niemals ein Mann dieses Namens bei ihnen abgestiegen. Natürlich hätte die Alte es so und so nicht zugegeben ‒ selbst wenn ich Ihren richtigen Namen gekannt hätte. Denn sie wußte sofort, was ich wollte, als ich mit meinem dicken Bauch vor ihr stand. Komisch, wie ich Sie ausfindig gemacht habe. Ich habe Sie nämlich in dieses Bürohaus in der Grey Street gehen sehen. Ein prächtiges Gebäude mit einem Türhüter davor. ›War das Mr. Matthew Newton, der da eben hineinging?‹« habe ich ihn gefragt. »Nein, Mr. Matthew Thornton von den Bleibergwerken … das hier ist der Sitz der Gesellschaft«, hat er geantwortet. Ich wartete und wartete, aber Sie sind nicht wieder herausgekommen. Ich wußte nicht, daß es noch einen zweiten Eingang gab. Und nun, da es mit mir bald zu Ende geht, sagte ich mir: »Du mußt ihn finden. Wer könnte sich besser um die Kleine kümmern als ihr Vater? Von dem Moment an habe ich alles getan, um Ihre Adresse herauszubekommen.«

Ein heftiges Scharren riß Matthew Thornton aus diesem Alptraum, es war der Stuhl, den Anne zur Seite gestoßen hatte. Sie schwankte ein wenig, so, als würde sie im nächsten Augenblick ohnmächtig werden. Als er hinzusprang und den Arm um sie legte, sank sie jedoch keineswegs an seine Schulter ‒ im Gegenteil. Diese Berührung schien sie wieder völlig lebendig zu machen, denn sie stieß ihn zurück und wankte auf den nächsten Stuhl zu.

»Scheint ein Schock für sie zu sein. Ist durchaus verständlich.«

Matthew drehte sich um und blickte wiederum Nancy an, diesmal voller Zorn. Raschen Schrittes ging er auf sie zu, beugte sich zu ihr hinunter, sah ihr fest in die tief eingesunkenen Augen und flüsterte heiser: »Du hast keinen Beweis. Es hat auch andere gegeben.«

»Das schon«, erwiderte sie apathisch. »Vorher und nachher. Aber es ist Ihr Kind. Ich habe es Ihnen gesagt, als Sie das letztemal bei mir waren. Deshalb haben Sie doch Reißaus genommen, nicht?«

Er schloß die Augen, richtete sich auf, stützte sich auf den marmornen Kaminsims und preßte die Lippen aufeinander.

Warum, um Gottes willen, mußte ihm so etwas passieren? Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie gierig die Dorfbewohner und die Bergleute diese Neuigkeit aufschnappen würden! Auf dem Markt in Allendale würde man sich in aller Öffentlichkeit über ihn lustig machen.

Auch seine berufliche Karriere war in Gefahr, denn dieser Skandal brachte ihn vielleicht um die Chance, Leiter des Bergwerks zu werden. Um diesen Posten hatte er sich seit Jahren bemüht, und seine Aussichten waren gut gewesen. Dennoch bedrückten Matthew alle diese möglichen Konsequenzen weniger als die Folgen, die sich daraus für sein künftiges Familienleben ergeben würden. Ab jetzt würde alles ganz anders sein…

Bis zum heutigen Tag hatte er die unumschränkte Bewunderung und Liebe seiner vier Kinder besessen. Wenn die Gefühle, die seine Frau ihm entgegenbrachte, auch nicht von gleicher Ausschließlichkeit sein mochten ‒ mit Gefühlen hatte sie ihn schließlich niemals überschüttet ‒, so wußte er doch, daß sie ihn liebte, eben auf ihre engherzige, pflichtgetreu-fromme Art. Sie war immer eine großartige Hausfrau und vorbildliche Mutter gewesen. Und trotzdem war Anne im Grunde eigentlich schuld an seiner gegenwärtigen mißlichen Lage. Von Betsys Geburt an hatte sie alles darangesetzt, glaubhaft vorzutäuschen, daß sie aus gesundheitlichen Gründen außerstande sei, ihren ehelichen Pflichten nachzukommen. Als das Kind sechs Monate alt war und ihre ausgezeichnete körperliche Verfassung ihren angeblichen Schwächezustand Lügen strafte, hatte Anne ihm unmißverständlich klargemacht, daß sie in Zukunft ihren ehelichen Pflichten nur unter Berücksichtigung ihrer immer länger währenden Regelbeschwerden nachkommen könne, was bedeutete, daß er oft wochenlang vergeblich nach körperlicher Befriedigung lechzte.

Um diese Zeit war es gewesen, daß Mr. Byers ihm die angenehme Pflicht auf erlegt hatte, von nun an mit den jeweiligen Gesteinsproben in Mr. Beaumonts Direktionsbüro vorzusprechen. In den darauffolgenden Monaten hatten sich insgesamt vier Fahrten nach Newcastle als notwendig erwiesen. Und da man auf die genauen Untersuchungsergebnisse der Proben warten mußte, stieg er die zwei, drei hierfür nötigen Tage jeweils im ›Temperance-Hotel‹ ab.

Bei seinem ersten Aufenthalt in der Stadt hatte Matthew Nancy Boyle kennengelernt. Er hatte sie durch rasches Zugreifen davor bewahrt, von einer Kutsche überfahren zu werden. Bald merkte er, daß Nancy nicht nur hübsch, sondern in ihrer einfachen Art warmherzig und mitfühlend war.

Als sie ihn das erstemal in ihr winziges Dachstübchen in einer bescheidenen Pension hinter den Lagerhäusern am Fluß mitnahm, sah er, daß alles zwar etwas ärmlich, aber blitzsauber war. Ihr genügte ihre Behausung deshalb, erzählte sie ihm, weil sie als Putzmacherin zwölf bis vierzehn Stunden täglich in einer Kellerwerkstatt in der Stadt arbeitete und ohnehin nur zum Schlafen nach Hause kam. Er horchte sie ebensowenig über ihre Vergangenheit aus, wie sie ihm über sein Leben Fragen stellte. Vorsichtshalber hatte er ihr einen falschen Namen angegeben: schließlich war er verheiratet, hatte Kinder, saß im Kirchenrat und mußte auf seinen tadellosen Ruf schon deshalb achten, weil Mr. Byers, sein Vorgesetzter, ein strenggläubiger Mann war, der moralische Grundsätze über alles stellte.

Er erinnerte sich noch genau an den Schrecken, den sie ihm bei ihrem letzten Treffen eingejagt hatte, als sie, auf ihren Bauch deutend, damit herausgeplatzt war, daß sie in Schwierigkeiten sei. »Was soll ich jetzt tun?« hatte sie ängstlich gefragt. Er hatte sie zu beschwichtigen versucht: sie bräuchte sich keine Sorgen zu machen, er würde schon alles bereinigen.

Was aber hatte er tatsächlich getan? Er war ins »Temperance-Hotel« gehetzt, hatte seine Reisetasche gepackt und war in einen kleinen Gasthof auf der anderen Seite der Stadt umgezogen. Am nächsten Tag hatte er so rasch wie möglich seine Geschäfte erledigt und daraufhin fluchtartig die Heimreise angetreten.

Und nun stand das Resultat einer schwachen Stunde in Gestalt des kleinen Mädchens vor ihm. Der Bibelspruch »Was ihr sät, werdet ihr ernten« bewahrheitete sich wieder einmal voll und ganz. Wenn er ‒ der Sonntag für Sonntag seine wohlklingende Stimme zu Ehren Gottes erhob ‒ mit den Grundsätzen der Kirche auch nicht immer einverstanden war, so stellte er die Wahrheit der Bibel doch für keinen Augenblick in Frage. Immer wieder hatte sich erwiesen, daß sie die lautere Wahrheit verkündete …

»Ich gehe jetzt«, unterbrach Nancy Boyle das allgemeine Schweigen. »Was ich vorhatte, habe ich ausgeführt. Sie gehört Ihnen. Von nun an kümmern Sie sich um Hanna.«

Matthew Thornton hob langsam den Kopf, aber sie blickte nur das Kind an. Die Kleine umhalste weinend ihre Mutter und jammerte: »Ach Ma! Ma! Wohin gehst du? Ich bleibe nicht da. Ich will mit dir gehen.«

»Hör gut zu: Das ist der Herr, von dem ich dir erzählt habe.« Sie deutete auf Matthew. »Er wird für dich sorgen, weil er dein Vater ist. Also sei schön brav und tu, was man dir sagt. Eines Tages werde ich dich besuchen kommen, das verspreche ich dir.« Sie lächelte Hanna schwach zu und blickte dann die Frau des Hauses, die mit kreidebleichem Gesicht hochaufgerichtet vor ihr stand und der die Augen aus dem Kopf zu fallen drohten, bittend an. »Sie ist ein gutes Kind und wird Ihnen bestimmt keine Mühe bereiten.«

Mit diesen Worten schob sie ihre Tochter von sich, drehte sich um und ging langsam aus dem Zimmer in die Halle. Dort sah sie sich den vier Kindern Matthew Thorntons gegenüber, die sie mit offenen Mündern und großen Augen anstarrten. »Ihr … ihr habt eine neue Schwester bekommen. Seid gut zu ihr.« Damit ging sie auf die Haustür zu, an der Tessie mit der Hand auf der Klinke wartete und noch erstaunter war als die Kinder. Tessie blickte der Fremden einen Moment nach, dann schloß sie eilends die Tür. Sie und die Kinder schauten nun zum Frühstückszimmer hinüber, aus dem die lauten Stimmen der Erwachsenen drangen.

Margaret sah John an und John Margaret. Beide waren betroffen: Ihre Eltern pflegten niemals zu streiten.

Manchmal, wenn sie des Nachts aufwachten, hörten sie sie zwar lauter als gewöhnlich reden, aber dann besprachen sie wahrscheinlich die Ereignisse des Tages miteinander. Nun aber schrie ihre Mutter geradezu.

»Sie bleibt nicht hier, hast du verstanden! Sie bleibt nicht in diesem Haus!«

»Schweig doch!« fuhr Matthew sie an. Es wurde einen Augenblick lang still. Anne betrachtete verblüfft ihren Mann ‒ diesen Mann, der nicht die geringste Spur von Gewissensbissen zeigte. Dieser entsetzliche Vorfall hatte ihn keineswegs geknickt und sie um Verzeihung anflehen lassen ‒ im Gegenteil. Nun wagte er sogar, sie anzuschreien, genauso, als wäre sie jene hergelaufene Person, die eben das Haus verlassen hatte.

»Sie ist hier, und sie bleibt hier. Für immer.« Er drehte sich zu Hanna um, deren Gesicht tränenüberströmt und nun beinahe ebenso weiß war wie das ihrer vom Tode gezeichneten Mutter.

»Niemals! Ich will sie nicht in meinem Haus sehen. Du kannst sie ja ins Armenhaus stecken.«

Matthew zuckte seufzend mit den Schultern. Sein Gesichtsausdruck wurde unnachgiebig, während er in ruhigem, entschlossenem Ton sagte: »Ins Armenhaus? Kommt gar nicht in Frage. Niemals!«

Anne Thornton starrte das Kind an. Und dann tat sie etwas, was sie noch nie zuvor getan hatte: Sie umschlang sich selbst mit beiden Armen, als wollte sie ihrem verzweifelten, geschockten Innern Trost zusprechen, und wiegte sich heftig hin und her. Es hätte nur noch gefehlt, daß sie in Wehklagen ausgebrochen wäre wie die Frauen der Bergleute, wenn sie den Tod ihres Mannes oder ihres Sohnes beweinten.

Als Matthew dies sah, verstand er bis zu einem gewissen Grad Annes Aufgewühltheit. Mitleid erwachte in ihm und mäßigte seine Erregung. Er machte zögernd einige Schritte auf sie zu. »Anne«, beschwor er sie in flehentlichem Ton, »ich habe Unrecht getan, es tut mir leid, ehrlich! Aber wenn du mir verzeihen und den Tatsachen ins Auge blicken könntest, würden wir es gemeinsam durchstehen.«

»Es gemeinsam durchstehen!« Sie hörte abrupt mit ihren wiegenden Bewegungen auf, blickte ihn fassungslos an und wiederholte: »Es gemeinsam durchstehen! Wie kannst du es wagen, mir so etwas vorzuschlagen? Du bist ein ganz gemeiner, hemmungsloser Triebmensch, der… Du bist ja nicht mal imstande…« Sie preßte in dem Bemühen, dem Tränenstrom Einhalt zu gebieten, die Lippen fest zusammen. Dann rief sie aus: »Und … und die Kirche. Denk an die Kirche und den Kirchenrat!«

»Zum Teufel mit der Kirche und dem Kirchenrat! Und zum Teufel mit dir! Wenn jemand schuld daran hat« ‒ er deutete mit einer ruckartigen Handbewegung auf das stumme, angsterfüllte Kind ‒, »dann bist du es! Hättest du dich so benommen, wie eine Ehefrau sich benehmen sollte, hätte ich es nicht nötig gehabt, mich anderweitig umzusehen.«

»Mir willst du die Schuld für diese Niederträchtigkeit in die Schuhe schieben ‒ mir!?«

»Natürlich. Denn wenn das, was geschehen ist, wirklich und wahrhaftig als Sünde bezeichnet werden soll, dann beruht sie allein auf deinem Verhalten!«

Sie standen einander wie zwei zu allem entschlossene Kampfhähne gegenüber. Bleich vor Wut stieß Anne zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor: »Dann laß dir gefälligst gesagt sein, daß ich meine Pflichten, die ich in deinen Augen so sehr vernachlässigt habe, in Zukunft doppelt vernachlässigen werde. Denn ich werde nie mehr im Leben zulassen, daß du mich jemals wieder anrührst.«

»Darüber reden wir noch!« Auch Matthew konnte sich nur mühsam beherrschen. »Wenn du schon eine derartige Drohung ausstößt, dann denke gefälligst an die Scargills, meine Liebe.« Als er sah, wie sie noch bleicher wurde, nickte er bekräftigend. »Seine Frau hat ihn auf ähnliche Weise ›strafen‹ wollen ‒ und was hat er daraufhin getan? Drei junge Mägde hat er ins Haus gebracht. Inzwischen ist seine Frau längst tot, aber eine von ihnen befindet sich noch immer dort… Wozu der eine Mann imstande ist, das bringt auch ein anderer fertig.« Wieder wurde er von Mitleid ergriffen, als sie sich mit beiden Händen an die Kehle fuhr und hörbar schluckte. Er wußte jedoch, daß es vergeblich sein würde, es ihr zu zeigen,‒ deshalb sagte er nur: »Es ist also abgemacht, daß das Kind bei uns bleibt. Ich gebe dir die Möglichkeit, für sein Wohlbefinden zu sorgen. Solltest du das nicht tun, werde ich die Sache selbst in die Hand nehmen. Du weißt, was das zu bedeuten hat: Es würde deine Autorität als Herrin des Hauses untergraben. Nun, du hast die Wahl!«

Er konnte beinahe sehen, wie sie die Folgen seiner Worte erwog, während sie sich umdrehte und das Kind betrachtete. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und verließ hocherhobenen Hauptes das Zimmer.

In der Halle bildeten die Kinder einen Kreis, und die kleine Magd stand in der Nähe der Küchentür. Anne Thornton winkte sie herbei und befahl ihr: »Nimm das Kind in die Waschküche mit und richte ihm ein Bad. Miß Margaret wird dir ein paar passende Kleidungsstücke bringen. Das, was sie anhat, verbrennst du, verstanden?«

»Ja, Madam.« Tessie knickste gehorsam, streckte dann der Kleinen die Hand entgegen und sagte: »Komm, komm.« Und Hanna, die in Tessie ihresgleichen zu erkennen schien, ergriff die dargebotene Hand.

Die beiden wollten eben die Halle verlassen, da pochte es heftig an der Haustür. Tessie blieb stehen und blickte ihre Herrin fragend an. Matthew Thornton sagte unvermittelt: »Tu, was man dir abgetragen hat, Tessie. Ich gehe schon aufmachen.«

Als er öffnete, sah er sich Maudie, der Magd des Pfarrers, gegenüber, die aufgeregt hervorstieß: »Der Herr Pfarrer läßt ausrichten, daß Sie sofort kommen sollen. Die Frau stirbt, sagt er, und hat Ihren Namen genannt.« Matthew durchlief ein Schauer. Er warf Anne von der Seite einen Blick zu und wandte sich dann zu seinen Kindern um, die ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrten.

Tessie und die Kleine hatten ebenfalls alles mit angehört. Hanna begriff sofort, worum es ging. Sie riß sich von Tessie los, lief zur Haustür und rief weinend: »Ich möchte zu meiner Ma, ich möchte zu meiner Ma!«

Matthew packte sie an den Schultern, winkte Tessie herbei und sagte: »Tu, was deine Herrin dir vorhin auf getragen hat: Bade sie.« Gleich darauf eilte er aus dem Haus, den Weg hinunter.

Reverend Stanley Crewe war ein kleiner, schmächtiger Mann. Obwohl kein besonders guter Prediger und kein leidenschaftlicher Verfechter seines Berufs, zeichnete er sich jedoch durch Güte und Freundlichkeit aus, weshalb seine Pfarrgemeinde ihn auch liebte. Er kniete neben der Frau auf dem Grasstreifen, der die zum Pfarrhof führende Straße einfaßte.

Bei Matthews Eintreffen blickte er hoch, schüttelte den Kopf und sagte ruhig: »Sie hat’s überstanden, die arme Seele. Ich … ich hab nach dir geschickt, Matthew, weil sie deinen Namen erwähnt und etwas über ihre kleine Tochter gesagt hat, die sie anscheinend bei dir gelassen hat. Das konnte ich nicht verstehen. Ich dachte, sie rede im Fieber, bis sie mir dies hier gab.« Damit hob er ein längliches, schmuddeliges Kuvert vom Rasen auf und zeigte es Matthew. »Sie bat mich, es in Verwahrung zu nehmen bis zu dem Tag, an dem ihre Tochter heiratet ‒ genau, wie es hier auf dem Kuvert steht. Sie hat es deutlich draufgeschrieben und mit ihrer Unterschrift versehen.«

Matthew beugte sich vor und las: »Betrifft Hanna Boyle. Dieser Brief ist einem Priester oder einem gesetzeskundigen Mann anzuvertrauen und Obengenannter an ihrem Hochzeitstag zu übergeben.«

»Er ist sogar versiegelt.« Reverend Crewe wendete den Umschlag und wies auf den Klumpen Siegellack. »Der Brief schien ihr überaus wichtig zu sein.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf die reglos im Grase liegende Frau.

»Sie sagte, daß ein Armenanwalt ihn für sie abgefaßt hätte.«

Matthew richtete sich auf. Ein Armenanwalt? Wieder blickte er auf den Brief. Weshalb hatte sie ihn nicht ihm übergeben? Nun ja, Leute vom Schlag Nancys wußten über menschliche Schwächen Bescheid: Wäre er wohl standhaft genug gewesen, ihn nicht zu öffnen? Sicher nicht. Höchstwahrscheinlich hätte er den Umschlag aufgebrochen, um den Inhalt des Briefes zu erfahren, wenn er ihn nach dem Durchlesen auch kaum zerrissen, sondern abermals versiegelt hätte. Die arme Nancy war auf ihre Art durchaus weise gewesen. Wieso eigentlich ›arme Nancy‹? Eigentlich hätte er sie verwünschen müssen ‒ sie war schließlich in sein Leben eingebrochen und hatte es zerstört! Er konnte sich immer noch nicht den Umfang der Konsequenzen ihres unverhofften Auftauchens vorstellen…

Was aber blieb, was sie ihm aufgebürdet hatte, war… das Kind.

Weshalb hatte er auf Anhieb alles akzeptiert, ohne gründliche Befragung und Prüfung, ob die Kleine tatsächlich von ihm stammte? Weshalb eigentlich?

Weil die Erinnerung daran, wie er sich an jenem Abend schändlicherweise klammheimlich davongemacht hatte, unauslöschlich in seinem Unterbewußtsein haftengeblieben war.

»Ich werde nun wohl das Armenhaus verständigen müssen.«

Die Feststellung des Priesters schreckte Matthew aus seinen Gedanken auf. »Was?«

»Sie muß begraben werden.«

»Ach so ‒ ja natürlich! Aber … aber dafür werde schon ich sorgen ‒ sie erhält selbstverständlich ein ordentliches Begräbnis.«

»Du?« Referend Crew zog die Augenbrauen hoch, lachte dann befangen auf und meinte: »Nun ja, wenn du sie gekannt hast. Ist sie vielleicht eine Verwandte von dir, Matthew?«

Matthew blickte auf die reglose Gestalt und das leichenfahle Antlitz nieder, das merkwürdigerweise in diesem Augenblick bedeutend mehr Ähnlichkeit mit jener Nancy besaß, die er einst gekannt hatte.

»So könnte man es auch sagen. In gewisser Weise könnte man das sagen.«