Es war der dritte Freitag im September und noch dazu Viehmarkt in der Nähe der Getreidemühle von Allenhead. Fred und seine Mutter waren auf den Markt gefahren, wie Mrs. Loam gesagt hatte, hatte sie noch nie einen Markttag ausgelassen, soweit sie zurückdenken konnte. Sie hatte also ihren Sohn aufgefordert, sie gefälligst hinzubringen, hatte jedoch zu ihrem Erstaunen erleben müssen, daß er sich nur widerwillig dazu bereitfand! Und alles nur, weil das Weibsstück da oben erklärt hatte, nicht mitkommen zu wollen. Offensichtlich sah dieses Seelchen nicht gern zu, wie das Vieh herumgestoßen wurde. Und so eine mußte ausgerechnet einen Metzger heiraten ‒ einfach lächerlich!
Nun war Hanna zum ersten Mal allein im Haus und kam sich merkwürdig vor. Keiner der beiden hatte sie gefragt, was sie während ihrer Abwesenheit anfangen würde. Es gab schließlich immer eine ganze Menge zu tun. Ob es ihr nun paßte oder nicht, die Küche mußte fertiggeputzt werden wie an jedem Freitag. Außerdem mußten frische Sägespäne im Laden ausgestreut werden, da sie Samstag bereits in aller Frühe aufmachten, und der Hinterhof mußte gefegt und die Senkgrube geleert werden.
Sie ging ins Schlafzimmer, trat ans Fenster und blickte über den Misthaufen und die Senkgrube hinüber zu den Hügeln, auf die sie seit dem Tag ihrer Hochzeit, als sie querfeldein zum Pele-Haus gestolpert war, keinen Fuß mehr gesetzt hatte.
Drei Monate lang war sie nun verheiratet, und beinahe zwei Monate davon war sie krank gewesen. Kaum genesen, hatte sie gelernt, was harte Arbeit war. Vor die Tür war sie nur gekommen, wenn sie in den Hinterhof auf den Abtritt mußte.
Vergangene Woche hatte Daisy Loam wissen wollen, ob sie zum sonntäglichen Gottesdienst in die Kirche oder in die Kapelle gehen würde, was gleichbedeutend mit der Frage war, ob sie’s mit den Methodisten oder mit der Kirche von England halte. Hanna mußte lächeln, wenn sie daran dachte, wie sie gegen ihre Schwiegermutter aufbegehrt und sie angeschrien hatte: »Ich bekenne mich weder zu den Methodisten noch zur Kirche von England, noch zu den Quäkern.« Dabei wußte sie natürlich genau, daß es nun einmal wichtig war, einer bestimmten Kirche anzugehören, besonders als Frau. Männer konnten in diesem Punkt ruhig Gleichgültigkeit an den Tag legen. Die besuchten Gottesdienste nur dann, wenn es ihnen paßte, und niemand machte ihnen einen Vorwurf daraus. Nahmen aber ihre Frauen und Kinder nicht daran teil, waren die Familien im ganzen Umkreis als gottlos verschrien. Und Geschäftsleute mußten sich hüten, in einen solchen Ruf zu geraten…
Als Hanna so in die Feme blickte, spürte sie, wie ihr Herz rascher zu schlagen begann. Kein Mensch hatte von ihr verlangt, daheim zu bleiben, aber selbst wenn ‒ in diesem Moment wäre es ihr unmöglich gewesen… Denn die Hügel, ihre geliebten Hügel, begannen sie plötzlich derart eindringlich zu rufen, daß sie an nichts anderes mehr denken konnte als an Wald und Fam und Heidekraut. Rasch trat sie zum Schrank, in dem ihre Kleider hingen, nahm ein braunes Kordkleid heraus und betrachtete es einen Augenblick lang, ehe sie ihre Kittelschürze, die sie beinahe ganz einhüllte, sowie ihre bedruckte Bluse und ihren Rock ablegte. Innerhalb weniger Minuten war sie zum Ausgehen bereit.
Die Ladentür war von innen verriegelt, dafür waren aber die Hintertür ebenso wie die kleine Pforte am unteren Ende des Hofes offen. Sie eilte am Misthaufen und der übelriechenden Senkgrube vorbei, überquerte das Stück offenen Graslandes, ging an den dichtverwachsenen Brombeerbüschen, die eine regelrechte Hecke bildeten, entlang und befand sich nach einer Viertelstunde bereits am Fuß der ersten Erhebung.
Ohne ein einziges Mal innezuhalten, erklomm Hanna den Gipfel des Hügels. Dort atmete sie tief ein und betrachtete ausgiebig die ganze lang entbehrte Gegend: die Felder, Wiesen und Wäldchen, die sanften Hügel ringsum und den weiten Himmel.
Sie hatte sich nach frischer Luft gesehnt, der Anblick der grenzenlosen Weite tat ihrem Herzen nach der entsetzlichen Enge wohl. Mehr als alles andere wünschte sie sich jedoch, mit Ned zu reden, zu sehen, wie es ihm jetzt ginge. Hoffentlich hatte er ihr nicht übelgenommen, wie sie sich damals verhalten hatte.
Sie erblickte ihn, als sie aus dem Wald heraus trat und sich dem Pele-Haus näherte. Auch Ned mußte sie gesehen haben, denn er blieb wie angewurzelt mitten im Hof stehen und starrte zu ihr herüber. Dann drehte er sich jedoch um und verschwand hinter dem Haus.
Hanna verlangsamte ihren Schritt und blieb schließlich stehen. Er wollte sie ignorieren. Aber sie mußte mit ihm reden, unbedingt, nur ein einziges Mal!
Als sie am Stall vorbeikam, drang weder das Klirren von Zaumzeug noch das Stampfen der Ponys an ihr Ohr, was bedeutete, daß Ned vor kurzem verkauft, aber noch keine neuen Tiere eingekauft hatte. Wenn dies der Fall war, warum war er dann nicht zum Viehmarkt gefahren? Dort hätte er bestimmt Pferde bekommen.
Hanna ging mm ums Haus herum, aber Ned war nirgends zu sehen. Endlich entdeckte sie ihn auf der Hügelseite, wo er gebückt den Boden aufharkte.
Zögernd lief sie auf ihn zu und blieb ungefähr drei Schritte von ihm entfernt stehen.
»Hallo, Ned!«
»Was? Oh, Sie sind es!« Er tat so, als sei er überrascht, dann bückte er sich wieder und fuhr in seiner Tätigkeit fort.
»Wie geht es Ihnen?«
»Mir? Ist mir nie bessergegangen. Und Ihnen?«
Hanna gab keine Antwort, sondern kam zwei Schritte näher. In der Rechten hielt er die Hacke, während er mit seiner verstümmelten Linken Geröll beiseite schob. Er schien nicht gewillt, seine Arbeit zu unterbrechen. Das Schweigen zwischen ihnen war direkt beängstigend. Endlich gab sie sich einen Ruck und fragte: »Was suchen Sie denn?«
»Suchen?« Ned wandte den Kopf und warf ihr einen Blick zu. »Blei, was sonst? Ich habe die Absicht, hier ein Bergwerk aufzumachen.«
Sie riß Mund und Augen auf und sagte ungläubig: »Ein Bergwerk? Ein Bleibergwerk?«
»Ja, warum nicht?« Nun richtete er sich auf und sah sie herausfordernd an.
»Ich… ich dachte immer, für so etwas bräuchte man eine Menge Geld.«
»Wer sagt, daß ich kein Geld habe?«
Sie erinnerte sich daran, daß er ihr gegenüber einmal geprahlt hatte, seine Vorfahren hätten ihm allerhand Kapital hinterlassen.
»Und was man nicht auf Anhieb beisammenhat, das muß man sich eben von jemandem leihen. Hauptsache, man kann die richtigen Sicherheiten geben, und diese Voraussetzungen kann ich bieten. Es ist ein ansehnlicher Hügel, Wasser gibt es zur Genüge« ‒ er deutete hinunter zum Fluß ‒ »und ich wette, daß hier drunter genauso ergiebige Erzadern liegen wie überall ringsum. Man braucht nur mal einen Stollen zu schlagen, dann wird man ja sehen. Im Grunde ist ein solcher Test überflüssig, ich habe auf unserm Hügel schon haufenweise Erz gefunden, und zwar richtiges, nicht bloß angeschwemmtes. Sehen Sie nur.« Erhob einen Stein auf, der aussah, als wäre er gebleicht. »Das ist es, genau das. Bares Geld. Ich habe erbsengroße Stücke entdeckt und Brocken vom Umfang einer Schweinsblase.« Ned sprach nun rasch, sein Gesicht rötete sich vor Eifer. »Und da drinnen ist nicht nur Blei« ‒ er stieß mit dem Fuß auf den Boden ‒, »sondern auch Silber. Jawohl, Silber. Der alte Beaumont hat im Jahre 1851 bereits einen Erzbrocken zur Ausstellung nach London geschickt, der dreihundertsechzig Kilogramm wog. Wissen Sie, wievielter Wert war? Dreitausend Pfund, ein einziges Stück. Weshalb soll ich nicht auch solches Glück haben? Man muß nur was riskieren, das ist alles. Und wenn ich hier oben ein Bergwerk aufmachen will, dann werden mich weder Beaumont noch seine Speichellecker davon abhalten.«
Damit warf er die Hacke in die Luft. Sie wirbelte um ihre eigene Achse, klatschte ein Stück weiter oben zu Boden und glitt wieder herunter. »Was wollen Sie eigentlich hier, zum Teufel? Wahrscheinlich glauben Sie, daß ich jetzt lange genug keine Unannehmlichkeiten mehr gehabt habe und es an der Zeit ist, mir wieder welche zu bereiten, wie?«
Hanna biß sich auf die Lippen und ließ den Kopf sinken, dann drehte sie sich gekränkt um und ging. »So ist’s recht, gehen Sie nur!« rief er hinter ihr her. »Sie bereiten ohnehin nur allen Menschen Schwierigkeiten. Aber nehmen Sie jemals die Folgen auf sich? Keine Spur ‒ Sie doch nicht!«
»Hallo!« Beide blickten in die Richtung, aus der dieser Ruf gekommen war.
Auf dem ums Wäldchen führenden Pfad stand eine Frau mit einem Henkelkorb am Arm. Selbst aus der Entfernung sah sie ziemlich groß aus, und mit jedem Schritt, den sie sich ihnen näherte, schien sie größer zu werden. Sie hatte einen Schal um den Kopf geschlungen und trug Holzpantinen.
»Hallo«, sagte sie abermals, als sie herangekommen war. »Schöner Tag heute, nicht wahr?« Sie betrachtete Hanna neugierig und wandte sich dann an Ned: »Geht’s dir gut? Ich habe dir was zu essen gebracht. War gerade beim Pastetenbacken, da dachte ich mir: Bring ihm ein paar, er ißt sie ja so gern.«
»Da hast du ganz recht, Nell.« Hanna stand da und schaute die beiden an. Sie sahen gleichaltrig aus, vielleicht war die Frau auch ein wenig älter als er, Anfang Dreißig etwa. Ihr Körper war muskulös, ihr Gesicht grob geschnitten, aber sympathisch. Die zwei unterhielten sich nun miteinander, als ob sie gar nicht anwesend wäre.
»Ich hatte schon befürchtet, daß du vielleicht auf dem Markt seist, Ned.«
»Nein, Nell, ich hab was Wichtigeres zu tun. Außerdem kann ich mir ohne weiteres auch daheim einen antrinken, weißt du?«
Sie lachten miteinander, dann schlug er ihr vor: »Komm doch auf einen Schluck Tee herein, Nell!«
»Gern, Ned.«
Die beiden gingen an Hanna vorbei, und Ned sagte, als erinnere er sich plötzlich ihrer: »Es reicht auch für drei Tassen. Wenn Sie Lust haben …«
Hanna schüttelte den Kopf. »Nein, danke.«
»Wie Sie wollen. Jeder soll tun, was er will, dann braucht man sich wenigstens nicht zu ärgern, nicht wahr, Nell?«
»Da hast du recht, Ned, wahrhaftig!«
»Weshalb bist denn du nicht auf den Markt gegangen, Nell?«
»Nun, weil mir deine Gesellschaft lieber ist, Ned.« Die Stimmen verklangen.
Hanna sah ihnen nach, bis sie um die Ecke des Hauses verschwanden.
Einen Moment lang verspürte sie den heftigen Wunsch, loszulaufen, wie sie es damals in Nacht und Regen getan hatte, aber dieser Wunsch verschwand ebenso rasch, wie er gekommen war. Sie durchquerte den Hof und bemerkte zu ihrem Befremden, daß die Tür geschlossen war. In diesem Moment wurde ihr klar, daß sie auf etwas verzichten mußte, was sie nie besessen hatte, was sie jedoch hätte haben können. Aber nun war es zu spät! Ab jetzt mußte sie sich damit abfinden, eine verheiratete Frau zu sein, die wusch, putzte und buk ‒ ein gewöhnliches Dorfweib, das vergessen mußte, daß es einmal Klavier gespielt, Bücher gelesen, Gedichte geliebt, gemalt und gesungen hatte.
Mit gesenktem Kopf kehrte Hanna nach Hause zurück. Sie hatte soviel frische Luft gehabt, wie sie brauchte, und ihr war, als würde sie nie mehr wünschen, auf die Hügel zu gehen.