Sie war nun ein Jahr mit Fred verheiratet und in letzter Zeit in zunehmendem Maß den höhnischen Bemerkungen Daisy Loams ausgesetzt, die behauptete, ihre Schwiegertochter müsse unfruchtbar sein. An ihrem Sohn könne es nicht liegen, der wäre ein richtiger Mann und stark wie ein Bulle. Bei dem Geschöpf, das er sich zur Frau genommen hatte, könne er sich offensichtlich noch so anstrengen, es würde ihm doch nicht gelingen, mit ihr Kinder in die Welt zu setzen…
Hanna ließ die Alte sticheln. Während der vergangenen Monate war sie daraufgekommen, daß Schweigen ihre beste Waffe sei, es gab Zeiten, wo sie befürchtete, das Reden so gut wie verlernt zu haben. Bei Fred einsilbig zu werden, war allerdings keine Kunst. Der redete wie ein Wasserfall, und alles, was er wünschte und brauchte, waren Zuhörer. Seine Gesprächsthemen beschränkten sich auf den Zustand des Schlachtviehs, auf das Steigen und Fallen der Fleischpreise und auf den Tratsch, den er auf dem Markt gehört hatte.
Hanna blieb nicht einmal das bescheidene Vergnügen, ein paar Worte mit den Kunden zu wechseln, denn er wollte nicht, daß sie im Laden bediente. Nicht daß ihr daran etwas gelegen hätte, sie haßte es, die großen Stücke rohen Fleisches anzufassen, und der Anblick von Blut war ihr ebenso zuwider wie dessen Geruch oder die klebrigen Finger, die man davon bekam.
Wenn sie zurückdachte, konnte sie es selbst nicht fassen, daß sie sich erst zwölf Monate in diesem Haus befand. Bisweilen schien es ihr, als hätte sie hier ihr ganzes Leben zugebracht. Dann wieder gab es Tage, in denen sie glaubte, es keine Stunde länger in diesen dumpfen Räumen aushalten zu können und den übermächtigen Wunsch zur Flucht verspürte. Überkam sie ein derartiges Gefühl, hegte und pflegte sie es richtiggehend, weil es sie wieder lebendig machte, sie aus der Eintönigkeit des Alltags herauszureißen schien. Es löschte ihre Teilnahmslosigkeit aus. Wann immer ihr so zumute war, sagte sie sich, daß sie die von ihr selbst aufgestellte Regel brechen müßte, die einzige, an der sie bisher festgehalten hatte: niemals ihren Mann und ihre Schwiegermutter auf den Markt zu begleiten.
Und dann geschah etwas, was sie aus dem Schacht, in den sie gestürzt zu sein glaubte, herausholte. Es war ein Samstagmorgen. Hanna wollte gerade mit einem Eimer voll Schmutzwasser in den Hof gehen. Als sie am Laden vorbeikam, sah sie Tessie darin stehen.
Tessie erblickte sie im selben Moment, unterbrach ihre Unterhaltung mit Fred und rief aus: »Oh, hallo, Miß… ich meine Missis!« Impulsiv beugte sie sich über den Ladentisch und fragte: »Könnte ich kurz mit ihr reden, Fred, ja?«
»Klar. Ich werd’s deiner Madam schon nicht verraten. Geh nur.« Er nickte ihr zu, und sie eilte nach hinten, wo Hanna bereits auf sie wartete.
»Es ist lange her, seit ich dich gesehen habe, Tessie.«
»Ja, das stimmt, Missis.« Tessie ging auf die Hoftür zu und zog Hanna verstohlen mit sich. »Ich versuch schon seit einer Ewigkeit, Sie zu erwischen!« flüsterte sie, während sie sich mit einem Blick über die Schulter vergewisserte, daß die Luft rein war. »Aber sie hat Bella und mir damit gedroht, uns auf die Straße zu setzen, wenn wir auch nur ein Wort mit Ihnen reden. Manchmal kommt es mir ganz so vor, als hätte sie völlig den Verstand verloren. Seit Miß Betsy sich vor einigen Wochen so erkältet hat, erledige ich die nötigen Besorgungen. Ich war zwar schon einige Male hier im Laden, hab Sie jedoch nicht zu sehen gekriegt.« Tessie reckte sich auf die Zehenspitzen und legte ihre Lippen an Hannas Ohr. »Ich hab eine Nachricht für Sie.«
»Eine Nachricht?«
»Ja. Von Ned Ridley.«
Hannas Gesicht wurde flammend rot, sie glaubte, sich verhört zu haben. »Von Ned?«
»Ja. Ich bin ihm neulich an meinem freien Tag auf dem Markt begegnet. Da sind wir ins Gespräch gekommen, und er hat gesagt, wenn ich Sie irgendwann treffe, soll ich Ihnen ausrichten, Sie möchten einmal zu ihm hinaufkommen.«
Hanna fragte erstaunt: »Das hat er tatsächlich gesagt?« Tessie nickte. »Ja, und daß ich jedermann gegenüber nur ja den Mund halten soll! Nun, das hab ich getan. Nicht einmal Bella habe ich es erzählt, denn der geht allzuleicht die Zunge durch. Ich dachte mir, in Ihrer Lage… Sie wissen schon, was ich meine.«
Hanna nickte stumm ‒ dann blickten sie beide rasch auf, als Fred in der Tür erschien. Er grinste zwar wie üblich übers ganze Gesicht, aber seine Stimme hatte einen mißtrauischen Unterton, als er sich erkundigte: »Was ist? Erzählt ihr zwei euch Geheimnisse?«
»Nein, nein, Fred. Das heißt« ‒ Tessie lachte verschmitzt und wiegte mit dem Kopf ‒ »es wird ja nicht mehr lange ein Geheimnis sein, daß Mr. Robert ausgerissen ist.«
»Er ist ausgerissen?« Fred kam langsam näher und wischte sich die Hände an seiner langen Schürze ab. »So was! Wann ist denn das passiert?«
»Nun ja, eigentlich weiß ich nicht viel über diese Geschichte. Nur, daß er vor drei Tagen verschwunden ist. Einfach so! Er hat ihr eine kurze Nachricht hinterlassender Missis ‒, daß er nach Amerika will, ich glaube, zum Cousin seines Vaters. Nach allem, was ich an Gesprächsfetzen auf schnappen konnte, hat Mr. Robert seiner Tante geschrieben, die drüben mit einem Farmer verheiratet ist. Ihm hinge die Arbeit im Bergwerk zum Hals raus, sie sollten sich keine Sorgen um ihn machen…«
»So etwas ‒ geht der Master Robert einfach auf und davon! Da wird es in Haus Elmholm bald niemanden mehr geben, für den du zu sorgen hast, Tessie. Was willst du denn dann anfangen?«
»Ich habe immer noch zwei gesunde Hände, Fred.«
»Bravo, du läßt dich nicht unterkriegen, was? Übrigens, wenn ihr beide euch endlich ausgetratscht habt ‒ dein Fleisch ist fertig, Tessie!«
»Ja, schon gut!« Tessie ging auf ihn zu. »Ich wollte der Missis bloß die Neuigkeit erzählen und daß Miß Margaret nun doch nicht heiraten wird. Du meine Güte, war die Madam darüber aus dem Häuschen!« Tessie drehte sich um und nickte Hanna zu. »Tagelang hat sie von morgens bis abends nur Bibelsprüche zitiert: ›Was du säst, das wirst du ernten.‹ Und was mit denen geschieht, die Vater und Mutter nicht ehren.« Sie lachte und Fred stimmte mit ein.
Hanna nahm ihren Eimer wieder auf und ging in den Hof zur Senkgrube. Margaret heiratete also nicht … Was mochte nur geschehen sein? Arme Margaret ‒ sie war des Mannes so sicher gewesen, so bereit, alles für ihn aufzugeben. Und Robert, der mir nichts, dir nichts nach Amerika verschwand … Wahrscheinlich würde es drüben in Haus Elmholm tatsächlich bald keine Arbeit für Bella und Tessie mehr geben…
Die wichtigste Neuigkeit war jedoch, daß Ned sie sehen wollte. Warum wohl? Hanna hob den Kopf und blickte über die Felder und Wiesen zu den Hügeln hinüber. Eigentlich verspürte sie gar keine Lust, seiner Aufforderung nachzukommen. Vielleicht wollte er ihr nur mitteilen, daß er diese Nell heiraten werde. Diese große Frau, die sich offensichtlich um ihn kümmerte, für ihn buk und so bedeutungsvoll gesagt hatte, daß ihr Neds Gesellschaft lieber sei als der ganze Markt?
Sie drehte sich achtlos um ‒ dabei geriet sie mit einer ihrer Holzpantinen in den Kot, verzog angeekelt das Gesicht und versuchte, es mit einem Grasbüschel wegzuwischen. Dann ging sie die Böschung hinunter bis zu der Stelle, wo das Wasser sauber und klar aus der Kiesgrube in den Fluß rann. Dort zog sie die Pantine aus und wusch sie gründlich. Anschließend spülte sie auch noch den Eimer aus, ehe sie sich auf den Weg in die Waschküche machte: Montag war Waschtag, da mußte noch allerhand vorbereitet werden.
Als Hanna den Laden betrat, stand Fred müßig vor der Auslage und blickte hinaus. Er drehte sich zu ihr um und sagte: »Die scheinen ja ganz schön zu sparen in Haus Elmholm. Eineinhalb Shilling hat Tessie nur ausgegeben. Ich kann mich noch gut daran erinnern, daß sie früher, zu seinen Lebzeiten, ihre zehn Shilling pro Woche dagelassen haben. Im Grunde wirft der Laden fast nichts mehr ab ‒ nur die Bergleute kommen regelmäßig. Aber die haben immer erst am Monatsende Geld und oft nicht einmal dann. Dabei schimpfen sie wie die Rohrspatzen, wenn sie viereinhalb Pence fürs Pfund Fleisch zahlen müssen. Soviel kostet es mich ja beinahe schon selbst.« Er schüttelte trübsinnig den Kopf und stieß das Hackmesser in den Block. Verbittert fuhr er fort: »Die einzigen, die noch regelmäßig bei mir ihr Fleischquantum einkaufen, sind die Bynges und die Ricksons. Flory Bange, Mrs. Wheatley und alle andern fahren längst nach Allendale. Jedenfalls habe ich sie schon ein paarmal dort gesehen. Sie haben sich richtig geniert. Im Winter, wenn sie nicht einmal den Weg bis zum Gartentor freifegen können, da bin ich ihnen gut genug. Sobald es jedoch schön wird, machen sie sich auf die Socken und kaufen alles in der Stadt. Nun, ich werd’s mir merken! Auch die da drüben« ‒ er deutete zum Dorf ende ‒ »tun sich zusammen und besorgen sich ihren Weihnachts- oder Osterbraten auf dem Markt. Na, hoffentlich landen sie mal im Graben.«
Hanna schloß für einen Moment die Augen. Weihnachtsund Osterbraten weckten in ihr lebhafte Erinnerungen an die damit verbundenen Bräuche. Es stimmte, da taten sich immer ein paar Leute zusammen, um sich ein besonders schönes Stück Vieh einzuhandeln, das die Männer dann selbst schlachteten. Das geschah nicht nur aus Sparsamkeitsgründen, sondern weil sie, wenn sie betrunken waren ‒ und das waren sie nach dem Markttag immer ‒, besonders gern töteten. Langsam und auf grausame Art. Zwei Leute hielten das Tier fest, während der dritte ihm den Schädel einschlug. Traf er nicht, was oft genug geschah, mußte er seine Strafe in Form von Whisky zahlen. War das gequälte Tier endlich zur Strecke gebracht, zerlegten sie es und hingen die Fleischstücke in den Rauchfang. Das Fell trug dann noch einmal was ein, der Talg wurde weiterverarbeitet. Und alles, was sie sich bei derart vorteilhaften Käufen auf Kosten Freds ersparten, wurde vertrunken. Sie waren Barbaren, alle miteinander: Nicht nur die Armen, auch die Reichen mit ihrer Fallenstellerei, ihren Treibjagden, ihren Hahnen- und Stierkämpfen. Wie konnten die Menschen sich nur an solch grausamen Ritualen erfreuen? Die Welt war wirklich ein Jammertal.
Am Samstag Abend erinnerte Mrs. Loam ihren Sohn zum hundertstenmal daran, daß er sie am nächsten Tag unbedingt in die Kirche nach Allenheads bringen müsse, weil ein bekannter, sich auf der Durchreise befindlicher Priester dort predigen würde.
Fred erwiderte: »Du läßt es mich schon nicht vergessen. Täglich hast du mir diese Woche damit in den Ohren gelegen. Du machst davon genauso viel Aufhebens wie von deiner Weberei.« Er nickte ihr, die vor ihrem kleinen Webstuhl saß und an einem Vorleger arbeitete, seufzend zu.
»Du hast aber immer noch nicht den Wagen gewaschen«, sagte sie.
»Ich werde es morgen früh tun. Auch, wenn das nicht viel Sinn hat, denn in wenigen Stunden wird er wieder ebenso schmutzig sein wie vorher.«
In jener Nacht fragte er Hanna im Bett: »Warum kommst du morgen nicht mit uns?« ‒ »Als ob du das nicht längst wüßtest«, antwortete sie unwillig. »Ich glaube, daß du mir wenigstens in dem Punkt recht gibst, daß ich die Gesellschaft deiner Mütter schon unter der Woche mehr als genug ›genieße‹, oder?«
Es sprach für Freds im allgemeinen ziemlich friedfertigen Charakter und seine Toleranz, daß er nicht weiter in seine Frau drang oder ihr wegen ihrer Schroffheit Vorhaltungen machte. Statt dessen erkundigte er sich nur: »Aber was willst du den ganzen Sonntag hindurch anfangen? «
»Vielleicht mache ich einen Spaziergang.«
»Über die Hügel?«
»Ja, über die Hügel.«
»Nun, dann würde ich an deiner Stelle etwas vorsichtig sein«, sagte er, seine Stimme klang plötzlich ernst. »Meiner Meinung nach bedeuten die Hügel stets Unannehmlichkeiten für dich.«
Und dabei beließ er es. Er zog sie einfach an sich und machte seine Rechte als Ehemann geltend.
Der Himmel war bleigrau, die Luft heiß und stickig: ein Gewitter schien sich anzukünden. Hanna nahm das Häubchen ab, öffnete den Mantel und fächelte sich mit dem Taschentuch Kühlung zu. Trotz der drückenden Schwüle zitterte sie. Oder war es ein mehr innerliches Frösteln, das ihr das Gefühl vermittelte, krank zu sein? Angenommen, Ned war nicht da ‒ dann wäre sie umsonst heraufgelaufen und würde überdies naß werden ‒ es sah ganz danach aus. Aber was machte das schon groß aus?
Über den Hügeln flammte bereits der erste grelle Blitz auf und Donnergrollen erklang. Hanna fing zu laufen an. Als sie vor dem Hof angelangt war, mußte sie einen Moment stehenbleiben, um Atem zu holen.
Das Tor war geschlossen ‒ nichts rührte sich. Da bemerkte sie, daß das große Schloß seitlich an der Kette herabhing. Ob sie einfach öffnen und eintreten sollte? Aber wenn nun diese Frau hier war? Sie entschied sich, lieber zu klopfen. Erst als nach wiederholten Versuchen keine Antwort erfolgte, stieß sie das Tor auf und trat zögernd ein.
Im Verhältnis zu seiner Größe wirkte der Raum stets dunkel, weil die Fenster so klein waren. Sie mußte ein paar Minuten stehenbleiben, um sich orientieren zu können. Aus den Boxen drang das vertraute Stampfen der Ponys. Langsam ging sie weiter bis hin zu dem Holzpodest.
Und hier ‒ auf dem Stroh ausgestreckt ‒ lag Ned in tiefem Schlaf. Die Hände hatte er über dem Bauch gefaltet, der Daumen seiner rechten Hand ruhte zwischen den verbliebenen Fingern und dem Daumen der Linken, und der Stumpf des Mittelfingers stand nur ein klein wenig über die Fingergelenke der Rechten hinaus. Außerdem verunstaltete eine tiefe, bis zum Handgelenk reichende Narbe die wie von einer Folterung verkrüppelte Hand. Während Hanna ihn noch so betrachtete, erhellte ein plötzlicher Blitzstrahl den Stall. Gleich darauf erfolgte ein dröhnender Donnerschlag. Die erschreckten Pferde wieherten und traten an die Wände ihrer Boxen.
Ned schlug die Augen auf und blickte verschlafen zu den spinnwebenbehangenen Balken empor. Aber bereits in der nächsten Sekunde hatte er sich kerzengerade aufgerichtet und starrte seine Besucherin offenen Mundes an. »Es … es war der Donner, der Sie geweckt hat«, sagte Hanna gleichsam entschuldigend.
Er befeuchtete seine Lippen und rieb sich blinzelnd mit der Hand übers Kinn.
Hanna irritierte sein Schweigen. »Ich… ich habe gestern mit Tessie gesprochen. Sie hat mir die Nachricht überbracht.«
»Was?«
Sie wußte bereits, daß er immer ›Was?‹ sagte, auch wenn er ganz richtig gehört hatte. Trotzdem wiederholte sie geduldig: »Tessie hat mir ausgerichtet, daß Sie mich sprechen wollten.«
Er rieb sich abermals das Kinn, stand dann auf, lief einige Male hin und her und sagte: »Ja, richtig, stimmt schon, ich habe sie darum gebeten. Aber das liegt schon ziemlich lange zurück.«
Ein neuerlicher Donnerschlag ließ Hanna zusammenzucken. Ned ging auf die Boxen zu und beruhigte die aufgeregten Pferde. »Sie mögen kein Gewitter, es ängstigt sie. Trinken Sie eine Tasse Tee mit mir?«
»Ja, gern.«
Sie folgte ihm in die Küche und stellte mit einem Blick fest, daß alles nett und sauber aussah. Anscheinend hatte hier eine Frau für Ordnung gesorgt.
»Setzen Sie sich.« Er deutete auf einen Stuhl. »Ich mache lieber Licht, sonst rennen wir uns noch die Köpfe an.« Er lachte verlegen.
Schweigend nahm sie am Tisch Platz. Ned zündete die Lampe an, schob den großen schwarzen Kessel in die Mitte des Herdes und holte die Teekanne vom Geschirrständer. Als Hanna sah, daß er vier Löffel Tee hineingab, verzog sie ängstlich das Gesicht: Hoffentlich würde sie das starke Gebräu vertragen!
Er hatte sich inzwischen einen Stuhl herangezogen und sich so hingesetzt, daß er sie anschauen konnte. »Nun, wie stehen die Dinge bei Ihnen?« fragte er.
Sie antwortete nicht darauf, sondern blickte ihm im Licht der Lampe direkt in die Augen. »Also, weshalb wollten Sie mich sprechen?«
Mit dem Zeigefinger und Daumen der linken Hand massierte er die eine Gesichtshälfte. »Nun, es war…« Er schüttelte heftig den Kopf. »Sie verstehen mich immer falsch! Letztes Mal sind Sie einfach davongelaufen und haben mich stehenlassen. Das gehört wohl zu Ihren Lieblingsgewohnheiten: davonzulaufen und die Leute zu brüskieren? Dabei wollte ich Ihnen doch sagen, daß alles in Ordnung sei und Sie sich nicht zu sorgen brauchen. Ich meine, wegen…« Er hob die verunstaltete Hand. »Es ist schon merkwürdig, aber dadurch hab ich erst so richtig gelernt, was man alles ohne das hier tun kann. Man muß sich auch so behelfen können, wissen Sie? Wenn es den Daumen erwischt hätte, wäre ich schlimmer drangewesen. Wie ich mich dann gefühlt hätte, weiß ich natürlich nicht, denn das ist der wichtigste Teil der Hand.«
Sie starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an.
»Tja.« Ned legte die Hand aufs Knie und ließ sie dort ruhen. »Darum ging es mir eigentlich. Ich wollte Sie wissen lassen, daß Sie sich meinethalben keine Sorgen zu machen brauchen. Denn nach allem, was man so hört, haben Sie selbst gerade genug zu tragen. Herrje ‒ daß Sie aber auch ausgerechnet unter die Fuchtel einer Daisy Loam geraten mußten.« Er lachte kurz auf. »Wenn ich mir vorstelle, daß dieser Weibsteufel meine Mutter hätte werden können! Vor Jahren ist sie nämlich hinter meinem Vater hergewesen. Unglaublich, nicht wahr? Und Fred … nicht, daß er ein schlechter Kerl wäre, wohlgemerkt, er hat durchaus seine guten Seiten. Verfressen ist er, das schon, aber ansonsten … Nun, das müssen Sie ja besser wissen.« Er warf ihr von der Seite her einen Blick zu.
Hanna hatte ihm die ganze Zeit über wie gebannt zugehört. Auch jetzt brachte sie kein Wort hervor. Es war ihr, als schwelle etwas in ihrem Innern an, als steige es in ihr hoch wie eine Flutwelle ‒ immer höher, immer bedrohlicher! Gleich würde sie darin ertrinken…
Plötzlich spürte sie, daß sie dieses beklemmende Gefühl nicht länger ertragen konnte. Verzweifelt warf sie sich mit dem Oberkörper auf den Tisch und schlug mit ihren Fäusten auf die Holzplatte ein. Sie stöhnte und weinte noch immer, als seine Arme sie umschlangen und er sie an sich zog.
»Aber Hanna, ist ja schon gut! Um Himmels willen, so beruhig dich doch endlich, sonst krieg ich’s noch mit der Angst zu tun.«
Ned preßte sie an sich und streichelte sie, bis ihr Klagen verstummte und in vereinzeltes Schluchzen überging. Willenlos sank sie an seine Brust.
»O Gott, Hanna, red dir nicht ein, daß du schuld bist. Du kannst nichts dafür, glaube mir!« flüsterte er in ihr Haar. »Ich hätte es dir sagen sollen ‒ noch vor deiner Heirat ‒ und dir die Wahl überlassen sollen: er oder ich. Aber ich war so verdammt dickköpfig, so tief verletzt, weißt du? Ich habe es dir schwer angekreidet damals, daß du nicht von selbst daraufgekommen bist, daß du es nicht erraten hast. Aber wie hättest du es wissen sollen? So ein unerfahrenes Ding wie du, das diesen alten Jungfern im Internat ausgeliefert war. Richtige Nonnen sind das meiner Meinung nach. Was haben die dir schon beibringen können? Was hast du denn vom Leben gewußt? Keine Ahnung hast du gehabt!«
Er machte sich behutsam von ihr los, drückte sie auf den Stuhl, kniete vor ihr nieder, nahm ihre Hände in die seinen und sagte: »Du weißt, was ich dir damit zu verstehen geben will, nicht? Ich liebe dich, ich liebe dich über alles, Hanna! Das habe ich immer getan, und daran wird sich wohl bis an mein Lebensende nichts ändern. Bestimmt habe ich mich nicht gerade wie ein Heiliger aufgeführt. Es wäre zwecklos, das zu leugnen, alle wußten davon, und auch dir muß so einiges zu Ohren gekommen sein, stimmt’s? Aber das hat nichts mit Liebe zu tun, absolut nichts. Liebe ist etwas ganz, ganz anderes. Sie verzehrt einen, läßt einen nicht schlafen, so daß man manchmal fürchtet, den Verstand dabei zu verlieren … als ob es nichts anderes gäbe, das zählte. Und was empfindest du für mich, Hanna?«
»Oh, Ned, Ned!« Sie entzog ihm die Hand und streichelte seine Wange. »Ich … ich hatte keine Ahnung von alledem. Ich wußte nur, daß ich dich immer gebraucht habe. Damals bildete ich mir ein, John zu lieben, und als er sagte, daß ich Fred heiraten müsse, bin ich einfach zu dir gelaufen. Leider warst du nicht da. Später versuchte ich dann, mit dir zu reden ‒ aber das wolltest du mich nicht mal sehen.«
Er senkte schuldbewußt den Kopf. »Ich weiß, daß ich alles falsch gemacht habe. Und dafür habe ich bezahlen müssen, glaub mir! Ich hab schrecklich darunter gelitten.« Wieder suchte sein Blick den ihren. »Magst du mich? Magst du mich wirklich? Ich meine, nicht wie ein Kind oder ein Schulmädchen, sondern … Nun, du weißt schon, was ich meine.«
»Ja, Ned, ich weiß, was du meinst.« Noch während er sprach, hatte sich ihr Gesicht langsam dem seinen genähert, und als ihre Lippen seinen Mund berührten, erstarrte er und schwieg. Dann riß er sie in seine Arme und küßte sie so, wie sie noch nie zuvor geküßt worden war, nicht einmal von Fred, wenn er auf dem Höhepunkt seiner Leidenschaft angelangt war. Das waren ganz andere Küsse ‒ und sie erwiderte sie auf eine Art, wie sie es nie für möglich gehalten hätte. Ganz fest hielten sie einander umschlungen. Hanna fühlte, wie ihr schwindlig wurde, ihre Gedanken wirbelten durcheinander. Sie war verloren und war es gern.
Dann saß sie plötzlich wieder auf dem Stuhl, während Ned sich über sie beugte und lachte, wie sie ihn vor Jahren hatte lachen sehen. Aber jetzt war sein Lachen von unaussprechlicher, überschäumender Freude erfüllt. Endlich richtete er sich auf und fragte mit heiserer Stimme: »Bestehst du darauf, nun Tee zu trinken?« Hanna sah ihn wortlos an, aber da war er schon aus der Küche geeilt. Als sie hörte, wie er unten den Riegel vorschob, drehte sie den Kopf zur Seite und biß sich auf die Lippen, um dem Zittern Einhalt zu gebieten, das ihren Körper erfaßt hatte.
Ned erschien wieder in der Küchentür und streckte ihr die Hand entgegen. Sie sprang auf und lief zu ihm hin. Dann führte er sie die Treppe hinauf in das über der Küche liegende Schlafzimmer. Sie noch immer an der Hand haltend, blieb er stehen, sah ihr im schwachen Licht tief in die Augen und fragte stockend: »Bist du dir sicher?«
»O ja, Ned. Vollkommen sicher!«
Langsam öffnete er den obersten Knopf ihres Kleides, dann den nächsten und wieder den nächsten. Hanna rührte sich nicht, sondern schaute ihn unentwegt an. Schließlich hob er sie aufs Bett, und sie sah zu, wie er sich auszog. Seine Bewegungen waren noch immer langsam, fast gemächlich. Schließlich legte er sich neben sie, nahm ihr Gesicht zwischen beide Hände und sagte mit bewegter Stimme: »Wie oft ich davon geträumt habe … eigentlich schon, ehe ich dir zum ersten Mal begegnet bin! Ich träumte von einer Frau, die neben mir lag, wie du es jetzt tust. Es ist traurig, denken zu müssen, daß ich einen Großteil dieses wunderbaren Traums durch meine eigene Schuld eingebüßt habe. Ja, durch meine eigenen Fehler. Dir gebe ich keine Schuld, nein, nie im Leben!« Er schüttelte bitter den Kopf. »Ein Bursche wie Fred konnte dir doch nichts bedeuten, dich nicht erregen, dich nie wirklich geliebt haben… Oder hat er es getan?« Sie schloß die Augen und flüsterte: »Nein, Ned, nein. Ich hab mir hundertmal gewünscht, zu sterben. Und dann habe ich gelernt, dabei an dich zu denken, und das hat mir geholfen.«
»Wirklich? Du hast an mich gedacht, wenn du mit ihm beisammen warst?«
»Ja, Ned.«
»Ach, Hanna ‒ Liebste!«
Er stützte sich auf den Ellbogen und beugte sich über sie, aber nun schien es ihr, als küsse sie ein völlig anderer Mann, denn jetzt waren seine Liebkosungen sanft und zärtlich und ließen ihren Körper aufblühen. Sie seufzte glücklich, während alles um sie herum versank… Keiner von beiden hatte bemerkt, daß das Gewitter längst vorbei war, bis Ned schließlich feststellte, wie licht es im Zimmer war. Er warf einen Blick zum Fenster und rief fröhlich: »Sieh doch! Die Sonne scheint!«
»Richtig!« Sie drehte sich auf den Rücken, sah gleichfalls hinaus, und kuschelte sich dann wieder an ihn.
»Bist du glücklich, Hanna?« fragte er leise. »Glücklich?« Sie schüttelte fassungslos den Kopf. »Oh, Ned ‒ ich weiß nur, daß ich mich noch nie im Leben so wundervoll gefühlt habe. Nie hätte ich so etwas für möglich gehalten. Mir ist gleich, was jetzt mit mir geschieht.«
»Was meinst du damit?«
»Genau das, was ich gesagt habe. Selbst wenn ich sterben müßte, es würde mir nichts ausmachen.«
»Red keinen Unsinn.« Er stand auf, zog sich an, schnallte den Gürtel zu, blickte zu ihr hinüber und sagte: »Wir beginnen ein neues Leben, Hanna. Ich weiß noch nicht, wie, aber das hier ist erst der Anfang, verstehst du?« Sie schaute ihn zärtlich an, setzte sich dann auf und sagte ruhig: »Das… das wird schwierig sein, Ned. Wenn die da drunten mich erst einmal herauf gehen sehen …«
»Zur Hölle mit ihnen!« Trotzig warf er den Kopf zurück, beugte sich anschließend über sie und fragte lächelnd: »Sie geht doch sicher jeden Sonntag zur Kirche, stimmt’s?«
»Ja.«
»Und er? Was tut er?«
»Er legt sich nach Tisch hin.«
»Du auch?« Nun lächelte er nicht mehr.
»Nein, nie.«
»Nun, dann könntest du doch einen Spaziergang machen.«
Hanna zwinkerte schelmisch. »Ja, natürlich könnte ich einen Spaziergang machen.«
»Das reicht für den Anfang, meinst du nicht? Komm, steh auf.« Er ergriff ihre Hand und half ihr auf die Beine. Als sie sich anziehen wollte, fiel er ihr in den Arm. »Warte! Ich hab dich ausgezogen, ich werde dich auch wieder anziehen. Von jetzt an zumindest.«
»Oh, Ned!« Wieder warf sie sich ihm an den Hals, und er küßte sie auf die Lider, die Nasenspitze und die Ohren. Hanna erkannte im selben Moment, daß seine Art, sie zu liebkosen, eine Menge Erfahrung verriet, aber das machte ihr nichts aus, weil sie spürte, daß sie für ihn etwas Besonderes war. Sie wußte es, sie glaubte fest daran ‒ es war das einzige, woran sie jemals wieder glauben würde.
Als sie in den Nebenraum gingen, sagte er: »Bleib hier, ich bringe den Tee herauf.«
Sie setzte sich in den Schaukelstuhl vor dem Kamin.
Jetzt brannte kein Feuer, aber sie konnte sich vorstellen, wie es an einem Winterabend sein würde, wenn die Flammen lustig prasselten, ein Topf würziger Fleischbrühe auf dem Herd brodelte und ein blütenweißes Tischtuch ausgebreitet war und die Suppennäpfe auf dem Tisch standen.
Wie sie sah, gab es sechs davon drüben im Regal, drei große und drei kleine. Sie waren ebenso wie die Möbel handgefertigt. Hanna blickte sich im Zimmer um, das so verschieden von jenem war, das sie vor ein, zwei oder gar drei Stunden verlassen hatte. Wie spät mochte es sein? Gegen sechs wahrscheinlich. Sie mußte sich bald auf den Heimweg machen.
Bei ihrem Rundumblick hatte sie festgestellt, daß auch hier alles von auffallender Sauberkeit war, genauso wie unten in der Küche. Das versetzte ihr geradezu einen Stich. Kam diese Frau regelmäßig hierher, um sauberzumachen? Und vielleicht nicht nur deshalb?
Als er mit dem Tablett eintrat, stand Hanna neben dem Regal und ließ den Zeigefinger spielerisch über die Näpfe gleiten. Während Ned die Teekanne, den Milchkrug, die Zuckerdose und die Tassen auf den Tisch stellte, nahm sie einen der Näpfe in die Hand und sagte: »Alles sieht so adrett bei dir aus. Macht hier regelmäßig jemand sauber?«
Sie hörte, wie er das Tablett abstellte. Als er nicht antwortete, drehte sie sich rasch um und sah ihn an. Sein Gesicht war ernst, aber seine Augen lachten. »Ja, Nell Dickinson«, antwortete er unbekümmert. »Du hast sie ja letztes Mal gesehen, sie wohnt in ›The Bottoms‹ drüben und kommt zweimal in der Woche herüber.« Hanna stellte den Napf wieder an seinen Platz. »Tja, nettes Ding, diese Nell, wirklich…«
Ned schenkte den Tee ein und fragte: »Nun, möchtest du nicht herkommen?«
Erwartete ab, bis sie sich gesetzt hatte, nahm dann neben ihr Platz, zog sie an sich und streichelte liebevoll ihr Haar, während er berichtete: »Nell ist verheiratet. Ihr Mann ist groß und stark wie ein Bulle, er hat mir alles beigebracht, was ich vom Boxen weiß. Er hat sie geheiratet, als sie fünfzehn war, und sie hat ihm elf Kinder geschenkt. Vier haben sie durch die Cholera verloren ‒ auf einmal, stell dir vor! Sie hat mich zur Schule geführt, das heißt, wenn sie mich durch gutes Zureden überhaupt soweit kriegen konnte. Geschlafen habe ich allerdings nie mit ihr, zumindest noch nicht.« Er nickte bekräftigend und fügte hinzu: »Sie ist jedoch ein herzensguter, verständnisvoller Mensch, und wenn sie annähme, daß ich dringend eine Frau bräuchte, dann würde sie mir sicherlich auch diesen Gefallen erweisen.«
Hanna schlang die Arme um seinen Hals und schaute ihn prüfend an.
»Bist du am Ende eifersüchtig?« fragte er und zwinkerte ihr übermütig zu.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, nein, ich war bloß neugierig.«
»Erzähl mir keine Märchen.« Er versetzte ihr einen sanften Klaps. »Gib es ruhig zu und schäm dich: Du bist nichts als eifersüchtig. Was hättest du getan, wenn es so gewesen wäre, wie du gedacht hast?«
Ihr Gesicht wurde mm ernst, und ebenso ernst antwortete sie: »Es hätte mich sehr verletzt … aber ich hätte es dir nicht übelgenommen, wo ich doch weiß, wie du es brauchst. Allerdings hätte ich mir gewünscht, an ihrer Stelle zu sein, weil« ‒ sie unterbrach sich und bekam feuchte Augen ‒, »weil ich dich liebe, Ned. Ich liebe dich über alles.«
»Weine nicht, Liebste, bitte.«
»Tu ich ja gar nicht.«
»Komm, trink deinen Tee. Komisch, daß ich ausgerechnet an einem solchen Tag, den man eigentlich feiern müßte, nicht einen Tropfen Whisky im Haus habe. Damit sollten wir anstoßen, nicht mit Tee. Weißt du, was?« Er hatte sich auf die Knie fallen lassen, legte beide Arme um ihre Taille und den Kopf zwischen ihre kleinen Brüste. »Das ist der glücklichste Tag meines Lebens.«