Kapitel 6

Im April kam Hanna die Vermutung, daß sie schwanger sei, aber sie war sich dessen nicht sicher, ihre Periode hatte sich immer unregelmäßig eingestellt. Zu ihrem Leidwesen gab es niemanden, mit dem sie über ihren Zustand hätte sprechen können.

Das Wetter blieb bis in den Mai unstet und kühl. Mrs. Loam war seit Wochen schwer erkältet und somit außerstande, das Haus zu verlassen. Als Hanna täglich beim Aufstehen übel wurde, wußte sie, daß sie ein Kind unterm Herzen trug. Weil sie stets als erste in der Früh auf die Toilette ging, bemerkte eine Zeitlang niemand etwas von ihrem Zustand, bis zu einem bestimmten Montagmorgen.

Sie war um sechs Uhr aufgestanden, hatte den Kessel in der Waschküche angeheizt, die Wäsche bereits ausgekocht und war nun beim Spülen angelangt, als ihr plötzlich fürchterlich übel wurde. Da diese Anfälle bereits seit einiger Zeit nachgelassen hatten, wurde sie davon völlig überrumpelt. Zitternd lehnte sie sich an die Wäschemangel, der kalte Schweiß trat ihr auf die Stirn.

»Jetzt ist’s also endlich soweit, wie?« sagte auf einmal eine Stimme neben ihr. »Weshalb versuchst du denn, es geheimzuhalten? Schämst du dich etwa deswegen? Schließlich hast du dir lange genug damit Zeit gelassen!«

Hanna starrte die alte Frau an, während sich ihr der Magen umdrehte.

»Weshalb hast du Fred nichts davon gesagt? Er hat ein Recht darauf, es zu erfahren, oder?«

»Ich werde … ich werde es ihm sagen, wenn es mir passend erscheint.«

»Oh, tatsächlich? Wie gütig von dir!« Die kleine Frau schüttelte den Kopf. »Eines kann ich dir verraten: Nie im Leben bin ich jemandem wie dir begegnet. Du bist ja kein Mensch! Zwei Jahre wartet er nun schon darauf, daß es endlich soweit ist ‒ und dann vertuschst du deinen Zustand einfach. Ich gehe jede Wette ein: Wenn ich dich nicht dabei erwischt hätte, wie dir übel wurde, du hättest kein Sterbenswörtchen davon gesagt, bis dein Bauch dich verraten hätte.«

Damit drehte Mrs. Loam sich um und verließ die Waschküche. Hanna klammerte sich an das Bügelbrett, schloß die Augen, ließ den Kopf sinken und schwor sich feierlich, daß sie ‒ gleichgültig, was auch geschehen mochte ‒ ihr Kind nicht in diesem Haus zur Welt bringen würde…

»Ist es wahr?«

Sie drehte sich um und blickte Fred an. Sein großes rotes Gesicht glühte vor Erregung. Er sah derart stolz aus, daß sie einen Moment lang Mitleid mit ihm empfand. »Weshalb wolltest du es mir denn verheimlichen, hm? Bist du ein komisches Ding! Mein Gott, freue ich mich darüber ‒ ich dachte schon, es würde nie dazu kommen! Ich fing bereits an, mir Sorgen zu machen, weil ich fürchtete, es läge an mir.« Er grinste, als wäre das eine völlig absurde Vorstellung. »Die in der Kneipe haben mich ständig damit aufgezogen. Aber wer zuletzt lacht, lacht am besten!« Er faßte sie an den Schultern, zog sie an sich und fragte: »Weshalb sagst du nichts? Freust du dich denn nicht?«

Sie brachte es fertig, ihm ruhig in die Augen zu sehen, als sie antwortete: »O ja, natürlich freue ich mich.«

»Na also.« Er nickte ihr vielsagend zu. »Dann können wir ja wieder dort beginnen, wo wir aufgehört haben, hm?«

Aber in jener Nacht mußte Fred zu seiner größten Verwunderung erfahren, daß er sich in dieser Hinsicht gründlich getäuscht hatte. Denn als er sie umarmen wollte, sprang sie aus dem Bett und zischte ihn in der Dunkelheit an: »Ich will nicht, daß du mich anrührst, hörst du? Ich will es nicht mehr, bis … bis es zur Welt kommt.«

»Was meinst du mit nicht mehr anrühren?«

Sie wußte, daß er nun aufrecht im Bett saß.

»Genau, was ich sagte.«

»Aber« ‒ es lag hörbare Verwirrung in seiner Stimme ‒ »es ist besser für das Kind, das weiß doch jeder. Dadurch wird es gesund und widerstandsfähig. Außerdem, wenn du soweit bist, wie du sagst, habe ich dich vor gar nicht so langer Zeit ja doch ›angerührt‹, wie du es nennst.«

»Natürlich. Aber jetzt will ich es nicht mehr. Und falls du darauf bestehen solltest, werde ich in der Küche schlafen.«

»Allmächtiger! Das sind ja noch Monate. Also, hör mir zu, Hanna, ich will davon nichts wissen. Wofür hältst du mich? Für einen kompletten Esel, was? Du glaubst, machen zu können, was du willst?«

Als er nach ihr tastete, schrie sie auf. Erschrocken zuckte er zurück und stammelte: »Sei um Himmels willen still! Sonst haben wir sie in der nächsten Minute im Zimmer.«

»Dann laß mich in Ruhe. Es ist Nacht für Nacht geschehen, Nacht für Nacht ‒ ich kann es nicht mehr ertragen! Jetzt solltest du doch endlich zufrieden sein. Ich … ich erwarte ein Kind.«

Es war nun still in der Dunkelheit. Er schien über ihre Bemerkung nachzudenken. Dann hörte sie, wie er sich wieder hinlegte. Hanna stand unbeweglich da und wartete, bis ihr Körper vor Verkrampfung schmerzte und die Kälte langsam unerträglich wurde.

»Also gut, wir werden es uns überlegen«, sagte er schließlich. »Komm zurück ins Bett!«

Sie zögerte noch einen Moment, ehe sie sich auf die Bettkante sinken ließ. Zitternd griff sie hach der Bettdecke und wickelte sich fest darin ein, ängstlich darauf bedacht, so viel Abstand von ihm zu halten, daß sie einander nicht berührten.

Am darauffolgenden Sonntag war Mrs. Loam zu Hannas Entsetzen wegen einer Magenverstimmung nicht imstande zur Kirche zu gehen. Die Woche bis zum nächsten Sonntag wurde für die junge Frau zur Tortur. Sie mußte sich eisern zusammennehmen, um sich nicht zu verraten, damit nur ja keiner der beiden etwas argwöhnte. Nachdem Mrs. Loam ‒ die unentwegt düstere Prophezeiungen ausgestoßen hatte, was denjenigen bevorstünde, die keinen Gottesdienst besuchten ‒ endlich aus dem Haus gegangen und Fred zu seiner Gaststättentour aufgebrochen war, kam für Hanna der langersehnte Augenblick der Freiheit. Sie brachte kaum noch die Geduld auf, ein paar Minuten abzuwarten, ehe sie zur Hintertür hinauslief. Trotzdem zwang sie sich so lange zu einer gemächlichen Gangart, bis sie vom Dorf aus nicht mehr zu sehen war.

Die Dämmerung hatte bereits zugenommen, als sie das Pele-Haus erreichte. Aber diesmal gab es dort keine ungebetenen Besucher. Ned erwartete sie vor dem Tor, umarmte sie stürmisch und zog sie mit sich, während er in ihr Haar murmelte: »Wo bist du all die Jahre über gewesen?« Einem plötzlichen Einfall folgend, fragte er: »Bist du unterwegs John und Annie Becket begegnet?« Hanna schüttelte den Kopf. »Die von nebenan? Nein, nicht daß ich wüßte.«

»Dann müssen sie den Weg zum Friedhof eingeschlagen haben. Ich war sicher, daß ihr einander begegnen würdet.«

»Vielleicht hab ich sie bloß nicht bemerkt«, meinte Hanna lachend. »Ich hielt den Kopf gesenkt und lief, was die Füße hergaben.« Ihr Gesicht wurde ernst. »Aber weshalb fragst du?«

»Ach, nichts. Es ist nur diesen Monat schon das dritte Mal, daß sie hier vorbeigekommen sind. Beim ersten Mal dachte ich noch, sie würden eben einen Sonntagsspaziergang machen. Aber jetzt bin ich mir dessen nicht mehr so sicher. Redet ihr viel miteinander?«

»Kaum. Höchstens mal ein paar Worte, wenn ich in den Hof gehe, um das Schmutzwasser auszuschütten.«

»Mein Gott, wenn ich das höre, sehe ich rot! Du mußt das Schmutzwasser ausleeren. Weshalb, zum Teufel, kann er das nicht tun? Was treibt er überhaupt die ganze Zeit? Er schlachtet selten mehr als ein Rind pro Woche, manchmal vielleicht ein paar Schafe und ein, zwei Schweine. Aber was ist das schon?«

»Komm, reg dich nicht auf!« Sie war es nun, die ihn an der Hand in die Küche führte. Als sie vor ihm stand und er den Kragen ihres Umhangs aufknöpfte, sagte sie: »Ich muß dir was sagen, Ned Ridley.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß wahrhaftig nicht, wie ich es geschafft habe, es so lange für mich zu behalten. Lieber Himmel, habe ich darunter gelitten, daß ich letzten Sonntag nicht aus dem Haus konnte!«

»Gut, daß du nicht gekommen bist. Ich war weg. Nun, Hanna Boyle?« Er hatte sie noch nie mit ihrem Mädchennamen angesprochen. »Mach’s nicht so spannend! Was gibt’s denn?«

»Errätst du es nicht?«

Ned blickte theatralisch hinauf zur Decke und sagte: »Mrs. Thornton ist zu dir gekommen und hat dich gebeten, wieder in den Schoß der Familie zurückzukehren.«

»Ha, den Tag werde ich nie erleben! Es ist merkwürdig, weißt du, aber seit ich aus Haus Elmholm weg bin, hab ich sie nur noch einmal gesehen ‒ und das war damals in der Kirche. Aber jetzt sei einmal ernst. Schau mich an.« Er gehorchte. »Nun?«

Hanna ließ einige Sekunden verstreichen, ehe sie langsam ‒ jedes einzelne Wort betonend ‒ sagte: »Ich werde bald … dein Kind bekommen.«

Für einen Moment verschlug es Ned die Sprache. Dann fragte er mit angespanntem Gesichtsausdruck: »Wirklich meines?«

»Ja, deines.«

Sein Gesicht begann zu strahlen. Glückselig schloß er die Augen, schlang die Arme um sie, und dann wiegten sie sich hin und her. Schließlich faßte er sie an den Schultern, sah ihr in die Augen und erkundigte sich: »Wie kannst du dir dessen so sicher sein?«

»Ich bin es, glaub mir! Damals im Februar, weißt du noch…? Und, du lieber Himmel, es spielen noch viele andere Dinge mit hinein, Ned, Dinge, die ich dir nicht erklären kann. Eine Frau weiß so etwas einfach. Es ist deines ‒ unseres!«

»Im Februar? Mein Gott, das ist ja bereits einige Monate her! Weshalb hast du es mir nicht schon früher gesagt?«

»Weil ich ... weil ich nicht sicher war. Um die Wahrheit zu gestehen, ich habe bisher… Oh, ich kann dir das alles so schlecht erklären!«

»Hanna, Liebes!« Er nahm ihr Gesicht in beide Hände und streichelte es immer wieder. Dann zog er sie zu einem Stuhl, kniete vor ihr nieder und sagte: »Nun, das gibt den Ausschlag. Jetzt muß die Sache geklärt werden. Und das werde ich auch tun. Es ist gut, daß ich einen ordentlichen Verdienst in Aussicht habe. Du erinnerst dich doch an das, was ich dir erzählt habe, nicht? Die Waliser Ponys, du weißt schon. Deshalb bin ich mit Peter Turnbull und Arty Heslop, den beiden Burschen, denen du hier begegnet bist, nach Gearstones mitgegangen, als sie ihre Schafe zurückgetrieben haben. Ich wollte mich später allein zurechtfinden können, und es ist gut, daß ich es getan habe, denn die Schleichwege waren mir völlig unbekannt. Jetzt kann ich die ersten Ponys herüberbringen, noch ehe Schlechtwetter einsetzt. Es wird nicht einfach sein, diese Teufelsbraten zuzureiten, aber wenn ich es geschafft habe, kann ich eine schöne Stange Geld mit ihnen verdienen. Und weißt du, was ich noch tun werde? Morgen gehe ich zu einem Grundstücksmakler nach Hexham. Er soll heraufkommen, sich dies alles hier ansehen und mir sagen, was ich für den Besitz bekommen kann.« Hanna saß da und schaute ihn nur an. Tränen rollten ihr über die Wangen, sie brachte kein Wort heraus.

»Komm, Liebste, wein nicht«, sagte er sanft. »Das ist nicht der richtige Augenblick dafür. Wir wollen feiern. Dabei hab ich wieder keinen Tropfen Whisky im Haus.« Er stand auf. »Kannst du dir das vorstellen? Das passiert mir in letzter Zeit immer öfter. Nun, dann müssen wir uns statt dessen eben mit Tee begnügen.«

»Ich werde ihn machen.«

»Kommt gar nicht in Frage.« Ned drehte sich um und fegte dabei versehentlich einige lose Blätter vom Tisch. Er bückte sich danach, warf beim Aufheben einen Blick darauf und reichte sie dann Hanna. »Ich habe mir die Route nach Gearstones aufskizziert«, erklärte er. »Schau es dir mal an. Gar nicht so schlecht für jemanden, der die Schule nicht geschafft hat, wie?«

Sie nahm die drei Bogen Papier und betrachtete die darauf festgehaltenen Umrisse der Hügel sowie die verschlungenen Linien der Straßen und Seitenwege. Erstaunt fragte sie: »Das hast du ganz allein gezeichnet?«

»Klar. Hat mir niemand dabei geholfen!« Er sah direkt stolz aus. »Dabei ist es eine ziemliche Strecke bis dorthin ‒ fünfundsiebzig Meilen oder noch mehr.«

»Fünfundsiebzig Meilen!« Ihre Stimme klang richtig erschrocken.

»Ja, paß auf.« Er beugte sich über sie und fuhr mit dem Zeigefinger die Linien nach. »Ich reite nach Allenheads, dann weiter nach Wearhead, das Zeichen hier bedeutet, daß ich da übernachte. Am nächsten Tag geht’s nach Langdon Common, wo ich ‒ wie Peter und Arty es mir gezeigt haben ‒ dem Fluß Tees nach Newbiggin folge. Hier, an diesem Punkt, werde ich das zweite Mal übernachten. Am darauffolgenden Tag ‒ betrachte jetzt das zweite Blatt ‒ reite ich nach Lunedale und Baldersdale hinüber, dann über die God’s Bridge und kann, wenn ich Glück habe, bis zur Dunkelheit das Gasthaus in Tan Hill erreichen. Auf Skizze Nummer drei« ‒ er hatte ihr nun das dritte Blatt Papier hingeschoben ‒ »siehst du die Reiseroute zum Stonesdale-Moor und weiter nach Thwaite, über den Buttertubs-Paß nach Hawes. Hier ist abermals ein Zeichen für eine Nachtunterkunft. Ich könnte natürlich über Widdale Beck direkt nach Gearstones abkürzen, aber das wären höchstens sieben oder acht Meilen. Also werde ich doch in Hawes Station machen. Nun, was hältst du von dieser Tour, hm?«

»Ich finde sie entsetzlich weit und anstrengend. Und du willst diese Ponys den ganzen langen Weg allein zurückbringen?«

»Tja, ein Spaziergang dürfte es nicht gerade werden, das stimmt schon. Zwar gibt es vom Höhenweg schöne Ausblicke ins Tal, aber etwas verlassen werde ich mir schon Vorkommen. Dabei habe ich mir immer eingebildet, die Strecke zwischen Whitfield und Aiston sei am anstrengendsten, aber diese hier dürfte wohl noch einsamer sein.«

»Könntest du nicht auch auf dem Pferdemarkt in Aiston recht günstig einkaufen?«

»Nein. Dorthin kommen viel zu viele Bauern, die sich mit dem Pferdehandel ein Zubrot verdienen wollen. Gearstones hingegen liegt für die meisten von ihnen zu weit vom Schuß. Zwar könnten sie Viehtreiber damit beauftragen, ihnen die Pferde zuzuführen, aber das Risiko, dabei einige Tiere einzubüßen, ist ihnen wahrscheinlich zu groß. Ich würde einem Viehtreiber auch nicht gerade über den Weg trauen.«

Ned lachte verschmitzt, beugte sich über Hanna und küßte sie auf den Mund. »Ich werde zurück sein, ehe du dich versiehst«, beteuerte er. »Du brauchst dir keinerlei Sorgen um mich zu machen, glaub mir.«

Sie schlang die Arme um seinen Hals. »Wohin werden wir gehen, wenn wir von hier wegziehen?« fragte sie. »Wohin du willst, Hanna. Am liebsten würde ich mich in der Nähe von London niederlassen, auf dem Land natürlich.«

Hanna wußte nur eines: Sie sehnte sich nach einem Fleck Erde, wo kein Mensch sie finden würde. Wo sie ein neues Leben anfangen konnten, sie Mrs. Ridley sein und auch ihr Kind den Namen Ridley tragen würde.