Das Jahr 1929 war für die deutschsprachige Literatur nicht ganz unbedeutend. Weltbestseller wie Im Westen nichts Neues von Erich Maria Remarque und Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz erschienen, und der Berliner Verlag Williams & Co lieferte mit seinem Herbstprogramm die Erstauflage von Emil und die Detektive aus. Im Schatten dieser Großerfolge sorgte ein Roman für Aufsehen, der bei Lesern und Kritik gleichermaßen auf Begeisterung stieß: „Mich hungert“ des bis dahin völlig unbekannten Autors Georg Fink. Thomas Mann zeigte sich von dem Buch ebenso beeindruckt wie Ernst Weiß oder der Rezensent der Literarischen Welt, der unter anderem schrieb: „Es ist dringend notwendig, dass dieses Buch in die Hände vieler Menschen kommt! Es ist mehr als ein Roman.“
In der Folge entwickelte sich das Buch nicht nur in Deutschland zu einem Bestseller, 40 000 Exemplare verkaufte der Verlag in kurzer Zeit, sondern der Roman wurde auch weltweit zu einem Erfolg und in dreizehn Sprachen übertragen. Umso mehr wuchs das Interesse an dem Autor, von dem zunächst nichts in Erfahrung zu bringen war. Das Geheimnis schien sich ein wenig zu lüften, als im Oktober in der von Ernst Rowohlt mitbegründeten Wochenzeitschrift Das Tagebuch folgende Zeilen zu lesen waren:
„Vor über einem halben Jahr erschien bei einem Schriftsteller ein junger Mann. Er nannte sich Georg Fink und brachte das Manuskript eines Romans: seine Lebensgeschichte. Der Schriftsteller sollte damit machen, was er will, am besten, meinte Fink, wäre es, wenn er ihn unter seinem, des Schriftstellers eigenem Namen veröffentlichen würde. Er selbst wollte nichts mehr von ihm wissen und wollte nach Hollywood gehen, um ein Filmengagement anzunehmen. Seitdem hat man nichts von ihm gehört, doch ist anzunehmen, dass er tatsächlich in Hollywood unter fremdem Namen Kino spielt.“
Jener Schriftsteller, an den Fink sich gewendet hatte, war der renommierte Roman- und Theaterautor Kurt Münzer, der mit seinen zahlreichen Romanen, Novellen und Theaterstücken einer größeren Leserschaft bekannt war. Er nutzte seine guten Kontakte und sprach beim Cheflektor des Bruno Cassirer Verlages, Max Tau, vor und empfahl ihm das Manuskript zur Veröffentlichung. Tau war sehr angetan, überarbeitete den Roman, ersann den Buchtitel „Mich hungert“ und setzte diesen im Verlag durch, obwohl Cassirer und der Vertrieb zunächst nicht an den kommerziellen Erfolg des Romans glaubten. Zu sperrig und trostlos erschien ihnen das Thema des Buches, und der Titel, so glaubten sie, unterstrich überdies völlig unnötig und überdeutlich, dass mit Unterhaltung auf diesen Buchseiten nicht zu rechnen war. Und überhaupt: Wen sollte die traurige Wirklichkeit eines proletarischen Milieus interessieren, das zudem aus Sicht des Halbjuden Theodor König geschildert wurde, der dieser Welt nur aus Versehen und als Außenseiter unter Außenseitern beiwohnte. Reichte es nicht, auf die Straße zu treten, um dieses Elend leibhaftig vor Augen zu haben, und war es nicht vielmehr der Wunsch aller, von diesem Leid so weit entfernt wie eben möglich zu sein?
Nein, so war es nicht. Im Gegenteil, die Leser sogen die realistischen Beschreibungen Finks auf, glaubten ebenso wie die meisten Rezensenten einen autobiographischen Lebensbericht zu lesen und lobten den Erzählton unmittelbarer Betroffenheit, der ihnen die Wahrheit und Authentizität des Gelesenen suggerierte. Und sie wollten endlich mehr über diesen Fink wissen, der ihnen diesen bewegenden Roman „geschenkt“ hatte. Leserbriefe erreichten den Verlag, und Tau bedrängte Münzer ein ums andere Mal, ihm einen Kontakt zu Fink herzustellen oder zumindest eine Fotografie des Unbekannten zu besorgen, um sie in der nächsten Verlagsvorschau abzudrucken. Das Bild indes erwies sich bald darauf als Fälschung, als eine Täuschung Münzers, der Tau das Porträt eines gefallenen Soldaten untergejubelt hatte, um sich dessen Fragen und Bitten zu entziehen. Nicht nur das nährte die Zweifel Taus, dem Finks Maskerade immer seltsamer erschien, irgendwann war er sich sicher, dass nicht Fink der Autor des Buches war, sondern Münzer selbst. Dieser leugnete, und er verneinte nicht nur die Autorenschaft dieses Romans, er inszenierte sich weiter als Mentor Finks, indem er selbst Rezensionen veröffentlichte. Seine Besprechung für die Bayerische Israelitische Gemeindezeitung, die Ludwig Feuchtwanger, der Bruder Lion Feuchtwangers, in München als Schriftleiter verantwortete, fiel besonders lobend aus. Kurt Münzer, Sohn eines jüdischen Kaufmanns, der insbesondere durch seinen Großvater, den Rabbiner Abraham Löwysohn, mit der jüdischen Philosophie und den religiösen Traditionen vertraut war, stellte nicht nur die literarische Qualität des Buches heraus, sondern verwies völlig zu Recht auf die jüdische Erzähltradition, die sich in diesem Roman manifestiere. „Dieses Buch bewegt vielleicht so wunderbar und tief, weil man den Ausbruch eines unsterblichen Menschen-, hier Judentums in einer Hölle der Armut, des Elends, des Schmutzes und Lasters erlebt. Weil man mitten unter Literatur ein Herz findet, sinnlich und urfromm, demütig und stolz, klug und einfältig, unwissend und weise, wie nur ein jüdisches es sein kann.“
Aber nicht Seelenverwandtschaft trieb ihn dazu an, sondern eine inzwischen fehlgeleitete Selbstinszenierung, der er nicht mehr entkam. Denn er war tatsächlich der Autor des Buches, doch er hatte es, warum auch immer, versäumt, den Schleier rechtzeitig zu lüften und seinen größten literarischen Erfolg unter seinem eigentlichen Namen auszukosten.
Vielmehr erschien 1930 noch ein weiterer Roman unter Finks Namen: Hast du dich verlaufen?, und erst Jahre später, im Zürcher Exil, gab Münzer schließlich zu, dass er sich dieses Pseudonym seinerzeit zugelegt hatte.
Münzers Werk geriet zunehmend in Vergessenheit. Über ihn ist kaum mehr bekannt als über Fink. Es gibt kein Bild, seine Biographie ist nur unzureichend überliefert, und vielleicht ist das so schlecht nicht, erlaubt es dem heutigen Leser doch, sich unvoreingenommen einem seiner besten Romane zuzuwenden: der Lebensgeschichte Theodor Königs, der nicht nur das eigene Elend beschreibt. Münzers Roman erzählt von der Kriegs-, Nachkriegs- und Inflationszeit, vom Hunger und der Gier nach Leben, der Suche nach Liebe und moralischer Integrität. Dieses Buch ist Familienroman und Epochenroman und gleichzeitig eine Chronik deutscher Geschichte. Und es ist ein Buch, dessen Geheimnis, wenn auch etwas unbeholfen inszeniert, noch heute die Phantasie anregt. Münzer hat das Vabanquespiel zwischen mystischer Verklärung und rationaler Einsicht auf sein Leben übertragen, und es lebt, soweit man dies sagen kann, in dem Protagonisten seines Romans weiter, der nicht nur Wanderer zwischen zwei Welten ist: Hier das Elend und die Rohheit der oft entmenschlichten Kreaturen, die ihn in der erbärmlichen Mietskaserne und auf den Straßen umgeben, dort die Schönheit von Musik, Bildung und Literatur, der er in der Villa des Fabrikanten Falk begegnet –, sondern König bewegt sich in einem Spannungsfeld zwischen Religion und Moderne, Klassenkampf, Juden- und Deutschtum und spiegelt damit die Frage nach der eigenen Identität, die die Nation ebenso umtrieb wie den Einzelnen, wider.
„Alles ist in meinem Leben, nur Liebe nicht“, sagt König am Ende des Buches. Sie fehlte allenthalben nicht nur in seinem Leben, zu wenig davon war allerorten. Und so endet sein Lebensbericht verzagt und traurig und nimmt den Lauf der Geschichte sinnbildlich vorweg: „Es ist nicht wahr, dass jedes Ende auch ein Anfang ist. Denn da stehe ich und werde immer stehen bleiben und nichts wird anders werden.
Peter Graf, Februar 2014