Noch aus einem Grunde ist die Verlobungsnacht Dianas mir unvergeßlich.
Ich ging aus der Villa fort, als der Ball begann. Man tanzte in der Diele und im Musiksaal. Jetzt war die gespenstische und dunkle und tiefwühlende Nachtmusik Mahlers längst verklungen, und ein ungewohnter Rhythmus erfüllte das stille Haus.
Ich ging langsam durch den warmen Abend, es wollte gar nicht dunkel werden. Ich trug ein Körbchen für Mutter und die Geschwister, es waren köstliche Dinge darin, von kalten Pouletkeulen bis zu Kremetörtchen und Pfirsichen. Ich ging durch den Hain, wo alles ruhte, zärtlich war, schweigend wandelte. Alle Geräusche waren verklärt. Jasmin roch aufreizend.
Dann die Straßen, ganz rosig, goldschimmernd, der Himmel über ihnen ein Geström bunter Farben, Schmelzfarben. Und Kinder spielten vor jedem Tor.
Ich konnte nicht schlafen in der Nacht, es war so heiß, Mark warf sich hin und her, und Henny rief aus dem Schlaf weinerlich:
„Sei doch still. Laß mich schlafen. Mutter.“
Mutter schlief. Sie schlief immer fest.
Da stand ich auf und zündete ein Licht an und stellte es zwischen mich und den Spiegel und dann –
Ja, ich war immer noch besessen von dieser Sucht des stummen Spiels. Von diesem Trieb, nachzuahmen oder selbst neu zu gestalten.
Da stand ich, nach dem Abend der Offenbarung, und sah nach, wie ich gewesen war. Vor dem Spiegel erlebte ich wieder Dianas Aufgang als Frau, als Nacktheit und suchte in meinem Gesicht die Spiegelung der Stunde und Erregung. Ich lächelte, wie sie gelächelt hatte, ins Weite, zu mir, rätselhaft, schließlich liebevoll. Ich kniete hin wie sie und bewegte die Lippen, ich starrte meinem Bild in die Augen, als sei es Diana selbst. Mit höchster Wonne, mit Wollust bis in die Knochen sah ich mir selber zu, ich empfand mich bis ins Äußerste gesteigert, und siehe da: alles Weh ward Lust …
Es ächzte hinter mir …
Mutter saß im Bett und sah mir zu. Und sie hielt mich wohl für krank, fiebernd oder im Geist gestört. Wie schon einmal entsetzte sie sich wieder vor meinem unverständlichen Gebaren und starrte mich an wie ein unheimliches Fremdes, einen Wechselbalg, dessen Ursprung aus sich sie nicht begriff.
„Ich spiele ja nur“, rief ich, aus meinem Himmel in Beschämung stürzend. „Mutter, ich spiele ja nur. Ich konnte nicht schlafen, es ist so heiß.“
„Du spielst –“ sagte sie und blieb unbeweglich unter meinen Liebkosungen. „Du spielst … Ja, womit? – Wenn du mich einmal sterben sehen wirst, wirst du auch –“
„O! Mutter!“ rief ich.
Ich verdiente das nicht – Und da war sie auch schon wieder liebend bei mir, nahm mich an sich und liebkoste mich, als wäre ich ein Kleines, Vernunftloses, Sündenfreies …
Und dann begann der Krieg – mit Dianas Heimkehr –
Sie kam auf ein Telegramm ihres Verlobten, der sie nach Deutschland zurückrief. Er mußte ja wissen, was bevorstand. Erst antwortete sie ablehnend, dann rief sie ihr Schwager. Sie kam in der Nacht des dreißigsten Juli in Berlin an. Am ersten August, als die Stadt schon wie ein Krater kochte und dampfte, suchte mich Stefan. Er hatte mir das uns Aufregendste zu erzählen: am Nachmittag wurden Tante Diana und ihr Leutnant kriegsnotgetraut. Er mußte in derselben Nacht mit seinem Regiment in die Vogesen. Ich sollte nicht hinkommen, es war kein Mensch geladen.
Das gab mir – ich weiß nicht, warum – einen Schlag, härter und tiefer als die Kriegserklärung, deren Sinn ich, mit elf Jahren, nicht verstand. Ich erinnerte mich, noch während Stefan auf mich einsprach:
„Gib ihm diesen Kuß von mir – Wenn ich einmal nicht mehr sein werde –“
Ich hatte nicht gefragt: wem … Ich hatte es sofort gewußt …
Führte ich irgendwo im Tiefen ein gemeinsames Leben mit Diana Fiori? Hatte ich so ahnungsvoll miterlebt, was sich in der Villa ohne Worte und Gebärde abgespielt hatte? …
Spät am Abend schlenderte ich durch die Hochstraße, ich wollte das Haus sehen, aus dem sie gegangen war, um des andern Frau zu werden. Ich wußte nichts von den Ereignissen des Tages. Sie hatte es verlassen, aber nur, um die ewige Hochzeit zu feiern.
Nina Falk war bei ihr, als sie sich ankleidete. Sie zog ein schwarzes Kleid an, und die Schwester sagte:
„Es sieht zu düster aus, Di. Dunkel, ja; aber doch nicht Trauer.“
„Es ist angemessen“, sagte Diana kalt, „Was nun kommt – – Aber jetzt bitte, Ni, laß mich allein. Du sollst mir nur einen Kuß geben.“
Dann sah sie niemand mehr.
Eine Stunde später kam der Verlobte. Herr Falk sagte:
„Ich will sie holen. Einen Augenblick, lieber Erwin.“
Und er ging zu Diana hinauf …
Dann sahen sie ihn oben an der Treppe stehen.
„Sie ist nicht da“, sagte er.
Und er war so bleich, als hätte er eine Tote gesehen. Nina schrie auf. Auch sie wußte es, wie er.
Man suchte sie vergeblich im ganzen Hause. Und erst als man um sechs Uhr einen Auflauf drüben am Rasengelände sah, ahnten alle: dort ist sie …
Diana war nur über die Straße gegangen, über den verbotenen Rasen, die Böschung hinab zu den Geleisen der Bahn, und da hatte sie sich hingelegt. Zwei Züge waren über sie hinweggefahren, und es waren nur noch Teile von ihr da, von den Rädern weit mit fortgetragen, ihr schöner Leib war Stückwerk.
In der blinden Verstörtheit des Tages hatte kein Mensch sie diesen Todesweg gehen sehen, die Lokomotivführer hatten, von Krieg geblendet, die Gestalt auf den Schienen nicht gesehen. Erst ein Streckenwärter, der die Geleise abging, hatte den Kopf, die Beine, den Rumpf gefunden …
Es war kein Wort von ihr hinterlassen worden, kein Zettelchen war da, sie hatte niemandem Adieu gesagt. Nur Nina gebeten:
„Du sollst mir einen Kuß geben – –“
Und Nina Falk schlug sich die Brust vor Mann und Kindern und erzählte es uns scheu:
„Und ich habe sie nicht geküßt! – O! nein! – Ich ging hinaus und gab ihr den Kuß nicht … Diana! Diana!“
Zum ersten Mal sah man sie verstört, fassungslos, verloren.
Dafür hatte sie sich ganz in der Gewalt, als ihr Mann sich am nächsten Morgen freiwillig meldete. Man wies ihn zurück!
„Der Krieg ist ja aus, ehe Sie eingekleidet sind! Gehen Sie nach Haus und bereiten Sie Triumphpforten vor.“
Er hatte Beziehungen, und er setzte es durch, daß er fünf Tage später als Listenschreiber in einem Lazarettzuge nach Belgien fuhr.
Er ließ mich holen, mir Adieu zu sagen.
„Dieses Haus, mein Jung“, sagte er, „steht auch für dich da. Vergiß es nie. Bewahre mir ein gutes Gedenken. Wir ruhen gut in Menschenherzen.“
Ich sah ihn weinend an. Er nahm Abschied wie für immer. Jetzt hätte ich es tun können, ihm sagen:
„Ich habe einen Kuß für Sie – von ihr –“
Wäre es nicht Balsam auf seine unsichtbare Wunde gewesen? Aber alle standen um uns herum. Ich schwieg, ich hob es auf, bis es unmöglich war …
So begann der Krieg. Vier Jahre floß Blut aus der Menschheit. Ich begriff so wenig. Aber doch sah ich den Sonnenschein auf der Erde liegen, starrte in den silbernen Mond, in die Sterne. O, wie gelassen, wie beseligt, wie schön alles im All – und auf Erden! … Ich sah in den Mond, mit Ehrfurcht und Entsetzen: es focht ihn nicht an. Bedeutete das so wenig? Waren wir ein Nichts? Unser Leben nur ein Traum der unausgekühlten Erde, ein Spiel ihres Feuers?
Noch die Jahreszeiten kamen und gingen, die Flüsse versiegten nicht, färbten sich nicht einmal rot, Bäume trugen ihre Früchte, und im Hain sang die Nachtigall hinter der Kirche … Da wurde der Krieg Gespenst und Alpdruck, und ich sah mich älter werden und mannbar und dachte: was träume ich da unendlich und schwer! …
Und Vater – –
Es war schon acht Tage Krieg, und die Stadt knatterte von Fahnen und Gesängen, da sagte Mutter in der Nacht zu mir:
„Wir müssen nach ihm suchen. Wo ist er? Er war Soldat, Kürassier in Breslau. Er wird ja hinausmüssen. Oder er geht nicht mit, er verbirgt sich? … Wir müssen suchen.“
Ich sagte:
„Wir wollen Henny fragen. Du weißt es nicht, Mutter, aber Vater hat ihr oft aufgelauert, und sie hat mit ihm gesprochen. Vielleicht weiß sie.“
„Meine Kinder haben Geheimnisse vor mir“, flüsterte sie und schob mich von sich fort.
„Nein, Mutter, deine Kinder wollen es dir ein bißchen leichter machen.“
„O, Teddy, nur die Wahrheit ist leicht. Mit Wahrheit überwindet man das Leben, mit Lüge versinkt man in ihm. Und du warst mit ihnen im Bunde.“
„Ein Bund für dich, Mutter. Wir lieben dich mehr als die Wahrheit.“
„Du kleiner Sophist – Woher hast du deinen Verstand, Liebling?“
„Ich bin dein Sohn.“
„Du großer Schmeichler. – Was willst du werden, Teddy?“
Das fragte sie mich plötzlich in der Nacht der Schlachten. Und ich sagte, Schlag auf Schlag, ich hatte sie falsch verstanden:
„Gut! – Wenn ich kann –“
„O, schlaf!“ rief sie da und zog mich an sich.
Am nächsten Vormittag gestand Henny. Sie hatte erst geleugnet, daß sie in letzter Zeit mit Vater gesprochen hatte.
„Vorher ja“, sagte die Zehnjährige. Und ihr süßes Gesicht, schmal unter dem braunen Scheitel – über jeder Schulter einen langen Zopf – war ungezogen, frech, schnippisch. „Jetzt, nee, jetzt hab ich ihn lange nicht gesehen. Fragt doch die Gräbert’n.“
Sie warf ihre Zöpfe und nahm das Extrablatt mit den Siegesnachrichten vors Gesicht.
Mark zwinkerte mir zu. Er war ein bezauberndes Bürschlein, keß und fix, gutmütig und heftig, schön und kräftig.
Dann, schließlich, gestand Henny. Sie kam von selbst. Sie konnte wohl lügen, aber nicht lange. Ja, also sie hatte Vater am zweiten August gesehen, sie war, zusammen mit Olga Reschke, zur Gräbert gegangen. Da stand er in Uniform, großartig, vom ganzen Hause umringt, von allen Frauen angeblitzt. Andern Tags, früh um vier, sollte er fort.
Er hatte noch zu uns kommen wollen, erzählte er Henny. Aber jetzt, wo er ihr Adieu sagen konnte, konnten wir ihm gestohlen bleiben.
„Brauchst niemanden zu jrüßen“, hatte er gesagt. „Muttern nich, wenn se ooch ne jute olle Haut ist. Und ooch de Tranfunzel nich, de Suse, den Theodor, un’n Strohkopp, de kesse Kulpsnese, ooch nich. Bloß dir hat Vater lieb. Komm her, mein Engel. Wenn ick wiederkomme – Na, was ick dir mitbring! den scheensten Pariser!“
Über diesen Witz kam die ganze Grüntalerstraße ins Grölen. Die Frauen rissen sich ihre Filzpantoffeln vom Fuß, klatschten sich auf die Schenkel und brüllten vor Lachen.
„Pariser hat ’r jesacht! So ’n Junge! Der is uff ’n Sonntach in Paris!“
Aber der schöne Georg schob jetzt alle fort, auch Henny, nahm seine Luise untern Arm und zog mit ihr ab.
„Nu jebt Ruhe!“ rief er. „Un laßt mir noch mal! Wer weiß, wie lang ’s dauert, bis ick wieder – –“
Und Henny erzählte getreulich allen Unflat, den ihr Vater da von sich gespien. Mutter schlug die Hände vors Gesicht, Tag und Nacht in Arbeit – was wußte sie von der Straße, unserm Leben auf ihr, was von der großen Unschuld, mit der ein Kind mit Schmutz spielen, ihn heimbringen, ihn verbreiten kann. Henny war viel zu unschuldig, um solche Redensarten zu unterschlagen. Sie verband kaum eine Vorstellung damit. Und wenn, so hatte die wüsteste Situation keinen Schrecken oder Abscheu für sie. Man wächst mit all dem auf, man weiß nie, wann man zuerst davon gehört hat, das wußte man eben immer.
Am Abend machte sich Mutter auf. Zur Luise Gräbert. Sie wollte doch wissen. Erst in der Badstraße sahen wir, daß Henny uns folgte. Mutter hatte gewollt, daß ich sie begleite. Nun kam auch das Mädel mit.
Mutter ging so bestimmt Straße und Haus zu, daß ich merkte: sie war schon dagewesen … Ob sie sich manchmal, von ihrer Arbeit kommend, hingeschlichen hatte, um zu sehen, wo ihr Mann, einmal Geliebter, Erkämpfter, Erstohlener, sie betrog?
Erst an der Tür zögerte sie. Der Laden war geschlossen, die Fenster leer, ausverkauft. Es kamen in diesen Tagen neue Zufuhren nicht herein. Alles was rollte, mußte den Militärtransporten dienen.
Wir gingen durch den Hof, da sahen wir schon das Fenster der Gräbert hell, das breite Fenster ihrer Berliner Stube. Da zog sie den Vorhang nicht zu: man sollte doch die Pracht sehen: das Sofa mit Gobelinbezug und dem Umbau, auf dem alle ihre Sonntagsgewinne aus den Würfelbuden standen: Keksdosen und Nähkästchen, ein Teddybär, eine Preßglasdose, Vasen mit Landschaftsmalereien und eine Zinkgußnymphe, eine künstliche Blattpflanze und eine Marmoruhr. Man sollte den Salontisch sehen mit vier gedrehten Säulenfüßen und einer grünen Plüschdecke mit Kurbelstickerei, die Wanduhr in geschnitztem Gehäuse und das Büfett mit Glasaufsatz und dem Mohnblumenservice dahinter, die Hängelampe für sechs Gasflammen, an jedem Arm hing ein Chenille-Äffchen. Man sollte, in dem großen Zimmer, die zwei Betten sehen mit weißer Spitzendecke und dem Himmel, himmelblauer Satin und ein Ölbild: drei blonde Engel, die zwischen rosa Wolken herumpurzeln; man sollte die beiden Nachttische sehen mit den Porzellanleuchtern und rosa Seidenschirmen, das Spiegelspind, das die ganze Herrlichkeit wiederholte; die sechs Stühle mit Ledersitz und den Korbsessel mit Nähtisch am Fenster; das Aquarium darauf mit den Goldfischen und den ausgestopften Rehpinscher auf dem Sofa; das Ölbild an dem letzten Fleck freier Wand, eine italienische Landschaft mit zwei Damen mit Schinkenärmeln im Vordergrund.
Mutter sah starr hinein, aber Henny mit fast lüsternem Gesicht. Ich hätte nicht gedacht, daß ein Kind so aussehen könnte. O, ich hatte solche Gesichter schon gesehen, bei den Mädchen, die in die Gartenlokale der Badstraße tanzen gehen, bei jungen Männern, wenn sie aus den Kneipen der Hussitenstraße kamen, wenn sie mit den Mädchen abends an der Ecke Prinzenallee sprachen, wenn sie Arm in Arm die Kinos verließen, auf den Karussells, in den Schaukeln des Rummelplatzes saßen. So sah Henny aus, als sie in die Herrlichkeit der Heringshändlerin blickte. Sie hatte noch nie eine solche Pracht gesehen, es überwältigte sie, sie wurde begehrlich, in diesem Augenblick bekam sie ihr Ideal …
Da klopfte Mutter hart ans Fenster.
Es war niemand zu Haus … Frau Gräbert ließ nur das Licht brennen, damit keinem ihr Besitz entginge. Es war pieksauber bei ihr, alles blitzte, die Augen des ausgestopften Hündchens funkelten uns boshaft an, als weidete es sich, daß wir so ausgesperrt waren, von Vaters glänzendem Heim.
Henny verstand plötzlich ihren Vater … Konnte man zaudern, zu wählen zwischen unsern nackten, getünchten Wänden und diesen rot tapezierten mit Sofaumbau und Spiegelspind und zwei Betten mit Nachttischen und Korbsessel? Und Gas! Und Goldfische! Und – oh! Das hatte sie noch nicht gesehen – o! ein Teppich! ein bunter, dicker Teppich, ohne Stäubchen, Riesenrosen in allen Farben auf gelbem Grund. Und vor jedem Bett ein Fell! ein Fell, wahrhaftig, langhaarig, schneeweiß …
In Hennys Gesicht stand das ganze Erlebnis. Ich las es ihr ab. Sie verzieh Vater alles, und sie verachtete Mutter. Warum hatte sie Vater nicht solch ein Heim bereiten können? Wie konnte sie ihn schelten, verstoßen, wenn er diese Frau ihr vorzog? O, sie selbst, die kleine Henny, was hätte sie darum gegeben, wenn sie hier, in dieser Märchenstube hätte leben, schlafen, spielen können. Was, spielen! Genügte es nicht, da drinnen zu sitzen mitten im Traum und sich einfach nur umzusehen, immerlos umzusehen, so viel gab es da, daß man im Leben nicht fertig wurde. – Ja, der Vater, der war klug.
Und da weinte Henny. Jetzt, vor diesem Fenster, über Vaters Fortgang. Wenn er wiederkam, würde sie ihn hier besuchen. Aber sie hatte gehört, daß nicht alle wiederkehrten …
Davon kam Mutter zu sich. Und zugleich blieb eine Frau stehn.
„Wolln Se zur Gräbert?“ fragte sie. „Die is mit ihrem Neuen losjezogen. Nach die Linden, da is ja jetzt imma was los. Ja, die is ne dufte Numma, das Bett war noch nich kalt von den een, da lecht se sich schon ’n Neun rein. Is ’n junger Klamottenschmeißer, mit ’n kurzen Been, der muß zu Hause bleiben, da braucht se nich ferchten, den nehm se ihr nich wech. Is ’n schlauet Luda, sorcht vor, wenn de Männa aussterbn.“
Der Tratsch floß ihr wie Öl von den Lippen, sanft und sacht, langsam, freundlich. Sie gab uns das Geleit bis auf die Straße und legte über die Nachbarschaft los. Mutter nickte ihr zu, gut lächelnd; und dann redete sie hinter uns her, was denn das für eine Trine sei, die sie ausspioniere und anständige Leute verschimpfiere.
Damit war nun auch Luise Gräbert erledigt – Sie blieb im Wesenlosen zurück, sie, ihr Laden, die Grüntalerstraße.
Wieviel in meinem kleinen Leben war schon so hinter mir vergangen! Straßen, Häuser, so viele Menschen, Schicksale. Ich kam mir oft so alt vor. Denn manchmal, elf Jahre alt, war ich schon müde. Müde zu allem. Zur Freundschaft mit Stefan, zum Spielen mit den Geschwistern, zum Gang um Brot, ja, zu müde zum Schlafen – Zu müde auch zur Musik – Denn nun war es damit vorbei. Die Bratsche saß im Lazarettzug, die zweite Geige schoß an den Vogesen, das Cello war von zwei Zügen zertrümmert – War ich betrübt? Über das jähe Schweigen, über den Tod, über die anbrechende Vernichtung?
Ich war zu müde dazu, traurig zu sein. Es war unbewegt in mir.
Nur eines wurde ich nie müde, bis über deinen Tod hinaus: dich, Mutter, zu lieben …
Mit dem Krieg begann für uns Arme die gute Zeit: auf einmal waren sich alle gleich. Alle mußten Margarine essen und schlechtes Brot, Kohlrüben und Graupen. Alle mußten sich anstellen, um ihre hundert Gramm Fleisch zu holen. Und aus der Etappe kamen Pakete mit Lebensmitteln. Uns schickte niemand was. Uns schrieb keiner. Aber einmal Rudolf Rauscher, mein alter Lehrer. Und wenn der Direktor Falk schrieb, ließ er uns grüßen.
Es war ihm gelungen, draußen vom Roten Kreuz weg in eine Formation zu kommen, er wurde ausgebildet und wartete auf die Front.
Frau Nina war ganz verstummt. Bis auf das Klavier sogar. Sie spielte nicht mehr. Sie behielt nur die Köchin und ein Mädchen. Gouvernante, Kutscher, das zweite Mädchen wurden entlassen, die Pferde waren requiriert, im Wintergarten verschwanden allmählich die Blumen, nur die Palmen hielten sich in der südlichen Sonne. Sie war immer beschäftigt. Das Zimmer des Mannes wurde nie betreten, nur mir schloß sie auf, wenn ich Bücher zurückbrachte und neue erbat. Dann stand sie mitten im Zimmer und sah sich um wie eine Fremde.
Auch Dianas Zimmer wurde nie mehr betreten. Manchmal drückte ich mich an die Tür, atmete an den Ritzen den immer schwächer werdenden Resedaduft ein und verlor mich in bildloses Träumen, das nicht mehr schmerzhaft war. Ich entdeckte, daß Traurigkeit eine Lust sein kann und Resignieren ein süßer Rausch.
Der älteste Sohn des Hauses, Thomas, der eine englische Schule besuchte, hatte nicht mehr heimkommen können. Jetzt war er in einem Konzentrationslager drüben, und von Zeit zu Zeit kam ein Brief von ihm durch Vermittlung des Roten Kreuzes. Er schrieb, es ginge ihm gut. Aber das konnte Vorschrift sein. Nina Falk saß über diesen Briefen und ihres Mannes kurzen Karten stundenlang gebeugt, ohne sie zu lesen.
Wir durften sie bisweilen an Dianas Grab begleiten. Wir fuhren, sie und wir drei Kinder, nicht mehr im Landauer, sondern in der Elektrischen. Ja, auf ihrem Kreuz stand Diana Fiori, sie war jungfräulich geblieben. Eine Bank war da, wir saßen stumm, nur Lilian, unangefochten, bewegte sich rastlos und besah sich die Gräber. Nichts hatte Schrecken für sie, höchstens ich, der Junge aus der andern Welt. Sie fürchtete mich mehr als die Toten …
Das war ganz schnell gekommen. Aus der ersten plötzlichen Zutraulichkeit, mit der sie mich in ihre Spiele und Schmerzen einweihte. Nun, es lag mir gar nichts an dem Kind. Aber sie gehörte zu den geliebten Menschen, und als solchen Teil des Ganzen ließ ich sie gelten.
Vater blieb stumm. Er schrieb uns nie. Im Januar des Jahres sechzehn kam die erste Nachricht über ihn. Er war auch nie auf Urlaub gekommen, wenigstens nicht zu uns. Diese Nachricht bestand in einem Karton, der seine Uhr, eine goldene, die wir nicht kannten, etwas Geld, Photographien von Luise Gräbert und einer andern Frau mit einem Säugling auf dem Schoß – sein Kind! – und die Eisernen Kreuze erster und zweiter Klasse enthielt … Dabei lag ein Brief des Regimentsadjutanten, in dem er Mutter höflich von Beileid sprach und Vater als den tapfersten und mutigsten Feldwebel des Regiments erklärte.
Mutter las uns den Brief vor. Henny schrie auf, sie schluchzte wild, krampfhaft, warf sich auf den Boden und gebärdete sich verzweifelt. Aber eine Stunde später packte sie Vaters Habseligkeiten, auch die goldene Uhr zusammen und erklärte, das gehöre ihr, nur sie liebte ihn und wir hätten kein Recht auf sein Andenken.
Keiner sagte etwas, auch Mutter am Bügelbrett nicht. In der Nacht erwachte ich davon, daß Mutter sich aufrichtete.
Ich sah sie mit gefalteten Händen beten, aber ihr Gesicht war hell, war fast freudig, ich entsann mich gar nicht, es je so gesehen zu haben. Und ich fühlte: es war ein Dankgebet, was sie sprach.
Was der lebende Vater uns Böses getan, machte der tote ein wenig wieder gut: Mutter bekam eine Unterstützung, eine feste Rente. Von da ab blieb sie am Sonnabend zu Haus und war den halben Sonntag müßig. Zum ersten Mal ging sie mit mir spazieren, setzte sich mit uns Kindern in den Hain, kaufte uns ein Stück Kriegskuchen. Sie trug den Kopf höher und manchmal lächelte sie …
Nur Henny trotzte, sie verschwand oft, ohne sagen zu wollen, wo sie gewesen war. Sie war jetzt zwölf Jahre und sah wie vierzehn aus, sie war von einer süßen, weichen Schönheit, die grauen Augen zu dem braunen Haar gaben ihr einen seltsamen Reiz. Aber sie hatte etwas Unkindliches und Verstocktes.
Mutter sorgte sich und sprach mit mir über das Mädchen. Es war merkwürdig: sie hatte etwas wie Furcht vor Henny und Mark, sie konnte nie so streng mit ihnen sein wie mit mir: sie liebte sie nicht genug. Vor ihnen, die ganz Kinder ihres Vaters waren, hatte Mutter ein schlechtes Gewissen, sie war hilflos vor ihnen, verständnislos, sie wagte es nicht, sie zu lieben. Sie ließ sie gewähren.
Und so wurden beide, wie alle Kinder der Straße sind. Sie sprachen schlecht und unbedacht, sie trieben abscheuliche Spiele und ahmten die Erwachsenen in allem nach; überall fehlten die Väter, fehlte die Angst vor ihnen, und die Kinder arteten aus. Die Frauen arbeiteten ja, keine war mehr zu Haus. Nach zwei Jahren Krieg, als schon die letzten Männer gebraucht wurden, rückten die Frauen an ihre Stellen vor. In die Fabriken, an die Führerstände der Straßenbahnen, an die Sperren der Bahnhöfe, auf die Kutschböcke und Kehrmaschinen. Berlin wurde leer vom Mann, nur noch Uniformen sah man und die Bäuche der Schieber und ein paar ängstliche, sich verbergende Requirierte und Drückeberger. Sonst war alles Frau und Kind.
Die Armen hatten es gut. Ihre Männer fielen: um so besser: es gab die Rente. Und die kam ins Haus und wurde nicht vertrunken und mit Straßenmädchen durchgebracht, die Gattinnen hatten bloß zu lachen, aber die Mütter zu weinen. Und in unsern Häusern, wo dreißig und fünfzig Parteien in Höfen, Seitenflügeln, Quergebäuden, Kellern und den leer gewordenen Ställen lebten, gab es viel Aufschrein, Schluchzen nachts, Ausbrüche von Jammer und Geheul, wenn die Kinder die letzte Verlustliste brachten, wenn die Postbotin mit bebendem Mund ein Päckchen abgab …
Aber sonst hatten wir es gut, auch noch als das große Hungern begann. Waren wir es nicht gewohnt?
Ja, die Reichen, die lamentierten jetzt, die kamen in unsere Straßen mit ihren Autos und kauften uns unsere Brot- und Fettkarten ab. Sie bestachen die Beamtinnen in den Lebensmittelämtern und die Verkäuferinnen in den Geschäften. Ihre Kinder, ja, die kamen herunter.
„Unterernährung“ – das war der Trumpf, den die Gesellschaft ausspielte. Nicht gegen den Krieg, aber gegen die Feinde. O, Krieg ist Krieg. Macht dem Krieg ein Ende, und es gibt keine Feinde! Die Ursache wolltet ihr bestehen lassen, und ihr empörtet euch moralisch über ihre Folgen. Unterernährung – Wir kannten sie von jeher. Man hat Kinder photographiert, skelettierte Säuglinge an den leeren Brüsten ihrer Mütter. Auf einmal sah man sie! Warum? Jetzt konnte man sie zur Propaganda gebrauchen! Jetzt bediente man sich ihres Elends, ihres Jammers, um das Mitleid der Welt – für sie? nein! für sich!– zu gewinnen. Aber leere Brüste und verhungerte Säuglinge hatte es schon vorher, schon immer gegeben! Da sah sie niemand, denn sonst hätte man selbst helfen müssen. Plötzlich wurde das Proletariat entdeckt, sein abgehärmtes Gesicht, seine verkrüppelten Knochen, sein leerer Topf …
O, es kam Hilfe ins Land. Aber ehe sie bis zu uns kam, war sie kläglich zusammengeschmolzen. Das Fett bekamen die andern, wir die zähe Schwarte …
Wir empörten uns nicht, wir beklagten uns nicht. Es war ja niemals anders gewesen …
Mutter hatte es schwer mit ihrer Wäsche. Es gab keine Seife mehr, nur Ton, und sie rieb sich die Haut von den Händen, um die Leinwand weiß zu bekommen. Alles was es an Kohle gab, mußte sie aufsparen für die Bolzen ihrer Bügeleisen, und wir hatten es nur warm in der Küche an den zwei Tagen in der Woche, wo sie plättete.
Mark sammelte Pferdeäpfel, die er auf unsern Fensterbrettern trocknete. Damit machten wir Feuer. Er bildete eine Bande von zehn Jungen, und sie schlichen sich auf die Bahnhöfe und klauten Kohle. Sie machten Ausflüge in den Tegeler Forst und stahlen Holz. Vom Dach unseres Hauses brachen Unbekannte die Sparren zum Verheizen. In den Treppengeländern fehlten Teile. Fremde und Mitbewohner zehrten am Bestand des alten Hauses.
Bald war kein Mann mehr im Haus, nur gelegentlich ein Urlauber. O, dann gab es Schläge in der Wohnung oder ein Gelage oder ein halber Totschlag, wenn der Mann die Frau, nach zehn Monaten Abwesenheit, im fünften schwanger fand oder sie gar überraschte mit einem jungen, eben ausgebildeten Soldaten, der vor dem Ausrücken ins Feld den letzten Heimaturlaub hatte.
Männer, die noch da waren, hatten es gut. Die Frauen rissen sich um sie, schlugen sich um sie. Halbwüchsige avancierten zu Liebhabern, Knaben rückten, fünf Jahre zu früh, vor. Es gab Bälle in der Brunnenstraße, die Orgien wurden. Die Urlauber rasten nur so unter den exaltierten Weibern.
Wenn dann die Männer nach fünf, acht Tagen fanatisch gelebten Urlaubs wieder an die Front gingen, gab es den wahnsinnigsten Jammer. Frauen umklammerten sie, Kinder schrien wie gefoltert. Auf den Bahnhöfen gellten hinter den Zügen mit Kanonenfutter verzweifelte Schreie:
„Paule! – Emil! – Justav! – Karle!“
Zwei Jahre, drei Jahre Blut und Schmerz, Verstümmelung und Blindheit versickerten träge. Man hörte zu schreien auf, es war keine Kraft mehr da.
Die Urlauber waren fort. Nach vier Wochen größerer Jammer: die Frauen waren schwanger, die Mädchen waren krank geworden … Aus den Etappen fraß sich die Lues bis in die innerste Heimat hinein. Französinnen gebaren die Söhne deutscher Männer, und englische Gefangene teilten ihr Blut deutschen Kindern mit. Auf Mittelmeerinseln empfingen Eingeborene von deutschen Soldaten, in brandenburgischen Dörfern vererbte der Muschik seine ewige Melancholie an märkische Bauern. So begann, im Kriege, durch den Krieg, die Welt sich zu durchsetzen, zu vermischen. Was durch Blut und Schmerz getrennt werden sollte, vermählte sich in Blut und Lust. Die Rassen besiegelten ihre Absonderung, und die große Promiskuität begann.
Die Villa hatte sich verwandelt. Die Fabrik war längst umgestellt auf Kriegsbedarf, Offiziere verwalteten sie. Und aus der Villa war ein Lazarett geworden.
Stefan war gerade in die Tertia versetzt worden, ich lernte mit ihm nun Griechisch, wie ich mit ihm Latein und Algebra getrieben hatte, Schiller gelesen und Mignet übersetzt, und grade waren wir auf etwas gestoßen: kallos und agathos …
Da schickte ihn die Mutter aufs Land, zu einem befreundeten Pfarrer, wo er besser ernährt werden konnte und dem Pestatem der Stadt entzogen war. Und sie selbst, Nina und Lilian, gingen in das Sommerhaus, das die Familie in der Heimat des Direktors, in einem Flecken des Schwarzwaldes, besaß. Von dort schickte sie uns jeden Monat ein Paket mit Speck, Eiern, Maronen, Äpfeln. Sie vergaß uns nie.
So verlor ich auch dieses Haus. Jetzt saßen an seinen Fenstern Männer mit eingebundenen Köpfen und sahen in den Hain hinüber, vor der Tür im Gärtchen saßen welche mit Beinstümpfen und geschienten Armen. Im Wintergarten wurde operiert. – Die Palmen standen im Hof und gingen da im folgenden Winter ein, erfroren und blieben so stehen, vergilbt, verdorrt, mit hängenden Wedeln und Fächern, erbarmungswürdige Leichen, von deren Rindenfasern Vögel aßen und Mäuse und nachts die Ratten, die sich in den Kellern Berlins mystisch vermehrten.
Jetzt hörte ich nichts mehr von Herrn Falk. Jedem Paket Ninas lag ein kleiner Brief bei, darin stand immer nur:
„Mein Mann läßt grüßen.“
Einmal schrieb Stefan, sein Vater sei leicht verwundet gewesen, aber schon wieder an der Front, er sei nun Oberleutnant. Und Dianas Verlobter – Er war in der ersten Woche des Krieges in den Vogesen gefallen.
Gefallen – O, die Verlustlisten! Sie hingen bei uns in den leeren Fenstern der Vorkosthandlungen, beim Papierhändler. Und immer war ein Haufen Weiber davor, Greise und Krüppel dazwischen, Kinder auf den Armen ihrer stammelnd lesenden Mütter. Wer hatte Geld, auf die Verlustlisten zu abonnieren? Ja, entsetzlich, es gab ein Abonnement auf diese Totenlisten, und Millionen Frauen lasen sie mit fiebernden Augen und gequältem Herzen.
Aus diesen Haufen vor den Fenstern tönte mancher Schrei, manches Mädchen schlug da lang hin, mancher alte Vater taumelte fort. Kinder fielen von den jäh gelähmten Armen ihrer Mutter. Nachts schrie es in den Wohnungen, und man hörte, wie ein Weib mit dem Kopf gegen die Wand rannte: alle alle tot! Der Mann, zwei Söhne, der dritte vermißt … Eines Tages kam die Uhrmacherfrau gellend lachend nach Haus: sie hatte in einem Fenster in der Ackerstraße gelesen, daß ihr Mann gefallen war; es hatte sie keine Nachricht vom Regiment erreicht. Und ihre zweite Tochter, achtzehn, war schon längst vor die Kaserne gegangen und schlief mit den neu eingezogenen Rekruten.
Andere gingen hin und pflegten und begruben ihre Einsamkeit in den Lazaretten. Noch andere gingen hin, aber um da zu leben, mit den Verwundeten die süße, die einzige Lust des Daseins zu kosten. Es war schwer, auf der Straße Männer zu angeln. Also ging man als Scheuermädchen und Tellerwäscherin in die Kliniken und Erholungsheime.
Es gab kaum noch Fahnen bei uns in den trüben Straßen. Es gab noch immer trügerische Siegesmeldungen, aber man steckte das bunte Tuch nicht mehr hinaus. Als wir in das vierte Jahr des Untergangs gerieten, glaubten wir, wir nicht mehr …
Aber ein neuer Glaube brach an. Mystische Botschaft kam aus Rußland … Da hatte man die Ordnung gedreht, die Regierenden lagen unten und das Volk stand im Licht. Der Arbeiter hatte das Reich gestürmt und proklamierte sein Recht auf Leben. Etwas wie Sonne fiel in unser Herz. Es ging eine wilde Hoffnung durch das Proletariat. Drüben ging in blutiger Röte ein goldener Stern auf, unser Stern. Gesegnetes Blut, wenn es Sterne gebärt!
So kam ich einmal mit russischen Botschaften heim. Aus der Schule, wo den Lehrerinnen verboten war, uns Mitteilungen über die russischen Greuel zu machen. Aber es gab Jungen, die schmuggelten Nachrichten herein, sie waren schon in der Partei tätig, die sich mitten im noch Bestehenden bildete, und sie wußten Ungeheuerliches: die Metzeleien der Weißen Armee, die Pogrome der Menschewiki, die Heilandsbotschaft der Bolschewiki. Sie erzählten von den Wundern des neuen Reiches. Lenin verkündete die Zukunft, Trotzky stampfte neue Ordnung aus dem Chaos. Schon gab es Flugblätter, und wir versteckten sie an unserm Herzen, das für den nahenden Heiland schlug.
Damit kam ich nach Haus gelaufen.
Und da lag Mutter neben ihrem Waschtrog auf dem nassen Boden, zusammengekrümmt, weiß im Gesicht, den Mund verzerrt, und sie starrte mit leblosen verzweifelten Augen auf die Tür, durch die ich kommen mußte …
Sie sprach nicht, ihre Lippen bewegten und glätteten sich. Als ich sie berührte, atmete sie … Atmete sie so furchtsam, als könnte der Atemzug den Schmerz wieder wecken. Denn ich begriff: ein unerträglicher Schmerz mußte sie hingeworfen haben …
Ich hob sie auf, ich umfaßte den geliebten Leib – und wie erschrak ich … Ich ließ sie nicht fallen, ein Krampf schloß meine Arme wild um sie … War das noch ein lebendiger Mensch? … Sie war leicht wie ein Kind, sie war so mager, daß ich ihre Knochen in den Fingern spürte; indem ich sie aufhob, war mir, es wäre nur noch Seele, die mich emporzog, entkörpertes Sein, das ich blasphemisch berührte …
Sie konnte noch nicht sprechen. In ihrem Auge erlosch das Entsetzen. Dieser Blick allein sagte noch, daß sie irdisch war und litt …
Was war? was hatte ich da nie gesehen? was hatte sich unter meinen Augen vorbereitet, und ich war blind gewesen? …
Ich dachte es nicht, ich sah es nicht, aber es vereiste mich: Tod …
Starb sie? …
Das ging vor in mir, während ich handelte. Indes ich Milch in eine Tasse goß, dachte ich bewußt:
„O daß wir allein sind! Gott sei Dank! Ich habe sie ganz allein, es macht sie mir keiner streitig.“
Ich flößte ihr Milch ein.
Ich hatte so oft die Geschwister gefüttert, wenn sie krank waren, versorgt. Wenn Mutter manchmal nach zehn Stunden Waschen die Arme nicht mehr heben konnte, hatte ich sie gefüttert, und sie hatte gelacht und gesagt:
„Teddy, Liebling, bin ich dein Baby? Ach, jetzt gibst du mir alles hundertfach zurück.“
Und jetzt betete ich, und das war mein erstes Gebet, seit ich bewußter Mensch war:
„O noch einmal! Nur noch einmal sage: Teddy, Liebling – Mutter, ein einziges Mal!“
Dabei lächelte ich sie an. Ich war so stark, ich sprach zu ihr. Wie zu einem Kinde.
„So, noch einen Schluck, Mutti! Ein kleines Schlückchen. Ist es schon besser, ja, ist es jetzt gut? Tut es noch weh – –?“ Und ich wagte, mein Herz traute sich, ich flüsterte: „Liebling –“
Und ich dachte, sie stürbe … Sie stürbe da, indes ich mit dem linken Arm sie stützte und die Milch an ihre blauen Lippen hielt …
Aber da lächelte sie. Und sie sagte, sie hauchte:
„Es ist nichts. Bist du erschrocken? Ich altes Weib. Es tat nur ein bißchen weh, und da setzte ich mich hin. Und grade mußt du auch kommen.“
Ich zitterte gar nicht. Ich fragte, indes ich sie, die Gewichtlose, hinlegte:
„Mutter, ist das schon oft gewesen? Hast du oft Schmerzen?“
„Ach wo“, sagte sie schnell und lächelte auch schon wieder.
Sie hatte es gar zu schnell gesagt, zu ärgerlich. Und ich fragte, indem ich sie ansah – aber ich sah sie gar nicht, ich hing in Nebel und schwankte. „Wo hast du denn die Schmerzen, Mutter?“
„Wie ein Arzt sitzt er da“, flüsterte sie. „Geh, Junge, es ist ja nichts. Ein bißchen Bauchschmerzen. Ich steh schon wieder auf.“
Da hielt ich sie fest.
„Nein, jetzt liegst du. Guck zu, ich werde weiterwaschen –“
Da stöhnte sie:
„O, Teddy, du, du tust mir weher. Stell dich nicht dahin, bitte, wasch nicht. Ich kann es nicht sehen.“
„O, Mutti, ich täte es so gern, es würde mir soviel Spaß machen.“
„Und mir weh tun. Liebling, sitz ein bißchen bei mir, komm, leg deine Hand auf meinen Leib, dann vergeht es. So, siehst du –“
Ihr Gesicht verklärte sich, wie ich meine klein gebliebene Hand auf ihren Leib legte … Er hatte mich getragen und genährt, und ich berührte ihn wie das Allerheiligste.
Sie lächelte wieder, ich sah, wie der Schmerz verzog, ihren Leib verließ, ihr Gesicht erhellte sich.
„Gut tust du mir, mein Kind. Dank dir, mein Kind.“
Ich erschrak so unsäglich, sie schien sich zum Sterben hinzulegen.
Ich beugte mich über sie, ich flüsterte:
„Mutter, ich hole jetzt einen Arzt. Bleib nur fünf Minuten allein –“
Sie richtete sich auf. Sie hatte plötzlich ihre Kräfte wieder, als es sich um Geld, Haushalt, Lebensbedarf handelte.
„Auf keinen Fall“, stieß sie hervor. „Ich will nicht wissen! Was geht’s mich an! Laß es doch da drin … Wir sind in keiner Kasse. Wir können keinen Arzt bezahlen. Teddy, was denkst du! Aber du mußt dich anstellen gehen. Ach, du kommst schon so spät. Alles wird fort sein. Es gibt hundertundfünfzig Gramm Magarine und achtzig Gramm Käse. Sieh in der Schublade nach, da ist Geld.“
Ja, es reichte noch. Ich wußte, ich mußte laufen und mich anstellen, vielleicht schon der Hundertste in der Polonaise, und es war nur für achtzig Eingetragene Magarine da. Henny war fort, Mark war fort. Ich mußte sie allein lassen und laufen.
Und ihre Augen wanderten mir nach –
Wie lange vielleicht litt sie schon und verbarg es mir! Erst jetzt sah ich alles: ihre entsetzliche Abmagerung – und das kam nicht vom sandigen Kriegsbrot allein, von der Pferdewurst, von dem fettlosen Talg. „Laß es doch da drin –“ Was meinte sie? Fraß es in ihr? …
Ich wußte schon, es gibt unter vielen Gespenstern der Armen eines: der Krebs …
Wenn ein Weib im Hinterhaus krank wird und Schmerzen hat, flüstert man sich zu:
„Krebs – Jetzt hat se ’s jepackt. Der Krebs … Aus is!“
Man tritt an das Krankenbett, und die Blutlose, Schmerzzerquälte flüstert:
„Ick wees schont, ’s is Krebs. Er frißt mir an’ Magen. Ick spürs deitlich. Wenns man bloß fix jinge!“
Man sieht sie stumm an, ihre letzte Hoffnung schwindet, keiner widerspricht. Der Krankenwagen holt sie ab, und sie nimmt Abschied vom Hause mit unbeschreiblichem Blick … Alle Kinder der Straße stehen Spalier und gucken ins Auto mit dem Tragbett und dem Sanitäter. Das ist das letzte Hochgefühl der Sterbenden, es ist so, als erlebte sie die Ehren ihres Begräbnisses mit, sie ist das Gespräch der Straße …
Das Begräbnis – Es ist das einzige, wofür man gespart hat. Das war der große Ehrgeiz: eine feine Leiche! Man versagte sich alles: Arzt und Medizin, das Kino in guten Tagen und den Ausflug nach Tegel oder Treptow. Aber in die Sterbekasse wurde pünktlich gezahlt. War man im Leben nichts, ein Dreck, nun will man doch wenigstens „ne scheene Leiche sind“. Zweiter Klasse. Mit Grünes um den Sarg, Pastor und Harmonium. Drinnen, im noblen Eichensarg, wie man zerschmerzt, verhungert da drinnen lag, das war gleich.
Ich ließ Mutter allein. Ich lief, plötzlich uralt geworden, ich wußte nichts weiter auf der Welt als: Mutter …
Wenn sie starb! …
Ich mußte Geld haben! Vielleicht stand sie nicht mehr auf, und dann – Aber wie! woher! Niemand war da. Wir waren ganz allein …
Ich stellte mich vor das leere Buttergeschäft, es wurde erst um vier aufgemacht, jetzt war es zwei. Siebzig Leute standen schon da, saßen auf Feldstühlchen, redeten nicht, waren stumpf, kraftlos, entseelt. Ein guter Alter fragte mich, warum ich zitterte. Und da stammelte ich:
„Mutter ist so krank –“
Nun belebten sie sich. Aus Neugierde viele, aus Mitgefühl manche. Eine junge Frau sagte:
„Gib mir man deine Marken, Theodor, ich bring euch den Mist. Lauf du zu Muttern, laß ihr nich alleene. Wer weiß, vielleicht –“
O der Engel …
Ich lief. Und da schlief Mutter. Fest. Ganz blaß, laut atmend, von den Schmerzen entnervt.
Ich stand am Bett und sah sie an und wußte nur: es tat weh … Weh, wie noch niemals etwas …
Aber die Wäsche wartete. Und lautlos begann ich zu waschen, ich rieb, bis ich schwitzte. So, jetzt, zu spät, begann ich Mutters Leben zu leben. Also so ist es: waschen … Fünf Tage in der Woche wusch Mutter so fremde Wäsche, wusch Schweiß und Parfüm und Gestank, Krankheit und Liebe aus fremder Wäsche, und am sechsten hatte sie Zeit, sich der eigenen anzunehmen. Ich wusch mit heißer Lust, mit schmerzlichem Glück: ich tat Mutters Arbeit …
Sie schlief. O Glück, sie schlief. Sie schlief sich gesund. Sie war ja nicht krank. Ein zufälliger Schmerz. Vielleicht hatte sie Hunger. So belog ich mich, während ich rieb und wrang.
Dann hatte ich einen Einfall. Ich mußte wieder Geld herbeischaffen und hatte einen Plan.
Mutter stand gegen Abend auf, jagte mich vom Trog und tat, als hätte sie nie gelitten. Henny und Mark kamen von immer verschwiegenen Unternehmungen. Sie hatten immer irgendeinen Leckerbissen, Schokolade, ein Tütchen Zucker, Pfefferminztabletten.
„Von ’n Soldaten“, sagten sie. „Urlauber.“
Es war nichts aus ihnen herauszubekommen.
Ich log Mutter an, ich hätte mich mit Schulkameraden verabredet, in die Stadt zu gehen. Sie ließ mich fort, ohne es mir zu glauben. Denn ich tat das ja nie.
Ich saß immer zu Haus und las. Seit die Villa für mich verloren war, hatte ich auch keine Bücher mehr, aber nun las ich in der Volksbibliothek. Ich hatte einfach beim ersten Buch des Katalogs angefangen und überschlug nur, wenn ein Titel mir nichts sagte und nichts verhieß. Ich habe kaum je ein Kinderbuch gelesen, erst als erwachsener Mensch Andersen und Grimm. Ich las aber leichte französische und englische Bücher, abends mit Mutter zusammen. Stefan hatte mir seine lateinische und griechische Grammatik dagelassen, und ich arbeitete mich da mit hundert Irrtümern langsam hindurch. Noch immer war ich aufs Wissen versessen, ich konnte nie genug bekommen, ich hätte noch Chinesisch und Arabisch lernen mögen. Die hebräischen Druckbuchstaben brachte mir Mutter bei.
Ich hatte für den Abend meinen Plan. Ich brach früh auf, und da ich kein Geld für die Elektrische hatte, wanderte ich durch die ganze Stadt. Es wurde dunkel, und ganz wenige Laternen brannten. Was war es denn für eine Jahreszeit? …
Das wissen wir Proletarier gar nicht immer. Wenn man uns unverhofft fragt, müssen wir uns immer erst umsehen, müssen erst nachsehen: scheint die Sonne? regnet es? blüht es? ist es verdorrt? So stumpf sind wir, so von Natur verbannt. Wenn wir in der Stube frieren, wissen wir: es ist Winter –
Wenn wir nachts auf dem Strohsack schwitzen, ist es klar: Sommer –
Jetzt – ja, es war ja ein schwüler Abend, Staub stand in der unbewegten Luft, die Stadt war still, selbst am Alexanderplatz. Es war Sommer.
Der Sommer neunzehnhundertachtzehn –
Das Unglück lag schon in dieser trüben Luft. Es verschleierte die paar Laternen, die brannten. Es beugte die Leute auf der Straße noch tiefer. Die Stadt war versunken in ein erstickend schweres Element –
Manchmal ging, lahmend, ein Offizier an mir vorbei oder eine saubere Frau: dann streckte ich meine Hand aus und murmelte.
Ich murmelte in mich hinein:
„O, Mutter, vergib mir –“
Aber vor mir hatten schon Ungezählte ebenso ihre Hände ausgestreckt nach den Gutgekleideten, Vornehmen, Reichgebliebenen. Ich kam zu spät, es war nichts mehr für mich da …
Ich blieb am Bahnhof Alexanderplatz stehen, da strömten zerfurchte Soldaten auf die Bahnsteige; noch einmal hinaus … Tränenlose Frauen begleiteten sie und kamen noch tränenloser zurück. Nur die Kinder an ihrer Hand weinten. Autos fuhren vor, und behäbige Herren stiegen aus, die Schieber und Kriegsgeräthändler, die in andere Städte, in Hauptquartiere reisten, um das zu Ende gehende Geschäft mit dem Menschenfleisch noch einmal anzustacheln. Hohe Offiziere kamen und schnarrten und waren so sauber: nie hatte ein Tropfen Schlamm der Schützengräben, ein Tropfen Blut ihrer Mannschaften, ein Körnchen Erde unterm Platzen des Schrapnells sie angespritzt!
Da bekam ich etwas. Die werdenden Witwen erbarmten sich meines flehenden Blicks; die Schieber beruhigten ihr Gewissen, indem sie mir die kleinste Kriegsnote in die Finger schoben, Generäle nahmen sich des Volks, der Kinder ihrer Opfer an und schenkten mir eine Papiermark. Soviel kostete eine ihrer Zigaretten …
Ich stopfte meine Taschen voll …
Der Strom versiegte, es wurde auch hier leer, nur noch halbvolle Stadtbahnzüge rollten über mir, da lief ich weiter. Die Königstraße war wie ausgestorben, nur vor dem beleuchteten Rathaus wurde es lebhafter. Der Schloßplatz lag wie ein Totenfeld. Im Riesenbau des Schlosses kein Fenster hell. Die Kaiserin betete in Potsdam.
Aber Unter den Linden! Da gleißten Cafés, und die Hotels waren überfüllt. Urlauber genossen die Stadt, was gesund war und nichts zu fürchten hatte, promenierte. Nun war ich nicht mehr allein. Hundert Kinder bettelten, Frauen, Greise hielten zitternde Hände hin. Die Schutzleute taten, als sähen sie uns nicht. Sie waren menschlich geworden in der Unmenschlichkeit.
Ich war fix, ich war der erste, der die Tür des Autos aufriß, das vor dem Café hielt. Die andern Jungen stießen mich fort, man riß mir das Papiergeld aus den Fingern, das schon zerschlissene ging in Fetzen. Ich lief vor das Theater, das eben schloß, riß einen Wagenschlag auf, hob ein entfallenes Täschchen auf. Geschminkte, Duftende sagten nicht einmal danke.
„Weg da!“ rief ein Herr und hatte Angst, mir einen Goldpfennig geben zu müssen, und fuhr mit seiner Frau dieser Nacht in ein geheimes Restaurant, wo es Geflügel und Hummer, Schlagsahne und Mokka gab …
Dieses wurde nun mein Abendwerk …
Mutter mußte ihren alten Kunden den Lohn stunden, man gab vor, nichts zu haben, zahlte nach Wochen das schon entwertete Geld, und wieder hätten wir hungern müssen, wenn ich nicht gewesen und gebettelt hätte.
Ich hatte die Schule schon verlassen, ich besuchte die Fortbildungsklassen, alles mir Erreichbare nahm ich mit. Es war noch nicht die Rede davon, was ich werden sollte. Vorläufig trieb ich mich in der Stadt herum und bettelte. Ich trug an den Bahnhöfen den Leuten ihr Gepäck zur Elektrischen, zur Untergrundbahn. Aber ich war nicht stark. Fünfzehnjährig war ich noch immer dürftig, hundemager, blaß.
„Dein ganzes Gesichtel ist Auge“, sagte Mutter oft, indem sie meinen Kopf zwischen ihren krumm gewordenen knochigen Fingern hielt und mich in brennender Liebe ansah. Jetzt öfter denn je. Als ahnte sie, die Zeit sei gemessen, in der sie mich noch schauen konnte. Je mehr ihr Leib verfiel, desto nackter, entfesselter wurde ihr Herz. Sie konnte mich an sich pressen, in ihr Skelett hinein, das ich spürte; sie wollte mich nicht allein lassen, wollte mich zurücknehmen in ihr Inneres, vielleicht auch, um nicht so furchtbar allein zu sein, wenn der Schmerz sie anfiel, wenn sie – hundertmal, ehe sie starb – sich zu sterben anschickte. Sie preßte mich mit der letzten Gewalt ihres Könnens an sich, vergaß, daß sie es tat, und blieb so, eine halbe Stunde lang, regungslos, in einen himmlischen Traum verzaubert: ich war in ihr …
Mitten in der Nacht, im Schlafe, sie und ich schlafend, ergriff sie mich so und grub mich in ihren Leib. Oder um den Schmerz zu betäuben? … Sie küßte meine Hände.
„Vergib mir, Liebling. Wie ich dich quäle …“
Ich sah sie sterben …
Und ich half mir selbst, wenn ich nun meine Tage und Nächte, so viele ich freilügen konnte, auf den Straßen zubrachte. Ich fuhr in den Westen, nach dem Kurfürstendamm, dort wohnt der Reichtum. Aber da war nicht viel zu holen. Da saßen schon an allen Gartengittern Bettler und Invalide, und Geiger spielten am Straßenrand, und Kinder verkauften Streichhölzer. Am Bahnhof Zoologischer Garten wäre es besser gewesen, aber da jagten mich die Jungen fort, die dort ihre Stammplätze hatten.
Aber ich sprach doch mit ihnen und hörte und lernte. Ich konnte ja arbeiten.
So verkaufte ich Extrablätter, ich ging in eine große Zeitung, und man vertraute mir, ich ließ Mütze und Jacke zum Pfand, da bekam ich hundert Blätter. Ich ging jeden Morgen um fünf in ein Hotel am Stettiner Bahnhof und putzte Schuhe bis sieben und lief dann in die Fortbildungsschule. Mittags wusch ich in der Roßschlächterei in der Koloniestraße den blutigen Schlachtraum auf oder den Laden, der mittags geschlossen war, die Tische machte ich sauber – das war eine bittere Arbeit. Blut und Knochensplitter und das zerstückelte Tier … Und im Sommer verdarb das Fleisch so schnell, es roch nach Verwesung, ein Pferdekopf, beim Abfall, fletschte mich lautlos hilfeschreiend an … Aber ich bekam dafür kein Geld: ein Stück Fleisch, Pferdeleber, Wurst.
Ich konnte das nie essen, das Tier, sein Tod war mir zu nah gewesen. Auch Mutter aß nie davon. Aber Henny und Mark aßen es mit Heißhunger.
Ich schrie im Schlaf:
„O Pferd! o Pferd!“
Und es schüttelte mich.
Mutter weckte mich.
„Vergib mir, Liebling, vergib mir. Ich bin schuld, ich lasse euch hungern. O Teddy, Liebling, sollen wir –“
Sie stockte. Sie preßte mich an ihre verdorrte Brust und flüsterte in mein Haar:
„Wir haben ja kein Gas. Sollen wir ins Wasser gehen? Oder Kohlendunst? Teddy, Liebling, sollen wir?“
Sie flüsterte es wie ein Gottesgeheimnis … Ich rührte mich nicht. O! nein! ich wollte nicht – – Aber wenn sie wollte, ging ich mit. Ich ließe sie nie allein, nie.
„Aber Henny! Und Mark!“
Und ich richtete mich auf und umfaßte ihr hageres Gesicht.
„Henny – und Mark –“ hauchte sie – wie fremde Namen, als müßte sie sich erst besinnen. „Ja, natürlich, Henny – und Mark –“
Am Nachmittag stellte ich mich an. Henny stellte sich an. Mark stellte sich an. Um Brot, Speck, Gerste, Talg.
Nein, im vierten Jahr des Blutes ging es den Armen nicht mehr gut. Aber wir standen in den Polonaisen und hatten jetzt Geld, die Marken einzulösen. Ich brachte es ja heim.
Abends, um zehn, mußte ich in ein Café am Oranienburger Tor. Dort saßen die besseren Zuhälter und erwarteten ihre Mädchen zur Abrechnung, tranken, klopften Skat und schliefen. Ich wusch Tassen und rieb die Blechlöffel blank. Ich bekam dort Kuchen, aber ich mußte ihn aufessen, sonst gab ihn mir die Kaffeeköchin nicht. Sie dachte, ich würde ihn verkaufen, und sie fand, er sollte in meinen Magen hinein, denn ich sei so miesepetrig und pimplig. Ich bekam auch das, was da als Kaffee ging. Und schließlich Geld. Die Köchin, Fanny, war eine gute Seele. Als sie herausbekam, daß Mutter so elend war, bekam ich oft einen Topf Kaffee mit. Aber den nahmen mir auf dem Heimweg oft Männer, Frauen, Jungen fort. Sie rochen die Gerste, die da dampfte, griffen einfach nach dem Topf und schlugen mich nieder. Wenn sie freundlich waren, tranken sie ihn auf der Stelle aus und stellten ihn dann neben mich. Aber manchmal nahmen sie ihn auch mit und gaben mir, der ich weinend auf der Erde saß, einen Tritt, jetzt einen gutmütigen.
„Hab dir man nich so, olle Heultute.“
Ich war feige, schwach, weinerlich, immer hilflos vor Gemeinheit …
Nun, ich verdiente. Das schwierigste war immer, das Geld schnell umzusetzen, ehe die Papiermark fiel. Was sollte man kaufen? Es gab ja nichts, alles war rationiert. Aber wenigstens brauchten wir keine Marken verfallen zu lassen. Wie viele von uns liefen mit ihren Bons in die Stadt und boten sie den noch immer Reichen an, bekamen sie auch gut bezahlt – Aber was taten sie mit dem Gelde? Wozu nützte es ihnen?
Und so überfiel alle eine tolle Gier, es auszugeben. Jeden Pfennig aus dem Hause. Lieber vergeuden als verfaulen lassen.
Und ich konnte auch Mutter überreden, nicht zu sparen. Sie fühlte sich wohl so elend, daß sie alles mir überließ. Sie legte das Dasein in meine kleinen Hände, sie überließ das Leben mir. Sie atmete noch nicht auf, es erleichterte sie kaum, vielleicht im Gegenteil war sie tief unglücklich, daß sie mich Kind schon mit der Sorge um den Tag belasten mußte. Aber sie arbeitete nur noch und kümmerte sich nicht mehr um die Verwandlung des Geldes in Brot und Salz. Es befiel sie eine schreckliche Gleichgültigkeit. Sie fragte nicht einmal mehr immer:
„Wo warst du? – Was hast du heut gemacht? – Woher kommt das Geld?“
Sie schied schon ab … Es ging sie nichts mehr an. Nur ich selbst noch. Waren wir zusammen, so hing ihr Blick an jedem Schritt von mir, jeder Bewegung, hing an meinen Augen, meinem Mund.
„Iß“, flehte sie, „trink. Du bist so blaß. Ich habe keinen Hunger, ich kann nicht –“
Ich sah, sie konnte wirklich nicht. Sie wurde mit dem Kauen eines Bissens nicht mehr fertig, sie würgte ihn mit Widerwillen hinab. Und oft stieg ihr das Bißchen wieder hoch, sie gab es von sich, würgend und ächzend, in den Knien zusammenbrechend.
„Einen Arzt“, flehte ich.
Aber sie sah mich so verzweifelt an, so energisch, daß ich ohne ihren Willen es nicht wagte.
„Arzt“, sagte sie verächtlich. „Im besten Falle kann er konstatieren. Aber helfen –? Wehe dir, Junge.“
Sie sah mich drohend an. Niemals sonst hatte sie mich so angesehen.
„Eßt, Kinder, eßt!“ bat sie Henny und Mark.
Sie war so zärtlich zu ihnen, sie mußte sie immer berühren, aber ich – ich spürte die Anstrengung ihrer Finger, fast den Widerwillen in den Nerven. Immer mehr wurden sie Vaters Kinder, immer fremder wurden sie ihr, vielleicht grauenvoll, wie Alpdruck beängstigend. Und ich als Vaters Kinder wieder liebte sie sehr. Ich liebte in ihnen den nie gewesenen, unmöglichen Vater, in ihnen kam er zu mir, menschlich greifbar, schuldlos, da er Kind war.
Wir waren ganz allein. Ich schrieb damals nicht mehr an Stefan, und Frau Nina schickte ganz selten ein Paket. Auch im Gebirge ging es schlecht. Wenn der Wind von Westen stand, schrieb sie, hörte sie immer noch die Kanonen des Krieges. Und sie konnte sie nicht mehr hören.
„Mein Mann schreibt selten“, schrieb sie zum Schluß. „Es sieht nicht gut bei den Unseren aus. Gott steh uns bei.“
Ich sollte eingesegnet werden. Alles war unwichtig. Der Krieg spielte auch keine Rolle mehr. Wir hatten den Tod im Hause, den bittersten, den schleichenden. Draußen war doch der rasche, der plötzliche. Aber da dachte ich an die Lazarette, was ich daraus gehört hatte.
Aus unserm Haus war eine junge Frau nach Köln gefahren, man hatte ihr mitgeteilt, daß ihr Mann dort im Lazarett lag. Sie kam nie mehr zurück – Später hörten wir: sie hatte ihn mühsam gefunden und sich mit Gewalt Eingang verschafft. Ein gutmütiger Pfleger hatte sie hineingeschmuggelt, weil der Mann Tag und Nacht nach ihr rief. Sie kam nachts, in dreißig Betten wanderten Augen mit ihr den schmalen Gang zwischen ihnen entlang, das war das letzte: dreißig junge Männer konnten nur noch sehen, nie mehr gehen, nie mehr Arme heben, sie waren Rumpf.
Und ihr Mann sah sie nicht einmal, er war blind geschossen, er hörte nur noch, weiter war nichts von ihm da als Brust und Bauch. Sie hatte die Decke zurückgeschlagen, als er sie nicht umarmte, und da lag ein weißes Bündel, wie Kinder aus Lumpen sich Puppen drehen, in weißen Binden ein gliederloser Leib …
Sie war wahnsinnig geworden, und man konnte sie nicht mehr zurückschicken …
So habe ich den Krieg erlebt, und alle seine Schrecken versanken vor Mutters erstem Wehelaut.
Waffenstillstand kam, Friede, Kaiserflucht und Revolution. Wir hörten die Maschinengewehre vom Schloßplatz, und Transportautos mit Matrosen kamen auch durch unser Elendsviertel gerasselt. Unsere Straßen waren entvölkert. Alles lief in die rauchende, blutende Stadt. Alle Frauen waren unterwegs. Waren sie vom Krieg ausgeschlossen gewesen, wollten sie doch Revolution mitmachen. Viele hatten noch kein Blut gesehen, keine Mauer, splitternd unter Granate, kein Dach in Flammen.
Aus der Stadt drang dumpfes Getöse. Ganz Alte hockten in den Torwegen und hielten es für den Untergang der Welt, sie begriffen nichts mehr. Mit Siegerjubel kehrten Züge von Männern, Arbeiter, abgerissene Soldaten, von Wut dampfende Matrosen in unsere nächtlichen Straßen zurück. Man tanzte und schoß auf den Plätzen. Man sang und legte Feuer. Man plünderte Läden und erzählte Schützengrabenwitze. Sie schwangen Achselstücke als Trophäen und Degen und knallten aus Offiziersrevolvern in die Luft, in friedliche Stuben. Man erzählte von Gefallenen und von der Schlacht am Marstall und den Barrikaden in der Jerusalemerstraße.
„Geh, Teddy“, flüsterte Mutter. „Paß auf Henny und Mark auf. Wo sind die Kinder? Hör doch, was los ist. Man muß doch wissen, man lebt ja noch. Geh nur. Mir geht es gut.“
Sie hatte tagelang Schmerzen, und ich sah, wie sie sie von innen her auffraßen; ich sah, wie sie gleichsam nach innen abbröckelte. Ihr Fleisch fiel von ihr ab, die Haut spannte sich um die Knochen, das Leben sammelte sich in den schwarzen Augen, die loderten und glühten und erloschen nur, wenn der Schmerz innen sie anfiel …
Und am nächsten Morgen, ich lief in das Hotel, Stiefel zu putzen, stand sie auf. Wenn ich zwischen Hotel und Schule nach Haus stürzte, nach ihr zu sehen, war sie fort, war sie waschen gegangen; und abends, ehe ich in das Café aufbrach, die Blechlöffel für trunkene Soldaten mit ihren Gratismädchen und für die grölenden Zuhälter zu putzen, kam sie lächelnd, das erwaschene Papiergeld in der Faust. Sie setzte sich nicht hin, um mir zu zeigen, wie kräftig sie sei.
Henny und Mark liefen mit der Revolution mit. O, wie stolz kam Mark am dreizehnten November nachts nach Haus: er hatte einen Streifschuß an der Backe. Leider verheilte er ohne Narbe. Später glaubte es ihm keiner mehr. Er war so schön, dieser Dreizehnjährige, blond wie Sonne, grauäugig, weiß, stark.
Henny raunte mir zu:
„Alle Mädels laufen ihm nach. Er kann haben, welche er will. Alle stecken ihm was zu. Sieh mal nach, wenn er schläft, er hat die Hosen voll Geld.“
Ich konnte mich nicht enthalten. Ich fragte, innerlich zitternd, die Vierzehnjährige, dieses süße braunhaarige weißhäutige Mädel:
„Und du, Henny?“ fragte ich gewaltsam harmlos. „Und du? Laufen dir nicht die Jungens nach?“
„Ha!“ rief sie. „Hat sich was! Kannst dir denken! So was sollt mir passen! Die Jungens hier? Da pfeif ich drauf! Nee, weißte, Teddy, da muß ein ganz andrer kommen, eh ick spitze. Uff ’n Leim von sone Rotznesen geht deine Schwester noch lange nich. Ich warte! Ich hab Zeit! Jung und schön bleib ich noch lange!“
Aber das, was sie da sagte, mich zu beruhigen, schien mir schlimmer zu klingen als jedes Eingeständnis, das sie mir hätte machen können …
O wunderbar: es sah so aus, als erholte Mutter sich. Sie begann ein wenig zu essen und es bei sich zu behalten. Ihre abgefallene Haut straffte sich ein wenig. Aber ich war immer zu müde und schlief zu schwer, um nachts zu wachen und ihr Schlafen oder Nichtschlafen zu beobachten. Vielleicht log sie am Tage, um nachts dafür zu büßen, verbiß sich am Waschfaß den Schmerz, um nachts sich ihm auszuliefern. Denn wie hätte sonst, eines Tages, so plötzlich der Zusammenbruch kommen können?
Aber nun, im Wahn ihrer Genesung, erwachte ich wieder zur Welt. Der Krieg war aus, die größere Not begann. Die Republik war da, und die Hoffnung der Armen blühte, um gemäht zu werden. Ich holte nach, was ich versäumt hatte zu wissen: was eigentlich geschehen war. Ich las alte Zeitungen, in den Volkslesehallen neue Broschüren. Mein Tag von siebzehn Stunden war maßlos überfüllt. Als ich zum ersten Mal wieder die griechische Syntax aufschlug – o! Lust hob mich himmelhoch …
Ich schrieb an Stefan, ich schrieb an Frau Nina.
Und Nina schrieb wieder. Ganz zuletzt standen fünf stille Worte:
„Mein Mann wird nicht wiederkehren.“
Ja, mein Leben spiegelte sich ab in den Schicksalen anderer, ich habe mich entwickelt am Miterlebnis. Ich – das sind die andern. Ich – das ist die Gartenstraße, die Jasmunderstraße, ist Stettiner Bahnhof und Humboldthain, sind die Hinterhäuser und Höfe mit Aborthäuschen, Müllkästen, ist die Villa in der Hochstraße, sind Lehrer, Wohltäter, Freund, Schwester. Ich – das ist der betrunkene Vater und die Mutter, die am Waschfaß stirbt, an deren Magen der Krebs frißt, während sie uns in Schlaf singt. Ich – das sind alle die Hungernden, Liebenden, Stehlenden, sich Prügelnden rings herum, die Selbstmörder und Straßenmädchen, das ist die jungfräuliche Diana und Witwe Gräbert, deren Bett vom Mann nicht kalt werden kann, ist die Wahnsinnige, die ihre Katzen erhängt, und die Gutmütige, die Dienstmädchen von ihrer Frucht befreit.
Ich erzähle nur ein wenig aus einem einzigen Hause im Norden Berlins, aber da stehen Tausende, und in jedem ist die Armut anders, der Schmutz schmutziger, das Elend dunkler. Nein, ich erzähle euch nicht das Schlimmste, längst nicht alles, was ich sah und also erlebte.
Ich erzähle euch auch nichts von den Liebeserlebnissen des Proletarierkindes …
Vielleicht glaubt ihr, ich wäre wirklich ein kleiner Tugendbold und Engel gewesen und brav wie eine Erzählung von Nieritz und Beispiel für böse Buben. Ach, ich war nicht anders als die andern. Und ich sage: Gott sei Dank war ich ein Junge unter Jungen und Bösewicht und Tunichtgut. Ich widerstand den kleinen Mädchen nicht, ich schloß mich nirgends aus, wo es galt, etwas zu erfahren, wo das Leben aufging. Aber ich will nichts weiter sagen. Nicht aus Scham, nicht aus Feigheit, aber aus Einsicht in die Vergeblichkeit.
Wir Armen – Oft schien mir unser Laster rein und jedenfalls heiter, noch nicht ganz gottverlassen, da es sich zu sich bekennt, wenn ich es mit dem Laster der andern Welt verglich. Denn die holt uns ja, um es zu raffinieren, es mit letzter Verruchtheit zu sättigen.
Wußten wir nicht alle, wir Jungen von vierzehn, daß wir Geld verdienen konnten, wenn wir in den Westen zogen, in ein kleines harmloses Café, das ältere Damen schnell durchquerten, um einem oder zweien von uns zu winken? Wir wußten, es war erfolgreich, ohne Kragen dahin zu gehen, ohne Hemd – o, wie gelegen uns das kam! mit nackten Knien, Kopf unbedeckt. Das da habe ich nie versucht. Ich war so klein, so dürftig und kümmerlich, blaß und häßlich. Ich traute mich nie mit den andern dahin, wo man mit seinem weißen, flaumigen Fleisch Geschäfte machen konnte. Ich mißtraute dem Reiz meines Fleisches.
Wir waren unschuldig im Laster, wir verbargen es gar nicht. Als Milly Böttcher mit vierzehn schwanger wurde, trug sie es unter uns Kindern mit Stolz, wir mußten fühlen und untersuchen, und wir waren ganz erschlagen von Respekt vor ihr. Die Großen – denen verschwieg man viel. Die stellten sich falsch ein, die verstanden nicht, die machten aus dem Natürlichsten und Einfachsten eine Staatsaffäre.
Ich war mit fünfzehn ein wissendes Kind, mir war nichts mehr fremd, ich tat – trotz Angebot und Aufforderung – nichts gegen Trieb und Natur, ich machte nicht alle Abenteuer der Kameraden mit, auf dunklen Plätzen, in Badeanstalten, aber meiner Natur mich zu widersetzen, war mir nie in den Sinn gekommen. Nein, es gab keine Liebeswahl. Liebe … Das war auf einem andern Stern, Liebe hatte nichts mit dem bloßen Fleisch zu tun. Es gab Liebe – – Und es gab Lust. Und der Lust mich versagen, wenn sie möglich war – – Sie kostete ja nichts!
„Ich habe nur einen Freund: das Echo …“
So traurig war ich oft, so innerlich allein, daß ich mit diesen Worten meine Einsamkeit verzierte. Ich glaube, ich hatte sie einmal bei Kierkegaard gelesen, in einem der hundert Bücher, die ich mir aus der Villa mitgenommen und eingesogen hatte mit der verzweifelten Gier eines verdurstenden Wüstenwanderers.
Niemand ist da für dich, dachte ich oft. Nichts hast du als den sehnsuchtsvollen Widerklang deines eigenen Rufs ins Leere.
Die Mutter war da, und ich liebte sie. Und später, als sie fort war, wußte ich auch: ihr Dasein war genug gewesen, aber damals wollte ich noch anderes, ich hätte so leidenschaftlich gern mit irgendeinem Geliebten von mir reden wollen …
Mutter –
Im Jahre neunzehn verlor ich sie …
Sie ging noch immer, fünfmal in der Woche, in Kundenhäuser und wusch in den steinernen Küchen, im Keller oder auf dem Boden, einmal wusch sie zu Haus für Fremde. Ich erinnere mich, daß sie an einem einzigen Sonntag die Stadt verließ, Luft des Waldes, der Felder atmete, sie arbeitete am Sonntag für uns. Bisweilen führte ich sie auf eine Stunde in den Hain, und da saßen wir stumm und froh.
An einem Montag kam sie früh nach Haus. Schon am Nachmittag. Ich saß am Fenster und schrieb Adressen. Es war Mai, und selbst in unsern stinkenden Hof strömte die Süßigkeit des Tages ein klein wenig, die Holdheit des neuen Lichts.
Sie kam und fiel aufs Bett. Der Schmerz verkrampfte sie so, daß sie nicht sprechen konnte. Aber sie wollte mir zulächeln, doch die Augen brachen ihr von dem Feuer, das sie innen verbrannte.
Am Abend holte ich den Arzt, es war der erste, der zu uns kam. Es hatte nie große Krankheit bei uns gegeben. Selbst unsere Masern hatte Mutter allein kuriert.
Er sah sie an. Sie lag schon wie ein Restchen Knochen und Haut im Bett, aufgefressen vom Krebs. Ich sah, wie er sie entblößte, ich sah zum ersten Mal meiner Mutter Leib, meines Lebens Schoß, und ich sah da die ganze Ungerechtigkeit des Daseins, des Schöpfers abgewandten Blick, sein erhabenes Vergessen seiner Kreatur, seine Erbarmungslosigkeit und Taubheit. Ich sah da den Menschen am Kreuz, die Mutter auf dem Rost ihrer Liebe, den ganzen Jammer der Menschheit.
„Ich verstehe das nicht“, sagte der Arzt. „Wie war es möglich, Frau, daß Sie sich bis heut geschleppt haben! daß Sie bis heut arbeiten konnten! Aber jetzt Schluß. Noch heut kommen Sie in die Charité. Ich werde um einen Wagen telefonieren –“
Er hörte auf, als er ihren Blick sah. Auch ich las ihren letzten Wunsch darin: sie wollte bei mir sterben. Ich sollte bei ihr bleiben – Sie sah mich an …
„Na schön“, sagte der gute Mann, er verstand sie. Er hatte seine Kranken zwischen Badstraße und Stettiner Bahnhof und kannte uns. „Bleiben Sie zu Haus. Aber wer sieht nach Ihnen, wer besorgt Sie?“
Er folgte ihrem Blick: ich stand hinter ihm, ein kleiner, magerer Junge.
„Ich“, sagte ich.
„Junge“, rief der Arzt, „du mit deinen dreizehn Jahren. Und die Schule?“
„Sechzehn“, flüsterte Mutter. „Er verdient schon.“
„Sechzehn! Was! Na, ich muß dich auch mal abklopfen, he? Komm mal zu mir. – Adieu, Frau, tapfer sein, Sie verstehen sich ja drauf. Komm gleich mit, Junge, wir holen was in der Apotheke. Sie sollen keine Schmerzen mehr haben.“
Ehe er ging, machte er ihr eine Injektion. Mutter sah mich bei allem unverwandt an. Plötzlich entspannte sich ihr Gesicht, sie dehnte sich, wie aus eiserner Faust losgelassen, und ich sah schon: sie stirbt …
Aber nur das Morphium wirkte. Die erste wonnige Stunde Mutters brach an, der erste leichte Seufzer entfloh ihr, zum ersten Mal in seliger Gedankenlosigkeit schloß sie die Augen und glitt in Schlummer.
Sie mußte sterben, um aufatmen zu können … Aber so sterben eben unsere Mütter … Das Leben Arbeit und Schmerz, und der Tod Ausruhen und Lust …
Sie starb schon am Donnerstag, ehe ich müde geworden war, ihr zu dienen, ehe ich nach Schlaf verlangte. Ich habe ihr in ihren letzten drei Tagen keine Minute entzogen, ich war immer im Bereich ihres Blickes, ihres Flüsterns.
Einmal bewegten sie irdische Gedanken.
„Begräbnisgeld“, hauchte sie. „Ach Gott –“
Sie hatte Geld gut bei einigen Kunden. Sie flüsterte es mir zu.
„Und ihr?“ fragte sie in den Raum hinaus, dessen Grenzen sie schon sah, in den von uns bewohnten Raum. „Henny braucht mich nicht mehr und Mark nicht. Aber du, Teddy, Liebling, o – du –“
Sie sah keine Träne in meinen Augen, und ich hoffe, ich bete heute noch, sie möge nie das Zittern meiner dienenden Hände gesehen haben und mein Stummsein nicht verstanden. Hätte ich sprechen müssen, wäre ich verloren gewesen …
In diesen drei Tagen lernte ich den Himmel des Dienens kennen. Diesen Leib zu betreuen war die Gnade. Die Demut, mit der ich eines Menschen letzten leiblichen Verrichtungen half, war Glanz und Seligkeit, darin ich wandelte. Drei Tage waren das Glück. Wir gehörten einander, wie ich nie wußte, daß Menschen sich gehören können. Ihr Leben war das, was ich tat. Und mein Leben war in ihrem Sterben begriffen. Sie starb nicht allein, bis zum letzten Atemzug war ich in ihr. Nur als sie verstummte, nahm ich mich zurück. Ich lebte weiter.
Ich wußte: sie starb. Ich sagte es keinem. Es war Mittag, und die Maisonne schien in unsern Hof. Da spielten die Kinder, Henny und Mark spielten mit ihnen. Ich rief sie nicht. Morgens war der Arzt dagewesen. Draußen hatte er mir gesagt:
„Weißt du, Junge, wie es steht? Weißt du, daß sie jeden Tag erlöschen kann?“
„Ich weiß“, sagte ich ruhig.
„Sie ist ein Held, deine Mutter. Sie hat auch einen Krieg hinter sich. Sie hat gesiegt, wenn du dich tapfer hältst. Du bist ihr Sieg, weißt du das? Laß sie nicht umsonst gekämpft haben.“
„Nein“, sagte ich.
„Nachher – Junge – nachher, willst du mal zu mir kommen? Mit mir reden? Deine Lungen muß ich auch abhören.“
„Ja, Herr Doktor.“
„Adieu. Geh zu ihr. Du wirst dich bald ausruhen können.“
Da lag sie, verhungert … Sie konnte keinen Tropfen Milch genießen, sie hatte seit Wochen nichts mehr gegessen. Es hatte sie verzehrt.
Mittags fielen ihr die Augen zu. Ich sah, wie sie die Lider heben wollte – mich zu sehen, noch einmal, immer wieder, bis ins Drüben hinein: mich … Sie verlangte nicht nach den andern Kindern.
Wir zwei waren ganz allein auf der Welt …
Sie konnte nicht mehr sehen. Da bückte ich mich über sie, ich schob meinen Arm unter sie und flüsterte:
„Mutter, ich bin da … Mutter – Mutter –“
Ich habe das sehr lange geflüstert.
Meine rechte Hand lag auf ihrem Herzen, und ich fühlte es so langsam werden, so leise.
Sie wurde immer schwerer in meinem Arm.
Ich flüsterte:
„Mutter – Mutter – Ich bin da, Mutter – Ich geh ja nicht weg, Mutter – Da bin ich – Mutter – Mutter –“
Ich flüsterte es noch lange, als ihr Herz schon verstummt war und die Kälte ihres Leibes mich durchschauerte. Ich rief sie – denn sie war es nicht mehr, die da lag.
Da lag ein Häuflein Mensch, ein winzig gewordener, entfleischter Leib, ein Haupt, das von stumm gelittenem Schmerz jetzt gräßlich entstellt war. Nichts war geblieben als die Rune eines unendlichen Leids, ein zerfallenes Antlitz, ein klaffender Mund, graue Strähnen Haare, Knochen und Haut. Mutter? … Niemals!
Ich rief sie … Aber sie hat mich nie mehr gehört … In der ganzen Welt gab es nur noch mein Echo …
Ich habe nach vielem in meinem Leben gehungert, als Kind auch nach Brot – Ich habe nach der Einfalt des ahnungslosen Mitmenschen gehungert, nach einem Vater, nach dem Vertrauen Geliebter, nach der Fähigkeit, kleiner Genüsse teilhaftig zu werden, am wenigsten nach Natur. Die kannte ich ja gar nicht, ich hatte sie nie gesehen, es gab Straßenbäume. Aber Wälder? Es gab verbotenen Rasen. Aber Wiesen? Ich aß Brot. Aber Weizenfelder? Die schmutzige Spree. Aber strömendes, duftendes Gewässer?
Wenn wir einen Schulausflug machten, so wurde gespielt, die Landschaft war ein Gegenstand der Geographie und Botanik. Aber Natur? …
Am meisten hungerte mich immer nach einem: Musik –
Als die Quartette und das Klavier in der Villa für mich verstummten, wurde das Schweigen Schmerz.
Ich lief um die Rummelplätze herum, ihren musikalischen Lärm zu hören, ich stand vor den Kneipen, wenn drinnen das Orchestrion dröhnte oder der Klavierspieler hämmerte, ich hockte vor den Fenstern großer Cafés, an denen sich die Tänze und Arien der kleinen Orchester brachen. Alles war nicht Musik, es war ihre Ausgeburt, ihre Karikatur, aber in allem dennoch etwas von ihr. Mein Ohr deutete den Lärm in Wohlklang um, ich übertrug das Getöse in Getön. Ich blieb stundenlang unter Fenstern stehen, hinter denen jemand Geige übte. Wenn irgendwo ein Grammophon erklang, drückte ich mich an die Mauer, um durch ihre Poren die Musik einzusaugen.
Ich sparte Pfennig auf Pfennig und ging in große Konzerte. In schrecklicher Verschüchtertheit wegen meiner Kleidung. Kein Hemd unter der Jacke, keine Strümpfe. Aber wenigstens roch ich nicht nach Armut. In Mutters Waschbottichen war gut zu baden. Sauber waren wir immer. Wenn Henny Läuse aus der Schule mitbrachte, ich einen Floh, Mark Wanzen von seinem Nachbarn, o, welche wilden Reinigungen erfolgten zu Haus.
Ich hatte meinen billigsten Platz in der Tasche, aber ich schlich doch wie ein Eindringling in den Saal. Es ist gewiß lächerlich, daß ich von Musik rede, aber sie ist ein Teil meines Lebens, meines Lebens Licht …
Ich hörte d’Albert und nach dem Kriege Busoni, der schon zu sterben begann, den Dämon und den Genius. D’Albert spielte wie ein Besessener und Busoni wie ein Erfüllter. Wenn d’Albert Beethoven spielte, glaubte ich, der Geburt der Sonate beizuwohnen, sie entstand in diesem Augenblick, ein Gott entriß sie sich, der Allseele. Niemals reproduzierte d’Albert, immer schuf er. Man wollte sich verhüllen, die Ohren verstopfen, es war wie Sakrileg, Belauschung der zeugenden Gottheit.
Busoni spielte Mozart. Die Musik war da, gemacht, gegossen, gereinigt, und durch seinen Geist strömte sie uns zu. Das war die hohe Vollendung, schlackenlose Erfüllung. Um Busoni zu begreifen und zu lieben, durfte man nicht mehr jung sein. Weisheit wurde verlangt. Er war die letzte Verklärung, von der nur Reife ergriffen werden kann. Ich, ja, ich war auch alt genug für Busoni. Ihn konnte ich anbeten, aber ich konnte d’Albert lieben. D’Albert entfesselte mich, er machte mich gottestrunken, er gab mir die Freiheit, ins Unmögliche auszuschweifen. Und Busoni nahm mich in die große Verklärung auf, es blieb nichts mehr zu wünschen, die Welt war zu Ende, man war eingegangen ins Unaussprechliche.
Ich hörte unsere Orchester. Und das ist immer für mich das Letzte irdischer Freude geblieben. In diesem Erklingen kosmischer Gesetze und Vorgänge löste sich alles in mir auf, was irdisch festhält. Ich vergesse in keiner Stunde und Handlung meines Lebens die Mutter. Aber im Orchesterklang wird auch sie seliger Teil der Musik, und was ich in sechzehn Jahren mit ihr litt, wird süße Wollust. Ich kenne Gott nicht, ich weiß nichts von ihm, aber seinen Namen gebe ich dem, was Musik macht und ist.
Mit Stefan saß ich über den Partituren und las die Herrlichkeit aus schwarzen Notensystemen. Er lehrte es mich. Ich liebte ihn schon dafür. Dies allein mir gegeben zu haben, hätte mich zu seinem Diener machen müssen.
Seine Musik war nicht die meine. Ihm ging im „LIED VON DER ERDE“ nicht das Unsagbare endgültig auf, und in den Fragmenten der „Zehnten“ wurde ihm die nackte Zwiesprache des Menschen mit dem All nicht hörbar. Aber mir verhalf er dazu, Stefan, der Geliebte.
Er war wieder da, wieder in Berlin …
Er war mit seiner Mutter wiedergekommen. Zu spät für mich. Ich hatte, schien es mir und war es auch in Wirklichkeit, alles hinter mir, alles – im Tod der Mutter. Sie konnten mir nicht mehr helfen. Aber ich hatte mir schon geholfen, denn ich lebte weiter. Und ohne Mutter weiterleben hieß schon: es tragen, sogar es verwinden.
Sie konnten die Villa nicht beziehen, denn es war noch immer Lazarett darin, ungeheilte Soldaten mit Kopfverletzungen lagen da, man konnte sie nicht entlassen. So mietete Frau Nina eine Wohnung am Kaiserdamm, sie war nicht mehr groß, sechs Zimmer, aber man sah hinaus auf den umzäunten Lietzensee. Es war der schöne Herbst des Jahres neunzehn.
Die Fabrik stellte ihre Kriegsarbeit ein und sich allmählich wieder um. Der alte Prokurist kehrte zurück und führte sie weiter. Und ich kam in die Buchhaltung des Hauses als Lehrling …
Nach dem Tode der Mutter kam viel Unerwartetes. Wir waren allein, ein Vormund mußte bestellt werden, und der Armenvorsteher des Reviers, den ich schon kannte, übernahm das Amt. Ich hatte nur einen Wunsch: wir Geschwister sollten zusammenbleiben, man sollte uns nicht trennen. Aber es ging nicht an – sagte das Gericht –, daß die fünfzehnjährige Henny bei uns halbwüchsigen Jungen bliebe. Unser Vormund erreichte nur, daß ich mit Mark unsere Wohnung behalten durfte. Es war billiger, diese Miete als zwei Schlafstellen zu bezahlen. Wie hart wäre es gewesen, Mutters Küche zu verlassen. Der Armenvater kannte mich und traute mir Ordnung und Einsicht zu.
Aber Henny. Wohin Henny?
Und da sagte sie, sie wolle zur Frau Luise Gräbert gehen, die wolle sie bei sich aufnehmen. Und die Witwe Gräbert erschien vor dem Vormundschaftsgericht und gab ihre herzlichen Erklärungen ab.
Man zog Erkundigungen ein, nichts belastete sie, und Henny zog in die Grüntalerstraße …
Sie stand mir kaum Rede. Es kam nur heraus, daß sie oft dort gewesen war und Vaters Briefe aus dem Feld gelesen hatte. Sie hatte in dem Gobelinsofa gesessen und im Korbstuhl, sie hatte die Standuhr abgestaubt und den ausgestopften Hund gebürstet, die Gräbert hatte sie verwöhnt mit Kohlrübentorten und Räucherfisch. Es war noch viel mehr zu erfahren, aber sie schwieg. Ich sah in ihren Augen mutwillig versteckte Geheimnisse.
„Henny“, bat ich, „Frau Falk würde dich zu sich kommen lassen.“
Sie war noch nicht in Berlin, als all das erledigt wurde.
„Ich brauche ihr nur zu schreiben, Henny.“
„Damit ich mein Leben lang Dienstmädchen bleibe? Danke vor Backobst, mein Lieber! Nee, mit deinen Herrschaften will ich nichts zu tun haben. Ich werde selbst Herrschaft werden. Wart nur.“
Ich hatte keine Macht über Henny. Dabei liebte sie mich. Ein bißchen spöttisch und überlegen und verächtlich. Denn sie hielt mich für tugendhaft und brav. So packte sie ihr Häuflein Wäsche und Garderobe. Ich sah ihr zu. Sie stand vor der Kommodenschublade, in die ich Mutters Sachen gelegt, und starrte in sie hinab. Sie stand lange so, und ich rief sie an. Sie bewegte sich nicht.
Ich lief zu ihr, da riß sie sich los, drehte sich weg. Aber ich hatte gesehen, wie es in ihrem Gesicht kämpfte. Sie bezwang Tränen, sie wollte nicht.
Damals, bei Mutters Tod, hatte sie gejammert und geschrien. Es war ein Armenbegräbnis, ich hatte Mutters Guthaben nirgends bekommen. Henny hatte an dem Grabe geschluchzt und gezittert, um dann plötzlich still zu werden. Und erst jetzt wieder sah ich: sie litt.
Sie stieß die Schublade zu.
„Nimm dir“, sagte ich leise. „Was du willst, Henny.“
„Nichts“, sagte sie. „Nein, nichts von Mutter. Das soll hierbleiben.“
Und schon bei diesen Worten ahnte ich: sie will nichts von Mutters Gegenwart dort, wohin sie kommt, wo sie so lebt, wie es Mutter unglücklich gemacht hätte. Nie ist ein Mädchen mit mehr Vorbedacht und Zielstrebigkeit ihren Weg gegangen.
Aber es geschah etwas, wo ich ihr alles verzieh, alles, was zurücklag, alles, was etwa noch kommen sollte. Etwas, wofür ich sie bis heute liebe, Erbarmen mit ihr habe.
Es war im Herbst, die Bäume schon leer, Oktobersturm reinigte die Stadt; da ging ich aus unserm engen Quartier hinaus, zwischen Bauplätzen und Kohlenlagern, an verlorenen uralten Häusern vorbei, wo die Stadt sich auflöste in Lauben, in unfruchtbare Äcker, in Müllhalden. Ich ging zu der neuen Brücke hinüber, der Hindenburgbrücke, die über die Stettiner Bahn hinweg die großen Boulevards jener Gegend verbindet.
Ich, so naturfremd, liebte diese Landschaft der Stadt. Bei dieser Brücke klafft Berlin großartig weit. Man steht unter dem Himmel, der von Schloten und Lokomotiven, Straßendunst und Menschenruch entstellt und entfärbt ist, seine Wolken sind da trächtig von Schmutz und Zorn. Regen, der da fällt – denkt man –, muß schwarz und stinkend sein. Man sieht, rings um die Brücke, Straßen ihre Häuser fletschen, geifern. Unendliche Plätze, von Tausenden Fenstern umstellt, sind gräßliche Mäuler, die die Stadt aufreißt, Trichter, die Baum und Gras in sich hinabsaugen, daß nur Sand und Schutt übrigbleibt. Fern, im Trüben, Kirchtürme, so gottfern wie möglich; Eisengerüste anderer Brücken; an Brandmauern Traumvisionen riesiger Reklameköpfe, unverständliche Riesenschriften. Laubengelände sind halb versunken, Blumen duften Verwesung hinauf. Die Überlandleitung spannt ihre Drähte von gigantischem Mast zu Mast, schwarzen Gerippen, die Tod enthalten, Hochspannung, der Sturm pfeift darin wie ein Heer von sterbenden Ratten. Es ist menschenleer, ausgestorben, was etwa geht, fährt, ist Schatten. Lokomotiven schrillen unwahrscheinlich. Am Ende der Straßen gleiten Bahnen und Autos wie Träume anderer. Die Häuser scheinen unbewohnt. Plötzlich glühen die Laternen auf, leuchten noch nicht, gespenstisches Zwielicht tötet sie. Abend steigt über die Dächer in verschmutztem Gelb, die Wolken sinken tiefer, es regnet über Pankow, eine schwarze Wand ist da aufgerichtet. Das war so Landschaft, die ich liebte. Dort befiel mich eine Erlösung vom Dasein, ich strömte in diese schreckliche Verlassenheit hinein und empfand die meine nicht mehr.
Dort, an dem windigen Herbstabend, sah ich auf einem Schutthaufen ein Mädchen stehen. Das Haar flog ihr aufgelöst wild um den Kopf, sie hatte die Arme ausgestreckt. Sie war in ihrer Sehnsucht wie auf einen Berg gestiegen und rief – wonach? …
Plötzlich erkannte ich diese schlanken Beine in dem kurzen Rock, die Schultern, den Kopf, der in den Nacken geworfen war. Es war Henny …
Ich lief auf den Schuttkegel zu, sie hörte mich nicht, der Wind schoß an ihr vorbei zu mir, und er trug mir zu, was sie rief.
„Mutter!“ rief sie gellend, verzweifelt, wild verlangend, „Mutter! Mutter!“
Henny – Ja, Henny stand auf dem einsamen Müllhaufen und schrie ins Leere nach der Mutter, ein verlassenes Seelchen, ein bangendes Herz –
Auch sie –
Und doch war sie damals schon Laufmädchen bei Tietz in der Brunnenstraße, wo sie die Waren vom Verkaufstisch zur Ausgabe trug, in der Bücherabteilung. Sie lebte bei der Witwe Gräbert und hatte schon Stunden bei Fräulein Valeska Urban …
Ich schlich mich damals fort, sie sollte nicht wissen, daß ich sie da gesehen und belauscht hatte.
Ich hatte mich nie entschließen können, zu Luise Gräbert zu gehen.
Ich hatte mich manchmal abends hingeschlichen, in den Hof, um in die Stube zu schauen. Aber jetzt waren die Vorhänge immer zugezogen. Man hörte nur ein Grammophon, Stimmen, auch die von Männern. Und Mark, der oft hinkam, erzählte mir von abendlichen Festen. Junge Herren kamen, um sich mit der schönen Henny zu unterhalten. Mein Blut erkaltete, wenn Mark mir erzählte, wie diese Herren nicht aus unserm Quartier waren, daß sie aus dem Westen kamen, auch Ausländer gab es, die Delikatessen mitbrachten, Wein, Likör.
Ich hätte wohl zum Vormund gehen müssen. Ihm Bericht geben. Aber wozu? Kann man – o, darf man einen Menschen vor seinem Schicksal bewahren? Hat man das Recht, einzugreifen in ein Leben? War denn Henny ein Kind? Wie oft habe ich schon gesagt: wir Armen sind nie Kinder! Henny, mit fünfzehn, kannte das Leben, sie wußte von allem, was man „Gefahr“ und „Abweg“ nennt, sie wußte Bescheid mit Prostitution, mit nicht eingeschriebenen Dirnen, sie kannte die Sitten der arbeitenden Mädchen, der Witwen. Nie kann ein Mädchen aus unserm Stand verführt werden. Denn sie ist niemals mehr unschuldig. Keiner ist der Erste bei ihr. Sie wächst ja langsamer als ihr Wissen, und ihre Erfahrung kommt so früh, daß sie fast niemals mehr Erlebnis wird. Dafür haben sie aber die Unschuld des Lasters, die erhabene Natürlichkeit der Sitten. Niemals sind sie unmoralisch. Wir sind ein „primitives Volk“.
Und von Mark hatte ich auch erfahren, daß Henny zu Valeska Urban ging. Fräulein Urban hatte in der Oderbergerstraße einen Laden mit Stube gemietet, weil sie aus allen Etagenwohnungen hinausgeworfen war: ihre Kurse ließen die Decken der unter ihr gelegenen Wohnungen abspringen. Valeska Urban gab dramatischen Unterricht, wie sie es nannte, was aber hieß, daß sie tanzen lehrte, Gymnastik (nach Laban oder Bode, wie man es nennen wollte), daß sie Couplets vortragen lehrte und sentimentale sowohl wie unanständige Gedichte rezitieren, daß sie Filmunterricht gab mit Niedersetzen, Wandeln, in Ohnmacht Fallen, auf die Knie Stürzen, daß sie junge Mädchen für die Revue dressierte.
Über ihrem Laden stand „Dramatisches Institut“. Das Ladenfenster und die Tür waren üppig mit blaugetupftem Mull drapiert, den blauseidene Schleifen rafften. Weiße Vorhänge schlossen die Scheiben aber hermetisch ab. Abends, wenn alles blendend erhellt war und das Grammophon seine Tangos ächzte, versammelten sich die Oderberger- und angrenzenden Straßen vor dem mystischen Laden und lauerten, daß ein Schattenriß auf der Leinwand erschiene, ein Mädchenkörper in Badeanzug, der die Arme reckte und ein Bein nach hinten schmiß. Oder gar zwei in Turnkleidung gaukelten und drehten sich, oder eine Vorgeschrittene wirbelte, auf der großen Zehe stehend, um sie herum. Dann ging ein Ah durch die Menge, ehrfürchtig und entzückt. Selbst die grünen Jungen meckerten und zoteten nicht.
Dort übte, dreimal in der Woche, Henny, von acht bis zehn. Denn sie wollte in die Revue … Weder gedachte sie, bei Tietz Packerin oder Verkäuferin zu werden, noch einen der jungen Arbeiter, die sie bewunderten, zu heiraten. Sie ging zu Tietz wegen der Vormundschaftsbehörde. Um diesen Ausweis zu haben. Heimlich wurde sie Tänzerin, Chormädel. Damals sagte man noch nicht „Girl“.
Das erzählte Mark. Henny kam von Zeit zu Zeit zu uns. Sie kam nicht gern, sie sah sich um, als wäre noch Mutter da und fordere Rechenschaft. Sie küßte mich schnell und lief wieder. Und ich – war schüchtern vor ihr …
Mark lebte gern bei mir. Er ging noch zur Schule, er war faul und zurückgeblieben. Er trieb sich schon längst mit Mädchen herum, aber dabei noch Kind, in frecher blonder Unschuld. Er spielte ebenso noch Murmeln und ging auf Paddenfang nach Tegel und ließ auf dem Tempelhofer Feld Drachen steigen, wie er mit irgendeiner Emmi oder Trudchen nachts im Humboldthain auf Bänken sich zärtlich ergehen konnte. Man mußte ihn lieben, er war der richtige Junge, und ich zitterte nicht um ihn wie um Henny. Und doch kam er unters Rad.
In diesem selben Herbst besann ich mich, nachdem ich sie fast vergessen hatte, wieder auf meine Kunstfertigkeit. Es war die Zeit, ein Jahr nach Friedensschluß, wo das Elend jäh zu wachsen begann, wo das Geld, von einer Stunde zur andern, entwertet wurde, wo der Mensch vollends an Charakter verdarb und üppigster Luxus und bitterste Not sich ohne Bindeglied trennten. Ausländer überschwemmten die Stadt, Lasterhöhlen entstanden in Häusern des Kurfürstendamms wie in der Brunnenstraße, man konnte mit seinem Fleisch Dollars und Pfunde verdienen. Die Jugend unserer Gegend zog aus in die Gefilde des Westens, in hundert neu eröffnete Lokale, in unterirdische Bordelle und Badstuben. Mädchen aus unserer Straße bezogen Quartier in den aufgegebenen Wohnungen verarmender Reicher, Schulkameraden von mir saßen in engen Mänteln, mit manikürten Händen, gepudert, in amerikanischen Autos. Mütter begannen ihre Kinder abzuschätzen. Wir hungerten …
Um einen Hering zu bekommen, drängten sich verwahrloste Frauen stundenlang vor den halbleeren Läden. Alle bettelten alle an. Sie zogen in den Westen und durchstöberten dort die Müllkästen nach eßbarem Abfall. Man bekam Lebensmittelkarten und konnte sie nicht einlösen. Kunsthonig war Himmelsgabe, ein Endchen Ziegenwurst war ein Jahr dieses Lebens wert.
Ich war an einem Sonntagmittag bei Nina Falk. Wir hatten uns sattgegessen, ich hatte in Stefans Schulbücher, herzklopfend, gesehen, er hatte Geige gespielt, er spielte schon wie ein Künstler, und er hatte mir die Notenblätter gezeigt, von ihm beschrieben, unausführbare Symphoniesätze, ein Lied nach Rilkeschem Text. Ich fuhr, um daheim noch vieles zu erledigen – ich besorgte ja die Wohnung allein, unser Essen; Mark erledigte die Besorgungen –, früh nachmittags heim.
Ich bekam ein kleines Gehalt in der Fabrik, trotz meiner Anfängerschaft, auf Frau Ninas Anregung. Von ihr bekam auch Mark ein sogenanntes Taschengeld – sie wußte, ich hätte es nicht genommen –, aber es wurde mir ausgezahlt. Mark brachte oft Geld nach Haus, ich merkte nie, daß er viel für sich behielt. Er sagte, er hätte hier und da Gepäck am Bahnhof getragen, hätte Streichhölzer verkauft, einen Autoschlag geöffnet, in der Zentralmarkthalle geholfen. Er war größer als ich und stark, er sah auch älter aus als ich. So schlugen wir uns durch. Ich wurde nicht immer satt – aber ich habe dann alles nachgeholt.
Als ich an diesem Sonntagnachmittag heimkam, war der Hof voll von Kindern. Aber sie spielten nicht. Sie saßen und standen herum, die größeren Mädchen hielten die kleinen Geschwister auf dem Schoß, die Jungen lümmelten sich an die Wand. Der Tischler in seinem Keller hatte seine Fünf ins Fenster gesetzt, sie bissen, unter allgemeinem Neid, an einer Kohlrübe herum. Ich hatte nie Trostloseres gesehen. Ich sah zu unsern beiden Fenstern hinauf. Auch Mark war da. An diesem lauen trüben Tag schien Verzweiflung auf die Stadt zu drücken. Leute lagen in ihren Fenstern, keiner sprach, sie stierten stumm.
Aber mich ergriff es nicht mit. Statt dessen packte mich ein Wille: zu helfen; eine Begier: sie lächeln zu machen, vergessen zu lassen. Und im selben Augenblick wußte ich, wie. Ich wollte ihnen meine Kunststücke zeigen …
Ich rief sie an, die Kinder. Schon der helle Ruf genügte, sie aus ihrer Lethargie zu wecken. Ich kam wie das Leben über sie.
„Soll ich mit euch spielen, Kinder? Euch was vormachen? Theater? Kino?“
Viele waren noch nie im Kino gewesen. Aber ich schon ein paarmal. Mit Stefan. Mit Henny und Mark. In der Münzstraße allein, wo ich für den Besitzer oft Filmrollen von einem ins andere Kino getragen hatte. Denn ich habe nicht alles aufgezählt, was ich in diesen Jahren getan habe. Es gibt kaum etwas, was ein Junge tun kann, was ich nicht probiert habe. Ich bin mit einem Mann, der auf einem Wagen Blumenerde herumfuhr, gezogen und habe die Eimer mit Erde in die Etagen hinaufgetragen, in die man uns rief. Das war schwere Arbeit. Ich habe in den Gärtnereien von Pankow Unkraut gejätet und Zettel verteilt: „Privatmittagstisch. Wiener Küche. Vier Gänge. Preiswerter und nahrhafter als in jedem Restaurant. Auch Pension.“ Ich habe auf dem Rummelplatz in der Stromstraße ein Karussell gedreht statt des Pferdes, das war auch hart. Und ich habe in den Kriegslazaretten geholfen, den Pflegern, die mir etwas dafür gaben, die ekligen Töpfe und Gefäße zu säubern.
Ich hätte es nie nötig gehabt, ich hätte immer von Falks das bekommen, was ich brauchte. Aber ich wollte nicht.
Und auch jetzt, Lehrling in der Buchhaltung der Papierfabrik, suchte ich feierabends einen Verdienst und fand allerlei. Aber ich hatte nicht viel Zeit. Ich besuchte eine Fachschule, ich lernte Handelsgeographie, Stenographie, Schreibmaschine, Spanisch, da ich Französisch und Englisch ziemlich gut konnte. Ich hatte mir sieben Stunden fürs Bett bestimmt, und die schlief ich immer gut und fest, ohne Träume. Ich mußte nur aufhören, an Mutter zu denken, in deren Sterbebett ich lag …
Als ich nun die Kinder anrief, verwandelte sich ihr Dösen in Begeisterung. Alle riefen mir zu. Und da begann ich.
Erst kam ein Offizier, wie er im Krieg gekommen war, schneidig, Weltbesitzer, gotterhaben. Da tauchte ein Rekrut auf, und er grüßte ungenügend. Schon spielte ich ein Duett, ich war Leutnant, ich war Müller III. Ich war ein Junge, der dasteht und zuschaut, den Finger im Mund. Dann war ich die Harfenjule, ich wankte in den Hof und spielte und himmelte zu den Fenstern hinauf. Dann kam ich betrunken, ein alter Säufer, ein Schwein von einem Mann. Ich war seine Frau, die ihn empfängt, keifend und ängstlich zugleich. Ich war das Kind, das sich hinter ihr versteckt.
Alle verstanden mich. Sie fürchteten sich, sie lachten auf, sie schrien Huh!
Ich hatte gar kein Requisit, nur mein Gesicht und den mageren Körper …
Ich hatte vor nichts Respekt. Meinem Ehrgeiz war nichts heilig. Jetzt war ich ein Kriegsblinder, nicht einmal mit Hund. Jetzt war ich ein Beinloser, ein Schütteler. Ich war – o heiliges Gedächtnis! – eine Waschfrau am Trog, und ich starb, wie jedes Kind in diesem Hof schon hatte sterben sehen: der Vater im Delirium, die Mutter am Krebs, die Schwester an Tuberkulose. Ich spielte die Straßendirne, wie sie Männer lockt, und ich spielte den Zuhälter, der um die Ecke späht. Ich war der Schutzmann und der Schaukastendieb.
Es riß mich hin. Ich war ebenso tief im Spiel, wie mein Publikum im Schauen. In den Fenstern belebten sich die leblosen Menschen, sie klatschten und riefen. In was für Feuer kam ich. Ideen schossen in mir auf, kaum zu halten. Ganze Szenen entrollten sich in meiner Vorstellung, Blitz auf Blitz, Dramen des Einzelnen, Monologe in stummem Vorgang.
Ich besprach mich, in einer unfreiwilligen Pause, mit dem Tischler im Kellerfenster, der mir verzückt zusah. Ich bekam von ihm einen Sack mit Sägespänen.
Und nun spielte ich eine kleine komische Tragödie. Es war ein im Fluge gekommener Gedanke, ein zufälliger Einfall. Ich spielte vor einem Parkett von verhungerten Proletarierkindern, unter einer Galerie verkommener Frauen, trinkender Männer, kranker Mütter die Geschichte von dem armen Jungen, dem alles mißglückt. Es ist schon geradezu komisch, daß ihm und wie ihm alles mißglückt. Er gewinnt die Welt und sie zerrinnt ihm unter den Händen.
Ich war also jetzt ein armer Bursche und bettelte in der Mühle. Und siehe da: der gute Müller schenkt mir einen Sack Mehl. Aber da ist ein Boshafter, und er schneidet ein Loch in den Sack. Denn – so erläuterte ich es meinem hingegeben lauschenden Publikum – denn der arme Junge liebt dasselbe Mädchen wie der Müllerbursche, und sie will ihn heiraten, wenn er Brot hat. Also hintertreibt es der Müllerbursch.
Ich schultere meinen Sack und ziehe los. Ein weiter Weg … Ich trage schwer, er ist kaum fortzubringen, ich breche fast zusammen, der Schweiß läuft mir hinab. Ich bete zum Gott der Liebenden, ich denke an mein Mädel – Und siehe da: die Last wird leichter. Leicht und leichter wird sie, ich recke mich schon unter ihr, ich trage mich stolz, wie Flügel ist der Sack an meiner Schulter … Ach, ich ahne nicht, daß aus dem Loch das Mehl hin und hin sickert, daß der Sack sich mählich leert, daß die Last mir leicht wird, weil sie gar keine mehr ist, der beschwingende Flügel an der glücklichen Schulter ist ein leerer Sack … Aber da bin ich bei ihr, der so heiß Geliebten, ich knie vor ihr hin, ich bete sie an und breite Sack, Mehl, Brot, meine Liebe, unsere Zukunft vor ihr aus: da lacht sie! Sie lacht mich aus, ich begreife nicht, sie weist auf den Sack, ich stürze über ihn – Kein Mehl, kein Brot, keine Zukunft, keine Hütte. Und während sie lacht und mit dem Müllerburschen fortgeht, sitze ich auf dem Sack und weine … Und alle, die mir zusehen, sehen meine Tränen, sie fließen wirklich. Und Frauen in den Fenstern, die eben noch über mich lachten, weinen mit mir, kleine Mädchen, die vor Vergnügen über meine dumme Ahnungslosigkeit und Einfalt eben noch kreischten, schluchzen mit mir. Auf einmal ist mein Kummer aller Kummer: wir sind ums Glück, ums Brot, ums Leben betrogen …
Aber wie? soll ein Mensch sich unterkriegen lassen? muß Gutgläubigkeit nicht allen Enttäuschungen trotzen?
Ich richte mich auf, ich gebe es nicht auf, ich breche auf ins Goldgräberland … Zu Fuß. Es ist ein unendlicher Weg, ich laufe mir die Schuhe durch und muß barfuß weiterwandern, die Sonne brennt mir die Jacke in Fetzen, sie fällt mir wie Plunder ab, die Hosen fasern aus, zuletzt lauf ich wie in Badehöschen durch Wälder, Flüsse, Wüsten und komme endlich, endlich, während mir ein Bart gewachsen ist und die Haare auf die Schultern hängen, ins Goldgräberland. Aber da wollen sie keinen Zuwachs, raus mit dem Neuen. Und ein riesiger Kerl nimmt mich vor. Ich bin vor ihm wie die Maus vor dem Elefant, ein Tritt – und sie ist nie gewesen – – das tut er nun. Er hebt Faust und Fuß, und ich klappe zusammen, er haut mich nieder, stampft mich ein, in die Erde, so tief es geht. Es geht nicht weiter, grade noch mein Schopf steht wie ein Büschel Gras über dem Feld. Und wie ich mich aus meinem Loch angstvoll recke und schaue, bin ich mutterseelenallein auf dem verlassenen ausgeschöpften Goldgräberfeld …
Ich krieche hervor, ein furchtsamer Wurm, zerschlagen und zertreten – da! was hat mich in der Erde aufgehalten, was ließ nicht zu, daß ich tiefer gestampft war? ein Stein hat mich aufgehalten, ein Stein? ein Klumpen Gold! … Er glänzt herauf, und ich wühle, ich grabe ihn aus, ich wälze ihn ans Licht, einen ungeheuren Klumpen Gold, dafür kann ich die Welt kaufen! … O gesegneter Tritt! o gesegnetes Leid! Es bringt verborgene Schätze ans Licht. Jetzt kann ich den Müllerburschen ausstechen, ich kann die Geliebte gewinnen. Brot? Wein und Fasan kann ich ihr bieten! Eine Hütte? Ein Schloß mit Park und Diener kann ich ihr schenken. Und schon sehe ich das alles, das Glück ohne Ende. Und ich setze mich auf meinen Goldklumpen und muß wieder weinen …
Aber wie ihn heimschaffen? Wenn man ihn bei mir entdeckt? Ich bin so klein und schwach …
Herrlicher Gedanke! Ich binde ihn mir auf den Buckel, ziehe eine Jacke darüber, die ich in den verlassenen Goldgräberhütten fand, und kehre als vorläufiger Buckliger zurück …
Ich schlage ein paar Splitter vom Gold, um nicht Not zu leiden bis nach Haus, und trete den seligen Heimweg an. Heim als Millionär! …
Wie schwer ist Gold, wie schwer trägt sich das Glück! wie hart ist die Welt! Meine Schultern werden wund, aber ich trenne mich Tag und Nacht nicht von meinem Gold.
Endlich komme ich in ein Wirtshaus, ich trinke, ich esse, ich bezahle mit Goldsplittern, und da werden die Männer an den Tischen aufmerksam auf den Krüppel. Man lädt mich zu einer Runde, einer schlägt mir kameradschaftlich auf den riesigen Buckel – siehe da: er merkt den Braten … Er wechselt Zeichen mit den andern. Man gibt mir stärkeren Schnaps zu trinken, ich werde ahnungslos lustig, ausgelassen, ich erzähle ihnen von meinem Mädchen, ich tanze, ich bin betrunken, ich falle unter den Tisch.
Und da, während ich im tiefen Rausch liege, sehen sie nach, finden das Gold, binden es mir ab, binden mir einen Feldstein auf, setzen mich in den Straßengraben, und da erwache ich morgens, ich begreife nichts, ich habe den ganzen Abend, die Zecherei vergessen, ich fühle nur nach meinem Gold – Ah, es ist da. Und ich raffe mich auf. O, ich bin wie zerschlagen, ich taumele, das Gold scheint mir noch schwerer geworden zu sein …
Diesmal ist es nicht wie mit dem Sack Mehl, diesmal komme ich nicht betrogen und leer bei ihr an …
Ich erreiche das Städtchen, ich lasse mich beim Coiffeur schön machen, ich suche die Geliebte. O, sie hat den Müllerburschen schon geheiratet und lebt in der Windmühle. Ich erspähe sie, o, wie sie über meinen Buckel erschrickt und lacht, da rufe ich ihr zum Fenster hinauf: „Gold – –“
Das ist mächtiger als Liebe, Pflicht, Treue, Ehre. Sie verläßt den Mann, das Baby, sie kommt angelaufen, nimmt meine Hand. Nein, kein Kuß! es ist noch keine Zeit! Weit, weit weg! Durch den sicheren Wald, zur Bahnstation, dann in die schöne Welt. Ach, sie kann es nicht erwarten, sie betastet meinen goldnen Buckel, umarmt ihn, ihn küßt sie! Ich trage die Welt für sie auf meinem blutenden Rücken. Wirklich, siehe da, er blutet, es tropft, mein Blut, es färbt meine Jacke. Sie nimmt sich nicht Zeit, es zu trocknen, aber sie will Zeit haben, das Gold zu sehen. Und da ziehe ich die Jacke aus, drehe mich um, zeige ihr das Gold – – –
Und sie schreit auf, sie tritt mich in den Rücken, sie speit mich an, sie flucht. Ich falle, der Klumpen Gold rollt mir über den Kopf, er rollt in den Graben, ich halte ihn auf – ein Stein! gemeiner Stein! …
Und sie läuft schon zurück – in die Mühle – sie dreht sich um und droht, sie schimpft, sie wünscht mir die Hölle an den Hals – –
O Stein! ich sitze auf ihm, der mich betrogen hat. Ach, es ist nichts mit dem Glück. Ich bin verdammt. Nein, jetzt weine ich nicht mehr, ich sehe in den Abgrund meines Lebens …
Dies spiele ich meinem ersten Publikum vor. Ich habe kaum ein Requisit, keine Partner. Aber ich greife den und die heraus, sage, wie sie sich stellen sollen, und sie gehen schnell darauf ein, natürlich und unverbildet, wie sie sind. Alle erfassen es sofort. Noch die Kleinsten verstehen mein Gehaben, mein Wandern und Watscheln, mein Leid und Glück.
Ich könnte so unendlich weiterspielen! Ach, hätte ich doch nur Requisiten! Die Einfälle jagen sich, Bilder in meiner Vorstellung überstürzen sich. Aber es ist ganz dämmerig geworden und kühl. Der Wind hat unsern engen Hof ausgelüftet, alle haben ihren Hunger vergessen, haben vergessen, daß morgen wieder ein Tag ist. O verfluchtes Leben! Sie werden jetzt, um kein Licht zu zünden, auf ihre Strohsäcke gehen, noch immer über mich lachend, diesen tollen Clown, von mir redend werden sie einschlafen. Aber Hunger wird sie wecken, Kinder werden schreien, und man wird den Säuglingen ein Stück alte Brotrinde ins Mäulchen stecken oder den leeren Gummischnuller.
„Det war schnafte, Junge!“ rufen sie mir jetzt zu. „Klasse, Theodor! – Der hat Einfälle wie ’n ollet Haus! – Det is ’n Köppken! Morjen wieder, Teddy! – Viel Dank ooch, Könich! – Hätt wer jedacht, dat so wat in den steckt?“
Und Mark schreit vom Fenster herunter: „Mensch, Bruder, jeliebter Affe, einfach jroßartig! Mußt zu ’n Theater!“
Der Hof hatte sich gefüllt. Die Schlafleute waren gekommen. Gebummelt hatten sie gestern Sonnabend, morgen früh ging es an die Arbeit, also heut früh in die Klappe. Und Schlafmutter und Schlafvater winkten ihnen zu und fingen schon an zu erzählen, was sie da versäumt hätten.
„Det sollt ick man jewußt habn“, riefen sie. „Det hätt ick mechten sehn!“
„Jawohl, Fritze, Backobst hättste jestaunt!“
Ein Alter rief:
„Ja, wat denn nu? Amesiert hat er uns, un kriejen kriejt er nischt?“
Alle wurden verlegen. Betretenes Schweigen. Aber ich lachte. Ich rief in ihrer Sprache:
„Nee, da liecht ma janischt dran! So war ’t nich jemeint! Det Vajniejen kost nischt.“
Eine Frau sagte:
„Un wenn de ihn dreiste wat anbietst, der nimmt et nich.“
„Stimmt, Frau Knurrhahn“, rief ich und trat ins Haus.
Ein junger schwindsüchtiger Bursch im Dunkel flüsterte:
„Teddy, det war sehr wat Scheenes. Dank dir scheen. Da licht wat drin!“
„Ja, aber nu geh schlafen, Paule.“
„Kann heut nich. Ick hab keen Platz ze liejen. Mutta hat’n Herrn bei sich.“
„Komm zu mir, Paule. Zu essen jibt s ooch wat.“
Mark war ein guter Junge. Er nahm Paul in sein Bett, ich sollte ungestört schlafen. Frau Nina hatte mir ein Päckchen mitgegeben, Schmalz, Speck, Schwarzbrot, Äpfel. Wir feierten zu dreien etwas wie ein kleines Fest.
Warum war ich bloß so glücklich? …
Die beiden Jungen schliefen schon, das ganze Haus schlief dem Montag zu, aber ich war erfüllt von Lust und Weh. Ich bog mich aus dem Fenster nach der silbernen Mondsichel, die am kalten Himmel hing. Ich vergaß alles, was gewesen, bis auf Mutter –
Ich fühlte sie so nah bei mir, ich verlangte danach, sie zu berühren, zu ihr zu sprechen, zu sagen:
„Dank, Mutter, Dank. Ich bin dein Kind. Und was ich einmal leisten mag: du schaffst es in mir.“
Ich trat an ihr Bett, in dem ich jetzt schlief. Ich legte mich schlafen, immer wie zu ihr in den Sarg, in die Erde … Und ich ging ins siebzehnte Jahr.