10

Die Wunde Thüringen

Heldburg, 16. April 2021. Es ist ein trüber und kalter Nachmittag in Südthüringen. Der Mann, der bis November 2018 als Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz amtierte, sitzt am Steuer eines kleinen Mietwagens. Vorsichtig bugsiert er den Seat durch ein enges Tor in den Innenhof der Veste Heldburg. Die Burg gehörte einst den Ernestinern. Herzog Georg II. von Sachsen-Meiningen, der vorletzte seiner Art, war ein kunstsinniger Mann. Er förderte das Hoftheater, unterstützte Maler und Komponisten und heiratete in dritter Ehe eine Schauspielerin, die er zur Freifrau von Heldburg erhob.

Von den Türmen der Veste, die auf einem steilen Berg errichtet wurde, bietet sich ein weiter Blick über den Thüringer Wald, die Rhön und den Frankenwald – und damit über den Bundestagswahlkreis 196. Obwohl dieser eine größere Fläche als das Saarland umfasst, leben hier gerade einmal 280 000 Menschen. 230 000 davon sind stimmberechtigt. Von ihnen will sich Hans-Georg Maaßen, gebürtiger Mönchengladbacher, wohnhafter Berliner, Volljurist und Ex‑Skandalpräsident, in rund fünf Monaten für die CDU in den Bundestag wählen lassen.1 Zu diesem Zwecke hat der 58‑Jährige seinen grauen Anzug, den er üblicherweise trägt, gegen eine beige Hose und ein zünftiges, grün schimmerndes Wams eingetauscht. Komplettiert wird die Bewerberuniform mit einem schwarzen Mantel und einem rot-grau gestreiften Schal. Ansonsten aber sitzt sein Erkennungszeichen, die Nickelbrille, wie immer fest auf der Nase.

Eigentlich ist die Burg mitsamt dem Museum geschlossen. So gebietet es der Paragraf 25 der »Thüringer Verordnung zur Eindämmung des Coronavirus«. Aber praktischerweise ist Christopher Other nicht nur der CDU-Vorsitzende hier im Landkreis, sondern auch der Bürgermeister von Heldburg. Er gibt Maaßen an diesem Tag kurzerhand eine Privatführung. »Ja, so stelle ich mir eine deutsche Burg vor!«, ruft der designierte Kandidat aus, als er eine Wendeltreppe emporsteigt. Other und Maaßen kennen sich gut. Maaßen war hier schon im Wahlkampf 2019 zu Gast und warb damals für die Wahl eines CDU-Ministerpräsidenten mithilfe der Höcke-Partei.

Jetzt aber will er Bundestagskandidat werden. Da die AfD für ihn inzwischen zur direkten Konkurrenz geworden ist, redet er plötzlich anders. Es dürfe keine Zusammenarbeit mit ihr geben, wiederholt er bei nahezu jedem Auftritt. Auf der Heldburg sagt Maaßen: »Ich hoffe, dass wir hier mit mir als Kandidaten viele, viele Wähler von der AfD zurückgewinnen.« Mit »Rückgrat, Geradlinigkeit und einem klaren Kompass« werde es wieder aufwärtsgehen. Dass die Thüringer CDU in den Umfragen nur bei 19 Prozent liege, sei schon »eine schwere Enttäuschung«. Der letzte Satz richtet sich gegen die Führung der Landespartei, die sich ähnlich wie das Adenauer-Haus so gar nicht über den Möchtegernbewerber freut. Christian Hirte, der nach der Entlassung als Ost-Beauftragter prompt zum CDU-Landeschef gewählt wurde, hatte vergeblich versucht, die südthüringischen Kreisverbände von der Unterstützung Maaßens abzubringen.

Doch Lokalfunktionäre trauen Maaßen zu, den Wahlkreis für die CDU zu retten. Gegen den bisherigen Abgeordneten Mark Hauptmann ermittelt die Staatsanwaltschaft, weil er an der Vermittlung von Maskengeschäften üppig verdient haben soll. Inzwischen ist er aus der Partei ausgetreten. Damit ist der Wahlkreis vakant, derweil die SPD mit dem einstigen Biathlon-Olympiasieger Frank Ullrich einen bekannten und populären Konkurrenten aufgestellt hat. Aber auch die AfD, die vielerorts schon die stärkste lokale Kraft ist, darf nicht unterschätzt werden.

Die Rechnung der Lokalfunktionäre geht so: Maaßen soll Ullrich und die AfD besiegen und dann im Bundestag möglichst viele Fördergelder nach Südthüringen bugsieren. Die dafür nötige Demut hat der schon drauf. »Ich möchte in Berlin der Botschafter für Südthüringen sein«, sagt er im Hof der Veste Heldburg. Und er wolle eine Zweitwohnung im Wahlkreis beziehen. »Ich brauche diese Bodenhaftung.« Nebenbei kann er natürlich auch noch seine andere Mission verfolgen. Mit einem Bundestagsmandat will er effizienter dazu beitragen, dass, wie er meint, endlich »der Kommunist Ramelow mit seinen linken Ministern durch eine demokratische Regierung ersetzt wird«.2

Denn für Maaßen ist das, was ein Jahr zuvor im Erfurter Landtag geschehen ist, »ein Putsch«.3 Gemäß seiner Interpretation der Ereignisse war es Angela Merkel, die mit ihrer Forderung, eine demokratische Wahl rückgängig zu machen, »dem Kommunisten Ramelow« zurück ins Amt verhalf. Kemmerich sei damit der »letzte demokratisch gewählte Ministerpräsident«. Was er bewusst ignoriert: Wie das angebliche Putschopfer wurde auch Ramelow im dritten Wahlgang mit einer einfachen Mehrheit in geheimer Abstimmung gewählt. Er ist ebenso legitimiert wie Kemmerich. Und er hat sogar eine Regierung ernannt.

Dennoch ist die Stimmung in der Minderheitsregierung mies. Die Regierungskrise hatte die Partner, die sich zuvor gerne stritten, nur kurzzeitig zusammengeschweißt. Nun brechen die alten Gräben wieder auf. In der SPD drängt es Innenminister Maier zum Parteivorsitz. Er ist Anfang 50, will Ministerpräsident werden und greift deshalb Ramelow auch öffentlich an. Die Grünen leisten sich trotz ihrer minimalen Größe inzwischen mindestens drei Lager: Dass sich der bisherige Fraktionschef Dirk Adams selbst zum Justiz- und Migrationsminister machte, hat sowohl Umweltministerin Anja Siegesmund als auch die neue Fraktionsvorsitzende Astrid Rothe-Beinlich irritiert. Gleichzeitig sind die beiden Frauen seit Jahrzehnten verfeindet.

Die einzige Koalitionspartei, die zumindest nach außen geschlossen wirkt, ist die Linke. Sie wird von Hennig-Wellsow straff geführt. Doch das ändert wenig an der Fragilität des Koalitionskonstrukts, das in der Hauptsache vom allgegenwärtigen Benjamin Hoff zusammengehalten wird. Der Minister leitet nicht nur die Staatskanzlei und ist für Bundesrat, Europa und Kulturpolitik verantwortlich, sondern führt zeitweise noch das Infrastrukturressort. Auch hält er engen Kontakt zum neuen CDU-Fraktionschef, der eine völlig zerrüttete Partei wieder aufrichten soll. Ähnlich wie Hoff ist Voigt mittlerweile Professor an einer Berliner Hochschule. Nebenbei hat er eine Ein-Mann-Politikberatungsfirma gegründet. Hauptkunde ist ausgerechnet die eigene Partei: Im Bundestagswahlkampf 2017 hat er sogar die digitale Kampagne der CDU geleitet, im EU‑Wahlkampf 2019 die Europäische Volkspartei beraten. Immer irgendwie dabei war eine Jenaer Digitalagentur, die einer seiner früheren Mitarbeiter gegründet hatte. Auch sie wurde von Voigt beraten.

Das Beratungsgeschäft sollte dem Abgeordneten wohl einst als Vorsorge dienen, falls Mohring dauerhaft Erfolg haben und ihn aus der Politik verdrängen sollte. Doch nun haben sich die Verhältnisse umgedreht: Voigt ist Fraktionschef – und sein Vorgänger, immerhin noch Abgeordneter und Mitglied im CDU-Bundesvorstand, wartet auf seine Revanche.

Einfach im Parlament bleiben und schauen, wann sich die nächste Chance ergibt: Das ist auch die Strategie von Thomas Kemmerich. Und warum auch nicht? Die Landtagsfraktion hat ihn wieder zum Vorsitzenden gewählt. Er sehe sich, sagt er, »als Führungsfigur der Mitte«.4 Dass er in der Bundespartei fast vollständig isoliert ist, ignoriert er.

Damit sind fast alle Beteiligten durch die Krise beschädigt: die Koalition, die CDU und natürlich Kemmerich. Sogar in der AfD-Fraktion ist die Euphorie verflogen. Nach dem Rausch des Abstimmungscoups folgt nun die Ernüchterung. Die Umfragelage der Partei stagniert genauso wie ihre Stimmung.

Die vier Wochen im Winter 2020 haben das Land verändert – und die Republik gleich mit. Für Jürgen Habermas hat der »Schock von Erfurt«5 das strategische Dilemma der Union offenbart. Die Gleichsetzung der AfD mit der Linke, schreibt er, habe die »Farce einer Beziehungsfalle« erzeugt: »Wie sollte Mike Mohring dem linken Minderheitenkabinett in den Sattel helfen, ohne sich durch Verletzung der geforderten ›Äquidistanz‹ die Hände schmutzig zu machen?« Am Ende habe sich Kramp-Karrenbauer, die nach dem Desaster in Erfurt ihren Rückzug vom Parteivorsitz ankündigte, »mit ihrem gebetsmühlenartig wiederholten, aber angesichts der Person von Bodo Ramelow, des biederen christlichen Gewerkschafters aus Hessen, völlig unrealistischen ›Weder-noch‹ ihr eigenes Grab geschaufelt«.

Doch dass Karrieren beendet wurden und Parteibeschlüsse mit der Wirklichkeit kollidierten, ist nur der kleinere Teil der Kollateralschäden. Fataler ist der Verlust von Vertrauen: zwischen den politisch Handelnden genauso wie zwischen den Regierten und Regierenden – und in das Funktionieren parlamentarischer Demokratie. Das, was am 5. Februar und in den Tagen danach geschah, hat dem Verfassungsakt der Regierungsbildung in Thüringen seine Würde geraubt. Dass eine extreme Partei ein ganzes Parlament austrickste, dass ein liberaler Politiker seine Wahl durch diese Partei annahm und dass eine Bundeskanzlerin für die Stabilität ihrer Regierung ihre im Grundgesetz fixierten Amtspflichten beugte: All das wirkt nach und nährt Ressentiments und Verschwörungsthesen.

Wie bei einem schweren Unfall beginnen nach dem Schock die wirklichen Schmerzen. Diese sind hier umso größer, da es schon zuvor Verletzungen gab, die nie ausheilten. Jetzt zeigt sich endgültig, dass die Demokratie in Thüringen aus der Geschichte des Landes heraus besonders verwundbar ist.

Auch den alten und neuen Ministerpräsidenten haben die Ereignisse mitgenommen. Einen langen Monat befand sich Ramelow im persönlichen Ausnahmezustand. Seine Dünnhäutigkeit, seine Sprunghaftigkeit, seine cholerischen Ausfälle zeigten sich stärker als zuvor. Zudem hat nun bereits die nächste Großkrise begonnen: die Corona-Pandemie.

Mitte März 2020 sitzt ein sichtlich erschütterter Ramelow in der Staatskanzlei vor eilig herbeitelefonierten Journalisten. Sein Gesicht wirkt ebenso grau wie in jenem Moment, als er das Ergebnis des dritten Wahlgangs erfuhr. Zuerst erzählt er davon, welche Todesangst die Familie seiner Frau in Norditalien gerade durchlebe. Dann berichtet er, was er wenige Stunden zuvor beim Krisentreffen mit den anderen Ministerpräsidenten und Wissenschaftlern im Bundeskanzleramt hörte – und rechnet die Prognose der Virologen auf Thüringen herunter: Binnen zwei Jahren, sagt er, könnten 60 000 Menschen schwer an Corona erkranken. Danach kündigt er die ersten Maßnahmen an. In den Krankenhäusern werden Operationen ausgesetzt, zusätzliche Intensivbetten aufgestellt und Sauerstoffgeräte angeschafft. Auch sollen ab sofort größere Veranstaltungen unterbleiben.

Und das ist nur der Anfang. Im Wochenrhythmus werden zusätzliche Schutzmaßnahmen verordnet, die mit Einschränkungen von Grundfreiheiten einhergehen. Bald gelten auch weitgehende Kontaktbeschränkungen und nächtliche Ausgangssperren. Schließlich beginnt der erste Lockdown.

Die überall in Deutschland zu beobachtende Überforderung wird in Thüringen durch die politische Situation noch verstärkt. Die Landesregierung findet nach der einmonatigen Zwangspause nur mühsam wieder Tritt. Rangeleien um Zuständigkeiten häufen sich, auch weil mit der Wiederwahl Ramelows de facto der Landtagswahlkampf begonnen hat. Die historisch gewachsene Kleinteiligkeit des Landes wirkt sich erkennbar negativ aus: Um eine Bevölkerung von gut zwei Millionen Menschen zu schützen, kämpfen 22 kleine und zumeist mangelhaft ausgestattete Gesundheitsämter gegen das Virus. Vielerorts fehlen sogar die Amtsärzte.

Der Ministerpräsident spürt, wie ihm das alles »zu viel wird«.6 Sein altes Ekzem bricht auf – und natürlich muss er der Öffentlichkeit davon berichten. »Diese Dauerbelastung geht mir im Wortsinne unter die Haut«, sagt er. Umso erleichterter schwenkt er um, als die erste Infektionswelle Thüringen nur halb erwischt. Zwar behauptet er nicht wie Höcke, dass Corona »vorbei« sei und »nicht wiederkommen«7 werde. Aber auch er nährt Hoffnungen auf ein dauerhaftes Ende der Einschränkungen. Nebenbei verliert er sein wichtigstes Korrektiv: Der Blumenstrauß-Wurf nach der Kemmerich-Wahl hatte die linke Landes- und Fraktionschefin weit über Thüringen hinaus bekannt gemacht. Nun nutzt Hennig-Wellsow das Momentum, um sich mit Janine Wissler für die neue Doppelspitze der Bundespartei zu bewerben.

Die CDU-Fraktion unter Voigt versucht im Landtag den Spagat zwischen der von ihm angekündigten »konstruktiven Opposition« und der notwendigen Profilierung vor der geplanten Neuwahl. Also stimmt die Fraktion auf der einen Seite den Hilfspaketen für die Wirtschaft und schließlich auch dem Landeshaushalt für 2021 zu. Auf der anderen Seite skandalisiert Voigt jeden tatsächlichen oder vermeintlichen Fehler der Regierung. Er schichtet das Fraktionsbudget um, um die Presseabteilung auszubauen. Auch die Jenaer Digitalagentur seines Bekannten erhält einen Großauftrag.

Kemmerich, der gerade noch im Zentrum eines der größten politischen Skandale in der Geschichte der Bundesrepublik stand, schaltet ungerührt auf Angriff um. Im April 2020 nimmt er in Gera an einer der ersten größeren Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen teil und lässt sich dort als »einziger legitimer Ministerpräsident« begrüßen. Dass während der Veranstaltung weder Maske getragen noch der Mindestabstand eingehalten wird, stört Kemmerich genauso wenig wie der Umstand, dass AfD-Politiker und Rechtsextremisten mitmarschieren.

In Berlin reagiert Lindner alarmiert auf die neuen Eskapaden in Thüringen. »Ich habe dafür kein Verständnis«, schreibt er per Twitter. Die Chefin der Jungen Liberalen, Ria Schröder, erklärt: »Wer bewusst Hygienemaßnahmen missachtet und sich mit Rechtsextremen einreiht, der ist nicht Mitte, sondern gefährdet uns alle.«8 Kemmerich entschuldigt sich teilweise. Doch Einsicht ist das nicht. Nur wenige Monate später fasst er die Ereignisse vom 5. Februar so zusammen: »Nicht die Annahme der Wahl war der Fehler, sondern der Umgang der anderen demokratischen Parteien mit der Situation.«9

Jetzt greift Lindner durch. »Das FDP-Präsidium distanziert sich geschlossen von den aktuellen Äußerungen«, erklärt Generalsekretär Volker Wissing. Es werde »keinerlei finanzielle, logistische oder organisatorische Unterstützung für einen Wahlkampf eines Spitzenkandidaten Thomas Kemmerich durch den Bundesverband geben«.10 Und dabei wird es bleiben.

Im Herbst 2020 kommt Corona zurück. Doch Ramelow will es nicht wahrhaben. Aus »grundsätzlichen Erwägungen« werde er neuen pauschalen Einschränkungen nicht zustimmen, sagt er. »Wir reden hier von massiven Eingriffen in die Grundrechte.«11 Für ihn gelte: »Keine Panik bitte!« Die Behörden müssten lokal beschränkte Maßnahmen treffen. Im Übrigen sei die Ministerpräsidentenkonferenz keine »Kanzlerinkonferenz«.

Dann plötzlich ist alles anders. Merkel hat in der Staatskanzlei angerufen – und Ramelow ändert während der Videokonferenz der Ministerpräsidenten abrupt seine Haltung. Auf einmal sind für ihn die Infektionszahlen in Thüringen derart hoch, dass der Lockdown unvermeidlich ist. Um die Wendung zumindest symbolisch zu legitimieren, erklärt Ramelow, dass er dafür auf einer Sondersitzung des Landtags die Zustimmung der Abgeordneten einholen werde. Der Plan ist derart spontan, dass nicht einmal Zeit bleibt, die eigene Fraktion zu informieren.

Die Demütigung arbeitet in Ramelow. Nur kurz nach der Schalte mit der Kanzlerin behauptet er: Das Reden über »Corona-Tote« sei »einfach falsch«.12 Die offenkundige Relativierung der Gefahr hat nicht bloß damit zu tun, dass Ramelow ein notorischer Rechthaber ist. Er ist auch ein Instinktpolitiker und spürt, dass die Stimmung kippt. Bisher lag die Zustimmung für die Maskenpflicht bei 83 Prozent,13 die Zufriedenheit mit der Regierung war hoch. Doch der zweite Corona-Winter kostet zusätzliches Vertrauen. Der neue Lockdown zieht sich, ständig wechseln sich neue Maßnahmen ab, die Kakofonie der Debatten wirkt betäubend. Gleichzeitig wird Thüringen nun besonders hart getroffen. Zehntausende Menschen stecken sich mit dem Virus an, Landkreise wie Hildburghausen oder Greiz führen die nationale Infektionstabelle an. Die Intensivstationen und ganze Krankenhäuser gelangen an ihr Limit, Patienten müssen in andere Länder ausgeflogen werden.

Hinzu kommt: Die Impfquote bleibt im Ländervergleich niedrig. Nur in Sachsen und Brandenburg ist die Ablehnung noch größer.14 Dabei stehen – nach Sachsen – die meisten Verstorbenen pro 100 000 Einwohner mit dem Corona-Virus in Verbindung.15 Die Meinungen von Befürwortern und Gegnern der Corona-Maßnahmen verhärten sich. Die Haltungen zu den Schutzmaßnahmen spalten Familien, Freundeskreise, Arbeitskollegen und Nachbarschaften. Die Umfragewerte der Thüringer Regierungsparteien geben nach. Die CDU schwächelt nach wie vor. Der einzige Krisengewinnler ist wieder die AfD. Schließlich einigen sich die Minderheitskoalition und die Union, die Neuwahl um einige Monate zu verschieben. Als Grund wird mit großer Einigkeit die Pandemie angegeben. Nun soll erst am 26. September 2021 gemeinsam mit dem Bundestag gewählt werden. Ganz sicher.

Was bisher nur in der CDU-Fraktion bekannt ist: Auch dieses Datum ist keineswegs sicher. Vier Abgeordnete wollen überhaupt keine Neuwahl mehr. Ihnen geht es um ihre Mandate und Einkommen, aber auch um die Partei insgesamt. Angesichts der Umfragen, sagen sie intern, drohe die CDU-Fraktion halbiert zu werden.

Natürlich richtet sich der Widerstand auch gegen Voigt. Alle vier Abgeordneten gehören zum Umfeld Mohrings. Der gestürzte Vorsitzende hat gleich zwei Motive, die Neuwahl zu verhindern. Zum einen will er seinen Nachfolger scheitern sehen. Zum anderen benötigt er sein Landtagsmandat als Absicherung für den Fall, dass sein neuester Karriereplan nicht funktioniert: Mohring hat in seiner Heimatregion den langjährigen CDU-Bundestagsabgeordneten erfolgreich ausmanövriert und sich selbst als Direktkandidat für Berlin nominieren lassen. Und da er nicht parallel in Bund und Land kandidieren kann, steht ihm die Neuwahl im Weg.

Voigt und Hirte müssen Mohring ebenso gewähren lassen wie Hans-Georg Maaßen. Sie besitzen schlicht nicht die Autorität, dagegen vorzugehen. Aber auch der neue CDU-Vorsitzende Armin Laschet belässt es gegenüber Maaßen, der sich als Rächer der Ostdeutschen inszeniert, bei einigen kritischen Bemerkungen.

Im Mai 2021 machen die vier CDU-Renegaten ihren Widerstand öffentlich. Die nötige Zweidrittel-Mehrheit ist damit akut bedroht. Mindestens 60 der 90 Abgeordneten müssten für die Selbstauflösung des Parlaments stimmen. Zu den 42 Stimmen von Linke, SPD und Grünen müssten also mindestens 18 CDU-Stimmen kommen. Jetzt sind es nur noch 17, und die FDP hat bereits erklärt, sich durch den Pakt nicht gebunden zu fühlen.

Aber noch hält das Notbündnis. »Das Land braucht Neuwahlen«, sagt Voigt. »Wir stehen zu unserem Wort«, erklären die Koalitionsfraktionen in einer gemeinsamen Mitteilung und reichen den Antrag zur Auflösung des Landtags ein. Die linke Parlamentspräsidentin setzt die entscheidende Sitzung für den 19. Juli 2021 an. Ab dann liefe die 70‑Tage-Frist, die genau mit der Bundestagswahl Ende September enden würde. Doch noch fehlt eine Stimme für die Zweidrittel-Mehrheit – und auf AfD-Stimmen will die Koalition nicht angewiesen sein. Zwar argumentiert Staatskanzleichef Hoff, dass es durchaus einen Unterschied mache, ob ein Ministerpräsident gewählt oder ein Landtag aufgelöst werde. Aber er dringt damit nicht durch. Es weiß ja niemand, wie die AfD abstimmen würde. Höcke taktiert wieder einmal. Er kennt die Umfragen, die besagen, dass eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung die Neuwahl will. Käme sie nicht, würde dies die Wut auf die Regierenden noch mehr steigern. Und Wut ist ein Elixier der AfD.

Auch Kemmerich, der bei der Ankündigung im Februar 2020 als Erster die Neuwahl vorgeschlagen hatte, spielt jetzt auf Zeit. Er will nicht riskieren, dass die FDP an der 5‑Prozent-Hürde scheitert – und er will wieder als Spitzenkandidat antreten. Doch dagegen steht das Veto der Bundespartei. Darüber hinaus hat Kemmerich noch ein Problem: Die FDP-Abgeordnete Ute Bergner erwägt seit Monaten den Austritt. Aus Protest gegen die Corona-Schutzmaßnahmen hatte sie den Verein »Bürger für Thüringen« gegründet, aus dem sich inzwischen eine Kleinpartei entwickelt hat. Mit ihr will die Abgeordnete zur Neuwahl antreten. Die Situation nimmt die Konstellation um Sahra Wagenknecht und die Linke im Bundestag vorweg. Träte Bergner aus der FDP aus, verlöre die Partei ihren Fraktionsstatus im Landtag. Ihre Ansage an Kemmerich ist deutlich: Stimmt die FDP nicht für die Neuwahl, geht sie sofort.

Doch Kemmerich, der gerade für zwei Jahre im Amt des Landesparteichefs bestätigte wurde, ist sein persönlicher Verbleib im Landtag offenkundig wichtiger. Er verkündet, dass sich die FDP bei der Abstimmung enthalten werde.

Prompt verlässt Bergner die Partei und erklärt, für die Auflösung des Landtags zu stimmen. Sie sei die 60. Stimme, die Zweidrittel-Mehrheit stehe. Doch nun teilen plötzlich zwei Linke-Abgeordnete mit, dass sie eine gemeinsame Abstimmung mit einer »Corona-Leugnerin« nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren könnten. Die Koalitionsfraktionen versammeln sich mit Ramelow zur Krisensitzung. Danach erklärten Linke und Grüne, dass der Antrag auf Selbstauflösung des Parlaments zurückgezogen werde. Nur die SPD beharrt noch auf der Neuwahl. Die CDU, die das Debakel ausgelöst hat, beschuldigt Rot-Rot-Grün, die Vereinbarung gebrochen zu haben – und lässt den Stabilitätspakt auslaufen. »Mit der parlamentarischen Sommerpause endet jegliche Zusammenarbeit«, sagt Voigt.16 Die einzige Minderheitsregierung der Republik hat fortan keinen Partner mehr.

Die ausgefallene Neuwahl ist mehr als ein gebrochenes Versprechen: Sie ist für viele Menschen die Bestätigung ihres Gefühls, dass hier Demokratie versagt. Ihnen war das eilig zusammengebastelte Konstrukt nach der Wahl Kemmerichs mit der Ansage verkauft worden, dass es nur zeitweiligen Bestand haben werde. Danach sollten sie, das Volk, als wahrer Souverän die Regierungsmacht neu legitimieren. Stattdessen bekamen sie erneut ein Schauspiel voller Selbstsucht, Intrigen und eklatanter Führungsschwäche vorgeführt. Die einzige Partei, die dabei gezwungenermaßen außen vor blieb, ist die AfD. Wenn Höcke sagt, dass »Rot-Rot-Grün und CDU den Wählern ›dreist ins Gesicht gelogen‹, das Land ›zum Gespött der Republik‹ gemacht hätten, dann lässt sich, die übliche Polemik einmal abgezogen, kaum widersprechen.

Am 26. September 2021 wird der Bundestag ohne den Landtag gewählt. Höckes AfD hat als einziger Landesverband zugelegt und steht nun in Thüringen mit 24 Prozent auf Platz 1 der Zweitstimmen. Sie ist auch Sieger in den Wahlkreisen und hat fünf der acht Direktmandate gewonnen.

Aber auch die Landes-SPD feiert. Sie kann ihr 2017er Ergebnis auf 23,4 Prozent fast verdoppeln. Was auch bundesweit eine Nachricht ist: Der Neu-Sozialdemokrat Ullrich hat Maaßen klar geschlagen. Auch Mohring scheitert, er kommt nur auf Platz 3 hinter SPD und AfD – und bleibt damit Voigt im Landtag erhalten. Die Linke sinkt auf 11,4 Prozent ab und verfehlt im Bund die 5‑Prozent-Hürde. Nur weil sie drei Direktmandate in Berlin und Leipzig gewinnt, gelangt sie noch einmal gerade so in den Bundestag.

Die FDP hingegen steigert ihr Ergebnis von 7,1 auf 9 Prozent, und dies, obwohl ihre Fraktion nach dem Austritt Bergners gerade öffentlich implodiert ist. Kemmerich wirkt wie Teflon: Nichts scheint ihm etwas anhaben zu können. Er führt jetzt eine Parlamentarische Gruppe, mit weniger Rechten, Mitarbeitern und Zuschüssen – aber umso größerem Selbstbewusstsein.

Wie widersprüchlich die Thüringer Politik ist, zeigt auch die AfD. Nur Wochen nach ihrem Wahlsieg wird ein Abgeordneter nach streng geheim gehaltenen Querelen aus der Fraktion ausgeschlossen. Danach tritt eine Abgeordnete, ihres Zeichens Unternehmerin, aus der AfD aus, weil sie Höckes Politik des »solidarischen Patriotismus« als unternehmerfeindlich empfindet. Im März 2022 folgt der nächste Abgang. Im Ergebnis besitzt die AfD nur noch 19 Mandate. Die CDU rutscht dadurch auf Platz 2 nach vorn. Voigt darf sich nun Oppositionsführer nennen.

Dies alles zeigt, dass die AfD innerlich längst nicht so gefestigt ist, wie sie vorgibt. In der Fraktion mischen sich Amateure mit machtbewussten Karrieristen und ideologischen Überzeugungstätern. Jenseits des Flüchtlingsthemas und der demagogischen Phrasen sind kaum konsistente Inhalte zu erkennen. Der Partei reicht ihre schiere Anwesenheit zur Destruktion. Sie will das sogenannte System Stück für Stück destabilisieren. Irgendwann wird es schon einstürzen.

Dazu passt, dass die AfD ein konstruktives Misstrauensvotum gegen Ramelow beantragt und damit die CDU vorführt. Sie echot und verstärkt die Diktatur-Rufe der Corona-Demonstranten. Und sie wartet geduldig auf die nächste Gelegenheit, Mehrheiten zu bilden. Diese Gelegenheiten ergeben sich. So beschließt die Höcke-Fraktion gemeinsam mit der CDU einen Antrag gegen das Gendern in der öffentlichen Verwaltung. Ein FDP-Gesetzentwurf zu den Regeln von Spielhallen findet nur dank CDU und AfD eine Mehrheit. Schließlich wird ein CDU-Gesetzentwurf, der einen größeren Mindestabstand von Windrädern zu Wohngebieten vorschreibt, im zuständigen Ausschuss mit den Stimmen von AfD und FDP beschlossen. Erst nach Protesten von Bundespolitikern und einem Anruf von Merz in Erfurt kommt es nach einem Krisentreffen von Voigt mit Ramelow zu einem Formelkompromiss.

Gelegentlich verhilft die AfD sogar der Linke-geführten Minderheitskoalition zur Mehrheit. Als es etwa darum geht, per Kommunalordnung die Ausschusssitzungen von Stadträten oder Kreistagen öffentlich zu machen, stimmt Rot-Rot-Grün mit der Höcke-Fraktion dafür. Die FDP enthält sich. Zwar verweist Ramelow darauf, dass nicht alle CDU-Abgeordneten an der Abstimmung teilgenommen haben, weshalb die Mehrheit auch so zustande kam. Dennoch muss sich Rot-Rot-Grün vorwerfen lassen, die AfD-Stimmen billigend in Kauf genommen zu haben.

In den Kommunen ist Grenzziehung noch komplizierter. In Gera wird ein AfD-Politiker mutmaßlich mithilfe der CDU zum Chef des Stadtrats gewählt. Im Hildburghäuser Stadtrat initiieren drei Sozialdemokraten mit AfD, Ex‑Christdemokraten und dem Feuerwehr-Verein ein Abwahlverfahren gegen den Linke-Bürgermeister. Und im Kreistag des Weimarer Landes überstimmen Linke, SPD und Grüne gemeinsam mit Freien Wählern und AfD die Fraktionen von CDU und FDP.17

Auch im Landtag ist die Schamfrist endgültig vorbei. Das gilt insbesondere für Kemmerich. »Wir brauchen politisch gute Ideen aus der Mitte«, sagt er. »Und wenn die dann eine Mehrheit finden, trotz oder mit der AfD, dann ist die Mehrheit halt da.«18 Dass die Parteispitze in Berlin das anders sieht, scheint ihm nach wie vor egal zu sein. Die CDU hingegen schwankt. Im Gegensatz zur FDP kann sie sich nicht vollends der Kooperation mit Rot-Rot-Grün verweigern. Auch nach dem Auslaufen des Stabilitätspakt muss sie mindestens dafür sorgen, dass das Land einen Haushalt bekommt. Denn ohne Etat gäbe es keine neuen Investitionen und keine verlässlichen Zuschüsse – und die CDU hätte Kommunen, Unternehmen und Verbände gegen sich. Also fordert sie drastische Kürzungen und gleichzeitig zusätzliche Ausgaben für Kommunen, Feuerwehr oder Krankenhäuser. Nach hartem Streit wird der Landeshaushalt mit gut einmonatiger Verspätung Anfang Februar 2022 verabschiedet.

Nur drei Wochen später herrscht Krieg. Am 24. Februar 2022 überfällt Russland die Ukraine. Binnen eines Jahres reisen 30 000 Flüchtlinge aus dem Land nach Thüringen ein. Rasch bringen sie die Landkreise und Städte an ihr Limit, zumal sie ab Sommer Hartz IV erhalten, das jetzt Bürgergeld heißt. Die Inflation steigt in Thüringen auf mehr als 8 Prozent und liegt damit noch über dem Bundesdurchschnitt. Die Löhne halten allein schon deshalb nicht mit, weil die allermeisten Unternehmen im Land nicht tarifgebunden sind.

Dennoch gibt es deutlich mehr Hilfsbereitschaft als gegenüber anderen Flüchtlingen. Gleichzeitig wirkt gerade bei den Älteren die DDR-Zeit nach. Sie setzen Russland mit der früheren Sowjetunion gleich; für sie ist die Ukraine kein souveräner Staat, weshalb auch die Moskauer Propaganda, dass es die Nato-Expansion war, die einen Präventivkrieg gegen die Neonazis in Kiew erzwang, zunehmend verfängt. Auch die Weltfriedensrhetorik, mit der die DDR-Führung einst die Militarisierung des Alltags überdeckte, hat Nachwirkungen.

Die AfD muss die alten Reflexe nur abrufen. Sie gebärdet sich als »Friedenspartei« und verbündet sich mit rechtsextremen Vereinen wie den »Freien Thüringern«, die ihre Corona-Demonstrationen schrittweise zu Pro-Russland-Märschen umgestalten. Damit mobilisiert Höcke nicht nur Anhänger, sondern trifft die Linke ins ideologische Mark. Denn Ramelow, der einst im Bonner Hofgarten gegen die Aufrüstung demonstrierte, sieht sich nun als Ministerpräsident in der Situation, die deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine zu verteidigen.

In der Partei bleibt er damit in der klaren Minderheit. Auf dem Bundesparteitag, der im Juni 2022 in Erfurt stattfindet, wird nur ein Formelkompromiss gefunden. Die Delegierten verurteilen den »verbrecherischen Angriffskrieg Russlands«, fordern den Rückzug aller russischen Truppen und »erkennen das Recht des ukrainischen Volkes auf Selbstverteidigung« an.19 Waffenlieferungen werden trotzdem abgelehnt.

In Erfurt wird Martin Schirdewan zum neuen Parteichef an der Seite von Janine Wissler gewählt. Hennig-Wellsow hatte wenige Wochen zuvor ihren Rücktritt verkündet. Die Verluste bei der Bundestagswahl, Aussetzer in Live-Interviews und die Attacken aus dem Wagenknecht-Lager haben sie zermürbt. Vor allem aber ist sie mit ihrem Ziel, das Erfurter Modell nach Berlin zu exportieren und eine reformierte Partei in die Bundesregierung zu führen, komplett aufgelaufen. Ihr persönliches Scheitern steht damit auch exemplarisch für das Thüringer Modell.

Doch Ramelow kann nicht einfach hinschmeißen. Zwar könnte eine verlorene Vertrauensfrage im Landtag auch zur Neuwahl führen – aber nur dann, wenn nicht binnen drei Wochen ein Nachfolger gewählt ist. Und niemand weiß, ob die AfD den Weg freimacht oder doch wieder Höcke aufstellt, um eine Ministerpräsidentenwahl zu erzwingen, womit sich die Situation vom Winter 2020 wiederholen würde.

Die Minderheitskoalition quält sich derweil durch die Inflations- und Energiekrise. Nur unter Mühen gelingt es Rot-Rot-Grün, sich mit der CDU auf mehrere Hilfspakete zu einigen. Parallel dazu verstärkt sich der Eindruck der parlamentarischen Dysfunktionalität. Die frühere FDP-Abgeordnete Bergner und die drei Ex‑AfD-Abgeordneten bilden eine Parlamentarische Gruppe, nur, um sich wenige Monate später im Streit aufzulösen. Und in der CDU beginnt der nächste Machtkampf.

So erklärt Mohring, dass er für den Vorsitz der Landespartei bereitstünde. Er weiß um die Unzufriedenheit an der Basis mit Landeschef Hirte, der als Bundestagsabgeordneter zumeist in Berlin ist. Also sieht sich Voigt genötigt, selbst den Landesvorsitz zu übernehmen, womit Mohring sein Mindestziel erreicht hat: Sein Konkurrent müsste eine Niederlage bei den Landtagswahlen im Herbst 2024 allein verantworten. Und für diesen Moment steht Mohring bereit. Es wäre seine ultimative Revanche.

Doch das Thüringer Politdrama hält schon den nächsten Cliffhanger bereit: 24 Stunden vor dem Parteitag am 17.  September 2022, auf dem sich Voigt zum Parteichef wählen lassen will, wird seine parlamentarische Immunität aufgehoben. Die Staatsanwaltschaft Erfurt beschuldigt ihn, seine Beratungstätigkeiten für die Europäische Volkspartei und die Jenaer Digitalagentur vermischt zu haben. Die Kurzversion der Vorwürfe: Er habe als »Head of Digital Campaign« im EU‑Wahlkampf 2019 mit dafür gesorgt, dass die Thüringer Firma von der EVP einen Auftrag erhielt. Gleichzeitig habe er von der Agentur Geld erhalten, was den Anfangsverdacht der Bestechlichkeit im geschäftlichen Verkehr rechtfertige.

Voigt beteuert seine Unschuld und die Delegierten auf dem Parteitag müssen ihm glauben. Außer dem verhinderten Bundestagsabgeordneten Mohring gibt es keine sichtbare Alternative – und so wird Voigt mit 85 Prozent zum Landesvorsitzenden gewählt. Die neue Nummer 1 der Thüringer CDU muss sich fortan parallel mit Ermittlern und Minderheitskoalition auseinandersetzen. Während die Polizei seine Wohnungen durchsucht, versucht er in den Verhandlungen zum Landeshaushalt 2023 eine neue Strategie. Nachdem er Rot-Rot-Grün Dutzende Änderungen abgerungen hat, stimmt seine Fraktion dem Etat nicht zu, sondern enthält sich geschlossen. Damit ist der Haushalt verabschiedet, ohne dass die Union dafür Verantwortung übernimmt.

Doch nicht nur die CDU bleibt angeschlagen. Auch die rot-rot-grüne Koalition weiß nicht mehr so recht, warum es sie gibt. »Man muss sich ganz grundsätzlich von der Vorstellung verabschieden, Koalitionen seien Gemeinschaftsprojekte, bei denen es darum geht, gemeinsam wahrgenommen zu werden«, sagt SPD-Finanzministerin Heike Taubert.20

Die grüne Umweltministerin Siegesmund entscheidet sich vorsorglich zum Ausstieg. Kurz vor Weihnachten 2022 kündigt sie ihren Rücktritt an. Sie wolle eine Auszeit zu nehmen, sagt sie. Auf Nachfrage versichert Siegesmund immer wieder: Nein, es gebe keine konkreten Anschlusspläne. Sie wisse noch nicht, was sie machen werde. Partei und die Fraktion sind konsterniert, eine Nachfolgelösung existiert nicht.21 Nach Dauerkrisengesprächen über die Feiertage ruft sich Landeschef Bernhard Stengele selbst zum Nachfolger für Siegesmund aus. Gleichzeitig verkündet er einen Wechsel im Migrationsressort: Dirk Adams wird von Doreen Denstädt ersetzt. Der Minister wehrt sich öffentlich und muss deshalb von Ramelow entlassen werden.

Das Kabinettsmanöver folgt der grünen Quotenlogik, ist aber in seiner Kälte bemerkenswert. Zudem ist das Risiko groß: Die politischen Erfahrungen des früheren Schauspieldirektors und Quereinsteigers Stengele beschränken sich auf seine Zeit als Landesvorsitzender. Und die Polizeibeamtin Denstädt arbeitete zuletzt als Sachbearbeiterin im Innenministerium.

Was den Vorgang noch verheerender für die Grünen macht: Siegesmund hatte bei ihrer Rücktrittsankündigung gelogen. Entgegen ihren Beteuerungen, keine konkreten Pläne zu haben, lag ihr ein Angebot des Bundesverbands der Deutschen Entsorgungs-, Wasser- und Kreislaufwirtschaft (BDE) vor. Schon bald will sie sich zur geschäftsführenden Präsidentin wählen lassen und das Amt zum 1. Oktober 2023 antreten. Nur wegen des Lobbypostens, dessen Entlohnung ihr Ministergehalt deutlich übersteigt, trat sie derartig überstürzt zurück.

Und es gibt noch ein zusätzliches Problem: Ihr geplanter Wechsel in die Wirtschaft kollidiert mit dem Ministergesetz, das für frühere Regierungsmitglieder, die in einem ähnlichen Bereich wie bisher tätig sein wollen, eine Karenzzeit von bis zu zwei Jahren vorschreibt. Schließlich beschließt das Kabinett eine Kompromisslösung: Siegesmund muss 16 Monate warten, bevor sie wechselt.

Während die grünen Personalgeschichten für schlechte Nachrichten sorgen, wird bekannt, dass die Staatsanwaltschaft Erfurt gegen die Landesregierung wegen des Verdachts auf Untreue ermittelt. Formal richtet sich das Verfahren gegen unbekannt. Anlass sind zwei Prüfberichte des Landesrechnungshofs, in denen der Regierung vorgeworfen wird, Spitzenbeamte nach Parteizugehörigkeit und nicht nach Leistung eingestellt zu haben. »Die Verstöße waren systematisch und schwerwiegend«, heißt es. Voigt, über dem selbst ein Bestechungsskandal schwebt, wirkt beglückt. Seine Fraktion beantragt im Landtag einen Untersuchungsausschuss.

Vor dem Beschluss durch das Parlament fordert Rot-Rot-Grün allerdings, den Auftrag des Gremiums zu erweitern: Es soll auch die Einstellungspraxis früherer CDU-geführter Regierungen geprüft werden. Union und FDP sind dagegen, nur die AfD stimmt dafür. Sie hat ein verständliches Interesse daran, dass auch die alten CDU-Personalaffären aufgearbeitet werden. Wieder rechnen Linke, SPD und Grüne vergeblich vor, dass die AfD nicht die entscheidenden Stimmen lieferte. Dabei ist die Rechnung eindeutig genug: Hätte die AfD mit Nein gestimmt, wäre der Untersuchungsauftrag nicht im Sinne der Linkskoalition erweitert worden.

Der Vorgang zeigt erneut, dass auch die Regeln des sogenannten negativen Parlamentarismus, wie er in Ländern Skandinaviens üblich ist, in Thüringen nicht funktionieren. Im Ergebnis erfährt die AfD mit ihren nur noch 19 Abgeordneten eine bizarre Bedeutungserhöhung. Der Landtag ist hauptsächlich damit beschäftigt, um die extreme Partei herum zu manövrieren.

Darunter leidet die Gesetzgebung. Bis Juni 2023 werden 193 Gesetzentwürfe im Landtag behandelt. Das sind in etwa so viele wie im vergleichbaren Zeitraum der vorherigen Legislatur. Doch nur 54 Entwürfe stammen von der Landesregierung. Davor waren es 126. Der zentrale Grund: Da sich die die Beratungen im Landtag deutlich länger ziehen, bringen anstatt des Kabinetts die Koalitionsfraktionen die rot-rot-grünen Entwürfe ein. Das spart die Beratungen der Regierung einschließlich der ersten Anhörungsphase. Diese Praxis, so klagen Kommunen und Verbände, resultiere in weniger Transparenz und mehr handwerklichen Fehlern.

Im Bemühen, die AfD auszuschließen, wird die Arbeitsfähigkeit des Parlaments gemindert. Ein Beispiel dafür ist die Parlamentarische Kontrollkommission (PKK). Sie kontrolliert das Landesamt für Verfassungsschutz, das die Höcke-Landespartei frühzeitig als »erwiesen rechtsextremistische Bewegung« eingestuft hat und sie mit sämtlichen nachrichtendienstlichen Mitteln beobachtet. Ausgerechnet in dieser Kommission stehen der AfD zwei der fünf Sitze zu, was auch das Landesverfassungsgericht im Oktober 2020 auf Antrag der Fraktion bestätigt. Also nominiert die AfD im Monatsrhythmus Kandidaten, die keine Mehrheit erhielten, derweil die Kommission mit drei Mitgliedern aus der vorherigen Wahlperiode weiterarbeitet.

Nachdem nahezu drei Jahre vergeblich gewählt wurde, ändert Rot-Rot-Grün im Dezember 2022 mit Zustimmung der FDP und bei Enthaltung der CDU eine Novelle des Verfassungsschutz-Gesetzes, laut der die Fraktionen in der PKK nur noch »angemessen« vertreten sein müssen. Doch mit der Änderung ist nicht viel für die Koalition gewonnen: Die von ihr aufgestellten Kandidaten finden immer wieder nicht die nötige Mehrheit.

Die AfD nutzt dies, um ihren Opfermythos zu pflegen. Höcke hat längst gemerkt, dass ihm die Beobachtung durch den Verfassungsschutz nicht schadet. Eher schärft es sein Image als Führer des Widerstands. Dasselbe gilt für die Anklage wegen Volksverhetzung gegen ihn: Es bestätigt nur seine angebliche Verfolgung durch den Staat.

Auch sonst entwickeln sich die Dinge in seinem Sinne. Auf dem Europa-Parteitag der AfD im Frühjahr 2023 in Magdeburg werden vor allem Kandidaten gewählt, die sich dem früheren »Flügel« zurechnen lassen. Programmatisch setzt sich Höckes Linie mit wenigen Abstrichen durch: EU und Nato sollen überwunden werden. Zudem wirkt die AfD erstmals einigermaßen diszipliniert. Ihre inhaltlichen Leerstellen und Widersprüche kaschiert sie mit populistischen 10‑Punkte-Plänen und Propaganda-Kacheln im Internet.

Parallel zu dieser Professionalisierung treibt die Partei ihre Normalisierung voran: Zwar ist die jüngere Generation keineswegs weniger extrem als Höcke. Aber sie gibt sich geschmeidiger, verbindlicher, pragmatischer. Ein Musterbeispiel dafür ist sein Landesparteivize René Aust. Der frühere Sozialdemokrat wird in Magdeburg auf Platz 3 der EU‑Wahlliste gewählt. Dass auch er aus Westdeutschland stammt, folgt einem bekannten Muster. Bis auf Höckes Co‑Vorsitzenden Stefan Möller bleiben gebürtigen Ostdeutschen oft nur Hilfsjobs in der Partei.

Zu den einheimischen AfD-Abgeordneten, die in Erfurt kaum auffallen, gehört Robert Sesselmann aus Sonneberg. Er hatte sich 2018 in seinem Heimatlandkreis als Landrat beworben. Seine knapp 30 Prozent hatten allerdings nicht gereicht, um in die Stichwahl zu gelangen. Ein Jahr später zog er über die Landesliste in den Landtag ein.

Im Frühjahr 2023 versucht es Sesselmann nochmals als Landratskandidat in Sonneberg. Der parteilose Amtsinhaber ist erkrankt, weshalb vorzeitig ein Nachfolger zu wählen ist. Der Landkreis im südlichsten Zipfel Thüringen repräsentiert die Besonderheiten des Landes. Mit 56 000 Menschen handelt es sich um die zweitkleinste Verwaltungseinheit der Bundesrepublik. Die Einwohnerzahl ist seit 1990 um mehr als 15 000 gesunken.

Die Leute sprechen fränkisch, die Grenze zu Bayern ist nur wenige Kilometer entfernt. Viele pendeln ins Nachbarland, weshalb die Arbeitslosenquote hier schon immer niedriger war als im Durchschnitt. Dennoch blieben die Einkommen gering. 44 Prozent der Arbeitnehmer erhalten Mindestlohn,22 das ist Negativrekord für Thüringen. 17 Prozent arbeiten in energieintensiven Betrieben wie der Glasindustrie, die besonders unter den extrem gestiegenen Gas- und Energiepreisen leidet. Zudem ist die von hier hinter dem Thüringer Wald liegende Landeshauptstadt weit weg. Etwa 23 000 Menschen wohnen in Sonneberg, das einst ein Schloss mit eigener Herrschaft besaß, später aber an die Henneberger Grafen und die Wettiner fiel. Mit der Industrialisierung wurde die Stadt wegen seiner Spielwaren weltberühmt. Doch davon sind nur ein paar Kleinbetriebe und ein Museum geblieben.

Die Mehrzahl der Menschen im Landkreis lebt in den umliegenden Dörfern, zumeist in bescheidenen Eigenheimen. In diesen Orten gibt es kaum noch Läden, die meisten Sparkasse- und Postfilialen wurden vor Jahrzehnten geschlossen. Die Wege sind lang und bergig, die Bahnstrecken stillgelegt oder kaum befahren. Der nächste Lebensmittelladen lässt sich oft nur per Auto erreichen, die Arbeitsstellen sowieso. Immerhin, die Lebenshaltungskosten sind niedrig und die neue Autobahn 73 verbindet seit 2008 die Sonneberger mit der Welt. Dennoch misstrauen viele Menschen einer Obrigkeit, von der sie sich missachtet fühlen. Der geplante Zusammenschluss mit dem Nachbarkreis Hildburghausen wurde zweimal erfolgreich wegdemonstriert. Während der Pandemie war die Impfquote im Landkreis besonders niedrig – und die Ansteckungs- und Letalitätsrate besonders hoch.

Für die AfD ist Sesselmann der perfekte Kandidat. Der gebürtige Sonneberger ist 50, Rechtsanwalt, hat Kinder. Neben der Landespolitik ist er in Kreistag und Stadtrat aktiv. Er folgt Höcke loyal, doch vermeidet zu extreme Äußerungen. Das meiste, was er auf Facebook teilt, könnte auch von der »Werteunion« stammen. Sein wichtigster Konkurrent ist der amtierende CDU-Beigeordnete, der kaum anders klingt als die AfD: Berlin sei daran schuld, dass sich alles ständig ändere, teurer werde und nicht mehr so gut wie früher funktioniere. Der Feind steht links.

Damit befindet sich der lokale CDU-Kandidat im Einvernehmen mit seiner Partei. Der christlich-demokratische Kulturkampf gegen die sogenannte linke Identitätspolitik macht aus geschlechtergerechter Sprache »Gender-Gaga« und deutet Klimaschutz-Maßnahmen zum »Angriff auf den ländlichen Raum« um. Landeschef Voigt spricht im Zusammenhang mit dem Bundesgesetz-Entwurf, der den Austausch von Gas- und Öl‑Heizungen beschleunigen soll, sogar von »Energie-Stasi«.23 Ziel ist es, die AfD zu vereinnahmen und damit zu schwächen. Bundesvorsitzender Merz bezeichnet die CDU sogar offen als »Alternative für Deutschland, aber mit Substanz«.24

Doch in Sonneberg funktioniert diese Strategie nicht. Am 11. Juni 2023 geht etwa die Hälfte der Berechtigten zur Wahl – und votiert mit 46,7 Prozent für Sesselmann. Der CDU-Kandidat erhält 35,7 Prozent, der Rest der Stimmen verteilt sich auf SPD, Linke und Grüne. Ganz plötzlich wird von einigen wieder so getan, als stehe der Thüringer Wald kurz vor dem Faschismus. Die Klischees passen einfach zu gut: Es ist in Thüringen, es ist Höckes Landespartei – und ja, es ist sogar der alte Maaßen-Wahlkreis. Der nächste Dammbruch steht bevor, nur diesmal auf dem Dorf: In diesem Stil berichten einige der großen Medien, die eilig ihre Reporter in die Provinz schicken.

Der AfD kann es nur recht sein. Sie nutzt die überregionale Empörung zur lokalen Trotz-Mobilisierung. Die vorsichtigen Solidarisierungen der anderen Parteien mit dem CDU-Kandidaten diffamiert sie als »Altparteienkartell« und »Nationale Front«. Obwohl Sesselmann selbst nur rechten Medien Interviews gibt, erscheinen natürlich trotzdem überall Reportagen. Der Sozialwissenschaftler David Begrich resümiert: »Die Berichterstattung über den eigenen Sozialraum wird ganz schnell als Stigmatisierung wahrgenommen und bestätigte so nur die ohnehin vorhandenen Ressentiments gegen den Westen, die sich so umso leichter in Zustimmung für die AfD umleiten lassen.«25

Am 25. Juni findet die Stichwahl statt. Dutzende Journalisten und Fotografen beobachten in einem Sonneberger Biergarten, wie der eigens angereiste AfD-Vorsitzende Chrupalla seinen siegreichen Kandidaten umarmt. Die Partei und Sesselmann haben noch einmal 4000 Stimmen zusätzlich mobilisiert und 52,8 Prozent erreicht. »Was nutzen die Brandmauern?«, ruft Chrupalla. »Die Bürger stellen einen Ausreiseantrag zur AfD.«26 »Jetzt sind wir auf dem Weg zur Volkspartei«, sagt Sesselmann.27 »Wir können im nächsten Jahr Geschichte schreiben.« Auch Höcke ist da. Die AfD, ruft er, werde Ramelow im nächsten Jahr »in den politischen Ruhestand schicken«.

Obwohl gleichzeitig in Russland die Wagner-Söldnertruppen auf Moskau marschieren und ein Putsch gegen Putin möglich scheint, ist Sonneberg das nationale Thema Nummer eins. In den Stellungnahmen von Linke, SPD und Grünen mischt sich Entsetzen mit Hilflosigkeit, während die Union die Ampel für die Niederlage ihres eigenen Kandidaten verantwortlich macht. Merz erklärt, dass es fortan in der Bundesregierung nur noch einen »Hauptgegner« gebe – und dies seien die Grünen. Und Maaßen twittert: »Die Sonneberger haben die Sch … voll. Und nicht nur die.«

Während die AfD in Sonneberg feiert, steht der Ministerpräsident unweit seines Wochenend-Domizils an der Bleiloch-Talsperre. Er ist der ARD-Sendung »Berlin direkt« zugeschaltet, Jackett, offenes Hemd, sonnengebräunt – und liegt mit der CDU ziemlich auf einer Linie. »Die Sonneberger haben für sich entschieden, dass sie ein Signal an die ganze Republik senden wollen, dass ihnen viele Dinge einfach nicht gefallen«, sagt er. »Was dabei nicht gesehen wird, ist, dass Sonneberg einer unserer erfolgreichsten Landkreise ist.« Er sei eine »wirtschaftlich sehr starke und prosperierende Region«. Am Ende, so impliziert er, trügen die Medien Mitschuld. Immer wenn im Osten etwas Negatives geschehe, »dann wird über uns berichtet«.

Innenminister und SPD-Landeschef Maier sieht es gänzlich anders. »Das ist ein Alarmsignal«, sagt er. »Wenn wir daraus jetzt im Landtag keine Schlüsse ziehen, dann ist uns nicht mehr zu helfen.«28

Doch den einzigen erkennbaren Schluss zieht die CDU: Sie will endlich aus der AfD-Falle im Osten ausbrechen, koste es, was es wolle. Nachdem auch noch in der Sachsen-Anhalter Kleinstadt Raguhn-Jeßnitz der erste hauptamtliche AfD-Bürgermeister gewählt worden ist, erklärt Merz im ZDF: »Wenn dort ein Landrat, ein Bürgermeister gewählt wird, der der AfD angehört, ist es selbstverständlich, dass man dann nach Wegen sucht, wie man in dieser Stadt weiter gemeinsam arbeiten kann.« Der Abgrenzungsbeschluss seiner Partei zur AfD gelte nur für »gesetzgebende Körperschaften«, also für die Parlamente im Bund und den Ländern. »Kommunalpolitik ist etwas anderes als Landespolitik und Bundespolitik.«

Der CDU-Vorsitzende, der einst die Halbierung der AfD-Werte versprochen hatte, will offenkundig nicht mehr nach jeder Wahl in einem Landkreis oder einem Städtchen im Osten die lästige Abgrenzungsdebatte neu führen. Er will die kleine Brandmauer abräumen, um die große zu erhalten.

Doch Merz hat die Gegenreaktion in der eigenen Partei unterschätzt. Im liberalen CDU-Flügel kommt es zur Revolte, die gleichermaßen inhaltlich und taktisch getrieben ist. Parteivize Karin Prien sagt: »Die Beschlusslage ist klar, und ich kann mir für meine Partei nichts anderes vorstellen. Keine Zusammenarbeit mit Extremisten! Aber wir müssen eine Diskussion führen darüber, wie die CDU im Osten mit diesem Dilemma umgehen kann.«29 Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Kai Wegner, assistiert ihr: »Die AfD kennt nur Dagegen und Spaltung. Wo soll es da Zusammenarbeit geben?«30 Auch Hessens Ministerpräsident Boris Rhein, der selbst vor einer Landtagswahl steht, sagt: »Für die CDU Hessen gilt die Brandmauer, wir arbeiten mit denen nicht zusammen.«31

Merz weicht zurück. »Um es noch einmal klarzustellen, und ich habe es nie anders gesagt: Die Beschlusslage der CDU gilt«, twittert er. »Es wird auch auf kommunaler Ebene keine Zusammenarbeit der CDU mit der AfD geben.«32 Dabei gibt es diese Zusammenarbeit natürlich längst. Sie findet nicht systematisch statt, aber die Beispiele häufen sich zusehends. Vor allem in kleinen Stadträten und Gemeinderäten sprechen die Christdemokraten und AfD-Mitglieder miteinander. Sie kennen sich aus der Schule, dem Kegelclub, der Kneipe oder sind Nachbarn. Neben dieser Nähe gibt es Überlegungen, die erst einmal pragmatisch klingen. Was sollen denn bitte die ehrenamtlichen Politiker machen, wenn die AfD etwas Sinnvolles fordert, die Sanierung eines Kindergartens etwa?

Der sozialdemokratische Kanzler gibt darauf eine Antwort, die sich gar nicht so sehr von Merz oder Voigt unterschiedet, und auch nicht von Kemmerich. »Wenn mehr Geld in den Kindergarten investiert werden soll, und die AfD einen entsprechenden Antrag stellt, dann müssen die anderen Parteien da nicht zustimmen, sondern können selbst einen solchen Antrag einbringen«, sagt Olaf Scholz,33 als er am Rande eines Auftritts in Erfurt dazu befragt wird. Aber wenn die Stimmen der AfD für die Mehrheit benötigt werden? »Das ist doch keine Zusammenarbeit.«

Auch Maaßen meldet sich. Seit Anfang 2023 führt er die »Werteunion«, kurz danach leitete der CDU-Bundesvorstand ein Parteiausschlussverfahren ein, das inzwischen in der ersten Instanz in Thüringen gescheitert ist. Maaßen ist weiter viel in Thüringen unterwegs und nährt Gerüchte, eine eigene Partei gründen zu wollen. Ende Juli verbreitet er per Twitter ein Foto der Erfurter Staatskanzlei, unter das er schreibt: »Wir werden alles dafür tun, dass es im nächsten Jahr in Thüringen eine antisozialistische Politikwende geben wird. Entweder mit oder ohne CDU34 Wenig später, es ist der 13. August, fordert er Voigt am »Jahrestag des Mauerbaus durch die SED/Die Linke« auf, »unverzüglich nach der Sommerpause« ein konstruktives Misstrauensvotum gegen den »Kommunisten Ramelow« zu beantragen, um »sich mit den Stimmen der Antisozialisten zum Ministerpräsidenten« wählen zu lassen.35

Der CDU-Landtagsfraktionschef indes arbeitet längst an seinem eigenen Befreiungsschlag. Nach der Sommerpause will Voigt einen Gesetzentwurf seiner Fraktion zur Senkung der Grunderwerbsteuer von 6,5 auf 5 Prozent im Landtag zur Abstimmung stellen. Für Familien, die Wohneigentum für den Eigenbedarf erwerben, ist ein Zusatzbonus geplant. Die Koalition, die einst die Steuer erhöhte, ist dagegen, weil es für das Land Einnahmeausfälle von etwa 45 Millionen Euro bedeutet. Gleichzeitig will vor allem die Linke der CDU diesen Prestigeerfolg nicht überlassen.

Voigt ist die Ablehnung recht. Er will einen eigenständigen und für alle sichtbaren Erfolg gegen Rot-Rot-Grün erzielen – und setzt offen auf die AfD. Die Höcke-Fraktion hatte bereits zweimal eigene Anträge auf die Senkung der Steuer im Landtag eingebracht und war damit gescheitert. Voigt braucht also mit niemandem in der AfD reden, um zu wissen, dass er von ihr Zustimmung erwarten darf.

Tatsächlich votieren CDU, AfD und FDP im Haushalts- und Finanzausschuss gemeinsam für die Beschlussempfehlung. Ramelow spricht von einem »Pakt mit dem Teufel«, während die Linke im Netz die Parole »Die CDU gibt’s den Reichen« verbreitet. Auch sie lässt es erkennbar auf den Eklat ankommen: Jenseits eines Familienbauprogramms, das aber erst mit dem neuen Landesetat besprochen werden soll, gibt es kein Verhandlungsangebot an die CDU. Ein letzter Vermittlungsversuch Maiers, der eine Steuersenkung auf 5,5 Prozent vorschlägt, scheitert an Voigt. Er will das jetzt durchzuziehen.

Am 14. September 2023 wird das Gesetz vom Landtag mit der Oppositionsmehrheit verabschiedet. Auffällig dabei: Damit die Abstimmung nicht nach hinten geschoben werden kann, hatten zuvor extra CDU und AfD einige eigene Anträge von der Tagesordnung genommen. Es dauert nur Minuten, bis die Empörungswelle durch die sozialen Medien in die Hauptnachrichtensendungen schwappt. Doch Voigt tritt selbstbewusst auf: Er hatte das Vorgehen mit der Bundesspitze abgestimmt. Nicht nur Merz, sondern auch Prien stellen sich hinter ihn. Nur der schleswig-holsteinische CDU-Regierungschef Daniel Günther erklärt, dass niemand mit AfD-Stimmen kalkulieren dürfe.

Für den Mainzer Geschichtsprofessor Andreas Rödder, der die Grundwertekommission leitet, markiert die Steuersenkung nur den Beginn einer Öffnung nach rechts. Aus seiner Sicht sei es »völlig in Ordnung«,36 wenn nach 2024 eine CDU-geführte Minderheitsregierung auf gelegentliche Mehrheiten mit der AfD baut. Nur eine Tolerierung überschreite die »rote Linie«. Doch Rödder ist vor seiner Zeit und muss binnen weniger Tage zurücktreten.

Wie im Winter 2020 dreht sich die Debatte auch im Sommer 2023 im bekannten Kreis, und dies teils mit den alten Beteiligten. »Wir müssen uns ehrlich machen«, sagt Mohring.37 »Wenn alles so bleibt, sehe ich nicht, wie aus der bürgerlichen Mitte heraus eine Mehrheitsregierung gebildet werden kann.« Die alten Koalitionsmodelle der Bonner Zeit seien überholt. Wenn es nicht anders gehe, müsse nach der Landtagswahl 2024 über ein »neuartiges Modell der Regierungsform« nachgedacht werden.

Im September 2023 wähnt sich die AfD in Thüringen vor ihrem nächsten Sieg. Diesmal steht in Nordhausen eine Stichwahl an – und ihr Kandidat ist Favorit. Der parteilose Oberbürgermeister Kai Buchmann hingegen wirkt chancenlos. Er hat sich mit der großen Mehrheit des Stadtrats verstritten, das Landratsamt hat ein Disziplinarverfahren gegen ihn eingeleitet. Das Ergebnis des ersten Wahlgangs war entsprechend eindeutig: Amtsinhaber Buchmann erhielt nur 23,7 Prozent, derweil AfD-Kandidat Jörg Prophet auf 42,1 Prozent kam.

Der 61‑jährige Unternehmer tritt bürgerlich auf, doch hatte er in den Jahren zuvor gegen »Scheineliten« und »Systemlinge« polemisiert und einen »Wandel vom Schuldkult zum Demokratiekult« gefordert.38 Sein Profilbild in einem sozialen Netzwerk zeigt ein Banner der rechtsextremen Identitären Bewegung am nahen Kyffhäuser-Denkmal, auf dem steht: »Noch nie ward Deutschland überwunden, wenn es einig war.« Der Satz stammt aus dem Aufruf des letzten deutschen Kaisers im Sommer 1914 zum Kampf gegen »eine Welt von Feinden«.

Nun, am Wochenende vor der Stichwahl, steht Bundeschef Chrupalla auf einer in Blau gehaltenen Bühne vor dem Rathaus und ruft: »Wir haben hier eine Oberbürgermeisterwahl, die wir nächste Woche gewinnen werden.« Auch Maximilian Krah, der EU‑Spitzenkandidat, ist gekommen. Er schreit: »Wer aus einer Stadtwahl wie Nordhausen eine deutschlandweite Richtungsentscheidung macht, der kriegt seine Richtungsentscheidung, und der kriegt sie so, wie er sie verdient.«

Dann vollzieht er Höckes »erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad« und erinnert daran, wie Nordhausen im April 1945 von britischen Bombern »im Feuerhagel vernichtet« worden sei: »Dieselben Leute, die euch verbieten wollen, dem zu gedenken, die auf die Gräber der damaligen Opfer spucken und meinen, dass die Frauen und Kinder, die hier verbrannt sind, irgendwie Kriminelle gewesen sind – nein, unsere Vorfahren waren keine Verbrecher –, das sind heute wieder diejenigen, die wieder den Krieg heraufbeschwören und die leichtfertig sogar mittlerweile mit dem Atomkrieg zündeln, weil sie anders als wir eben aus der Geschichte nicht gelernt haben, liebe Freunde.« Zum Konzentrationslager Mittelbau-Dora, in dem am Rande der Stadt etwa 20 000 Menschen starben, sagt Krah nichts.

Doch in den Tagen nach diesem Auftritt beginnt sich etwas in der Stadt zu bewegen. Die meisten anderen Parteien, die sich anfangs bedeckt hielten, geben zumindest indirekt eine Wahlempfehlung für Buchmann ab. Ein spontanes Bürgerbündnis macht auf allen Kanälen Werbung für den Oberbürgermeister. Als am 24. September die Stichwahl stattfindet, kann Buchmann mit knapp 55 Prozent das Ergebnis aus der ersten Runde mehr als verdoppeln. Obwohl Prophet etwa 1000 Stimmen zusätzlich mobilisiert und sein Ergebnis auf 45,1 Prozent steigert, hat die AfD verloren.

Die Überraschung ist groß, vor allem bei der AfD, die sofort Fälschungsgerüchte lanciert. Nicht einmal in Thüringen scheint ihr Siegeszug einem Naturgesetz zu folgen. »Es hilft eben nichts, zu einer Wahl wie in Nordhausen aktuell für einen Tag vorbeizukommen und zu schauen, was hier an komischen Dingen passiert«, sagt Matthias Hey, der Chef der SPD-Fraktion im Landtag.39 »Das, was wir hier in Thüringen und anderen Teilen Ostdeutschlands erleben, das ist doch nur die Ouvertüre für ganz Deutschland.«