Es passiert öfter, als mir lieb ist, dass ich Haltestellen übersehe und mich unterwegs sogar verfahre. Schon in der Verkehrsakademie war das Finden der richtigen Strecken ein wichtiger Punkt. Die neue Familie ist sehr zugeknöpft bei diesem Thema. Jede große Firma, jede Familie hat ein dunkles Geheimnis. Bei der BVG sind das die Streckenverläufe. Statt den Bussen eine Navigationshilfe oder sonstige Unterstützung zur Verfügung zu stellen, haben wir gelernt: In jedem Bus sitzt mindestens ein Fahrgast, der Bescheid weiß. Dieser Mensch ist schnell zu finden. Es sind meist ältere Männer, die nur zu gerne dem Fahrpersonal zur Seite stehen. Sogar die Kleidung wurde uns gut beschrieben: Sie tragen konventionelle Sachen und sehr gern kleine Hüte. Sie sitzen am liebsten im vorderen Teil des Busses. Sobald wir rätseln, wo es langgeht, sollen wir diesen besonderen Mann im Bus erkennen und höflich fragen. Er wird uns mit großer Freude sein ganzes Leben erzählen und uns dabei unfehlbar auf die richtigen Wege leiten.
Sollten wir uns mal unsicher sein, wer der richtige ältere Mann ist, vielleicht, weil er kein Hütchen trägt oder nur Frauen im Bus sitzen, sollen wir ohne Scham offen fragen, wer die Linie kennt und helfen möchte.
Grundsätzlich allerdings sind wir verpflichtet, uns dieses Wissen selbst anzueignen. Wir können zum Beispiel die Streckenverläufe aus dem Internet ausdrucken, wenn uns das hilft. Von allen Busfahrerinnen und Busfahrern wird erwartet, dass sie ein privates Abfahren der Linien nach Feierabend organisieren. Oft passiert es, dass ein Kollege kurzfristig auf einer Linie eingesetzt wird, die er nie zuvor gefahren ist. Der muss nun also flexibel genug sein, um zwischen seinen Diensten die freien Stunden zu finden, in denen er seine neue Strecke kennenlernt. Einmal von Anfang bis Ende bis Anfang mitgefahren und Simsalabim — schon weiß der gute Busfahrer (hoffentlich), wo es langgeht. Manche Kollegen fahren die Strecke mit dem Fahrrad ab, andere versuchen es mit dem eigenen Auto. Die meisten sitzen matt im Bus, machen sich Notizen und Hoffnungen.
Darüber wird nur hinter vorgehaltener Kaffeetasse geredet. Obwohl es jedem Busfahrer passiert, gibt es kaum einer offen zu. Im Gegenteil. Es herrscht die allgemeine Meinung, wer sich verfahre, sei einfach zu dumm für den Beruf. Des Kaisers neue Kleider tragen hier die Könige. Den Königinnen ist wenig peinlich und die Unerfahrenheit der Anfänge schon gleich gar nicht.
Wenn ich mit dem Doppeldecker falsch abbiege, kann ich nicht einfach eine Dreipunktwendung machen oder mir eine neue Strecke suchen. Der Bus ist schwer und hoch, mit einem riesigen Wendekreis, und darf viele Seitenstraßen nicht befahren. Die Leitzentrale weiß, welche Straßen breit genug sind und welche Brücken die passende Höhe haben.
Die erste winzige Abweichung geschieht ausgerechnet auf dem X9 vom Flughafen zum Bahnhof Zoo. Dieser Bus hat auf dem Weg zum Zoo eine etwas andere Streckenführung als in Richtung Flughafen, und obwohl ich meine Karteikarten mit den farbigen Wegbeschreibungen an jeder Haltestelle neu studiere, verwechsele ich das Hin mit dem Zurück und biege falsch ab. Der Bus ist übervoll mit Menschen, die aus dem Urlaub nach Hause wollen, deren Koffer groß und schwer sind. Außerdem regnet es. Trotz der einsetzenden Dämmerung wird mir der Fehler sofort unter die Nase gerieben. Der halbe Bus schreit laut auf, der ganze Bus ist jetzt wach, und insgesamt gibt es eine Menge Trara. Ich kann die Aufregung gut verstehen, denn nun haben wir die wichtigste Umsteigehaltestelle verpasst. Zum Glück ist der Bus so voll, dass niemand zu mir nach vorn rennen kann, um mich persönlich anzuschreien. Ich parke an der Haltestelle einer anderen Linie und mache eine Durchsage:
»Ich bitte Sie alle sehr um Entschuldigung, ich bin noch ganz neu und habe einen ärgerlichen Fehler gemacht.« Der halbe Bus stimmt lautstark zu, die anderen rätseln, worum es wohl geht. »Wer möchte, kann ausnahmsweise hier aussteigen und die paar Meter zurücklaufen. Allen anderen kann ich versprechen, an der nächsten U-Bahn-Station fahrplanmäßig zu halten. Oder Sie fahren bis zum Bahnhof Zoo mit und steigen dort um. Es tut mir wirklich leid, das können Sie mir glauben.«
Aus dem Geschrei wird Gemurmel, nur einzelne Beschimpfungen stören noch die sich beruhigende Stimmung. Ich öffne die Türen besonders fließend: »Seien Sie mir bitte nicht böse! Und Vorsicht beim Aussteigen.«
Viele klettern umständlich die Stufe hinunter und machen sich durch Regen und Dunkelheit auf den Weg zurück. Ich beobachte sie über die Seitenspiegel. Die Straßen sind ganz sonntagsleer und lassen die sich vor dem Regen und Wind duckenden Reisenden fast surreal erscheinen.
Dann fahre ich weiter. Eine Frau klettert über die Gepäckstücke zu mir:
»Machen Sie sich keine Sorgen, das kann nun wirklich jedem mal passieren.«
Ich nicke.
»Aber eins muss ich Ihnen doch noch sagen: So nah an der U- und S-Bahn, wie Sie gesagt haben, sind wir hier nicht.« Sie guckt so streng, wie es nur Lehrerinnen können.
Ich grinse schuldbewusst.
Später an der Endhaltestelle warten Holger, Sabrina und Maxi. Wir haben uns lange nicht gesehen, weil ich immer zu müde bin für alles außerhalb der neuen Arbeit. Umso größer ist die Freude! Sie haben Abendessen dabei, mit allem Drum und Dran. Wir fahren in Maxis Auto zu mir nach Hause. Während ich dusche und etwas Buntes anziehe, decken sie den Tisch auf dem Balkon, zünden Kerzen an und gießen Wein in kleine Wassergläser.
»Morgen habe ich frei!«, rufe ich durch die nassen Haare hindurch und ein einstimmiges »Hurra!« schallt mir entgegen. Natürlich erzähle ich sofort von meinem Missgeschick. Jetzt fällt die Anspannung ab, erst muss ich kichern, dann prustend lachen und zum Schluss heben wir alle die Zeigefinger fast genauso streng, wie es die Lehrerin im Bus gemacht hat.
»Du siehst fix und fertig aus«, wagt Holger mir später zu berichten. »Wir machen uns ein paar Sorgen um dich.«
»Ich sag euch, das ist so anstrengend. Immer bin ich hundertprozentig gefordert und nie kommt ein gutes Wort von den Kollegen oder dem Chef.«
»Aber du warst doch so begeistert von dem neuen Job?«, fragt Sabrina.
»Ja, das bin ich auch immer noch. Die Fahrgäste sind unbeschreiblich toll, selbst die Muffeligen sind liebenswert, das macht alles so viel Sinn und Spaß.«
»Aber?«, fragen Holger und Maxi gleichzeitig.
»Aber diese Arbeitszeiten, jeden Tag zu einer anderen Uhrzeit und die vielen Busse, jeden Tag mehrere Linien … Kaum sitze ich hinter dem Steuer, sieht die Welt ganz anders aus. Ich achte dann auf ganz andere Sachen, hab so viel zu tun, dass ich mit den Wegen durcheinanderkomme. Ihr glaubt ja nicht, wie anstrengend es ist, die Strecken nicht zu wissen.«
Oje, jetzt fange ich an zu weinen, gegen meinen Willen, daran ist bestimmt nur der Wein schuld.
»Sprich doch noch mal mit der Leitung. Die können dir bestimmt weniger Linien geben für den Anfang. Bis du dich sicherer fühlst.« Alle nicken tröstend.
»Hab ich doch schon, die sagen nur, da muss ich durch, das haben sie alle so machen müssen und ich muss es jetzt halt auch.« Holger gießt noch mehr Wein in unsere Gläser.
»Halte durch, es kann doch nur besser werden.«
»Noch besser?« Jetzt muss ich schon wieder grinsen.
»Die Arbeitskleidung steht dir auf jeden Fall super. Du siehst richtig schick aus!«
»Ich? Schick?«
»Schick und flott!«
»Ganz schön und intelligent!«
Wir albern noch lange herum, irgendwann schlafe ich an Sabrinas Schulter ein. Am nächsten Tag stehe ich gut ausgeschlafen vor dem Spiegel und nicke mir freundlich zu: »Das Leben ist immer ein Umweg!«
Heute fahre ich den M200. Durch die Streckenführung vom Bahnhof Zoo bis in den Prenzlauer Berg ist dieser Bus besonders bei Touristen sehr beliebt und dementsprechend sehr oft sehr voll. Diese Linie verläuft unter anderem geschickt hinter dem Brandenburger Tor vorbei, ohne dem Pariser Platz wirklich nahe zu kommen. Regelmäßig steigen Touristen an der Endstation aus und suchen verblüfft ihren Sehnsuchtsort. »Where is the Brandenburg Gate?«, fragen sie und schauen voller Vorfreude in alle Richtungen. Hier ist nur Platte und Parkplatz und viel Fahrdamm. Hinten liegen ein paar ausgemusterte Matratzen neben eingetrockneten Farbeimern. Berliner Idylle halt, aber von den üblichen Attraktionen sind wir weit entfernt. Wir nehmen sie dann wieder mit zurück. Mir fällt mein frisch gelerntes Englisch ein: »Come with me, I go there.«
Manche Kollegen, und auch ich, machen deswegen an der Wilhelmstraße eine Durchsage: »Wer zum Brandenburger Tor möchte, muss gleich aussteigen und dann dort hinten um die Ecke gehen.«
Dann schallen wie auf Knopfdruck aufgeregte Fragen: »Brandenburger Tor?«, in allen Sprachen durch den Bus. Manche zeigen hektisch auf das Deckblatt ihrer Reiseführer, auf denen das Brandenburger Tor abgebildet ist. Echte Berliner erkennt man an ihrem knappen: »Raus hier!«
Auf einer großen Kreuzung fahre ich den völlig überfüllten M200er langsam geradeaus und fühle mich so richtig wohl, mitten drin zu sein im bunten Durcheinander. Plötzlich zerreißt ein lauter Schrei die Gemütlichkeit: »Sie müssen doch rechts abbiegen!«
Verflixt! Ich halte sofort an, stehe weit auf der Kreuzung und sehe gleich: Die Kurve schaffe ich von hier aus nicht. So ein Doppeldecker braucht einen klar abgemessenen Raum für alle Manöver. Hier stehen mir zwei Reihen Gegenverkehr im Weg. Um noch die Kurve zu kriegen, müsste ich fliegen können. Was nun?
Großartig ist, wie die sofortige Neugier aus unzähligen Einzelnen ein gemeinsames Ganzes macht. Die Fahrgäste starren aus den Fenstern. Auf der Kreuzung bleiben die Fußgänger gebannt stehen, der PKW-Verkehr stockt, für einen Wimpernschlag steht die große Stadt hier still. Dann geschieht das Wunder. Die vielen Autofahrer verständigen sich untereinander durch winzige Handzeichen, Blinker und Blicke. Sie setzen Zentimeter für Zentimeter zurück. Ich habe Gänsehaut, so schön ist das. Die Stimmung ist fast fröhlich, diese unerwartete Unterbrechung des Alltäglichen tut scheinbar einfach nur gut. Niemand hupt böse, aber viele lachen, zeigen mit dem Finger auf mich, mit dem Daumen nach oben. Manche Beifahrer steigen aus und machen Fotos. Und immer weiter setzen sie ihre Wagen zurück, ganz vorsichtig, damit die hinter ihnen Wartenden verstehen, was geschieht. Ich setze den Bus Stückchen für Stückchen vor, die Räder scharf rechts eingeschlagen, brauche alle Spuren, bekomme alle Spuren, fühle mich beschenkt und erleichtert. Im Bus steigt die Stimmung parallel zu den Bewegungen der Räder. Aufgeregt kommentieren die Fahrgäste alles, was geschieht. Ich höre davon aber nur wenig, denn meine ganze Konzentration gilt dem Verkehr.
Schneller als gedacht ist es geschafft! Ich habe die Kurve gekriegt, bin auf meiner Linie, fahre auf der rechten Spur weiter. Die Aufregung legt sich, das Leben geht weiter, man ist schließlich in Berlin.
Die spontane Solidarität der Autofahrer arbeitet noch lange in mir. Warum konnte diese wortlose Verständigung unter so vielen Fremden so gut funktionieren? Was ist der Auslöser für die gemeinsame Unterstützung? Wie entstehen solche Momente des minutenkurzen Zusammenseins? Ich würde mich gerne lange und ausführlich mit anderen Busfahrern darüber unterhalten, Antworten finden, Theorien aufstellen. Doch der Beruf sieht kaum Begegnungen vor und bietet keine Räume für gemeinsame Diskussionen. Man trifft sich zwar zwischen zwei Buslinien auf einen Kaffee oder eine Zigarette, aber die Themen sind weit entfernt vom täglichen Sein. Die Kollegen bleiben zufällige Fremde, die zwar genau die gleichen Klamotten anhaben wie ich, in den kurzen Pausen aber weder Zeit noch Interesse an echten Gesprächen aufbringen. Die ständige Anspannung fordert ihren Tribut, außerdem sind die aktuellen Baustellenumfahrungen und Straßensperrungen einfach wichtiger für sie als alles andere.
Bei meiner nächsten Irrfahrt bin ich wieder mit einem Doppeldecker unterwegs. Die Endstation liegt weit draußen, Straßenbeleuchtung gibt es hier kaum. Die Gegend ist mir unbekannt, die Streckenführung ebenfalls, denn hier war ich erst ein einziges Mal am helllichten Tag mit Uschi, dem Lehrfahrer. Ich weiß nur, irgendwo ist eine Wendeschleife, und die habe ich im Handumdrehen verpasst. Vor mir liegt eine Bundesstraße, hinter mir im Bus ist gähnende Leere. Es gibt kein rechts oder links, ich muss der Straßenführung folgen und ausführlich fluchen. Die Leitzentrale ist meine Rettung. Nachdem ich ungefähr beschrieben habe, wo ich bin: »Ja also, hier ist so eine zweispurige Straße mit Mittelleitplanken, ohne Beleuchtung, links und rechts ist Wald, Mischwald, vermute ich, da stehen nämlich Laubbäume zwischen den Kiefern, sehr wenig Verkehr, keine Abzweigungen. In welche Richtung ich fahre? Moment, da muss ich nachdenken.« Schnell überblicke ich das Armaturenbrett, ob vielleicht irgendwo ein Kompass versteckt ist. »Keine Ahnung, welche Richtung. Von der Endhaltestelle ging es nur geradeaus weiter, es gab keine anderen Wege. Ich bin einfach nur geradeaus gefahren.«
Nachts allein im Doppeldecker durch den Wald fahren. Gleich mehrere Plots fallen mir ein für grässliche Gruselfilme: »Erst kam der Bus, dann kam der Tod« oder »Nur die Angst fährt mit« oder »Und die Geister fuhren schwarz«. Zu guter Letzt versuche ich mir Mut zuzusprechen und rufe den letzten Titel laut in die Leere der Nacht hinein: »Der Bus war ihr Schicksal!«
Die Leitzentrale erklärt mir den weiteren Weg. »Muss ich wirklich auf die Autobahn? Gibt es keinen anderen Weg?«
»Kollegin«, sie nennen meine Busnummer statt meines Namens, was alles nur noch unwirklicher macht, »Kollegin, es gibt keinen Grund, nicht auf die Autobahn zu fahren. In fünfhundert Metern fahren Sie Richtung Berlin. Wir melden uns wieder.«
Mir ist das Wort »Autobahn« nicht geheuer, denn in Berlin haben wir den Stadtring, und niemand sagt zum Stadtring Autobahn. Ich muss also noch weiter weg vom Streckenverlauf sein, als bisher befürchtet. Und wieso Richtung Berlin? Wo bin ich? Brandenburg ist ein wunderschönes, weites Bundesland, aber ich möchte bitte nicht in Brandenburg verschollen sein.
Gegen die Angst hilft angeblich Musik. Hinter mir quietschen die leeren Sitzschalen, die Halteschlaufen schlagen den Takt, die Gestänge knallen allerdings nicht rhythmisch. Die Scheiben klirren, die Lüftung schnauft, es knarzt der Unterboden schwer. Die Reifen schnurren, drei Fledermäuse flattern vorbei. Draußen fallen die Blätter.
Irgendwann kommt eine Abfahrt, die mich allerdings nicht, wie gehofft, zum Funkturm führt, sondern auf weitere dunkle Landstraßen, an einsamen Gehöften vorbei.
»Kollegin, beschreiben Sie bitte, was Sie sehen. Bald müssten Sie an eine große Kreuzung kommen.«
»Hier ist eigentlich nichts. Ich sehe Einfamilienhäuser, Felder, Bäume. Moment — da ist ein großer Gasthof, aber ich konnte seinen Namen nicht lesen.«
»Ich bin jetzt nur für Sie da, Kollegin, keine Sorge, wir bringen Sie schon sicher nach Hause. Fahren Sie weiter geradeaus und beschreiben Sie mir einfach alles, was Sie sehen. Ich verfolge Ihren Weg auf meiner Karte, keine Sorge, bis jetzt habe ich noch alle nach Hause gebracht.«
»Ein Haus, rechts ist ein alter Konsum, daneben eine Scheune, oh, ein sehr großer Baum. Ein alter Dorfanger mit winzigem Löschwasserteich, eine kleine Feldsteinkirche. Ein abgeerntetes Feld, drei Hochsitze, aber weder Wildschweine noch Rehe. Sonst ist hier nichts, keine Straßenschilder. Jetzt komm ich an einer Telefonzelle vorbei.«
Die Kreuzung, auf die wir warten, kündigt sich mit einer ungewöhnlich guten Beleuchtung an. Ich fahre auf das Licht zu, biege, wie gewünscht, in weitem Bogen links ab, höre deutlich, dass der Straßenbelag wechselt. Und schon sehe ich das Schild, schwarze Buchstaben auf gelbem Grund: »Berlin«.
Die paar Kilometer bis zum Betriebshof finde ich fast allein. Ich bedanke mich herzlich bei dem Mitarbeiter der Leitzentrale.
Auf dem Nachhauseweg grübele ich nicht lange, wie und vor allem wo ich die Wendeschleife verpasst habe und was ich noch tun könnte, damit mir das auf keinen Fall noch mal passiert. Ich bin viel zu müde für eine innere Manöverkritik. Wichtiger ist jetzt, ins Bett zu kommen. Ein Gedanke schwirrt mir aber doch intensiv im Kopf herum: Nur gut, dass keine Fahrgäste im Bus saßen!
An einem anderen Tag fahre ich den M85, der den S-Bahnhof Lichterfelde Süd mit dem Berliner Hauptbahnhof verbindet. Es ist ein Bus mit langem Weg, knapp vierzig Haltestellen machen aus dieser Linie eine lebhafte, angenehme Mischung. Laut Fahrplan ist er innerhalb von einer Stunde an seiner jeweiligen Endstation, laut Leben dauert das allerdings regelmäßig länger. Die letzten Kilometer fährt der Bus durch den Tiergartentunnel und endet direkt dahinter an einem großen leeren Platz vor dem Hauptbahnhof.
Am Hauptbahnhof steigen immer viele Fahrgäste mit Gepäck zu. Vor allem Touristen wollen hier einen ersten Blick auf ihre Sehnsucht werfen. Dank der sehr klaren Streckenführung — von der Haltestelle aus auf die breite Straße und an der Ampel links in den Tiergartentunnel — fällt die Abweichung vom rechten Weg besonders leicht: Statt abzubiegen, fahre ich weiter geradeaus. Noch auf der Kreuzung bemerke ich den Fehler, denn wir lassen die Tunneleinfahrt links liegen, und nun gibt es kein Zurück mehr. Ein sehr kleiner Trost ist die Möglichkeit, direkt hinter der Kreuzung am Straßenrand ganz korrekt anhalten zu können und meinen Fahrgäste von dem Dilemma zu berichten:
»Wie Sie vielleicht bemerkt haben, ist mir was passiert: Ich habe den Tunnel verpasst und nun haben wir den Schlamassel. Sie können hier aussteigen und einfach über die Ampel zurück zur Haltestelle laufen. Dort wartet in Kürze der nächste M85 und macht nicht den gleichen Fehler, das verspreche ich Ihnen.«
Spürbare Unruhe im Bus. Die Fahrgäste setzen sich aufrechter hin, um besser zuzuhören. Sie schauen aufgeregt aus den Fenstern, zeigen sich gegenseitig die Beschilderung vor der Tunneleinfahrt. Sie meckern. Dabei nehmen sie kein Blatt vor den Mund, schließlich haben sie für die Fahrt bezahlt, und schimpfen wütend drauflos, schön laut, damit ich es auch wirklich höre:
»Wie blöd sind Sie eigentlich?«
»Das darf ja wohl nicht wahr sein! Wo sind wir denn hier gelandet! Das gibt ’ne saftige Beschwerde. So was muss ich mir nicht bieten lassen, hören Sie, was ich sage!«
»Sie fahren falsch und ich soll jetzt laufen? Was bilden Sie sich ein, wer Sie sind!«
»Verdammt noch mal, fahren Sie jetzt, ich habe es eilig!«
»Ist mir so was von egal, was Sie für Probleme haben — ich habe eine Fahrkarte gekauft und Sie werden jetzt fahren!«
»Frau am Steuer — Ungeheuer!«
Es fallen auch böse Schimpfwörter, die Stimmung wird aggressiver. Ich versuche es erneut: »Es tut mir leid, ich kann hier weder drehen noch umkehren. Und selbst wenn ich es könnte, dürfte ich nicht. Bitte steigen Sie einfach aus und fahren mit dem nächsten Bus.«
Ein paar Touristen und einige Berliner ergreifen meine Partei: »Das kann doch jedem mal passieren.«
»Das hat die Frau schließlich nicht extra für Sie gemacht!«
»Immer ruhig mit den wilden Pferdchen. Was soll sie denn machen? So ein kleiner Fehler und so viel Geschrei.«
»Und wenn Sie noch so poltern, schneller sind wir dadurch nicht am Ziel.«
Murrend und mit den Füßen scharrend steigen viele aus. Manche sind auch draußen noch so wütend, dass sie mir mit der Polizei drohen, mit Fäusten und mit fantasievollen Verwünschungen.
Ich würde auch gerne aussteigen und um mich treten und beneide sie kurz.
Dann bespreche ich die Weiterfahrt mit der Leitzentrale. Ich kenne mich gut aus in der Gegend und brauche nur das O.k. für meinen Streckenvorschlag, um zurück auf die Linie zu kommen. Wir werden die Untertunnelung umfahren und insgesamt nur eine reguläre Haltestelle ausfallen lassen.
Bevor ich den Bus wieder starte, setze ich die Fahrgäste in Kenntnis: »Wir fahren einen kleinen Umweg und werden etwas länger brauchen, aber ab Potsdamer Platz sind wir wieder auf der üblichen Strecke.«
Zwei Ehepaare auf Städtereise freuen sich: »Kaum sind wir in Berlin, passiert schon was. Hier ist wirklich immer was los. Was für ein Glück, dass wir ausgerechnet diesen Bus erwischt haben.«
»So etwas habe ich noch nie erlebt. Aber hier in Berlin soll es ja überhaupt wild hergehen, wer weiß, was hier noch alles normal ist. Eine Frau als Busfahrerin gibt es bei uns auch nicht. Bei Ihnen?«
»Im Leben nicht. Das ist doch kein Beruf für Frauen. … Na ja, in der Hauptstadt ticken die Leute einfach anders.«
»Nachher, wenn wir aussteigen, machst du noch ein schönes Foto von der Busfahrerin, nicht wahr?«
Andere gesellen sich dazu, holen ihre Handys aus den Taschen und berichten von ihrem Abenteuer: »Stell dir vor, was hier gerade los ist! Der Bus ist falsch gefahren und jetzt suchen wir die Strecke …Ja, ich sitze mittendrin! Na klar mach ich Fotos!«
Mehrere Fahrgäste kommen zu mir nach vorne und sprechen mir ihre Solidarität aus: »Machen Sie sich keine Sorgen, junge Frau. Ist doch klar, dass Sie das nicht extra gemacht haben. Manche Menschen haben echt keinen Anstand. So ein Theater wegen so ein bisschen Umweg.«
»Falls Sie Zeugen brauchen für den Vorfall, wir hier, meine Frau und ich, stellen uns gerne zur Verfügung. Vielleicht wollen Sie unsere Ausweise schon mal sehen?«
Ich bedanke mich und winke ab.
»Na, wir sind bis nächste Woche Dienstag hier. Wie heißt noch das Hotel? Irgendwas mit A … oder I, das liegt mitten im Zentrum.«
»Das kennt die Busfahrerin doch bestimmt, Heinz, die wohnt doch schließlich hier.«
Wir fahren los. Immer wieder werde ich von Kollegen anderer Linien angehupt und fassungslos beobachtet. Als ob ich nicht längst wüsste, dass ich falsch fahre.
Unterwegs fällt mir auf, dass wir nun an vielen Sehenswürdigkeiten vorbeikommen. »Liebe Fahrgäste, rechts sehen Sie gleich Schloss Bellevue, den Sitz des Bundespräsidenten. Ist der Lappen oben, ist der Lump unten, sagte man früher.« Alle gucken rechts aus den Fenstern, sehen die Fahne oben wehen, fragen sich laut, was das zu bedeuten habe. Ich erkläre es: »Wenn die Fahne — also der Lappen — oben weht, ist der Bundespräsident zu Hause.« Als Nächstes zeige ich ihnen die Siegessäule am Großen Stern und den schönen Blick zum Brandenburger Tor: »Guck schnell, Heinz, dahinten ist das Tor, ach, jetzt hast du es verpasst, nur ich habe es gesehen.«
»Die leuchtet aber schön, ist das alles echtes Gold?«
»Die einzelnen Teile der Siegessäule sind tatsächlich frisch vergoldet. Dit Weib da obendrauf ist unsere Goldelse, die Frau, die auf größtem Fuße lebt«, hier mache ich eine dramaturgische Pause, dann folgt die Auflösung: »Schuhgröße 96.«
Lachen, Staunen und Raunen. Fragen werden durch den Bus gerufen: »Sind wir hier in Ost- oder Westberlin?«
»Wenn das hier Tiergarten ist, ist das dann der Zoo? Ich sehe aber gar keine Tiere?«
»Oh, ist das die Spree? Kann man da drin schwimmen? Oder ist das alles noch vermint?«
Die Stimmung ist entspannt, den Fahrgästen macht unsere kleine Stadtrundfahrt sichtlich Spaß. Ich bin nicht ganz so entspannt, wie ich tue, und insgeheim sehr froh, als wir die Potsdamer Straße erreichen: »Liebe Fahrgäste, dort sehen Sie unsere erste echte Haltestelle. Wir haben unseren Umweg hinter uns, ab sofort fahre ich Sie wieder regulär auf der Strecke des M85. Ich möchte mich herzlich für Ihre Geduld bedanken.«
Ein paar Fahrgäste fangen tatsächlich an zu klatschen. Der kleine Applaus ist spontan und tut gut. Ihr Berlinaufenthalt begann vielversprechend, ihr erstes Abenteuer haben sie ausführlich gefilmt, fotografiert, genossen. Mir hat es ebenfalls Spaß gemacht, trotz allem Stress. Ich mag meinen Beruf, sehr sogar.
Ich melde mich bei der Leitzentrale zurück, als ich wieder auf der korrekten Route bin. Wir stecken sofort im Berufsverkehr fest, die Straße ist verstopft, kreuz und quer fahren, laufen, stehen die üblichen LKWs, Fahrräder, Mofas, Autos, Limousinen, Fußgänger, Hunde, Schulkinder, Straßenkünstler. Tauben fliegen über uns und lassen einiges fallen. Ein leichter Nieselregen setzt ein, die Ampel springt auf Grün, aber der Gegenverkehr steht weiter im Weg und dieser M85 wird mal wieder nicht pünktlich sein.
Wer nun glaubt, zwischen diesen Highlights der verlorenen Ziele liefe alles nach Plan, der irrt. Viele Haltestellen sind vom Fahrersitz aus kaum bis gar nicht zu sehen. Tagsüber verstecken sie sich hinter dicken Bäumen und wilden Büschen, nachts reicht ihr unbeleuchtetes Stillstehen zum Übersehenwerden. Oft stehen lediglich dünne Haltestangen am Straßenrand, gerne hinter Lampenmasten oder Großstadtdekorationen. Ein ungünstig geparkter Lieferwagen reicht, um diese Hinweise zu verdecken.
In der Vorweihnachtszeit blinkt und klingt es allüberall. Der viele Weihnachtsschmuck lässt die lichtlosen Haltestellenschilder noch blasser, noch nichtssagender, noch unbedeutender erscheinen. In der Nachweihnachtszeit versinken sie im Frühnebel, in der Abenddämmerung, in wartenden Gruppen, hinter Kindern, die auf den Schultern ihrer Eltern auf den Bus warten, hinter besonders großen Hunden, müden Krähen. Kurz gesagt: Die Dinger wollen nicht von mir gesehen werden.
Die automatischen Durchsagen sind eine gute Hilfe. Kaum ertönt das Nächste-Haltestelle-Signal, beginnt meine hektische Suche. Wobei ich immer ganz cool tue, damit nur keine Unsicherheit aufkommt im Bus. Ich möchte meine Fahrgäste schließlich unbeschwert und angenehm an den Ort ihrer Wünsche fahren.
Da ich mir so gut wie sicher bin, dass Haltestellen ausschließlich auf der rechten Seite zu finden sind, scanne ich also ununterbrochen die rechte Straßenseite nach den üblichen Verdächtigen ab: irgendwas Gelbes, eventuell was Überdachtes, auf jeden Fall irgendeine Art von viereckigem Schild.
Werde ich nicht abgelenkt, klappt es meistens. Aber natürlich werde ich ständig abgelenkt, schließlich fahre ich Bus im Berliner Straßenverkehr!
Noch schlimmer ist es, wenn die Bandansage ausfällt, dann kann ich nur ungefähr abschätzen, wann es Zeit wird, einzulenken.
Am Europa-Center verpasse ich gleich mehrmals den Halt. Hier parken viele Autos in zweiter Reihe, gerne auch in der Bushaltestelle, und versperren nicht nur den Blick, sondern vor allem den Fahrgästen den Ein-und Ausstieg. Hier herrschen andere Töne:
»Anhalten! Verdammt noch mal! Sofort anhalten!«
»Wollen Sie uns kidnappen? Da mach ich nicht mit!«
»Lassen Sie uns gefälligst hier raus, aber dalli!«
»Was machen Sie eigentlich da vorne?! Schlafen Sie hinterm Steuer?«
»Sie hängen aber sehr an uns.«
Draußen an den verpassten Haltestellen schreien mir unterdessen Menschen, die ihrer Meinung nach eh schon viel zu lange auf den Bus gewartet haben, wüste Drohungen hinterher. Manchmal stehen sie traurig am Straßenrand und gucken so verloren, so stehen gelassen.
Irgendwann rede ich dann doch mal mit einem unbekannten Kollegen über das Dilemma. Er erzählt mir daraufhin, ich solle mir einfach gar keine Sorgen machen:
«Weeßte was, Kollegin? Manchmal rausch ich extra dran vorbei. Weil ich nämlich Angst habe vor die Fahrgäste! Wenn da so Horden von die Jugendlichen stehen — nee, da halt ich nicht, ich bin ja nich lebensmüde.« Ich bin erschüttert. »Ja, ick hab Bammel vor die. Was ich allet schon im Gesichte gehabt hab. Aber sachste nich weiter, nich.«