Berlin hat ein nahezu perfekt ausgebautes Busnetz. Keine andere Stadt in Deutschland bietet so viele Buslinien und so eng getaktete Fahrtzeiten. Die BVG informiert im Internet und auf Faltblättern über dieses großartige Verkehrswesen.
Es gibt in Berlin
159 Buslinien und 63 Nachtlinien
6511 Richtungshaltestellen
1492 Fahrzeuge
Davon sind
351 Doppeldecker
429 Eindecker
672 Gelenkbusse
31 Elektrobusse
9 Sonderwagen
Es gibt jährlich
466 Millionen Fahrgastfahrten mit Bussen (inklusive Fähren)
Das und mehr erfahren wir aus dem jährlichen Zahlenspiegel der BVG. Die hier erwähnten sind die Zahlen von 2020, die auch auf der Webseite der BVG abgerufen werden können.
Doch was man alles erleben kann im öffentlichen Personennahverkehr, passt auf kein Faltblatt. Deswegen möchte ich hier noch eine Besonderheit vorstellen: die Haltestellenhäuschen.
Es ist großartig, beim Warten auf den Bus nicht im Regen stehen zu müssen. Auf den so selbstverständlichen, freundlichen Schutz kann man in ungefähr 4500 Wartehäuschen zählen, die überall in der Stadt verteilt sind. Es gibt sie in vielfältiger Bauweise. In Berlin jedoch sind sie in den letzten Jahren immer mehr vereinheitlicht worden. Ein durchschnittlicher Haltestellenbau hat zwei schmale Seitenwände und einen breiten Rücken aus dickem Glas. Ein flaches Dach schützt vor Regen, Wind, Schnee und Sonne. Nachts sind diese Warteorte dezent beleuchtet.
Viele sind zu Reklametafeln umgestaltet worden, es gibt sogar Seitenwände, in denen flimmernde, blinkende Werbevideos laufen. Die wenigen Minuten stehende oder sitzende Ruhe, während denen man einfach nur auf den nächsten Bus wartet und die Gedanken wunderbar ins Nichts schweifen lassen kann, werden immer seltener und damit kostbarer.
In den Haltestellenhäuschen steht fast immer eine Bank als Sitzgelegenheit. Auch hieran kann das Alter der Haltestelle gemessen werden. Je neuer das Gebäude ist, umso kürzer sind die Bänke, die Sitze haben keine Rückenlehne mehr. Statt Holz bevorzugen die Architekten und Gestalter kaltes Metall oder robustes Hartplastik.
Ob das reine Sitzen an Wert verliert? Morgens tauschen hier die Schulkinder ihre Hausaufgaben und Pausenstullen, sie erzählen sich vor dem anstrengenden Tag das Schöne und das Schlechte.
Tagsüber pausieren die Senioren und Rentnerinnen ein paar Minuten, stellen die schweren Einkaufstaschen ab, vergewissern sich mit klaren Worten der Gleichheit der Ansichten und Träume. Sie erzählen den Anwesenden vom Urlaub, von den Enkelkindern. Sie schimpfen über Politik, teure Schrippen, das Wetter. Junge Eltern mit vollen Kinderwagen suchen im Schutz der Haltestelle nach Fläschchen, Schnullern, Kuscheltieren.
Abends ist die Haltestelle Treffpunkt der Jugend. Die Teenager versammeln sich rund um die Haltestelle und probieren Berührungen, Küsse, Sätze. Sie tauschen Musik und Spiele, tanzen oder kämpfen im Schutz der offenen Mauern, beweisen die wachsende Kraft, üben Selbstverteidigung, körperliche Geschicklichkeit, Überlegenheit, Wut, Zärtlichkeit. Besiegeln Freundschaften, entwickeln Zukunft.
Nachts sind Haltestellenhäuschen für manche der letzte Platz, den sie erreichen. Obdachlose Menschen suchen hier ein paar Stunden Schlaf, eine kurze Erholung. Diese Schlafzimmer der Armut bieten einen unmittelbaren Blick in das, was fehlt.
Die Kommerzialisierung der halben Häuschen im öffentlichen Raum kommt dem sozialen Miteinander nicht entgegen.
Seit 2020 werden Wartehäuschendächer mit der Unterstützung des Senats begrünt. Durch eine wohldurchdachte Bepflanzung sollen Bienenwiesen entstehen, die grünen Inseln mitten im Verkehrschaos werden Insekten und Vögeln winzige, neue Pausenräume bieten und den Menschen, die oben im Doppeldecker aus dem Fenster schauen, Erstaunen schenken. Die Krönung eines Wartehäuschens mit Pflanzen und Blumen wird vielleicht auch das Klima unter dem Dach positiv beeinflussen.
Haltestellen werden zwar von der BVG ausgewählt und angefahren, aber ihre Gestaltung und Einrichtung betreiben andere. In Berlin ist das meist die Firma Hans Wall AG, aber es gibt auch weitere Betreiberfirmen.
So steht auf der Rückseite der Haltestelle Schillstraße, die von der Buslinie 100 angefahren wird:
Liebe Fahrgäste der BVG!
Warum ist diese Haltestelle auch ein Mahnort?
Hier die Antwort:
»In der Erinnerung liegt das Geheimnis der Erlösung.«
Baal Schem-Tov
Jüdischer Geistlicher des 18. Jahrhunderts
Die Wände der Haltestelle informieren über das Grauen des Holocaust, das nie vergessen werden darf, in deutscher und englischer Sprache.
Gleich bei der Haltestelle, in der Kurfürstenstraße 115/116, baute 1908—1910 der jüdische »Brüderverein zur gegenseitigen Unterstützung« ein Wohn- und Vereinshaus. 1939 zog die Gestapo in das Gebäude. Adolf Eichmann organisierte in seinem Büro in diesem Haus maßgeblich die Deportationen und Ermordungen der europäischen Juden.
1964 wurde das Gebäude abgerissen.
An der Haltestelle Varian-Fry-Straße/Potsdamer Platz, die von den Buslinien M85, 200, 300, M48 und N2 angefahren wird, erzählt eine in die gläserne Rückwand geätzte Tafel von dem amerikanischen Journalisten Varian Fry (1907—1967). Er war 1935 für kurze Zeit als Reporter in Berlin, berichtete und agierte ab 1940 als Widerstandskämpfer aus Frankreich. Dort verhalf er über 1500 Menschen zur Flucht aus Südfrankreich, darunter auch Hannah Arendt, Marc Chagall, Lion Feuchtwanger und Max Ernst. 1941 wurde Varian Fry aus Frankreich ausgewiesen. 1996 wurde ihm die höchste Ehrung Israels zuteil. Ein Olivenbaum wurde für ihn gepflanzt in Yad Vashem.
Es gibt viele Haltestellennamen, die an besondere Menschen und Ereignisse erinnern. Die Haltestelle Agathe-Lasch-Platz am Kurfürstendamm, die von den Buslinien M19, M29, X10 und N10 angefahren wird, erinnert an Agathe Lasch (1879—1942), die erste Germanistikprofessorin Deutschlands. Sie wurde 1942 deportiert und in Riga ermordet.
So ist jede Busfahrt durch Berlin immer auch eine Reise durch die Geschichte.
Anlässlich dieses Buches machte ich eine kleine, ganz und gar nicht repräsentative Umfrage im Freundeskreis. Meine Frage blieb immer gleich:
»Hast du mal was Besonderes in einem Haltestellenhäuschen erlebt?«
Die Antworten sind so vielfältig wie das Leben. Manche haben beim Warten auf den Bus die Liebe gefunden, andere wurden Opfer von Taschendieben. Viele erzählen von überraschend tiefen Gesprächen mit Unbekannten. Oft gestaltet sich die Wartezeit allein durch das Aufeinandertreffen der unterschiedlichsten Menschen unterhaltsam. Einige haben zusammen mit sehr prominenten Schauspielern, Musikern, Politikern, Handwerkern gewartet. In Sommernächten wird getanzt und sogar gesungen, man teilt sich ein Bier, Gedichte werden rezitiert, akrobatische Kunststücke vorgeführt.
Die Neugier der Großstadt ist überall zu finden. Die Suche danach beginnt mit dem Warten auf den nächsten Bus.