In Halifax findet er eine Unterkunft am Hafen, eine Pension, in der er sich im ersten Stock ein Eckzimmer mit Blick über den Kai sichern konnte. Am ersten Morgen erwartet ihn vor seinem Fenster ein herrlich lebenspraller Anblick. Ein großes Handelsschiff ist eingetroffen und er ihm so nahe, dass er die gut gelaunten Flüche der Männer hören kann, die Fässer entladen, Säcke und Kisten. Wie eine Katze verbringt er einen Großteil des Tages damit, aus dem Fenster zu schauen. Er hatte vor, umgehend in den Westen aufzubrechen, aber es fällt so leicht, eine Weile in Halifax zu bleiben, und ihn überkommt eine Schwäche, die er schon sein Leben lang kennt: Edwin ist zu Taten durchaus fähig, neigt aber zu Tatenlosigkeit. Er sitzt gern am Fenster. Draußen sind Menschen und Schiffe in ständiger Bewegung. Er will nicht fort, also bleibt er.
»Ach, ich glaube, ich überleg mir nur meinen nächsten Schritt«, erklärt er der Besitzerin, als die behutsam nachfragt. Sie heißt Mrs Donnelly und stammt aus Neufundland. Ihr Akzent verwirrt ihn. Sie klingt, als sei sie aus Bristol und aus Irland, gleichzeitig, manchmal aber meint er auch, Schottland herauszuhören. Die Zimmer sind sauber, und sie ist eine ausgezeichnete Köchin.
Matrosen drängeln in Wellen an seinem Fenster vorbei. Sie blicken nur selten hoch. Er genießt es, ihnen zuzusehen, wagt es aber nicht, sich ihnen zu nähern. Außerdem haben sie ja sich. Sind sie betrunken, legen sie einander einen Arm um die Schulter, und ihn packt quälende Eifersucht.
(Könnte er zur See fahren? Natürlich nicht. Er verwirft den Gedanken, sowie er aufkommt. Er hat einmal von einem Nachgeborenen gehört, der sich als Matrose neu erfand, aber Edwin ist durch und durch ein Mann des Müßiggangs.)
Er liebt es, die ankommenden Schiffe zu beobachten, Dampfschiffe, die in den Hafen einlaufen und deren Decks noch ein Hauch Europa anhängt.
Morgens unternimmt er einen Spaziergang und einen weiteren am Nachmittag, geht in die ruhigen Wohngegenden, durchstöbert auf der Barrington Street die Läden mit ihren gestreiften Markisen. Gern fährt er mit der Elektrischen bis zur Endstation und verfolgt auf der Rückfahrt den Wechsel von kleineren zu größeren Gebäuden bis hin zu den Geschäftshäusern der Innenstadt. Er liebt es, Dinge zu kaufen, die er eigentlich nicht braucht: einen Laib Brot, ein oder zwei Postkarten, einen Strauß Blumen. Und er ertappt sich bei dem Gedanken, dass es sich so leben ließe. So einfach könnte es sein. Keine Familie, keine Arbeit, nur einige schlichte Vergnügungen und saubere Laken, in die man am Ende des Tages sinkt, regelmäßige Unterhaltszahlungen von daheim. Ein Leben in Einsamkeit kann überaus angenehm sein.
Er macht es sich zur Gewohnheit, jeden Tag Blumen zu kaufen, die er auf seine Anrichte in eine billige Vase stellt. Er verbringt viel Zeit damit, sie zu betrachten, wünscht sich, er wäre ein Künstler, könnte sie zeichnen und lernte dabei, sie deutlicher zu sehen.
Könnte er zeichnen lernen? Er hat Zeit und Geld. Die Idee ist so gut wie jede andere. Er beginnt, Erkundigungen einzuziehen, und er fragt Mrs Donnelly, die ihrerseits eine Freundin fragt, und kurze Zeit darauf befindet er sich im Salon einer Frau, einer gelernten Malerin. Er verbringt ruhige Stunden damit, Blumen und Vasen zu zeichnen, lernt Schattierungen und Proportionen. Die Frau heißt Laetitia Russell. Sie trägt einen Ehering, der Verbleib ihres Gatten ist jedoch unklar. Sie wohnt in einem sauberen Holzhaus mit drei Kindern und ihrer verwitweten Schwester, einer unaufdringlichen Anstandsdame, die in einer Ecke des Zimmers endlos Schals strickt, weshalb Edwin bis an sein Lebensende beim Klicken von Stricknadeln ans Zeichnen denkt.
Als Reginald eintrifft, wohnt er seit einem halben Jahr in der Pension. Wie er rasch merkt, neigt Reginald nicht zur Tatenlosigkeit. Reginald verfolgt Pläne, will gleich in den Westen aufbrechen. Er ist zwei Jahre älter als Edwin, dritter Sohn eines Viscounts, ebenfalls Eton-Absolvent, und er hat schöne Augen, dunkelgraublaue Augen. Wie Edwin denkt er daran, ein Leben als Landwirt und Gutsbesitzer zu führen, im Unterschied zu Edwin aber hat er bereits konkrete Schritte unternommen, sein Ziel auch zu verwirklichen, und korrespondiert mit einem Mann, der eine Farm in Saskatchewan verkaufen möchte.
»Sechs Monate«, wiederholt Reginald beim Frühstück und kann es kaum fassen. Er bestreicht seinen Toast mit Marmelade, hält aber einen Moment inne, fast, als sei er sich nicht sicher, ob er richtig gehört hat. »Sechs Monate ? Sechs Monate hier ?«
»Ja«, antwortet Edwin unbekümmert. »Sechs überaus angenehme Monate, wie ich ergänzen möchte.« Er versucht, Mrs Donnellys Blick aufzufangen, doch die konzentriert sich ganz und gar darauf, Tee einzuschenken.
»Interessant.« Reginald verstreicht wieder Marmelade. »Ich nehme nicht an, wir hoffen, bald wieder nach Hause gerufen zu werden, oder? Klammern uns an den Rand des Atlantiks, bleiben König und Vaterland so nahe wie möglich?«
Das versetzt ihm einen leichten Stich, weshalb Edwin, als Reginald sich eine Woche später auf den Weg in den Westen macht, seine Einladung annimmt und ihn begleitet. Sich regen bringt Segen, denkt Edwin, als der Zug die Stadt verlässt. Sie haben Erste Klasse in diesem reizvollen Zug gebucht, in dem es ein Postamt und einen Friseur gibt, weshalb Edwin eine Karte an Gilbert schreibt und sich das Haar schneiden lässt sowie eine warme Rasur genießt, während er vor dem Fenster Wälder und Seen und kleine Städte vorbeiziehen sieht. Als der Zug in Ottawa hält, steigt Edwin nicht aus, sondern bleibt an Bord und skizziert die Umrisse des Bahnhofs.
Die Wälder und Seen und kleinen Städte weichen Prärien. Die Prärien sind anfangs interessant, dann ermüdend, dann beunruhigend. Es gibt zu viele davon, das ist das Problem. Der Maßstab stimmt nicht. Der Zug kriecht wie ein Tausendfüßler durch endloses Gras. Edwin kann von Horizont zu Horizont sehen und fühlt sich schrecklich exponiert.
»Das ist das wahre Leben«, sagt Reginald, als sie endlich angekommen sind und er in der Tür seines neuen Farmhauses steht. Die Farm liegt einige Kilometer außerhalb von Prince Albert. Sie ist ein Meer aus Schlamm. Reginald hat sie ungesehen von einem resignierten Engländer Ende zwanzig gekauft – noch ein Nachgeborener, wie Edwin unwillkürlich annimmt –, der hier gründlich gescheitert und zurück nach Ottawa zu einem Schreibtischjob gefahren ist. Edwin merkt Reginald an, dass er sich große Mühe gibt, nicht an diesen Mann zu denken.
Kann ein Haus vom Scheitern heimgesucht sein? Als Edwin das Farmhaus betritt, fühlt er sich gleich unbehaglich, also bleibt er auf der vorderen Veranda. Es ist ein gut gebautes Haus – der Vorbesitzer war einmal vermögend –, doch auf eine Weise bedrückend, die Edwin nicht recht erklären kann.
»Hier … gibt es ziemlich viel Himmel, nicht?«, wagt Edwin sich vor. Und ziemlich viel Schlamm. Eine wirklich erstaunliche Menge Schlamm. Er glitzert in der Sonne, soweit das Auge reicht.
»Nur Weite und frische Luft«, erwidert Reginald und schaut zum grässlich ungebrochenen Horizont. Verschwommen in der Ferne vermag Edwin ein weiteres Farmhaus zu erkennen. Der Himmel ist von einem aggressiven Blau. An diesem Abend essen sie hart gekochte Eier – das Einzige, was Edwin zubereiten kann –, außerdem Pökelfleisch. Reginald wirkt bedrückt.
»Ist ziemlich harte Arbeit, so ein Leben als Landwirt, oder?«, sagt er nach einer Weile. »Körperlich anstrengend.«
»Davon gehe ich aus.« Edwin hat sich in der Neuen Welt stets als Landwirt und Gutsbesitzer gesehen – eine grüne Landschaft mit, nun ja, irgendeinem nicht weiter spezifiziertem Getreide, ordentliche, aber riesige Flächen –, in Wahrheit aber hat er nie viel darüber nachgedacht, was für Arbeit genau dazugehört. Sich um Pferde kümmern, nahm er an. Ein bisschen Gartenarbeit. Felder umgraben. Aber was dann? Was passiert eigentlich mit Feldern, wenn man sie umgegraben hat? Wonach gräbt man?
Er glaubt, sich auf den Rand eines Abgrunds zuzubewegen. »Reginald, alter Freund«, sagt er, »irgendeine Ahnung, was man anstellen muss, um in diesem Haus etwas zu trinken zu bekommen?«
»Man erntet «, sagt sich Edwin nach dem dritten Glas. »Das ist das richtige Wort dafür. Man gräbt um, dann sät man aus, dann erntet man.«
»Man erntet was?« Reginald hat so eine angenehme Art, wenn er betrunken ist, beinahe als wäre er durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Er lehnt sich auf seinem Stuhl zurück, lächelt in die leere Luft.
»Tja, das genau ist die Frage, nicht?«, sagt Edwin und schenkt sich ein weiteres Mal ein.