2

Als Kind lebte Mirella mit ihrer Mutter und ihrer älteren Schwester Susanna in einer Doppelhaushälfte in Ohio am Rande einer Stadt. Die Neubausiedlung lag in einer Gegend voller Einkaufszentren und riesiger Kaufhäuser. Das Ackerland reichte bis an den Parkplatz von Walmart. In wenigen Kilometern Entfernung gab es ein Gefängnis. Mirellas Mutter hatte zwei Jobs und war daher kaum zu Hause. Am frühen Morgen – im Winter, lang vor der Dämmerung – stand die Mutter von Mirella und Susanna nach wenigen Stunden Schlaf auf, goss Milch über die Cornflakes ihrer Töchter und kümmerte sich um ihre Frisur, während sie mit verquollenen Augen Kaffee trank und die Mädchen anschließend zur Schule fuhr. Zum Abschied küsste sie ihre Töchter, die jeden Tag zehn Stunden in der Schule verbrachten – früh abgeliefert, dann Unterricht, dann Hort –, bis sie am späten Nachmittag in den Bus stiegen, der sie einen halben Kilometer vor ihrem Haus absetzte.

Es war ein unangenehmer halber Kilometer. Sie mussten durch eine Unterführung. Und Mirella fürchtete sich vor dieser Unterführung, dabei hatte es in all den Jahren, in denen sie dort wohnte, von ihrem fünften Lebensjahr bis sie mit sechzehn von der Schule abging und den Bus nach New York nahm, nur einen einzigen fürchterlichen Vorfall gegeben. Mirella war neun, also musste Susanna elf gewesen sein, und sie hörten sie, als der Schulbus abfuhr, aber dass es sich um Schüsse handelte, war nur im Nachhinein klar. Damals sahen sich die Schwestern im Winterlicht an, und Susanna zuckte mit den Achseln. »Bestimmt nur ein Auto mit Fehlzündung«, sagte sie, und Mirella, die alles glaubte, was Susanna ihr sagte, griff nach ihrer Hand, und zusammen machten sie sich auf den Weg. Es schneite. Die Unterführung glich einer dunklen Höhle, die nur darauf wartete, sie zu verschlingen. Ist schon gut , sagte Mirella sich, ist schon gut, ist schon gut , denn bislang war immer alles gut gegangen, nur dieses eine Mal eben nicht. Als sie ins Dunkle traten, hörten sie dasselbe Geräusch erneut, diesmal unfassbar laut. Sie blieben stehen.

Nur wenige Meter vor ihnen lagen zwei Männer auf dem Boden, der eine reglos, der andere zuckte. Im Halbdunkel konnte sie auf diese Entfernung nicht erkennen, was passiert war. Ein dritter Mann hockte zusammengesunken an der Wand, in seiner Hand baumelte eine Waffe. Ein Vierter rannte weg – seine Schritte hallten durch die Unterführung –, Mirella bekam ihn nur flüchtig zu sehen, als er am anderen Ende die Böschung hinaufkraxelte und aus ihrem Blickfeld verschwand.

Lange Zeit blieben sie – Mirella, Susanna, der Mann mit der Waffe, auf dem Boden die beiden Toten oder Sterbenden – erstarrt wie in einem Wintertableau. Lange? Es fühlte sich ewig an. Stunden, Tage. Der Mann mit der Waffe hatte einen schläfrigen, fast wie betäubten Blick; ein-, zweimal sackte sein Kopf nach vorn. Dann kamen die Blinklichter, zuckten rot und blau über ihn hinweg, und das schien ihn aufzuwecken. Er starrte auf die Waffe in seiner Hand, als wüsste er nicht, wie sie da hingekommen war, dann wandte er den Kopf und schaute die Mädchen direkt an.

»Mirella«, sagte er.

Darauf Geschrei und Konfusion, ein Schwarm dunkler Uniformen – »Lassen Sie die Waffe fallen! Lassen Sie die Waffe fallen !«, und obwohl all dies tatsächlich passiert war, obwohl Susanna und sie von der Polizei verhört wurden und am nächsten Tag alles in der Zeitung stand (»Zwei Tote in der Unterführung: Verdächtiger in Haft«), fiel es ihr in den kommenden Jahren leicht, sich einzureden, sie habe sich die letzten Momente nur eingebildet und er hatte nicht wirklich ihren Namen gesagt. Woher hätte er den auch kennen sollen? Susanna konnte sich nicht daran erinnern, dass der Mann etwas gesagt hatte.

Nach all den Jahren aber, auf der Rückbank eines nach Manhattan fahrenden Taxis, wohlbehütet in einem neuen Leben, überkam sie eine Gewissheit, die sie nicht wieder abschütteln konnte: Der Mann im Tunnel war Gaspery Roberts gewesen.

Sie schloss die Augen, versuchte, sich zu beruhigen, das Telefon in ihrer Hand vibrierte. Eine Textnachricht von einer Freundin: Kommst du zur Party bei Jess?

Sie brauchte einen Moment, bis es ihr wieder einfiel. Sie textete zurück – Bin unterwegs  – und winkte, um im Rückspiegel den Blick des Fahrers auf sich zu lenken.

»Entschuldigen Sie.«

»Ja?«, sagte er, ein wenig argwöhnisch, da sie eben noch geweint hatte.

»Können wir bitte das Fahrtziel ändern? Ich muss nach Soho.«