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Die erste Mondkolonie wurde im stillen Tiefland des Meeres der Ruhe unweit der Stelle gebaut, wo die Astronauten der Apollo 11 in einem lang vergangenen Jahrhundert gelandet waren. Die Flagge gab es noch, in der Ferne, ein kleines, fragiles Denkmal auf windloser Oberfläche.

Es hatte beträchtliches Interesse an einer Auswanderung zur Kolonie bestanden. Die Erde war längst überfüllt, Hitze oder Überflutung machten weite Gebiete unbewohnbar. Die Architekten der Kolonie hatten für zusätzliche Bebauung reichlich Raum gelassen, der aber schnell ausverkauft war. Und als es keinen Platz mehr gab, setzte man sich erfolgreich für eine zweite Kolonie ein. Kolonie Zwei wurde jedoch zu rasch hochgezogen, sodass innerhalb eines Jahrhunderts das Lichtsystem für die Hauptkuppel ausfiel. Dieses System sollte einen Himmel imitieren, wie man ihn von der Erde kannte – es war schön, zu blauem Himmel aufzublicken, statt in die Leere des Weltalls zu sehen –, doch als es ausfiel, gab es keine falsche Atmosphäre mehr, keine sich verändernde Pixelierung, die den Eindruck von Wolken erweckte, keine sorgsam kalibrierten, vorprogrammierten Sonnenauf- und -untergänge und keinen blauen Himmel. Was nicht bedeutete, dass es kein Licht mehr gab, nur war dieses Licht so ganz anders als auf der Erde: An hellen Tagen blickten die Kolonisten in den Weltraum. Vom Gegensatz absoluter Dunkelheit und strahlender Helligkeit wurde manchen Menschen schwindlig, allerdings war man sich uneins, ob es dafür physische oder psychische Gründe gab. Schwerer wog, dass sich die Illusion eines 24-Stunden-Tages ohne Kuppellicht nicht länger aufrechterhalten ließ. Jetzt stieg die Sonne rasch auf und wanderte zwei Wochen lang über den Himmel, danach herrschte zwei Wochen ununterbrochen Nacht.

Die Kosten für eine Reparatur hielt man für unerschwinglich. Und in beschränktem Maße passte man sich an – Schlafzimmerfenster erhielten Jalousien, damit man in jenen Nächten schlafen konnte, in denen die Sonne schien, und für die Tage ohne Sonne verbesserte man das Straßenlicht –, der Wert der Immobilien aber sank, und wer es sich leisten konnte, zog in die Kolonie Eins oder in die kürzlich fertiggestellte Kolonie Drei. Von »Kolonie Zwei« redete bald niemand mehr; alle Welt nannte sie nur noch Night City, die Stadt, deren Himmel immer schwarz war.

Ich bin in Night City aufgewachsen. Mein Schulweg führte mich am Elternhaus von Olive Llewellyn vorbei, einer Autorin, die vor zwei Jahrhunderten, also nicht lang nach den ersten Mondsiedlern, durch dieselben Straßen gelaufen war. Es war ein kleines Haus in einer von Bäumen gesäumten Straße, und man sah ihm an, dass es einmal schön gewesen war, doch seit Olive Llewellyn dort als Kind gelebt hatte, war die Gegend ziemlich heruntergekommen, das Haus längst eine Ruine, die Hälfte der Fenster vernagelt und überall Graffiti; die Plakette neben der Haustür hing allerdings noch. Ich hatte das Haus kaum beachtet, bis meine Mutter mir erzählte, dass ich nach einer der Nebenfiguren in Marienbad , Llewellyns berühmtestem Buch, benannt worden war. Das Buch habe ich nie gelesen – mit Büchern konnte ich nichts anfangen –, aber meine Schwester Zoey kannte es, und sie berichtete, der Gaspery-Jacques im Buch sei mir überhaupt nicht ähnlich.

Ich entschied, sie nicht zu fragen, was sie damit meinte. Ich war elf, als sie das Buch gelesen hatte, also musste sie dreizehn oder vierzehn gewesen sein. Damals war sie schon eine ernste, ehrgeizige Person, die sich fraglos in allem auszeichnen würde, was immer sie versuchte, wohingegen mir mit elf der erste Verdacht kam, dass ich womöglich nicht ebenjene Art Mensch war, der ich sein wollte; und es wäre schrecklich, wenn sie mir erzählte, dass dieser andere Gaspery-Jacques etwa verblüffend attraktiv und generell sehr beeindruckend war, jemand, der sich auf seine Hausarbeit konzentrieren konnte und nie irgendwelche Bagatelldiebstähle beging. Trotzdem begann ich, Olive Llewellyns Elternhaus mit einem gewissen Maß an Respekt zu betrachten. Ich fühlte mich irgendwie damit verbunden.

Dort wohnte eine Familie, ein Junge, ein Mädchen und die Eltern, blasse, unzufrieden wirkende Leute, die diese eigenartige Gabe besaßen, so auszusehen, als ob sie nichts Gutes im Schilde führten. Die ganze Familie kam mir etwas verwahrlost vor. Mit Nachnamen hießen sie Anderson. Die Eltern verbrachten viel Zeit auf der Veranda, stritten leise oder starrten vor sich hin. Der Junge war mürrisch und prügelte sich oft in der Schule. Das Mädchen, ungefähr in meinem Alter, spielte im Vorgarten gern mit einem Hologramm, einem altmodischen Spiegelhologramm, mit dem sie manchmal tanzte, und das war ehrlich gesagt auch die einzige Gelegenheit, bei der ich das Andersonmädchen in der Nähe ihres Hauses lächeln sah, dann nämlich, wenn sie herumwirbelte und sprang und ihr holografisches Double mit ihr wirbelte und sprang.

Als ich zwölf war, kam das Andersonmädchen in meine Klasse, und ich erfuhr, dass es Talia hieß. Wer war Talia Anderson? Sie zeichnete gern. Sie machte Rückwärtssaltos auf dem Rasen. Sie wirkte in der Schule viel glücklicher als zu Hause.

»Ich kenne dich«, erklärte sie eines Tages unvermittelt, als wir beide in der Warteschlange der Cafeteria anstanden. »Du gehst immer an unserem Haus vorbei.«

»Liegt auf meinem Weg«, sagte ich.

»Auf deinem Weg wohin?«

»Na, auf meinem Weg überallhin. Ich wohne am Ende einer Sackgasse.«

»Ich weiß«, sagte sie.

»Woher weißt du, wo ich wohne?«

»Ich gehe auch an deinem Haus vorbei«, erklärte sie. »Ich nehme die Abkürzung über den Rasen eurer Nachbarn, wenn ich zur Periphery will.«


Am Ende unseres Rasens befand sich ein Laubvorhang, und drängte man sich hindurch, gelangte man zur Periphery Road, die am Rand der Kuppel von Night City entlanglief. Überquerte man die Straße, betrat man eine eigenartige, wilde Gegend, gut fünfzehn Meter breit, ein Streifen Wildnis zwischen Straße und Kuppel. Totes Gestrüpp, Sand, vereinzelte Pflanzen, Müll, ein irgendwie vergessener Ort. Unsere Mutter mochte es nicht, wenn wir dort spielten, also lief Zoey nie über die Periphery Road – sie tat immer, was man ihr sagte, was mich rasend machte –, aber mir gefiel die Wildnis, diese Ahnung einer Gefahr, wie sie von einem vergessenen Königreich ausgehen mochte. An jenem Tag überquerte ich nach der Schule zum ersten Mal seit Wochen die leere Straße, stand eine Weile an der Kuppel, presste die Hände dagegen und blickte hinaus. Das Kompositglas war so dick, dass alles auf der anderen Seite wirkte wie in einem Traum, auf gedämpfte Weise fern, doch sah ich hier und da Krater, Meteore, dunkles Grau. Die undurchsichtige Kuppel von Kolonie Eins schimmerte ganz in der Nähe. Ich fragte mich, woran Talia Anderson dachte, wenn sie hinaus in die Mondlandschaft blickte.


Mitten im Schuljahr wurde Talia Anderson aus meiner Klasse versetzt und zog fort. Erst mit Anfang dreißig, als wir beide im Grand Luna Hotel in Kolonie Eins angestellt waren, habe ich sie wiedergesehen.

Gut einen Monat nach dem Tod meiner Mutter fing ich an, im Hotel zu arbeiten. Meine Mutter war lange krank gewesen, jahrelang; gegen Ende lebten Zoey und ich praktisch im Krankenhaus. Die letzte Woche waren wir Tag und Nacht bei ihr, erschöpfte Gefährten, die Wache hielten, während unsere Mutter murmelte und schlief. Ihr Tod war nah, ließ aber länger auf sich warten, als die Ärzte vermutet hatten. Als unsere Mutter bei der Post angefangen hatte, war sie noch jung gewesen, in ihren letzten Stunden aber glaubte sie, wieder über Post-Doc-Studien im Physiklabor zu sitzen, und murmelte auf konfuse Weise etwas über Gleichungen und die Simulationshypothese.

»Verstehst du, wovon sie redet?«, fragte ich Zoey irgendwann.

»Das meiste«, antwortete Zoey. In jenen Stunden saß sie mit geschlossenen Augen am Bett und lauschte den Worten meiner Mutter, als hörte sie Musik.

»Kannst du es mir erklären?« Es war, als befände ich mich außerhalb eines geheimen Klubs, die Nase ans Glas gepresst.

»Die Simulationshypothese? Klar.« Sie schlug die Augen nicht auf. »Denk daran, wie sich Hologramme und Virtual Reality sogar noch in den letzten Jahren weiterentwickelt haben. Wir können heute ziemlich überzeugende Simulationen der Wirklichkeit erschaffen, und jetzt stell dir vor, wie diese Simulationen in ein, zwei Jahrhunderten aussehen könnten. Die Simulationshypothese geht daher von der Möglichkeit aus, dass die gesamte Realität eine Simulation ist.«

Ich war seit zwei Tagen ununterbrochen wach und fühlte mich, als würde ich träumen. »Okay, aber wenn wir in einem Computer leben«, sagte ich, »wessen Computer ist das dann?«

»Wer weiß? Der von mehrere Hundert Jahre in der Zukunft lebenden Menschen? Der einer außerplanetarischen Intelligenz? Die Theorie ist nicht allzu verbreitet, kommt im Zeitinstitut aber immer mal wieder zur Sprache.« Sie öffnete die Augen. »O Gott, tu einfach, als wenn ich das nicht gesagt hätte. Ich bin müde. Ich hätte es nicht sagen sollen.«

»Was denn genau?«

»Das mit dem Zeitinstitut.«

»Okay«, sagte ich, und ihre Augen fielen wieder zu. Ich schloss meine auch. Unsere Mutter hatte aufgehört zu murmeln; jetzt waren nur noch röchelnde Atemzüge zu hören, dazwischen zu lange Pausen.

Als ihr Ende dann kam, haben Zoey und ich geschlafen. Sie weckte mich im erschöpften Licht des frühen Morgens, und lange saßen wir nur da, stumm, andächtig, vor der reg­losen Gestalt unserer Mutter im Bett. Wir kümmerten uns um die Formalitäten, umarmten uns zum Abschied und gingen unsere getrennten Wege. Ich kehrte in meine beengte Wohnung zurück und redete mehrere Tage lang nur mit meiner Katze. Dann die Beerdigung, noch mehr Stille. Ich brauchte einen neuen Job – ich war seit einiger Zeit ohne Arbeit, meine Rücklagen schmolzen dahin –, und so fand ich mich einen Monat nach der Beerdigung im Kellerbüro einer Hotelpersonalabteilung wieder vor einer mir vage bekannt vorkommenden Frau mit blondem Haar, um eine als »Hoteldetektiv« ausgeschriebene Stelle anzunehmen, bei der mir allerdings unklar war, was ich genau darunter zu verstehen hatte.

»Wenn ich ehrlich bin«, sagte ich der Frau, »bin ich mir nicht ganz sicher, was von einem Hoteldetektiv erwartet wird.«

»Sie gehören zur Security im Hotel«, antwortete sie. Mir fiel auf, dass ich ihren Namen vergessen hatte. Natalie? Natascha? »Die Stellenbeschreibung war nicht meine Idee. Im Grunde sind Sie kein Detektiv. Sie verstärken gleichsam nur die Security.«

»Ich will bloß sichergehen, dass nicht irgendwas falsch verstanden wurde«, sagte ich. »Ich habe mein Krimino­logie-Studium wenige Monate vor dem Abschluss abgebrochen.«

»Können wir offen miteinander reden, Gaspery?« Irgendwas an ihr kam mir definitiv bekannt vor.

»Bitte.«

»Ihre Arbeit besteht ausschließlich darin, auf das zu achten, was um Sie herum geschieht, und die Polizei zu rufen, sobald Ihnen irgendwas verdächtig vorkommt.«

»Das kann ich machen.«

»Höre ich da einen Zweifel?«, fragte sie.

»Ich zweifle nicht an mir. Ich meine, ich zweifle nicht daran, dass ich das machen kann. Nur – könnte eigentlich nicht jeder diesen Job übernehmen?«

»Sie wären überrascht. Es gibt nicht viele, die die nötige Aufmerksamkeit aufbringen«, sagte sie. »Ablenkung ist das Problem, ganz allgemein gesprochen. Sie erinnern sich an den Test, den wir bei Ihrem ersten Bewerbungsgespräch gemacht haben?«

»Natürlich.«

»Mit dem wurde die Aufmerksamkeitsrate gemessen. Sie haben sehr gut abgeschnitten. Was meinen Sie, finden Sie das Testergebnis angemessen? Können Sie aufmerksam sein?«

»Ja«, erwiderte ich, und es freute mich, das sagen zu können, denn auch wenn ich mich selbst zuvor noch nie auf diese Weise gesehen hatte, kam es mir doch so vor, als wäre ich schon mein Leben lang stets sehr aufmerksam gewesen. Ich war nicht gerade in vielem besonders erfolgreich gewesen, aber beobachten konnte ich schon immer gut. So hatte ich auch herausgefunden, dass sich meine Ex in jemand anderen verliebt hatte, allein dadurch, dass ich aufmerksam gewesen war. Offenkundige Anzeichen hatte es nicht gegeben, nur subtile Veränderungen – doch da die Personalerin wieder redete, riss ich mich von der Vergangenheit los.

»Moment mal«, sagte ich. »Ich kenne Sie.«

»Meinen Sie vom ersten Gespräch?«

»Talia«, sagte ich.

Irgendwas änderte sich in ihrem Gesicht. Eine Maske fiel. Und ihre Stimme klang anders, als sie wieder sprach, hörte sich nicht mehr so an, als fände sie die Welt nur amüsant. »Ich nenne mich neuerdings Natalie, aber ja.« Einen Moment schwieg sie, sah mich an. »Wir sind zusammen zur Schule gegangen, stimmt’s?«

»Ende der Sackgasse«, sagte ich, und zum ersten Mal in unserem Gespräch wirkte ihr Lächeln echt.

»Ich stand gern stundenlang an der Periphery«, sagte sie, »und habe durchs Glas gesehen.«

»Fährst du noch manchmal hin? Nach Night City?«

»Nein, ich bin nie wieder da gewesen«, sagte sie.