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Eine Woche später kam ich eine Viertelstunde vor Schichtbeginn ins Hotel und ging zu Talias Büro.

»Gaspery«, sagte sie.

Ich wollte die Tür hinter mir zuziehen, aber sie schüttelte den Kopf und verließ ihren Schreibtisch. »Lass uns einen Spaziergang machen.«

»Ich habe nur ein paar …«

»Weißt du, ich finde das interessant.« Sie bedeutete mir, vor ihr aus dem Büro zu gehen. »Auf der Universität habe ich mich mit der Geschichte der Arbeit befasst, und falls es durch die Jahrhunderte eine Konstante gibt, dann die, dass man es sich mit der Personalabteilung nie verscherzen sollte.« Sie öffnete eine Seitentür, und wir traten neben der Laderampe ins Freie. »Ich habe deinem Vorgesetzten gesagt, dass ich dich sehen möchte. Niemand wird dich also vermissen.«

Das heutige Wetterprogramm sah Wolken vor, weshalb das Tageslicht milchig und ein wenig grau war. Ich fand es beklemmend.

»Man gewöhnt sich nur schwer daran«, sagte Talia. Ihr war nicht entgangen, dass ich etwas unbehaglich zum Himmel aufgesehen hatte. Wir gingen zum Pfad, der am Fluss der Kolonie Eins entlanglief. In allen drei Kolonien gab es Flüsse, aus gesundheitlichen Gründen, Flüsse in identisch aussehendem weißem Steinbett mit identisch aussehenden Bogenbrücken aus weißem Stein. Sie waren ein Wunder der Ingenieurskunst und klangen alle gleich. »Warum bist du aus Night City fortgezogen?«, fragte sie.

»Eine üble Scheidung«, sagte ich. »Ich suchte einen Neuanfang.« Es war tröstlich, dass die Flüsse so gleich klangen; wenn ich nicht aufblickte und das seltsam graue künstliche Wolkenlicht außer Acht ließ, konnte ich mir einbilden, ich sei zu Hause. »Und warum bist du hergekommen?«

»Ich komme von hier«, sagte sie. »Ich bin erst mit neun Jahren nach Night City gezogen.«

»Oh.«

Wir näherten uns einer Brücke. In Night City hätten unter der Brücke Obdachlose geschlafen oder sich im Schatten der friedvollen Böschung betrunken, hier aber hockte nur ein alter Mann auf einer Bank, saß allein da und starrte ins Wasser.

»Du bist in mein Büro gekommen, um zu kündigen«, sagte Talia.

»Woher weißt du das?«

»Der Chef vom Chef meines Chefs hat mir vor drei Tagen gesagt, ich solle mit ein paar Schlipsträgern im Zeitinstitut reden. Und aus deren Fragen wurde mir klar, dass sie überlegen, dich einzustellen.«

Gibt es ein Unbehagen, das speziell dieses Gefühl einer unsichtbar im Hintergrund tätigen Bürokratie benennt? Talia blieb stehen, also tat ich es ihr gleich und blickte ins Wasser. In Night City hatte ich als Kind kleine Boote im Fluss schwimmen lassen, nur war der Fluss dort etwas Dunkles, Funkelndes, der ebenso die Sonne wie die Schwärze des Alls reflektierte. Der Fluss in Kolonie Eins dagegen war milchig blass und spiegelte die unechten Kuppelwolken.

»Wir haben da drüben gewohnt.« Talia zeigte über den Fluss auf eines der ältesten und prächtigsten Apartmenthäuser der Kolonie, ein weißer Zylinderturm mit Garten auf jedem Balkon. »Meine Eltern haben für das Zeitinstitut gearbeitet.«

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Mir fiel kein nicht katastrophaler Grund dafür ein, warum eine Familie von einer der besten Adressen auf Kolonie Eins in ein halb verfallenes Haus in Night City umziehen sollte.

»Sie waren beide Reisende«, sagte Talia. »Bis eine Mission so schrecklich schieflief, dass meine Eltern nicht mehr arbeiten konnten. Innerhalb eines Jahres wohnten wir in dieser heruntergekommenen Gegend in Night City.«

»Tut mir leid, das zu hören.« Ich sagte das nur ungern, denn eigentlich liebte ich Night City, und diese heruntergekommene Gegend war mein Zuhause. Meine Familie – Zoey, unsere Mom und ich – wohnte dort nicht, weil wir mussten . Wir waren da, weil diese Gegend, so meine Mom, »im Gegensatz zu diesen sterilen Kolonien mit ihrem künstlichen Licht wenigstens noch ein bisschen Charakter hat«. Während ich mich daran erinnerte, fiel mir allerdings auch ein, dass wir es uns nicht leisten konnten, unser Dach reparieren zu lassen, wenn es mal wieder undicht war.

Talia sah mich an. »Betrunkene plaudern Geheimnisse aus«, sagte sie. »Falls du je länger als fünf Minuten darüber nachgedacht hast, wirst du bestimmt auch wissen, dass jede Zeitreise unweigerlich die Geschichte verändert. Die bloße Anwesenheit eines Zeitreisenden bedeutet eine Disruption , das hat mein Vater immer gesagt. Es gibt keine Möglichkeit, in der Zeit zurückzureisen, die Vergangenheit aufzusuchen, ohne die Zeitlinie zu verändern.«

»Verstehe«, sagte ich, wusste aber nicht, worauf sie hi­nauswollte. Beim Zuhören wurde mir derart unwohl, dass ich ihren Blicken auswich.

»Manchmal schickt das Zeitinstitut jemanden zurück, um den Schaden zu beheben und dafür zu sorgen, dass nichts passiert, was die Geschichte verändert. Du weißt schon, meist eine Kleinigkeit, etwa die, dass man einer Frau die Tür aufhielt, die daraufhin einen das Ende der Zivilisation herbeiführenden Algorithmus schrieb – oder was weiß ich. Manchmal also reist jemand zurück, um den Schaden zu beheben, aber nicht immer. Und weißt du, unter welchen Gesichtspunkten diese Entscheidung gefällt wird?«

»Klingt, als wäre das sehr geheim«, sagte ich.

»Oh, das ist es, Gaspery, aber du gefällst mir, und ich habe in meinem Alter eine Vorliebe fürs Rücksichtslose entwickelt, weshalb ich es dir erzählen will.« (Sie war wie alt? Fünfunddreißig? In diesem Moment aber fand ich sie auf geradezu faszinierende Weise verlebt.) »Das entscheidende Kriterium jedenfalls ist: Sie reisen nur zurück und beheben den Schaden, sofern dieser Schaden das Zeitinstitut selbst betrifft . Was bin ich, Gaspery? Wie würdest du mich beschreiben?«

Das fühlte sich wie eine Falle an. »Ich …«

»Ist schon okay«, sagte sie. »Du kannst es ruhig sagen. Ich bin ein Bürokrat. Personalpolitik ist Bürokratie.«

»Okay.«

»Das gilt auch fürs Zeitinstitut. Die bedeutendste Forschungsuniversität auf dem Mond, Besitzer der einzigen existierenden Zeitmaschine, aufs Engste mit Regierung und Justiz verstrickt; all das bringt einen enormen bürokratischen Aufwand mit sich, meinst du nicht? Du musst dir aber im Klaren sein, dass die Bürokratie ein Organismus ist, und oberstes Ziel eines jeden Organismus ist der Selbsterhalt. Bürokratie existiert, um sich selbst zu erhalten.« Sie blickte wieder über den Fluss. »Wir haben im dritten Stock gewohnt«, sagte sie, eine Hand ausgestreckt. »Der Balkon mit den Kletterpflanzen und Rosen.«

»Sieht schön aus«, sagte ich.

»Finde ich auch. Hör mal, ich verstehe durchaus, dass du beim Zeitinstitut arbeiten willst«, sagte sie. »Für dich bestimmt eine aufregende Möglichkeit. Und es ist ja auch nicht so, dass hier im Hotel eine große Karriere auf dich wartet. Du solltest nur wissen, sobald das Institut dich nicht mehr braucht, wird es dich rücksichtslos fallen lassen.« Sie sagte das so beiläufig, dass ich kaum glauben konnte, sie richtig verstanden zu haben. »Ich muss zu einer Konferenz«, sagte sie. »Fang bitte innerhalb der nächsten Stunde mit deiner Schicht an.« Sie wandte sich ab und ließ mich stehen.

Ich blickte hinüber zum Apartmentgebäude. Vor Jahren hatte man mich einmal zu einer Party in einer der Wohnungen eingeladen. Obwohl ich damals ziemlich betrunken gewesen war, erinnerte ich mich an Deckengewölbe und geräumige Zimmer, dachte jetzt aber nur, falls mit dem Zeitinstitut irgendwas schieflief, würde ich nie behaupten können, nicht gewarnt worden zu sein.

Trotzdem, ich wollte mein Leben ändern, hatte einfach keine Geduld mehr. Ich kehrte um, ging in Richtung Hotel und merkte, dass ich es nicht betreten konnte. Das Hotel war Vergangenheit. Ich wollte die Zukunft. Ich rief Ephrem an.

»Kann ich früher anfangen?«, fragte ich. »Mit dem Hotel ist ausgemacht, dass ich eine zweiwöchige Kündigungsfrist einhalte, aber könnte ich nicht trotzdem gleich mit der Ausbildung anfangen? Noch heute Abend?«

»Sicher«, sagte er. »Kannst du in einer Stunde hier sein?«