»Möchtest du einen Tee?«, fragte Ephrem.
»Ja, bitte.«
Er tippte etwas auf sein Gerät, und wir setzten uns an den Konferenztisch. Plötzlich eine Erinnerung: Eines Tages nach der Schule Teetrinken mit Ephrem und Ephrems Mutter in deren Wohnung, die schöner war als unsere. Ich weiß noch, dass Ephrems Mutter eine Arbeit hatte, die sie von zu Hause aus erledigen konnte; sie starrte auf einen Bildschirm. Ephrem und ich machten Schularbeiten, also dürfte es kurz vor dem Examen gewesen sein, zu einer Zeit, in der ich a) mit Tee und b) damit experimentierte, ein braver Schüler zu sein. Ich wollte ihn daran erinnern – weißt du noch ?, als es leise an der Tür läutete und ein junger Mann mit einem Tablett hereinkam, das er mit einem Kopfnicken auf den Tisch stellte. Chai-Tee ist real , sagte ich mir und begriff: Ephrem musste sich auch an diesen lang zurückliegenden Tag erinnern, denn er ließ immer nur Chai bringen, wenn ich zu ihm ins Institut kam.
»Die ist für dich.« Ephrem reichte mir eine dampfende Tasse.
»Warum wollte Zoey nicht, dass ich hier arbeite?«
Er seufzte. »Sie hatte vor einigen Jahren eine schlimme Erfahrung. Die Einzelheiten kenne ich nicht.«
»Doch, tust du wohl.«
»Ja, stimmt. Hör mal, es handelt sich nur um ein Gerücht, aber mir ist zu Ohren gekommen, sie hätte sich in einen Zeitreisenden verliebt, der sich abgesetzt hat und in der Zeit verloren ging. Das ist buchstäblich alles, was ich weiß.«
»Ist es nicht.«
»Buchstäblich alles, was nicht geheim ist«, sagte Ephrem.
»Wie geht man in der Zeit verloren?«
»Mal angenommen, jemand will die Zeitlinie absichtlich verändern, dann könnte das Zeitinstitut beschließen, ihn nicht in die Gegenwart zurückzuholen.«
»Warum würde man denn die Zeitlinie absichtlich ändern wollen?«
»Ganz genau«, sagte Ephrem. »Solange du das nicht tust, ist alles gut.« Er beugte sich vor, berührte eine Konsole an der Wand, und in der Luft vor uns erschien eine Zeitlinie mit den Fotografien einiger Leute. »Ich habe einen Rechercheplan für dich ausgearbeitet«, sagte er. »Da wir nicht wissen, worum es sich bei der Anomalie genau handelt oder wie gefährlich sie ist, wollen wir dich nicht in ihr Zentrum versetzen, möchten aber, dass du mit einigen Leuten sprichst, von denen wir annehmen, dass sie die Anomalie gesehen haben.«
Er vergrößerte ein sehr altes Foto, schwarz-weiß, von einem besorgt dreinblickenden jungen Mann in Militäruniform. »Das ist Edwin St. Andrew, der im Wald von Caiette etwas erlebt hat. Du suchst ihn auf und findest heraus, ob er darüber reden will.«
»Ich habe nicht gewusst, dass er Soldat war.«
»Wird er auch nicht sein, wenn du mit ihm redest. Du triffst ihn 1912, später hat er dann eine sehr schlimme Zeit an der Deutschen Westfront durchgemacht. Noch Tee?«
»Danke.« Ich hatte keine Ahnung, was die Deutsche Westfront war, rechnete aber damit, dass man mich im Laufe meiner Ausbildung aufklären würde.
Er scrollte auf der Zeitlinie zur Seite, und ich sah den Komponisten aus dem Video, das Zoey mir gezeigt hatte. »Im Januar 2020«, fuhr Ephrem fort, »gibt ein Künstler namens Paul James Smith eine Performance, in deren Verlauf ein Video gezeigt wird. Allem Anschein nach ist auf diesem Video jene Anomalie zu sehen, die St. Andrew ein Jahrhundert zuvor beschrieben hat, nur wissen wir nicht genau, wo dieses Video aufgenommen wurde. Wir haben auch keine vollständige Aufnahme von seinem Konzert, nur den Clip, den du von Zoey kennst. Du sprichst mit ihm und findest alles heraus, was du darüber in Erfahrung bringen kannst.«
Ephrem scrollte erneut, und ich sah ein weiteres Foto, ein alter Mann, der in einem Luftschiffterminal mit geschlossenen Augen Geige spielte. »Das ist Alan Sami«, sagte Ephrem. »Er hat um 2200 im Luftschiffterminal von Oklahoma City längere Zeit Geige gespielt, und wir glauben, dass dies die Musik ist, auf die sich Olive Llewellyn in Marienbad bezieht. Du interviewst ihn und findest mehr über die Musik heraus. Einfach alles, was du in Erfahrung bringen kannst.« Er bewegte sich die Zeitlinie entlang, und da war Olive Llewellyn, die Lieblingsschriftstellerin meiner Mutter und ehemalige Bewohnerin von Talia Andersons Elternhaus. »Olive Llewellyn. Leider bewahrt niemand Überwachungsaufnahmen für zweihundert Jahre auf, weshalb wir nichts darüber wissen, was Olive Llewellyn dort erlebt hat, ehe sie Marienbad schrieb. Du befragst sie auf ihrer letzten Lesereise.«
»Und die war wann?«, fragte ich.
»November 2203. Der Beginn der SARS-12-Epidemie. Keine Sorge, du wirst dich nicht anstecken.«
»Nie davon gehört.«
»Eine der Impfungen, die du als Kind bekommen hast«, sagte Ephrem.
»Sind weitere Ermittler auf den Fall angesetzt?«
»Mehrere. Sie nähern sich der Sache aus unterschiedlichen Blickwinkeln, sprechen mit anderen Leuten oder mit denselben, aber auf andere Weise. Vielleicht triffst du einige von ihnen, doch wenn sie ihre Sache gut machen, wirst du nie erfahren, wer sie sind. Soweit es dich betrifft, Gaspery, ist es kein komplizierter Auftrag. Du führst mehrere Gespräche und berichtest die Ergebnisse einem vorgesetzten Ermittler, der von da an übernimmt und das Schlussgutachten erstellt. Läuft alles gut, wirst du weitere Aufträge bekommen. Auf dich wartet in diesem Haus eine interessante Karriere.« Er studierte erneut die Zeitlinie. »Ich denke, hier solltest du anfangen«, sagte er, »mit dem Geiger.«
»Okay«, sagte ich. »Und wann rede ich mit ihm?«
»In etwa fünf Jahren«, sagte Ephrem. »Erst kommt deine Ausbildung.«