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Er war am Strand von Caiette. Die Koordinaten verrieten ihm, dass er im Sommer 1994 gelandet war, was ihm anfangs wie eine Fehlmeldung vorkam, da sich der Ort in den vergangenen acht Jahrzehnten überhaupt nicht verändert hatte. Er starrte zu den beiden kleinen Inseln hi­nüber, Baumwipfel, die aus dem Wasser ragten, und einen irritierenden Moment lang glaubte er, wieder im Jahr 1912 zu sein und sich im Kostüm eines Priesters des frühen zwanzigsten Jahrhunderts darauf vorzubereiten, Edwin St. Andrew in der Kirche zu begegnen.

Die kleine weiße Kirche auf dem Hügel sah aus wie bei seinem letzten Besuch – sie schien kürzlich allerdings frisch gestrichen worden zu sein, nur die Häuser drum herum wirkten anders. Er kehrte der Siedlung den Rücken zu und betrachtete das Meer. Die Sonne ging auf, blaue und rosafarbene Schemen rippelten über das Wasser. Ihm gefiel, wie es sich bewegte, die sanfte Wiederholung der Wellen. Zum ersten Mal seit längerer Zeit musste er an seine Mutter denken. Sie hatte als Kind Zeit auf der Erde verbracht. Und in der Küche des Hauses, in dem er aufgewachsen war, hing ein gerahmtes Foto vom Meer, ein kleines Rechteck mit lauter Wellen gleich neben dem Herd. Er erinnerte sich, dass sie es oft angesehen hatte, während sie die Suppe umrührte. Ihm selbst aber, das merkte er jetzt, bedeutete das Meer nicht viel, es kam in seinen Kindheitserinnerungen nicht vor und in keinem der wichtigen Augenblicke seines Lebens; es war nur etwas, das er aus Filmen kannte und im Rahmen seiner Arbeit gesehen hatte, weshalb er kaum Gefühle dafür hegte. Nach einem Moment wandte er sich wieder ab und ging den Strand entlang, folgte den lautlos auf seinem Gerät blinkenden Koordinaten. Er lief am letzten Haus vorbei und betrat den Wald.

Durch den Wald laufen war diesmal einfacher als damals mit dem Priestergewand, aber er besaß kein Talent dafür. Der Boden war ihm zu weich, Zweige schnappten nach seinen Kleidern, und er fühlte sich von allen Seiten angegriffen. Es war ein sonniger Nachmittag, am Morgen musste es jedoch geregnet haben. Feuchte Farne zupften an seinen Beinen. Die Schuhe waren nicht so wasserdicht, wie er angenommen hatte. Leise pulsierte das Gerät in seiner Hand und zeigte an, dass er der gesuchten Stelle nahe war. Er ließ den Ast los, an dem er sich festgehalten hatte, um auf den Bildschirm zu blicken; der Ast peitschte ihm ins Gesicht.

Hier war der Ahornbaum, zweiundachtzig Jahre älter als beim letzten Mal. Er hatte weniger an Höhe als an Breite und Pracht zugelegt. Die Lichtung um ihn herum hatte sich mit der Zeit ausgebreitet. Gaspery trat unter sein Laubdach, um zu dem durch die Blätter rieselnden Licht aufzusehen; und zum ersten Mal in seinem Leben überkam ihn wahre Ehrfurcht.

Wann würde Vincent Smith auftauchen? Das ließ sich unmöglich sagen. Gaspery verließ die Lichtung, kämpfte sich ins Unterholz vor, hockte sich auf die kühle, feuchte Erde und wartete.

Reglos lauschte er. Noch etwas, was ihm am Wald nicht gefiel, diese konstante Geräuschkulisse. Das hier war anders als das stete Hintergrundgeräusch der Mondstädte, das Rumoren ferner Maschinen, die die Schwerkraft auf Erdniveau verstärkten, die Luft atembar hielten und für die Illusion einer Brise sorgten. Die Geräusche im Wald kannten kein Muster, und ihre Zufälligkeit machte Gaspery nervös. Zeit verging, Stunden. Er bekam einen Krampf in den Muskeln und war schrecklich durstig. Einige Male stand er auf, um sich die Beine zu vertreten, dann hockte er sich wieder hin. Man konnte unmöglich sagen, ob sich etwas näherte, bis es schließlich so weit war. Kurz nach vier Uhr am Nachmittag hörte er auf dem Pfad die leisen Schritte eines Mädchens.

Vincent Smith mit dreizehn: Sie sah aus, als hätte sie sich das Haar mit einer stumpfen Schere selbst abgeschnitten und dann hellblau gefärbt. Die Augen waren schwarz umrandet. Sie wirkte unübersehbar verwahrlost. Sie ging langsam, blickte durch das Objektiv ihrer Kamera. Aus seinem Versteck heraus erkannte Gaspery die Szene: Er hatte einmal in New York City in einem Theater gesessen und sich eine ermüdende musikalische Darbietung angehört, die von ebenjenen Bildern begleitet worden war, die Vincent in diesem Moment aufnahm. Unter dem Baum blieb sie stehen und richtete die Kamera nach oben –

– die Wirklichkeit zerbrach: Gaspery und Vincent waren in der höhlenartig widerhallenden Kathedrale des Luftschiffterminals in Oklahoma City, direkt vor ihnen lief Olive Llewellyn, und irgendwo in der Nähe ertönte eine Geige. Und hier, völlig unmöglich, war auch Edwin St. Andrew, den Blick nach oben in die Äste, an die Terminaldecke gerichtet –

Vincent taumelte und hätte fast die Kamera fallen lassen. Gaspery schlug die Hände vor den Mund, da er am liebsten laut geschrien hätte; das Terminal war wieder verschwunden. Es ist eine Sache, abstrakt zu wissen, dass ein Moment einen anderen Moment überblenden könnte, etwas ganz anderes aber, beide Momente zugleich zu erleben; und es ist noch einmal etwas anderes, wenn man ahnt, was dies bedeuten könnte. Vincent sah sich verstört um, aber Gaspery presste sich an den Boden, und sie entdeckte ihn nicht. Er schloss die Augen, grub die Hände in die Erde und versuchte, sich einzureden, dass das kalte Wasser, das durch den Stoff der Hose suppte, real war.