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Im Winter des Jahres 2007 verließ Gaspery in New York City die Herrentoilette und begab sich in die Wärme und das Licht einer Party in einer Kunstgalerie. Er schlenderte gemächlich durch die Menge, um sich zu orientieren, und suchte Vincent Smith. Er wusste, dass sie hier war – historische Berichte hatten ihre Anwesenheit festgehalten, denn irgendwo in diesen Räumen gab es einen Gesellschaftsfotografen –, im Jahre 2007 bedeutete Vincents Anwesenheit allerdings, dass ihre Freundin auch hier sein würde, und nach der seltsamen Begegnung mit Mirella Kessler im Jahre 2020 hoffte Gaspery, ihr aus dem Weg gehen zu können.

Er sah sie zusammen am hinteren Ende des Saals ein großformatiges Ölgemälde bewundern. Von einem kleinen runden Tablett schnappte er sich ein Glas Rotwein, tat, als würde er ein anderes Bild betrachten, und überlegte den nächsten Schritt. Die Menge machte ihn nervös. Man gab sich die Hand, was er trotz seines Trainings in Kultursensitivität ziemlich bizarr fand, schließlich war Grippesaison; man küsste sich sogar auf die Wange. Diese Leute hier, musste er sich in Erinnerung rufen, hatten noch keine unmittelbaren Erfahrungen mit einer Pandemie gemacht. Niemand von ihnen war alt genug, um sich an den Winter des Jahres 1918/1919 zu erinnern; bis zum Ebola-Ausbruch, der mehr oder weniger auf die andere Seite des Atlantiks beschränkt bleiben würde, sollte noch einige Zeit vergehen; und den ersten Corona-Fall gab es erst in dreizehn Jahren. Gaspery schlenderte die Wände entlang, bewegte sich langsam auf Vincent zu.

2007 war Vincent reich und besaß eine Aura von Eleganz und Selbstbewusstsein, wie er sie nie von der blauhaarigen Göre erwartet hätte, die eben noch in Caiette durch den Wald gelaufen war. Sie hatte sich bei Mirella untergehakt, und gemeinsam standen sie vor einem Gemälde, sahen es sich aber nicht an, wie Gaspery jetzt bemerkte. Sie flüsterten in verschwörerischem Ton; Mirella lachte leise, und sie wirkten so unzertrennlich, dass er schon verzweifeln wollte. Dann aber löste sich Vincent von Mirella, um jemanden zu begrüßen, während ihre Freundin sich auf der Suche nach ihrem Mann umdrehte. Gaspery nutzte die Gelegenheit.

»Vincent?«

»Hallo.« Sie begrüßte ihn mit einem herzlichen Lächeln, und er merkte, dass sie ihm auf Anhieb gefiel.

»Tut mir leid, Sie zu behelligen. Ich führe im Auftrag eines Kunstsammlers eine Recherche durch und hätte Ihnen auf die Schnelle gern einige Fragen zu den Videos Ihres Bruders Paul gestellt.«

Damit hatte er ihre Aufmerksamkeit gewonnen. Sie machte große Augen. »Mein Bruder? Aber ich dachte – ich habe gar nicht gewusst, dass er Videos dreht. Er ist Musiker. Oder Komponist, sollte ich wohl sagen.«

»Das bestätigt meine Vermutung«, sagte er. »Ich glaube nämlich nicht, dass er diese Videos selbst aufgenommen hat. Ich denke, das war jemand anderes.«

Sie runzelte die Stirn. »Können Sie sie beschreiben?«

»Nun, es gibt da ein bestimmtes, das mich interessiert«, sagte Gaspery. »Jemand geht durch einen Wald. In British Columbia, glaube ich. Ein sonniger Tag. Der Qualität der Aufnahme nach zu urteilen, tippe ich auf Mitte der Neunzigerjahre.«

Ihr Blick wurde weich. Gaspery kam sich vor, als versetzte er sie in eine Art Hypnose. »Gezeigt wird ein Pfad«, erklärte er, »der zu einem Ahornbaum führt.«

Sie nickte. »Ich habe diesen Pfad immer wieder gefilmt«, sagte sie.

»Auf diesem bestimmten Video passiert etwas Eigenartiges. Ein seltsames Aufblitzen«, sagte Gaspery, »dann wird für eine Sekunde alles dunkel, sicher ein Bandfehler …«

»Das habe ich auch gedacht«, sagte Vincent, »aber es lag nicht am Band.«

»Sie haben es gesehen?«

»Ich habe diese verrückten Töne gehört, als alles dunkel wurde.«

»Was haben Sie gehört?«

»Geigenklänge. Dann so etwas wie ein Hydraulikgeräusch. Ich konnte es mir nicht erklären.« Ihre Augen verengten sich. »Entschuldigen Sie«, sagte sie, »wie war noch mal Ihr Name?«

Ihr Mann kam durch die Menge auf sie zu und reichte seiner Frau ein Glas Wein. Gaspery nutzte diesen Moment, in dem Vincent abgelenkt war, um sich zu verdrücken. Ihn überkam ein eigentümliches Glücksgefühl, teils Erschöpfung, teils Freude. Er hatte einen weiteren Beleg, aufgenommen auf seinem Gerät. Und er hatte seine eigenen Beobachtungen. Zum ersten Mal seit seinem Gespräch mit Olive Llewellyn am Morgen dieses seltsamen und schier unendlich langen Tages hatte er den Eindruck, dass es für ihn vielleicht doch noch Hoffnung gab.

Vor der Tür zur Männertoilette aber zögerte Gaspery einen Moment, sah zur Party hinüber, und sein Glücksgefühl verflog. In ihm regte sich jenes schreckliche Elend, vor dem Zoey ihn gewarnt hatte, das grauenhafte Wissen darum, wie die Geschichte von jedem in diesem Raum endete. Er ließ den Blick durch den Saal wandern, und zum ersten Mal in seinem Leben kam Gaspery sich alt vor.

Vincent und ihr Mann stießen miteinander an. In vierzehn Monaten würde man Alkaitis verhaften, weil er ein gigantisches Schneeballsystem aufgebaut hatte; er würde gegen Kaution freigelassen werden, woraufhin er nach Dubai fliehen, Vincent im Stich lassen und den Rest seines langen Lebens in einer Reihe von Hotels verbringen würde.

Vincent hatte noch zwölf Jahre zu leben, ehe sie unter mysteriösen Umständen vom Deck eines Containerschiffs verschwand.

An ihrer Seite unterhielt sich Mirella mit Faisal, ihrem Mann, der in Jonathans Betrugssystem investiert hatte. Wenn das Ganze in einem Jahr platzte, würde er vor dem Nichts stehen, aber auch die Mitglieder seiner Familie, die auf sein Anraten hin ebenfalls investiert hatten, verloren viel Geld. Faisal beging Selbstmord.

Mirella würde die Leiche und den Abschiedsbrief finden. Danach blieb sie noch ein Jahrzehnt in New York, bis sie im März 2020 aus unbekannten Gründen nach Dubai fliegen und dort kurz vor Beginn der Corona-Epidemie eintreffen sollte. Sie würde Himesh Chiang kennenlernen, ein Gast im selben Hotel, und nach einer Weile würden die beiden zusammen in Himeshs Geburtsstadt London reisen, wo sie die Pandemie überstehen, heiraten und den Rest ihres Lebens zusammen verbringen sollten. Mirella gebar drei Kinder, war im Einzelhandelsmanagement erfolgreich und starb mit fünfundachtzig an einer Lungenentzündung, ein Jahr nach dem Tod ihres Mannes bei einem Autounfall.

Jede Biografie aber, jeder Lebensbericht, lässt unweigerlich vieles aus. Vor alldem hier, bevor Mirella Faisal verlor, bevor diese Party in dieser Stadt am Meer stattfand, war Mirella ein Kind in Ohio gewesen. Gaspery überlief ein Schaudern. Er dachte daran, wie sie ihn im Januar 2020 im Park angesehen hatte. Sie waren damals in der Unterführung , hatte sie mit schrecklicher Gewissheit gesagt, in Ohio, ich war noch ein Kind . Aber nicht nur das. Sie hatte auch gesagt, dass man ihn verhaften würde.

Er hatte geglaubt, 1918 würde seine letzte Reise sein. Er hatte getan, was er konnte, um sich zu retten, und nach 1918 wollte er zurück und sich den Konsequenzen stellen. Jetzt aber, während er zu Mirella hinübersah, begriff er, dass es zu spät war. Er würde nach 1918 reisen, doch wartete danach noch ein Ziel auf ihn.