1918 hatte Edwin keine Brüder mehr und nur noch ein Bein. Er lebte bei seinen Eltern auf dem Familiensitz, und er lief ohne Unterlass, vorgeblich, um seinen Gang zu verbessern – man hatte ihm eine Prothese angepasst, und er schwankte beim Laufen –, in Wahrheit aber hörte er nicht auf zu gehen, damit ihn der Feind nicht erwischte. Er ging zu jeder Tages- und Nachtzeit. Der Schlaf versetzte ihn unweigerlich zurück in die Gräben, also mied er den Schlaf, was bedeutete, dass der ihm stets unerwartet auflauerte, während er in der Bibliothek las, im Garten saß und ein- oder zweimal auch beim Essen.
Seine Eltern wussten nicht so recht, wie sie mit ihm reden, ja, nicht einmal, wie sie ihn anschauen sollten. Dass er antriebslos sei, konnten sie ihm kaum mehr vorwerfen, denn er war ein Kriegsheld und außerdem ein Invalide. Für alle Welt war offensichtlich, dass es ihm nicht gut ging. »Du hast dich sehr verändert, mein Lieber«, sagte seine Mutter sanft, doch wusste er nicht so genau, ob das als Kompliment, als Vorwurf oder als reine Feststellung gemeint war. Er hatte Menschen noch nie gut deuten können, jetzt noch weniger als früher.
»Nun«, sagte er, »ich habe so manche Dinge gesehen, die ich lieber nicht gesehen hätte.«
Das Understatement des gottverdammten zwanzigsten Jahrhunderts.
Allerdings brachte er heute mehr Verständnis für seine Mutter auf. Wenn Abigail beim Abendessen davonschwebte, sobald das Gespräch auf die Kolonien kam, und jene Miene aufsetzte, die ihre Söhne einmal etwas unhöflich die Britisch-Indien-Miene genannt hatten, verstand Edwin heute nur zu gut, dass sie um einen Verlust trauerte. Er fand die Herrschaft der Briten in Indien zwar weiterhin unentschuldbar, doch änderte es nichts daran, dass seine Mutter eine ganze Welt verloren hatte. Und es war nicht ihre Schuld, dass es die Welt, in der sie aufgewachsen war, nicht mehr gab.
Im Garten redete er manchmal mit Gilbert, obwohl Gilbert tot war. Gilbert und Niall waren beide in der Schlacht an der Somme gestorben, mit einem Tag Abstand, Edwin hingegen hatte Passendale überlebt. Nein, überlebt war das falsche Wort. Edwins kaum noch beseelter Körper war aus Passendale heimgekehrt. Heute dachte er an seinen Körper bloß noch in strikt mechanischen Begriffen. Sein Herz schlug unermüdlich vor sich hin. Er atmete weiter. Er befand sich in guter körperlicher Verfassung, vom fehlenden Bein einmal abgesehen, aber er war alles andere als gesund. Er fand es schwierig, in der Welt zu leben.
»Das ist nicht weiter ungewöhnlich«, hatte er den Arzt auf dem Flur vor seinem Zimmer in einer jener ersten Wochen sagen hören, in denen er nichts weiter konnte, als im Bett zu liegen. »Die Jungs, die rüber sind und in den Gräben landeten, haben Dinge gesehen, die niemand von uns sehen sollte.«
Er hatte nicht völlig aufgegeben. Er gab sich Mühe. Er stand jetzt morgens auf und kleidete sich an; er aß, was ihm auf den Tisch gestellt wurde; und wenn er seine Kraft verausgabt hatte, brachte er den Rest des Tages im Garten zu. Er saß gern auf einer Bank unter einem Baum und redete mit Gilbert. Dass Gilbert nicht dort war, wusste er – so verrückt war er nun auch wieder nicht –, doch es gab sonst einfach niemanden, mit dem er reden konnte. Früher hatte er hier Freunde gehabt, aber bis auf einen, der in China lebte, waren alle anderen tot.
»Jetzt, da ihr beide tot seid, du und Niall«, bekannte er Gilbert, »erbe ich den Titel und das Anwesen.« Es erstaunte ihn, wie wenig ihn das kümmerte.
Es versetzte ihm einen merkwürdigen Stich, als er eines Morgens den ummauerten Garten betrat und einen Mann auf der Bank sitzen sah. Einen Herzschlag lang glaubte er, es sei Gilbert – in diesem Moment schien ihm alles möglich –, doch beim Näherkommen fand er die wahre Identität des Mannes nicht minder verstörend: Es war der Schwindler aus der kleinen Kirche am äußersten Rand von British Columbia, dieser seltsame, als Priester verkleidete Mann, den außer ihm offenbar niemand gesehen hatte.
»Bitte«, sagte der Mann. »Setzen Sie sich.« Derselbe unbestimmbare Akzent.
Edwin setzte sich neben ihn auf die Bank.
»Ich habe Sie für eine Halluzination gehalten«, sagte Edwin. »Als ich Pater Pike traf und ihn nach dem neuen Priester fragte, dem ich gerade begegnet war, hat er mich angesehen, als hätte ich zwei Köpfe.«
»Ich heiße Gaspery-Jacques Roberts«, sagte der Fremde. »Ich fürchte, mir bleiben nur wenige Minuten Zeit, aber ich wollte Sie unbedingt treffen.«
»Nur wenige Minuten? Und dann?«
»Eine Verabredung. Würde ich Ihnen die Einzelheiten erklären, hielten Sie mich für verrückt.«
»Ich fürchte, ich bin momentan kaum in der Lage, die Verrücktheit anderer Leute zu beurteilen, aber was haben Sie in meinem Garten zu suchen?«
Gaspery zögerte. »Sie waren an der Westfront, nicht?«
Schlamm. Eisiger Regen. Eine Explosion, blendendes Licht, um ihn herum rieseln Dinge zur Erde, eines trifft ihn an der Brust, und als er hinsieht, erkennt er den Arm seines besten Freundes …
»Belgien«, bestätigte Edwin mit zusammengebissenen Zähnen.
Freund beschrieb eigentlich nicht, was der Mann für ihn gewesen war. Das Ding, das seine Jacke traf und ihm dann zu Füßen fiel, war der Arm seines Geliebten. Der Kopf seines Geliebten landete unweit im Schlamm, die Augen vor Erstaunen weit aufgerissen.
»Und jetzt fürchten Sie um Ihren Verstand«, wagte Gaspery sich vor.
»Ehrlich gesagt, um den war es noch nie besonders gut bestellt«, sagte Edwin.
»Erinnern Sie sich an das, was Sie im Wald von Caiette gesehen haben? Ist jetzt Jahre her.«
»Noch sehr lebhaft, aber das war wirklich eine Halluzination. Die erste von vielen, fürchte ich.«
Gaspery schwieg einen Augenblick. »Wie es dazu gekommen ist, kann ich Ihnen nicht genau erklären«, sagte er. »Meine Schwester könnte das, aber das geht weit über meinen Horizont. Doch was immer Ihnen später auch widerfuhr, was immer Sie in Belgien auch erlebt haben, vielleicht sind Sie besser bei Verstand, als Sie glauben. Jedenfalls kann ich Ihnen versichern, dass das, was Sie in Caiette gesehen haben, real war.«
»Woher wollen Sie das wissen?«, fragte Edwin.
Gaspery streckte eine Hand aus und legte sie Edwin auf die Schulter. Beide verharrten so einen Moment. Edwin starrte die Hand auf seiner Schulter an, bis Gaspery sie zurückzog, dann räusperte sich Edwin.
»Was ich in Caiette erlebt habe, kann unmöglich real gewesen sein«, erklärte Edwin. »Es war eine Sinnestäuschung.«
»War es das? Wenn ich mich nicht irre, haben Sie einige Geigentöne gehört, die jemand in einem Luftschiffterminal im Jahr 2195 gespielt hat.«
»Ein Luftschiff … im Jahr zweitausendeinhundert-wie viel ?«
»Gefolgt von einem Geräusch, das Ihnen ziemlich seltsam vorgekommen sein muss. Eine Art Wuuusch , stimmt’s?«
Edwin starrte ihn an. »Woher wissen Sie das?«
»Weil Luftschiffe so ein Geräusch machen«, sagte Gaspery. »Es wird noch eine Zeit dauern, bis sie erfunden werden. Und was die Geigenmusik angeht … eine Art Wiegenlied, oder nicht?« Er schwieg einen Moment, dann summte er einige Töne. Edwin umklammerte die Armlehne der Bank. »Der Mann, der dieses Lied komponiert hat, wird erst in hundertneunundachtzig Jahren geboren.«
»Das ist doch alles unmöglich«, sagte Edwin.
Gaspery seufzte. »Stellen Sie es sich als … nun, als eine Verfälschung vor. Einzelne Zeitmomente können einander verfälschen. Es gab eine Störung, die aber hatte nichts mit Ihnen zu tun. Sie sind bloß derjenige gewesen, der sie gesehen hat. Sie waren mir bei meiner Recherche sehr behilflich, und ich glaube, Sie befinden sich in einem recht delikaten Zustand, deshalb dachte ich, es würde Sie vielleicht ein wenig beruhigen, wenn Sie erfahren, dass Sie besser bei Verstand sind, als Sie glauben. In jenem Augenblick damals haben Sie jedenfalls nicht halluziniert. Sie haben einen Moment aus einer anderen Zeit erlebt.«
Edwins Blick wanderte vom Gesicht des Mannes hinüber zum etwas vernachlässigten Septembergarten. Der Salbei war jetzt meistenteils kahl, braune Stängel, vertrocknete Blätter, ein paar letzte Blüten, die blau und violett im abnehmenden Licht schwebten. Ihn überkam ein Moment der Einsicht in das, was sein Leben von jetzt an sein könnte: Er würde hier still vor sich hin leben und sich um den Garten kümmern; vielleicht wäre das ja genug.
»Ich danke Ihnen dafür, dass Sie mir das anvertraut haben«, sagte Edwin.
»Behalten Sie es lieber für sich.« Gaspery stand auf, wischte ein abgefallenes Blatt von seiner Jacke. »Sonst bringt man Sie noch in eine Nervenheilanstalt.«
»Wohin gehen Sie jetzt?«, fragte Edwin.
»Ich habe eine Verabredung in Ohio«, sagte Gaspery. »Alles Gute.«
»In Ohio?«
Aber Gaspery entfernte sich bereits und verschwand schon bald darauf hinterm Haus. Edwin sah ihm nach und blieb noch lange auf der Bank sitzen, stundenlang, und sah zu, wie der Garten im Dämmerlicht versank.