Aber Dezimalzahlen ergeben einen Sinn.
Dexter
Ich bekomme Skylar Orion nicht aus dem Kopf.
Es ist schlimm genug, dass seine Schwester eine meiner Schülerinnen ist. Die Tatsache, dass ich anfangs dachte, er sei ein Schüler, macht es mir unmöglich zu leugnen, wie verkehrt das ist.
Auf mehreren Ebenen – denn wenn ich meinen Verdacht, dass er nur halb so alt ist wie ich, in die Gleichung miteinbeziehe, erscheint mir das Ganze noch viel irrationaler.
Irrationale Gleichungen.
Clever, Dexter.
Ich schüttle den Kopf. Selbst wenn das Ganze nicht allein aus Prinzip völlig unangemessen wäre, bezweifle ich, dass er sich für jemanden interessieren würde, der in einem Altersheim landet, wenn er in seinen besten Jahren ist.
Andererseits ist mir zu Ohren gekommen, dass die Jungs in diesen Pflegeheimen ein aktives Sexualleben führen, also gibt es noch Hoffnung für uns alte Leute.
Ich sollte definitiv nicht im selben Moment über mein Sexleben und Skylar nachdenken. Natürlich sollte ich mir auch nicht vorstellen, wie er nackt aussieht. Falsch. Irrational. Unangemessen. Und nein, es hilft nicht, dass er alle Kriterien erfüllt, die ich für jemanden habe, mit dem ich mich gerne verabreden würde.
Nun. Alle außer einem.
Er ist ein paar Zentimeter kleiner als ich und schlank, ohne zu dünn zu sein, was mein männliches Ego unterstützt, mit unordentlichem schwarzem Haar, durch das ich mit den Fingern fahren möchte, und einem Lächeln, das mich in Wachs zu verwandeln droht … Fähig, meine Aufmerksamkeit zu fesseln und mich zu weigern, sie wieder loszulassen.
Vielleicht hat Gavin recht und es ist wirklich zu lange her, dass ich Sex hatte – nicht, dass ich das meinem Freund erzählen würde. Die Schadenfreude würde nie aufhören. Aber Sex ist nicht alles, auch wenn er noch so anziehend ist, und ich kann mich nicht einer Beziehung hingeben, die nur auf dem Körperlichen basiert.
Bei diesem Tempo sollte ich mich mit einer Zukunft abfinden, in der mir nur Enten, Wachteln und Kaninchen Gesellschaft leisten.
Ich sollte wirklich mit den Vögel
gedanken aufhören, aber sie scheinen nicht aufzuhören, sich zu vermehren
. Ich kann nicht umhin, mich zu fragen, ob Skylar dieses Wortspiel genauso amüsant finden würde wie die anderen, und ich schüttle den Kopf.
Verdammt noch mal. Mich hat’s erwischt.
Es ist leicht, mir einzureden, dass ich Informationen über Evie nachschlage, damit ich ihr besser helfen kann, aber ich weiß es besser. Ich möchte nur unbedingt herausfinden, warum ihr älterer Bruder für sie verantwortlich ist.
Ich bin mir sicher, dass er nicht ihr Vormund sein könnte, wäre er noch minderjährig, was eine gute Sache ist. Ich bin mir bereits bewusst, dass ich mich zu jemandem hingezogen fühle, der aussieht, als könnte mich eine Affäre mit ihm in den Knast bringen. Ich will gar nicht daran denken, wie ich mich fühlen würde, wenn sich herausstellen würde, dass er minderjährig ist
.
Ich hätte nicht gedacht, dass ich schon so früh
durch eine Midlife-Crisis gehen würde.
Ich kann auch nicht aufhören, mich zu fragen, warum ich ihn noch nie zuvor gesehen habe. Ich unterrichte hier seit zwei Jahren, seit mein Ex und ich uns getrennt haben und ich beschloss, für eine Weile in eine andere Stadt zu ziehen. Evie ist schon seitdem meine Schülerin, also weiß ich, dass sie hier gelebt hat.
Scheiße, ich fühle mich wie ein Stalker.
Aber es ist nicht nur die Anziehungskraft, die mich an Skylar fasziniert. Jahrelange Lehrerfahrung hat meinen Instinkt geschärft, und mein Bauchgefühl sagt mir, dass irgendetwas faul ist. So kontaktfreudig und scherzhaft Skylar auch war, ich werde das Gefühl nicht los. Seine grauen Augen sind zwar wunderschön, aber sie standen im Widerspruch zu seinem Lächeln.
Ich zögere, aber die Neugier siegt. Ich führe eine Suche in den Schülerakten durch, und ich werde mit einer kurzen Akte über Skylar belohnt. Er war Schüler, obwohl er es seit ein paar Jahren nicht mehr ist.
Zu meiner großen Erleichterung wird dadurch bestätigt, dass er achtzehn Jahre alt ist.
Ich runzele die Stirn, als ich feststelle, dass seine Noten in seinem zweiten Schuljahr von gut auf nicht gut abgesackt sind. Alles in allem gibt es hier nicht viel. Ich fühle mich mehr als nur ein wenig schuldig, als ich die Akte schließe; ich sollte es besser
wissen, als zu meinem persönlichen Vorteil in den Schülerakten zu schnüffeln.
Doch je mehr ich sehe, desto mehr läuten die Alarmglocken. Etwas an der Art und Weise, wie Skylar denselben Weg ging, den seine Schwester jetzt geht, hält mich davon ab, es zu vergessen. Ich öffne ein neues Fenster und gebe Skylars Namen in die Google-Suche ein. Nichts als ein paar Men in Black
-Referenzen und Sternenkonstellationen.
Das Schuldgefühl hindert mich nicht daran, Constance Slater aufzusuchen, die hier seit der Eröffnung der Schule Englisch unterrichtet. Ich klopfe an ihre offene Tür, und sie lächelt mich an und legt den violetten Stift in ihrer Hand ab.
„Ist Rot nicht gut genug für dich?“, frage ich und grinse sie an.
„Letztes Jahr beschwerte sich eine meiner Schülerinnen, dass es aussah, als würde das Papier bluten“, sagt sie trocken. „Ich beschloss, andere Farben zu verwenden, die sie nicht an Blutvergießen denken ließen. Ich möchte sie lieber nicht auf dumme Gedanken bringen.“
Constance war einer meiner Lieblingsgesprächspartnerinnen. Sie nahm mich unter ihre Fittiche und führte mich herum, als ich das erste Mal auf die South Central High kam.
„Guter Plan.“ Ich quetsche mich hinter einen der Schreibtische, und sie lacht über den Anblick meines großen Körpers an dem relativ kleinen Schreibtisch. Ich schüttle den Kopf, aber ich setze mich auch nicht woandershin, sondern sehe sie an. „Frage.“
„Antwort“, erwidert sie prompt.
„Klugsch–“ Ich stoppe mich selbst. Ich bin immer noch bei der Arbeit. „–nabel“, beende ich schwach.
„Zahlenjongleur.“
Ich verdrehe die Augen. Es muss der Schreibtisch sein, der mir das Gefühl gibt, wieder ein Schüler in der Highschool zu sein – nicht die großmütterliche Lehrerin, die meine geschätzte Midlife-Crisis wie einen vorpubertären Akt der Rebellion erscheinen lässt.
Nicht, dass ich damals jemals Respektlosigkeit gegenüber Autoritäten gezeigt hätte. Das würde ich nie tun.
„Unterrichtest du dieses Jahr Evie Orion?“, frage ich und lehne mich im Stuhl zurück. Zumindest lehne ich mich so weit zurück, wie es das kleine Ding zulässt. Es könnte als Rückenstütze und
Gürtel fungieren.
Constance nickt.
„Hat sie hier auch Schwierigkeiten?“
Für einen Moment ist der Raum still, bis auf das Summen der Klimaanlage. „Sie ist kurz vor dem Durchfallen. Ich habe ihre Eltern noch nicht kontaktiert.“
„Erziehungsberechtigter“, korrigiere ich sie, und sie hebt eine Braue. „Ihr Bruder Skylar. Hast du ihn jemals in einer deiner Klassen gehabt?“
Constance runzelt die Stirn. „Du weißt doch, wie viele Schüler ich jedes Jahr unterrichte, oder?“
„Und ich weiß, wie scharfsinnig du bist und dass du nie einen von ihnen vergessen würdest“, erwidere ich.
Sie schenkt mir ein reumütiges Lächeln. „Ja, ich habe ihn unterrichtet. Erstes und zweites Jahr in Englisch, bis er abgebrochen hat.“
Ich bedeute ihr fortzufahren.
„Er war den größten Teil der neunten Klasse ein guter Schüler“, sagt sie nachdenklich und reibt sich dabei den Nasenrücken. „Solider Zweier-Durchschnitt. Aber gegen Ende des Jahres …“ Sie wird leiser. „Er kam entweder gar nicht mehr zum Unterricht, und er schlief, wenn er es doch tat. Er gab seine Hausaufgaben nicht mehr ab. Er war immer ein
lustiges, aufgeschlossenes Kind gewesen, aber er begann sich zurückzuziehen und still zu werden.“ Sie schüttelt den Kopf. „Er hatte die Prüfungen im zweiten Halbjahr nicht bestanden, als er den Kurs abbrach.“
Ich versuche, nicht zusammenzuzucken, als sie ihn ein Kind nennt. Auch wenn ich weiß, dass er keins mehr ist, ist mir das ein wenig unangenehm. „Weißt du, warum er abgebrochen hat?“
Constance schüttelt den Kopf. „Ich habe ihn mehrere Male zum Vertrauenslehrer geschickt. Ich bin mir nicht sicher, ob etwas gesagt oder getan wurde, aber kurz nach dem letzten Mal kam er überhaupt nicht mehr.“ Sie seufzt. „Es war eine echte Schande. Ich habe versucht, Evie zu fragen, aber sie ist der Frage ausgewichen.“
„Evie ist gut darin“, sage ich reumütig. „Eine klare Antwort von ihr zu bekommen, ist, als würde man versuchen, Blut aus einem Stein zu quetschen.“
Oder wie auch immer das Sprichwort lautet. Constance korrigiert mich jedenfalls nicht.
„Ich habe ihn heute getroffen“, fahre ich fort. Ich weiß nicht, was ich von all dem halten soll.
„Und?“, fragt sie.
Ich zucke mit den Schultern und tue so, als würde ich mich mit der Richtung, in die dieses Gespräch zu führen scheint, nicht unwohl fühlen. „Und er wird mit ihr reden und sie zur Nachhilfe überreden. Viel mehr kann er nicht tun.“
„Hmm.“
Ich sehe sie an, als sie den unverbindlichen Ton von sich gibt. „Höhlenmensch mögen Worte“, sage ich. „Höhlenmensch verstehen Worte.“
„Bitte mach das nie wieder“, antwortet Constance, obwohl ihre Lippen zucken, da sie sich das Lächeln nicht ganz verkneifen kann. „Ich bin … besorgt. Das ist alles. Glaubst du, dass deine Unterhaltung mit ihm helfen wird?“
„Er schien es ernst zu nehmen“, bemerke ich. „Er hat den Humor, den du erwähnt hast, aber er schien wirklich besorgt zu sein.“
„Zumindest das.“ Constance seufzt. „Ich sollte mich jetzt wieder daranmachen, zu sehen, wie schlimm die englische Sprache abgeschlachtet werden kann. Jedes Mal, wenn ich denke, dass mich nichts mehr überrascht, nimmt das Universum die Herausforderung an.“
„Ich sollte auch die Zahl der Todesopfer bei Bruchrechnung ermitteln“, stimme ich zu. Ich lächle sie an und stehe auf. „Danke, Constance.“
Sie nickt, als sie ihren Stift wieder in die Hand nimmt, vermutlich, um das nächste Blatt wie ihr persönliches Malbuch zu behandeln.
Ich kehre in mein Klassenzimmer zurück, unsicher, was ich von dem Gespräch halten soll, ganz zu schweigen von der Situation. Ich sage mir, dass ich es wissen müsste, damit ich meiner Schülerin helfen kann, aber ich mache mir nicht einmal selbst etwas vor.
Es ist nicht so, dass ich Skylar wiedersehen werde, und ich weiß, dass das Interesse, das ich an ihm habe, vor Ende der Woche nachlassen wird. Ich war immer schnell im Interesseverlieren, es war nie meine Stärke, interessiert zu bleiben. Es ist ein Wunder, dass meine letzte Beziehung ein Jahr lang nur so vor sich hin stotterte, bevor wir schließlich Schluss machten und getrennte Wege gingen.
Auch wenn es nicht vergeht, weiß ich es besser, als zu glauben, dass ich eine Zukunft mit dem achtzehnjährigen Bruder einer meiner scheiternden Schülerinnen haben kann.
Dies ist kein Liebesroman.