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Meine Liebe kennt keine Grenzen –
Skylar
Das Abendessen ist eine Katastrophe. Schon wieder.
Ich schwöre, ich habe das Rezept strikt befolgt, aber das Huhn ist knochentrocken, und ich habe es irgendwie geschafft, den Brokkoli zu verbrennen. Der Boden von Tates teurem Topf sieht ruiniert aus, und ich schnappe mir mein Telefon und suche bei Google nach einer Lösung, während ich versuche, nicht in Panik zu geraten.
Noch bevor ich die Suchbegriffe eingeben kann, höre ich Schritte, und ich zucke zusammen.
Ich wappne mich, versuche unauffällig vor die Beweise des neuesten Dinner-Desasters zu treten und werfe Tate ein strahlendes Lächeln zu. „Hallo!“, zwitschere ich. Tja. Ich würde es zwitschern nennen, aber ich bin mir nicht sicher, ob ein sterbender Vogel das noch in sich hätte. Irgendwie fühle ich mich wie das tote Tier auf der Küche.
„Was hast du getan?“
Natürlich verschwendet er keine Zeit.
Mein Lächeln wackelt und droht, komplett zu verschwinden, aber ich zwinge es, an Ort und Stelle zu bleiben. „Kleines Missgeschick“, versichere ich ihm. Hoffentlich. „Das Abendessen dauert nur noch ein paar Minuten. Ich verspreche es.“
Oder vielleicht länger, da ich herausfinden muss, wie ich den wahrscheinlich ruinierten Topf verstecken kann und lernen muss, wie ich die kosmischen Kräfte des Universums einsetzen kann, um dieses Chaos verschwinden zu lassen.
Das ist wohl etwas knapp gerechnet, aber im Moment möchte ich einfach einen Streit vermeiden.
Tate schreitet auf mich zu und ich hebe den Kopf, in der Hoffnung, ihn mit einem Kuss ablenken zu können. Die wenigen Reize, die anfangs sein Interesse geweckt haben, sind normalerweise für etwas gut, aber heute ignoriert er mich. Er schnappt den Topf von der Theke und ich weiche zurück, während sich mein Magen umdreht.
Warum das Universum den Mann nicht ab und zu zu spät kommen lassen kann, werde ich nie verstehen. Ich muss ja nicht einmal meine Uhr nach ihm stellen, da ich ein perfektes Handy habe, das sich automatisch synchronisiert.
„Verdammt noch mal, Skylar!“, brüllt er und knallt den Topf so heftig hin, dass ich zusammenzucke.
Meine Augen huschen zur Tür und ich hoffe verzweifelt, dass Evie den Lärm nicht hört und direkt hinter ihm auftaucht.
„Es tut mir leid!“ Ich weiß nicht, wie er es schafft, dass ich mich in der einen Minute wie ein geschätzter Liebhaber fühle, in der nächsten wie ein hoffnungsloser Versager und in der übernächsten wie eine mittelmäßige Hure, aber ich bin bereit, den Schalter wieder auf Liebhaber oder Hure umzulegen.
„Ist es wirklich so schwer, aufzupassen?“, fragt er.
Es gibt keine richtige Antwort auf diese Frage, und ich weiß es. Ich schweige.
„Ich habe dir eine Frage gestellt, Skylar“, sagt Tate und packt mich an den Handgelenken. Seine Finger graben sich in meine Haut und ich zucke zusammen.
„Nein“, flüstere ich. Es ist die falsche Antwort, aber andererseits wäre Ja auch falsch gewesen. Vielleicht wäre es eine klugscheißerische Antwort gewesen. Und alles andere wäre genauso falsch gewesen. Ich hasse das Gefühl, wenn ich vor eine Entscheidung gestellt werde, bei der ich nur verlieren kann …
Manchmal komme ich nicht umhin, mich zu fragen, ob er das so mag.
„Dann schlage ich vor, du lernst es.“
„Es tut mir leid“, sage ich noch einmal.
„Es tut dir immer leid .“ Seine schönen Gesichtszüge sind hart wie Stein, aber ein höhnisches Grinsen macht ihn zu jemandem, den ich kaum erkenne. Er drückt meine Handgelenke fester, und ich presse meine Lippen fest zusammen, um nicht zu schreien. „Ich bitte dich nicht um viel, Skylar“, sagt er.
Gefährliche Stimme.
Fuck.
„Tate, bitte! Du tust mir weh.“
Seine Finger bewegen sich, aber sie drücken nicht wieder zusammen, und für einen Moment denke ich, ich bin zu ihm durchgedrungen. Er lässt los, stößt mich aber so heftig zurück, dass mein Rücken gegen die Kante des Tresens knallt.
Tränen drohen zu fließen, aber ich weigere mich, vor ihm zu weinen.
„Wenn ich nur eine weitere unfähige Nutte wollte“, sagt Tate und seine Grausamkeit durchschneidet mich wie eine Messerklinge, „würde ich eine an derselben Straßenecke finden, an der ich dich gefunden habe.“ Er drückt sich an mich, die Finger greifen in mein Haar, und ich starre hinunter, wo seine Brust gegen meine drückt. „Aber ich habe dich in mein Haus geholt. Ich erwarte mehr von dir.“
Es spielt keine Rolle, wie oft er mich küsst oder mir sagt, dass er mich liebt. Er wird nie vergessen, dass er meine Jungfräulichkeit gekauft hat – oder dass er mich immer wieder für Sex bezahlt hat, obwohl ich nicht wusste, was ich tat.
Er wird mich auch das nie vergessen lassen.
„Allerdings sollte ich nicht viel von einem Jungen erwarten, der nicht einmal die Highschool abschließen konnte. Oder, Skylar?“
Dolche. Seine Worte sind wie Dolche und meine Brust zieht sich unangenehm zusammen. Ich ersticke fast an dem verzweifelten Bedürfnis, ihn nicht sehen zu lassen, dass ich weine.
„Sollte ich?“, fragt er schärfer.
Ich hasse es, wenn er das tut. Es ist schlimm genug, dass er diese Dinge sagt, aber mich antworten zu lassen, ist eine besondere Art der Folter. „Nein“, flüstere ich. Ich sammle meinen ganzen Mut. „Aber du weißt warum, Tate. Ich musste arbeiten.“
„Und jetzt liegst du einfach auf deinem nutzlosen Arsch in meinem Haus herum, wenn du nicht gerade meine Sachen ruinierst und mir im Weg stehst.“
Autsch.
Ich möchte dagegen protestieren, möchte sagen, dass ich Hausarbeiten erledige und Besorgungen mache, aber mir wird plötzlich deutlich, wie viel Zeit ich mit Lesen und dem Ansehen von Filmen auf Netflix verschwende. „Ich kann mir einen anderen Job suchen“, flüstere ich. Es tut weh, um den Kloß in meiner Kehle herum zu sprechen.
„Was für einen Job würdest du bekommen?“, fragt er. „Highschool-Abbrecher, ohne Abschluss. Wirst du ihnen sagen, dass du die letzten anderthalb Jahre damit verbracht hast, herumzuhuren?“
Ich dachte – ich hoffte –, dass sein Angebot, mich und Evie aufzunehmen, bedeutete, dass er mehr in mir sah. Aber ich hätte es besser wissen müssen, als zu denken, dass geflüsterte Liebeserklärungen an eine billige Hure, die halb so alt ist wie er, alles andere als Lügen sind.
Ich werde verdammt noch mal nicht weinen.
Ich schüttle den Kopf.
Er packt mich hart am Kinn und zwingt mich, den Kopf zu heben.
Ich schaue ihm nicht in die Augen. Ich traue mich nicht. Ich weiß nur zu gut, was passieren wird, wenn ich seinem Blick begegne.
Im Inneren ertrinke ich in den Tränen, die ich nicht fallen lassen will.
Ich weiß nicht, was er in meinem Ausdruck sieht, aber er lässt mich los und geht einen Schritt zurück.
Und da ist er, als hätte ihn meine Verzweiflung, das Beste in ihm zu sehen, hervorgerufen. Sein Gesichtsausdruck verändert sich von angespannt vor Wut zu blass vor Sorge und Reue. Das ist der Tate, mit dem ich zusammenziehen wollte, der Mann, dem ich mich so sehr bemühe zu gefallen; das ist die Person, die mir verspricht, dass es mir an nichts fehlen wird und die mich mit Geschenken überhäuft.
Normalerweise würde das eine Rolle spielen. Aber im Moment habe ich immer noch einen sauren Geschmack im Mund, weil ich dem wütenden, rechthaberischen Arschloch gegenüberstehe, dessen Worte mir das Gefühl geben, als wäre ich einen Zentimeter groß. Jetzt hat er sich vielleicht genug beruhigt, dass er es bedauert, nach einem weiteren, wahrscheinlich beschissenen Arbeitstag laut geworden zu sein, aber der Schaden ist angerichtet.
Ich kann im Moment mit Dr Jekyll genauso wenig umgehen wie mit Mr Hyde.
Danke, Grundstufe Englisch.
Ich glaube ich nicht, dass sie das meinte, als Mrs Slater sagte, es wäre relevant für die reale Welt.
„Skylar–“
Ich gebe ihm keine Chance, weiterzureden. Die Veränderung in seinem Ausdruck, die Veränderung in seiner Stimme … Das sind die Signale, auf die ich gewartet habe.
Der Sturm ist vorbei.
Ich ducke mich unter seinen Arm hindurch und fliehe, ohne meine Schuhe zu nehmen, während ich zur Hintertür stürme, als würde das Haus brennen. Was nicht unmöglich ist, wenn man bedenkt, dass ich mich nicht erinnere, ob es mir während des Brokkoli-Vorfalls gelungen ist, den Herd auszuschalten.
Das ist mir egal. Nein, das ist nicht wahr. Es ist mir nicht egal, aber ich gehe erst wieder rein, wenn ich sicher bin, dass er sich beruhigt hat. Er wird mich nicht aufhalten, nicht, solange ich nur in den Hinterhof gehe; das tut er nie.
Natürlich tut er das nicht. Er weiß, dass ich von dort aus nirgendwo hingehen kann.
Ich habe auf die harte Tour gelernt, nicht in die Nähe der Haustüre zu gehen.
Ich reibe mir abwesend meine Handgelenke, während ich langsamer werde, sobald ich von der Terrasse auf den Rasen trete.
Hier draußen bin ich sicher.
Hier draußen kann ich atmen.
Als ich bei Tate einzog, legte ich mich in das saftige Gras und starrte stundenlang in den Himmel. Tagsüber beobachtete ich die Wolken; nachts beobachtete ich die Sternbilder, wie sie über den Himmel zogen. Ich brachte mir ihre Namen bei und lernte, sie zu identifizieren, obwohl ich nie sicher war, ob sie richtig waren oder nicht.
Tate kommt hier nie heraus, Evie aber schon. Ich habe nicht mehr viel Gelegenheit, mit ihr zu sprechen, nicht, da sie sich wie wilde Katzen umkreisen und sich nie zu nahe kommen. Einer geht immer, bevor sie mehr als eine Handvoll Worte miteinander austauschen. Es ist anstrengend zu versuchen, beide miteinzubeziehen und sie dazu zu bringen, mehr als dreißig Sekunden lang ein zivilisiertes Gespräch zu führen.
Der Hinterhof ist unser Platz und manchmal habe ich das Gefühl, dass dies der einzige sichere Ort ist, den ich habe.
Ich habe nie viel verlangt, zu sehr habe ich Angst, dass Tate denkt, ich versuche ihn auszunutzen. Er gibt mir bereits alles, was ich brauche, und wenn er es geschafft hat, sein Temperament zu zügeln, gibt er mir mehr, als ich mir jemals wünschen könnte.
Er glaubt, dass die Geschenke den Schaden rückgängig machen können, dass sie die Blutergüsse ausgleichen können.
Ich habe ihm nie gesagt, dass sie das nicht können.
Aber vor ein paar Monaten, als er weinte und mich um Verzeihung bat – als er wieder versprach, dass er nie wieder die Hand gegen mich erheben würde –, hatte ich um den Garten gebeten.
Er hatte sich völlig überschlagen, um mir alles zu geben, und ich fühlte mich anfangs ein wenig schuldig, da Pflanzen, Töpfe, Werkzeuge und andere Utensilien auf der Terrasse aufgetaucht waren.
Ich habe ihm auch nie gesagt, dass ich mich in seinem Garten sicherer fühle als in seinem Haus.
Jetzt aber, wenn ich mir die Sträucher und Blumen in ihren gepflegten Beeten ansehe, ist da nur ein Gefühl des Stolzes, das so tief sitzt, dass selbst seine schlimmsten Tage es nicht auslöschen können.
Ich habe das getan. Ich habe etwas Schönes geschaffen.
Ich war in so vielen Dingen ein Versager – ein durchschnittlicher Schüler, ein mittelmäßiger Angestellter, eine verklemmte Hure, ein unerfahrener Freund. Ich habe so viel von mir in die Fürsorge für Evie gesteckt, in den Versuch, Tate glücklich zu machen, und in diesen Dingen habe ich auch nicht immer Erfolg.
Aber dies habe ich mit meinen eigenen Händen getan.
„Geht es dir gut?“
Ich springe auf, als ich den Klang von Evies Stimme höre, und drehe mich um, um mich ihr zuzuwenden, und meine Hand fliegt zu meiner Brust, um knapp über meinem Herzen zu ruhen. „Verdammt noch mal, Evie! Du bist keine Katze. Mach das nächste Mal etwas Lärm.“
Evie grinst, lässt sich auf das Gras fallen und streicht sich ein paar dunkle Locken aus dem Gesicht. „Das macht nicht so viel Spaß.“
Ich knurre, aber ich kann ihr nicht böse sein. Das kann ich nie, nicht wirklich, und ich bin froh, dass sie hier ist.
„Aber im Ernst“, sagt sie und blickt zu mir auf. „Geht’s dir gut?“
Meine Handgelenke schmerzen und ich bezweifle, dass ich heute Abend noch einen weiteren Streit mit Tate überstehe. „Ja“, lüge ich. „Warum sollte es nicht?“
Weil ich, verdammt noch mal, wissen muss, was es ihr verraten hat, denn dann stelle ich sicher, dass es nie wieder vorkommt. Ich will sie mit all dem nicht belasten. Und wenn sie es herausfindet …
„Du bist hier draußen, und Tate sitzt wieder im Dunkeln im Wohnzimmer.“ Ihre Stimme ist überraschend sanft, besonders wenn man bedenkt, was sie für ihn empfindet.
Ich seufze und blicke zur Hintertür. Ich sollte hineingehen und mich vergewissern, dass es ihm gut geht, aber ich kann mich noch nicht dazu durchringen, das zu tun. Ich bücke mich und neige den Kopf, als ich zwischen den Sträuchern, die ich letzte Woche gepflanzt habe, eine Pflanze sehe, die ich nicht wiedererkenne. Sie ist klein und ich bin versucht, sie auszureißen, falls es sich um Unkraut handelt. Etwas hindert mich jedoch daran und ich strecke die Hand aus und stoppe, bevor ich das zarte Blatt berühre.
„Was ist das?“, fragt sie.
Ich bin dankbar für den Themenwechsel. „Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich Unkraut.“ Ich schüttle den Kopf. Es sieht nicht so aus. „Ich lasse es noch ein bisschen wachsen, und dann sehe ich es schon.“
„Es ist jetzt wirklich schön hier draußen“, kommentiert sie. „Du wirst aber keinen Platz mehr für Pflanzen haben, wenn er dir bei jedem Streit eine kauft.“
Verdammt! Ich hätte wissen müssen, dass sie es nicht einfach fallen lässt. Ich sehe sie an. „Also. Das Treffen mit deinem Lehrer.“ Sie öffnet den Mund. „Versuch gar nicht erst, das Thema zu wechseln.“ Ihr Mund schließt sich wieder. „Er ist nett.“
„Du hast eine schreckliche Elternstimme“, bemerkt Evie.
„Und du gehst mir auf die Nerven“, meckere ich. Aber meine Stimme wird leiser, als ich fortfahre: „Warum hast du mir nicht gesagt, dass du Probleme hast, Evie?“
Sie zuckt mit den Schultern und schaut überallhin, nur nicht zu mir. „Es schien nicht wichtig zu sein.“
Die Worte sind wie ein Messer in meinem Bauch. „Evie …“ Sie darf nicht abbrechen. Nicht so wie ich. Sie kann so viel mehr sein. „Es tut mir leid. Ich hätte dich vorher fragen sollen, wie es dir in der Schule geht.“
Evie schüttelt den Kopf. „Es geht ganz gut.“
„Es geht offensichtlich nicht ganz gut“, sage ich und meine Stimme ist schärfer, als ich es beabsichtigt hatte. „Aber das wusstest du, als ich dir sagte, dass er mit mir reden will.“
„Sky, das ist keine große Sache.“
„Oh, es tut mir leid. Ich muss wohl an eine andere Definition von durchfallen denken.“
Sie rümpft die Nase. „Okay, also ich komme nicht wirklich mit.“
„Deshalb wirst du zweimal in der Woche zur Nachhilfe gehen“, sage ich, lasse mich auf dem Rasen neben ihr nieder und lege mich zurück, damit ich den sich verdunkelnden Himmel beobachten kann. „Ab morgen.“
Evie stöhnt, schnappt sich eine Handvoll Gras und wirft es nach mir. „Komm schon, Sky. Ich brauche keine Nachhilfe. Ich werde es besser machen.“
„Ja, das wirst du. Mit Nachhilfe.“ Das lasse ich nicht fallen. Sie versteht den Grund dafür nicht, und ich bin mir nicht sicher, ob sie es kann. Ich fürchte, wenn ich versuche, es ihr zu erklären, wird sie denken, dass ich es ihr vorwerfe. Aber ich werfe ihr das nicht vor.
Ich gebe unserer Mutter die Schuld dafür, dass sie uns verlassen hat.
„Ich werde diesen Streit nicht gewinnen, oder?“ Sie schleudert noch eine Handvoll Gras und es regnet wie Konfetti herab.
„Keine Chance.“
Evie seufzt und stützt sich auf ihre Ellbogen. „Schon gut, schon gut.“
„Gut, was?“, frage ich sie.
„Gut, ich gehe zur Nachhilfe, weil mein Lieblingsbruder mich anfleht, und das ist irgendwie erbärmlich“, erwidert sie.
Ich strecke die Hand aus und stoße sie in die Seite. Sie grinst mich an. „Danke“, sage ich. Die Worte kommen sanfter heraus, als ich es beabsichtigt habe.
Sie nickt. „Bleibst du noch ein bisschen draußen bei mir?“
Ich kann das Bitten in ihrer Stimme nicht ignorieren, und meine Gewissensbisse lassen einen Knoten in meinem Magen entstehen. Meine Augen huschen zum Haus, und ich spüre so viel, als ich ihre Anspannung sehe. Sie erwartet, dass ich stattdessen zu ihm gehe, und es ist nicht so, dass sie keinen Grund dazu hätte. Trotz allem, was ich für meine Schwester tue, ist das eine Sache, bei der ich keine Kompromisse eingehen kann, wenn ich will, dass sie das Leben hat, das ich ihr allein nicht bieten kann. „Sicher.“
Sie entspannt sich. Einen Moment lang ist sie ruhig und ich bin mir nicht sicher, was ich sagen soll, um das Schweigen zu brechen. Es ist nicht so, dass ich viel zu erzählen hätte. Mein Leben besteht im Wesentlichen aus Tate und dem, was er will und braucht.
Was er tut.
Wir sehen zu, wie die Sonne aus unserem Blickfeld verschwindet und ihr Licht durch das des Mondes ersetzt wird.
„Tut mir leid, Sky“, sagt sie schließlich.
Ich schüttle den Kopf. „Das muss es nicht. Nur … versuch es bitte. Bitte versuch es einfach. Okay?“
Ihre Stimme ist leise, als sie antwortet: „Okay.“
Nach einer Weile steht Evie auf. Sie reicht mir ihre Hand, aber ich schüttle den Kopf.
„Ich werde noch ein bisschen länger hier draußen bleiben“, sage ich ihr.
„Soll ich Tate irgendetwas sagen?“, fragt sie, und ihre Stimme könnte nicht mechanischer sein, wenn sie die Worte durch das Text-to-Speech-Programm ihres Telefons laufen lassen würde.
„Wenn er fragt, sag ihm, ich bin bald da“, antworte ich. Ich starre in den Nachthimmel und höre zu, wie sie die Hintertür öffnet und sie hinter sich schließt. Ich sollte wieder reingehen und mit ihm reden, aber ich schaffe es nicht, das zu tun. Nur noch ein bisschen länger. Ich bleibe noch ein wenig länger hier draußen, und dann werde ich die Sache klären.
Das Nächste, was ich weiß, ist, dass Tate mich sanft wachrüttelt und meinen Namen murmelt. Ich weiß nicht einmal, wie lange ich hier draußen schon geschlafen habe, aber mein Körper schmerzt und ich habe das Gefühl, dass ich kaum noch meine Augen öffnen kann. „Hallo“, murmle ich.
Tate hilft mir, mich aufzusetzen, und seine Lippen streichen mir über die Stirn. „Hey.“ Er ist warm und ich kuschle mich an ihn, ohne nachzudenken. Er umarmt mich mit einem Arm und drückt mich sanft. „Tut mir leid, Sky. Es tut mir so leid. Ich …“ Seine Stimme versagt und Feuchtigkeit streicht über meine Wange, während er seine Stirn gegen meine drückt. „Ich habe es nicht so gemeint. Bitte, komm ins Bett.“
Es ist vor allem die Bitte, die mich zum Nicken bringt, die Tatsache, dass er nicht verlangt , dass ich gehe.
Es ist die Tatsache, dass er weint.
Er schenkt mir ein Lächeln, und ich lächle leicht zurück, während er mir auf die Beine hilft. Ich bin erschöpft, bereit, einfach ins Bett zu kriechen und zu pennen, und ich bin mehr als dankbar, als er mich leise ins Haus und in sein Zimmer führt.
Ich kann ihn in der Dunkelheit zwar nicht sehen, aber ich weiß, dass er mich beobachtet, während ich mich ungeschickt bis auf meine Boxershorts ausziehe. Seine Hände greifen nach meinen Handgelenken und streicheln über die letzten blauen Flecken, die er mir zugefügt hat.
Keiner von uns muss sie sehen, um zu wissen, dass sie da sind.
Ich zucke zusammen, aber ich ziehe die Hände nicht weg, während seine Finger über meine Haut gleiten. Er spricht nicht, aber ich fühle, wie er zittert, während er mich zu sich zieht und mich so sanft küsst, als würde er erwarten, dass ich zerbreche.
Er ist still, als er sich zurückzieht, und ich fühle mehr, als ich sehe, wie er die Decke auf meiner Seite des Bettes zurückzieht. Ich gleite hinein, will die Stille genauso wenig brechen, wie er es zu wollen scheint, und ich höre das Flüstern des Stoffes, während er sich auszieht. Das Bett senkt sich unter seinem Gewicht und er wartet.
Ich bin dran.
Noch immer bin ich groggy, noch immer halb in Träume und Gedanken versunken, an die ich mich nicht einmal vollständig erinnern kann, aber ich rutsche näher an ihn heran. Er öffnet die Arme und ich gleite gegen ihn, lasse mich mit dem Rücken zu seiner Brust nieder, während er seine Arme um mich schlingt, als wäre ich ein überdimensionaler Teddybär.
„Ich liebe dich, Sky“, flüstert er mir ins Ohr.
Warum also? Ich möchte ihn fragen. Warum hörst du nicht auf, mir wehzutun?
Nach einem Moment scheint er zu begreifen, dass ich nicht antworten werde, und er spricht wieder. „Meine Mutter war eine üble Trinkerin“, sagt er. Worte, so leise, dass ich sie trotz unserer Nähe kaum hören kann. „Und jedes Mal, wenn ich mich in meinem Zimmer einschloss, dachte ich, dass ich etwas so Falsches getan haben muss, dass sie mich nicht mehr liebte. Dass sie es nicht mehr konnte. Denn wer könnte jemanden verletzen, den er liebt?“
Tates Finger umklammern mich fester.
Ich bin von mir selbst fasziniert. Das habe ich mich auch schon gefragt. Es ist nicht gerade eine Überraschung zu erfahren, dass ihm jemand wehgetan hat, und ich weiß aus erster Hand, wie es ist, eine beschissene Mutter zu haben. Aber er spricht nicht über seine Kindheit, seine Vergangenheit, sein Leben … Es war immer ein großes Geheimnis, und das war für uns beide in Ordnung. Keiner von uns möchte gerne dort verweilen, wo wir herkommen.
„Ich bemühe mich so sehr, es nicht zu tun“, gesteht er, und ich und die Dunkelheit sind die einzigen Zeugen für sein Versprechen. „Ich weiß, es ist falsch, Skylar. Ich will dir nicht wehtun.“
„Warum also?“, flüstere ich schließlich und ersticke fast an der Frage.
Hinter mir atmet er tief und zitternd ein. Dann ein weiterer Atemzug. Und noch einer. „Wenn ich mich aufrege – wütend werde …“, fängt er schließlich an. Seine Arme spannen sich kurz um mich an, bevor er sie wieder entspannt. „Es ist, als ob …“ Ich kann fast hören, wie er nach einer Vergleichsmöglichkeit sucht. „Ich fühle mich, als hätte ich bei einem Film auf Play gedrückt, der nicht angehalten oder gestoppt werden kann. Egal, wie oft ich versuche, den Schauspielern zu sagen, dass sie nicht in das verlassene Gebäude gehen sollen, das Ergebnis wird sich nicht ändern. Das Drehbuch ist bereits geschrieben und aufgenommen, und ich kann nur zuschauen.“
Das … ist nicht gerade beruhigend.
Tate muss das auch so sehen, denn er küsst mich auf den Kopf und besteht darauf: „Ich werde es besser machen, Sky.“
„Wie kannst du das?“, frage ich und die Tränen brennen in meinen Augen. Ich werde nicht weinen. Verdammt, ich werde nicht weinen. „Du hast gerade gesagt, du kannst es nicht ändern.“ Ich habe mir eingeredet, dass er es ernst meint, wenn er sagt, dass er es besser machen wird. Aber jetzt? Nun, ich fühle mich wie einer der Schauspieler in dem Film, von dem er gesprochen hat – dazu verdammt, immer wieder die gleichen Handlungen zu wiederholen, egal, wie oft er läuft. Wenn er sich nicht ändern kann …
„Ich–“ Er atmet tief ein. „Sky, so einfach ist das nicht.“
Natürlich ist es das. Man schlägt keine Menschen, die man liebt.
Und wenn er das nicht ändern kann? Was dann?
Was dann? Sollte er allein sein?
Bei dem Gedanken dreht sich mir der Magen um und für einen Moment glaube ich, mir wird schlecht.
Wahrscheinlich ist es gut, dass ich nicht weiß, was ich sagen soll, denn ich glaube nicht, dass ich sprechen könnte, wenn ich es wollte.
„Bitte“, sagt Tate leise, und er klingt so verletzlich, dass ich mich umdrehe und meine Arme um ihn schlinge, bevor ich überhaupt merke, dass ich mich bewegt habe. Er küsst meine Schulter. „Ich werde mich bessern, Skylar.“
Ich nicke, obwohl er mich nicht sehen kann. Was soll ich ihm sagen? Zum Teufel, was soll er denn sagen? Ich glaube nicht, dass irgendjemand weiß, wie man mit so etwas umgeht.
„Gute Nacht“, flüstere ich.
Ich weiß, es ist nicht das, was er hören will, aber er drängt nicht.
„Süße Träume, Sky.“
Einige Minuten vergehen und ich erwarte, dass sich seine Atmung beruhigt, dass er einschläft. Das tut er aber nicht.
Kurz bevor mich die geistige und körperliche Erschöpfung wieder in den Schlaf lockt, höre ich ihn flüstern: „Du warst nie nur eine Hure für mich, Sky. Niemals. Ich liebe dich.“
Sein „Ich liebe dich“ folgt mir in meine Träume.