Die Sommerhitze ließ auch in der zweiten Septemberwoche nicht nach, aber die frühen Morgenstunden waren angenehm. Eine frische Brise kündete von kühleren Tagen.
Bevor Andrew zur Arbeit ging, drehten sie eine gemeinsame Runde um den Teich am nahegelegenen College, ein Abklatsch ihrer früheren Gewohnheit. In Brooklyn waren sie jeden Morgen spazieren gegangen, um sich Kaffee zu holen, hatten in neue Restaurants gespäht und Nachbarn beim Gassigehen gegrüßt. Hier gab es kilometerweit keine Cafés oder Restaurants. Aber Elisabeth machte sich klar, dass sie es so gewollt hatte — Natur, Stille, Vogelgesang in den Bäumen.
Andrew hatte eine French Press gekauft, in der er jetzt Kaffee kochte und ihn ihr vor dem Spaziergang am College in einen Thermobecher füllte.
»Wo sind die College-Schülerinnen eigentlich?«, hatte Andrew gefragt, als sie das erste Mal die Main Street entlangfuhren, die mitten durch den Campus führte.
»Da drüben, wenn ich mich nicht täusche«, hatte sie geantwortet.
Sie zeigte auf die vielen jungen Frauen, die in lachenden Grüppchen an der Ampel standen, auf der Treppe vor dem Wohnheim saßen oder gebeugt unter der Last ihrer Rucksäcke von A nach B eilten. Wie auf den Fotos in den Anmeldeprospekten.
»Nie und nimmer!«, hatte Andrew damals gerufen. »Diese Mädchen sehen aus, als wären sie höchstens in der Sechsten.«
Auch jetzt kam ihnen eine Gruppe junger Frauen entgegen, sie joggten gemeinsam über den Campus. Ihre weißen Windjacken zischten scharf, als sie in Zweierreihen an ihnen vorbeiliefen.
Die meisten lächelten das Baby an, das in seinem Tuch an Elisabeths Brust schlief.
Elisabeth lächelte zurück, um einen fröhlichen Gesichtsausdruck bemüht. Eigentlich war sie sauer, denn Andrew hatte ihr beim Aufwachen mitgeteilt, dass seine Eltern sie abends zum Essen eingeladen hatten, leider hätte er total verschwitzt, es ihr rechtzeitig zu sagen. Am frühen Abend, wenn Andrew von der Arbeit nach Hause kam, konnte Elisabeth endlich ein bisschen Auszeit genießen oder sich gemütlich mit Andrew unterhalten. Diese kostbaren Stunden wollte sie nicht mit ihren Schwiegereltern verplempern.
Sie hatten ihren Wendepunkt am Teich fast erreicht, dort, wo an einem dicken Ast ein Seil baumelte. Elisabeth stellte sich betrunkene Mädchen in abgeschnittenen Jeans vor, die sich daran übers Wasser schwangen und unter viel Gekreische losließen. Die dieselben Dummheiten machten wie sie. Das ganze Leben noch vor sich hatten.
»Diese Grillen sind widerlich«, sagte Elisabeth. »So heißen sie doch, oder? Grillen? Sie sind riesig. Ich finde es eklig, wenn sie auf mir landen, du nicht?«
Andrew zuckte die Achseln: »Auf mir sind noch keine gelandet, dazu kann ich also nichts sagen.«
Sie boxte ihn gegen den Arm. »So fühlt sich das an.«
Versuchen Sie zu erspüren, in welchen Situationen Sie Wut oder Ärger empfinden, hatte Violet ihr geraten. Werten Sie nicht, nehmen Sie diese Momente einfach zur Kenntnis.
Nomi hatte sich unverblümter ausgedrückt: Wahrscheinlich wirst du Andrew nach der Geburt eine Weile lang abstoßend finden. Wenn er dich anfasst, kriegst du vielleicht sogar die Krise. Mach dir keine Sorgen. Das geht vorüber.
Elisabeth fand Andrew nicht abstoßend. Sie konnte sich glücklich schätzen, einen sanftmütigen Mann wie ihn zu haben, einen Partner, der sie verstand. Aber in den letzten Monaten hatte sich so viel verändert. Manchmal fühlte es sich an, als wäre sie in einem überfüllten Zimmer, wo sie sich zwar sehen, aber nicht berühren konnten. Sie war sich nicht sicher, wie und wann sie wieder zusammenfinden würden.
Und dann war da noch dieses Geheimnis, das Violet toxisch nannte.
»Beziehungen zerbrechen nie an den Heimlichkeiten selbst«, hatte Violet ihr erklärt, »sondern an der Tatsache, dass man Geheimnisse hat.«
»Ich verstehe, was Sie sagen wollen, aber in diesem Fall wäre es glaube ich so oder so vorbei«, hatte Elisabeth entgegnet.
Andrew ging zur Arbeit, Elisabeth unter die Dusche.
Ein Stück aus Folksongs für Kinder plärrte aus ihrem Handy. Es lag auf einem Stuhl vor dem Bad. Gil strampelte in seiner Babywippe, die auf den Fliesen stand. Nach der zweiten Strophe von This Land Is Your Land fing er an zu schreien.
Elisabeth wusch sich die Spülung aus den Haaren und stellte das Wasser ab. Seit einer Woche wollte sie sich die Beine rasieren.
Rasch schlang sie sich ein Handtuch um den Körper und hob das Baby aus der Wippe.
Als sie Nomis Nachricht auf dem Handy las, hob sich ihre Laune.
Brian benimmt sich seltsam. Entweder hat er eine Affäre oder er plant was für meinen Geburtstag.
Geburtstag, schrieb Elisabeth zurück. Darüber brauchte sie gar nicht nachzudenken. Brian war vieles, aber keiner, der seine Frau betrog.
Wieso bist du so sicher?
Weil er der Letzte ist, der fremdgehen würde.
Sind es nicht immer die, von denen man es am wenigsten erwartet?
Nein, das gilt nur bei Mord. Untreu sind die, von denen man es erwartet.
Sie telefonierten nicht mehr miteinander, es gab auch keine Begrüßungen und keine Abschiede, sondern nur noch eine andauernde Unterhaltung, die sie unterbrachen und im Verlauf des Tages wieder aufnahmen. Wenn ihre beste Freundin sie jetzt anrufen würde, konnte das nur bedeuten, dass jemand gestorben war. Damals, als Elisabeth noch in Brooklyn wohnte, war es auch vorgekommen, dass Nomi sie anrief, weil sie sich ausgesperrt hatte.
Gibt’s schon was Neues vom Babysitter?, fragte Nomi.
In einer Stunde stellt sich eine Kandidatin bei mir vor.
Elisabeths Freundinnen aus der Stadt engagierten Kinderfrauen aus der Karibik oder aus Tibet, die sie dafür bezahlten, dem Nachwuchs eine Großmutter zu sein, wie sie die eigene Mutter nie sein würde. Eine Frau, die das Baby liebte und ihre Weisheiten mit ihnen teilte, ohne zu werten. Die nicht auf dem Sofa der Tochter Wein trank, während das Kind weinte, oder einem riet, seine Brust nicht in gemischter Gesellschaft zu entblößen.
Elisabeth hatte sie alle gehört, die Klagen ihrer Freundinnen über das sonderbare Verhalten ihrer Eltern nach der Geburt des Enkelkindes. Doch alles war besser als das, was sie mit ihren erlebte. Vier Monate war Gil schon auf der Welt, und ihre Eltern hatten ihn noch immer nicht gesehen.
Ihr Vater erwartete, dass sie ihn mit dem Kind besuchte.
»Arizona ist herrlich zu dieser Jahreszeit«, hatte er gesagt. »Und perfekt für Kinder. Sie können überall frei rumlaufen.«
»Aber er kann ja noch gar nicht laufen«, hatte sie bemerkt. »Nicht mal sitzen kann er.«
Als Gil auf die Welt kam, erkundete ihre Mutter gerade auf einer Viking-Schiffsreise die Donau. Sie schickte ihm ein Set aus Becher und Schüssel, handgefertigt von Nonnen aus Bukarest, und hatte seither keine Anstalten gemacht, ihren Enkel zu besuchen.
So viele Leute — selbst Fremde — stellten Vermutungen über ihre Mutter an. Nomis Mutter zum Beispiel.
»Deine Mutter ist sicher überglücklich. Es gibt nichts Besseres, als Großmutter zu werden«, hatte sie damals gesagt, als sie Gil besucht und ihm eine selbstgestrickte Decke geschenkt hatte.
Elisabeth hatte zustimmend gelächelt, denn die gute Frau dachte dabei sicher an eine andere Familie, eine, die so war wie ihre eigene.
Schon mit Anfang zwanzig hatte sie sich an ein Leben ohne ihre Eltern gewöhnt. Urlaube verbrachten sie getrennt. Elisabeth war nie nach Kalifornien zurückgekehrt, nicht mal, um sie zu besuchen. Aber seit sie ihre eigene Familie gegründet hatte, musste sie öfter über ihre Herkunftsfamilie nachdenken.
Eigentlich müsste es ihr egal sein, dass sich ihre gefühlskalte, wenig einfühlsame Mutter als gefühlskalte, wenig einfühlsame Großmutter entpuppt hatte, doch das war es nicht. Ihre Eltern hatten jetzt mehr Bedeutung als zu jedem anderen Zeitpunkt ihres Erwachsenenlebens.
»Wir ziehen wegen meines Jobwechsels um, aber auch, um näher bei Mom und Dad zu wohnen«, hatte Andrew in den Wochen vor dem Umzug immer wieder gesagt, eine vereinfachte Version der Wahrheit, die er mit jedem Aussprechen weiter ausschmückte. »Ihre Hilfe wird uns eine große Erleichterung sein.«
Und jedes Mal biss sich Elisabeth auf die Zunge. Im Großen und Ganzen waren Faye und George begeisterte Großeltern. Aber Unterstützung kam von ihnen nicht. Wenn das Baby in Anwesenheit seiner Großmutter in die Windeln machte, streckte Faye es weit von sich und bemerkte mit gerümpfter Nase: »Da muss aber jemand gewickelt werden!« Ein einziges Mal hatte Elisabeth sie gebeten, zehn Minuten auf ihn aufzupassen, damit sie schnell was einkaufen konnte, und die beiden bei der Rückkehr auf dem Sofa vorgefunden, vor Fayes übergroßem Fernseher, wo gerade Dr. Phil lief. Der Kleine hatte mit aufgerissenen Augen auf den Bildschirm gestarrt.
Faye war Grundschullehrerin, daher war Elisabeth davon ausgegangen, dass sie eine ganz wunderbare Oma abgeben würde. Doch offenbar brauchte Faye ihre ganze Kinderliebe für die Arbeit. Sie betete Gil an, fühlte sich aber nicht für ihn verantwortlich.
George war ebenfalls ganz angetan von seinem Enkel, aber seit Kurzem mit seinen eigenen Problemen beschäftigt.
Soweit Elisabeth es beurteilen konnte, waren die meisten Kinder in ihrem neuen Viertel nur halbtags in Betreuung oder blieben gleich ganz bei ihren Müttern zu Hause.
Debbie von gegenüber war Hausfrau und mit einem Versicherungsmakler verheiratet. Die anderen Frauen in der Laurel Street hatten Berufsbezeichnungen, die alles Mögliche bis hin zu bloßem Nichtstun bedeuten konnten: Melody war Maklerin. Pam unterrichtete Yoga. Doch es schien, als hüteten sie hauptberuflich das Heim.
Elisabeth war klar, dass die anderen dasselbe über sie sagen konnten. Nichts war so erniedrigend, als auf die unvermeidliche Partyfrage nach dem Beruf mit: »Ich schreibe Bücher« zu antworten und dafür den mitleidigen Ausdruck des Gegenübers zu ernten. Meist folgte darauf gleich die zweite, vorsichtige Frage: »Haben Sie schon … was veröffentlicht?« Wenn sie dann bejahte, erfüllte dies ihren Gesprächspartner oft mit sichtlichem Unbehagen, als würde sie ihm gleich eine ganze Kofferraumladung ihrer Bücher andrehen.
Besser verliefen solche Begegnungen, wenn Andrew neben ihr stand. Er prahlte auf eine Weise mit ihren Errungenschaften, wie sie es nie fertiggebracht hätte. Ihr Debüt wurde gleich zum Bestseller, sagte er. Oder Simon and Schuster hat sie gleich für drei Bücher unter Vertrag genommen.
Dieses dritte Buch — in einem Jahr fällig und noch nicht mal angefangen — war der Grund, warum sie eine Kinderfrau brauchte. Elisabeth hatte noch nicht mal eine vage Vorstellung, worüber sie schreiben sollte, was ihr eigentlich gar nicht ähnlich sah. Beim letzten Mal war sie nach Abschluss des laufenden Projekts in Gedanken schon beim nächsten Buch gewesen und hatte es kaum erwarten können, damit anzufangen. Sie hatte erwartet, dass sie schon längst darauf brennen würde, zur Arbeit zurückzukehren. Doch in Wahrheit hatte sie fast vergessen, wie sich beruflicher Ehrgeiz anfühlte.
Aus den Erzählungen ihrer Freundinnen wusste sie, dass die Suche nach einer Kinderfrau gewisse Ähnlichkeiten mit der Partnersuche aufwies, sich aber oft noch schwieriger gestaltete. Manche Kandidatinnen erwiesen sich sofort als Ausschuss, die Chemie stimmte von Anfang an nicht, trotzdem musste man das Gespräch bis zum Ende durchziehen. Es kam auch vor, dass sich die mühsam Auserwählte schließlich für eine andere Familie entschied. Nomi hatte eine Frau engagiert, die sich, wie sich hinterher herausstellte, mit falschen Referenzen beworben hatte. Dass so etwas passieren konnte, hatte sie beide in Angst und Schrecken versetzt.
Als Elisabeth ihrer Nachbarin Stephanie von ihrer Suche erzählte, erfuhr sie, dass es an dem kleinen Frauencollege eine große Auswahl an geeigneten Studentinnen gab.
»Ich hab schon ein paar engagiert, und alle waren gut«, sagte Stephanie. »Zumindest haben sie ihren Zweck erfüllt und mir nicht das Haus angezündet.«
Elisabeth dankte ihr für den Tipp, dachte sich aber ihren Teil. Stephanie liebte ihre Kinder offenbar nicht halb so sehr wie sie Gil.
Am Ende versuchte sie es trotzdem mit einer Studentin vom College. Die könnte ja erstmal an drei Tagen die Woche kommen, so als Einstieg. Wenn die Sache nicht funktionierte, wäre sie mit dem Semesterende ohnehin vorbei.
Vor einer Woche war Elisabeth mit Kinderwagen und Handzettel bewaffnet über den Campus gelaufen.
»Könntest du mir zeigen, wo das Hauptgebäude ist?«, fragte sie ein Mädchen mit raspelkurzen Haaren.
Das Mädchen starrte sie an, dann zog es den Ohrstöpsel raus.
»Entschuldigung«, sagte Elisabeth. »Das Hauptgebäude?«
Das Mädchen wies auf ein Backsteinhaus mit kleinen Türmchen.
Drinnen war es still, das Licht trüb. Stephanie hatte ihr vom Schwarzen Brett erzählt, wo Leute ihre Gesuche aushängten. Aber an den Wänden hingen nur Porträtfotos von den jeweiligen College-Präsidenten, zwölf ernst dreinblickende weiße Männer mit fortschreitendem Haarausfall und am Ende der Riege eine triumphierend lächelnde Schwarze. Elisabeth betrachtete sie interessiert, bis Gil anfing zu quengeln und sie damit an den Grund ihres Besuchs erinnerte.
Sie bog um die Ecke. Dort, zwischen den geöffneten Türen des Sekretariats und der Ehemaligenverwaltung, befand sich ein großes Korkbrett voller Aushänge: Die presbyterianische Gemeinde des Viertels lud zum Potluck Dinner ein, das Tierheim suchte Ehrenamtliche. Die meisten Zettel aber stammten von Müttern, die eine Kinderbetreuung brauchten, nur ein paar Stunden die Woche oder gelegentlich am Abend.
Elisabeth war noch ins Lesen vertieft, als zwei Stimmen die Stille unterbrachen.
Ein Mann kam über den Flur, ergrautes Haar, attraktiv in grauem Blazer über der dunklen Jeans, neben ihm ging eine Studentin, die ihn um eine Verschiebung ihres Abgabetermins bat, weil ihre Großmutter gestoben sei.
Der Mann zeigte keinerlei Mitleid.
»Ich brauche eine Kopie der Todesanzeige«, sagte er.
Gnadenlos, dachte Elisabeth. Stur.
Einen Mann, der an einem Frauencollege unterrichtete, konnte man nicht heiraten. Genauso wenig wie einen Gynäkologen. Das hatte was Perverses.
Oder vielleicht auch nicht.
Sie versuchte schon seit einiger Zeit, sich mit ihren ständigen Vorurteilen zurückzuhalten. Als sie versuchte, schwanger zu werden, hatte sie in einem Blogbeitrag gelesen, dass negative Gedanken die Empfängnis beeinträchtigen konnten. Seitdem zwang sich Elisabeth, jedes in ihr aufsteigende Urteil durch das Wort »Banane« zu ersetzen. Es gab Tage, da klang sie wie ein zensierter Brief aus dem Zweiten Weltkrieg: »Und ich habe meine Schwester von Herzen lieb, aber hat sie nicht ein bisschen Banane verdient nach dieser ganzen Banane mit dem Bananentypen?«
Das ging so weit, dass sie eines Nachts geträumt hatte, sie hätte eine Banane auf die Welt gebracht.
Vier potenzielle Kandidatinnen hatten sich auf ihre Anzeige gemeldet. Drei davon waren bereits aussortiert.
Die erste, Silvia, überraschte Elisabeth, weil sie keine Studentin war, sondern eine erwachsene Frau aus El Salvador mit erwachsenen Kindern.
Silvia kritisierte Elisabeths Methode, Gil zum Bäuerchen machen zu ermutigen, und riet ihr, ihn wärmer anzuziehen, da er offensichtlich fror. Das machte Elisabeth nichts aus, denn sie hatte oft den Eindruck, nur sie wisse, was Gil brauchte. Wie anregend, eine Person kennenzulernen, die ihn besser zu kennen glaubte als sie.
Elisabeth war kurz davor, sie zu engagieren, sie wollte nur noch wissen, wo Silvia den Aushang gesehen hatte.
»Ich arbeite nachts als Putzkraft im College«, sagte Silvia, »und brauche einen guten Zweitjob.«
»Aber wenn Sie nachts arbeiten und tagsüber bei mir sind, wann wollen Sie dann schlafen?«
»Ach, ein, zwei Stunden reichen mir. Das mache ich einfach, wenn das Baby schläft.«
War das normal? Dass die Kinderfrau bei der Arbeit schlief?
Silvia musterte Elisabeth von Kopf bis Fuß. »Sind Sie sicher, dass Sie das Baby geboren haben? Sie sind so zierlich!«
Diese Frage hatten ihr schon andere gestellt und Elisabeth hatte sie als Kompliment aufgefasst, aber bei Silvia klang es irgendwie vorwurfsvoll. Obwohl sie klein und zierlich war, fühlte sie sich neuerdings fremd im eigenen Körper. Die Falte an der Stelle, wo ihr Bauch einst straff gewesen war. Ihre Brüste, immer noch klein, aber neuerdings erschlafft. Ihre Hüfte war jetzt breiter, ihre Füße waren zu dick für bestimmte Schuhe. Sie wusste, dass sie das alles schrecklich finden sollte. Manchmal tat sie das sogar. Aber sie betrachtete es auch als sichtbares Zeichen dessen, was in ihrem Körper geschehen war, sowohl das Gewöhnliche als auch das Außergewöhnliche.
Die zweite Kandidatin, zweites Studienjahr, blau gefärbte Strähne, ging mitten im Gespräch ans Handy. Kein »Tut mir leid, ich muss da ran, es ist ein Notfall«, nein, sie reckte einfach mitten in Elisabeths Ausführungen den Finger in die Luft und sagte »Hi!« zu ihrem Anrufer.
Die Dritte hatte nur Erfahrung mit älteren Kindern vorzuweisen, und zwar als Betreuerin in einem Zeltlager. Als sie Gil in den Arm nahm, hielt sie ihm keine stützende Hand unters Köpfchen. Blitzschnell nahm Elisabeth ihr das Kind weg, möglicherweise ein bisschen ruppig, und sagte, sie würde sich bei ihr melden.
Die vierte Kandidatin hatte einen Termin um neun. Auf die Anzeige hatte sie sich mit einer E-Mail gemeldet. Darin stand, sie habe vergangenen Sommer in London Kinder gehütet. Elisabeth wusste, dass sie sich keine allzu große Hoffnungen machen sollte, doch in Gedanken sah sie es schon vor sich: eine britische Kinderfrau, die Gil vergötterte, aber mit der nötigen Strenge erzog.
Julie Andrews als Mary Poppins.
Julie Andrews als Maria von Trapp.
Um fünf vor neun stand sie mit dem schlafenden Gil auf dem Arm am Fenster und sah eine plumpe Brünette in Oversize-T-Shirt und Flipflops auf ihr Haus zuschlappen.
Und vorbeigehen.
Also doch nicht, dachte Elisabeth.
Sie hatte Kaffee gekocht und Muffins und Croissants hingestellt, als erwarte sie Gäste zum Brunch. Für die anderen hatte sie das auch getan. Das Mädchen mit der blauen Strähne hatte gefragt, ob sie die Reste mitnehmen dürfte.
Elisabeth hatte noch nie als Arbeitgeberin ein Vorstellungsgespräch geführt. Als sie jünger war, war sie überzeugt, dass sie es im Ernstfall schon hinbekommen würde, denn allein die Tatsache, dass sie am Hebel säße, würde ihr Autorität und Kontrolle verleihen.
Sie ging ein weiteres Mal die To-do-Liste auf ihrem Handy durch. Duschen. Babysitter. SCHREIBEN? Manchmal notierte sie sich Dinge, die sie bereits erledigt hatte, damit sie was zum Abhaken hatte. Wenn hinter einer Aufgabe ein Fragezeichen stand, war schon klar, dass sie sie auf keinen Fall erledigen würde.
Um neun klingelte es an der Tür. Vor ihr stand das Mädchen im Oversize-T-Shirt und lächelte breit. War sie einfach weitergegangen, damit sie nicht zu früh auftauchte? Oder hatte sie sich verlaufen?
»Du bist sicher Sam, oder?«, flüsterte Elisabeth, nachdem sie mit der freien Hand die Fliegengittertür aufgeschoben hatte. Mit der anderen hielt sie das schlafende Kind. »Ich bin Elisabeth. Und das ist Gil.«
»Hi«, erwiderte das Mädchen leise. Aufgeweckt, so klang sie.
Sie trat ins Haus und sah sich um.
Im Flur lag ein weicher blauer Läufer, zu beiden Seiten blitzte Parkettboden hervor. Linker Hand ging es ins große, sonnendurchflutete Wohnzimmer. Rechts war eine Holztreppe mit weißem Geländer. Auf halber Höhe befand sich ein Buntglasfenster, in das sich Elisabeth schon bei der ersten Besichtigung verliebt hatte. Bei diesem Anblick hatte sie bereits gewusst, dass sie das Haus kaufen würden, noch bevor sie ein einziges Zimmer gesehen hatte.
»Ihr Haus gefällt mir sehr«, sagte Sam. »Es hat so eine friedliche Atmosphäre.«
Elisabeth hätte fast verächtlich geschnaubt, doch dann nahm sie kurz Bestand auf: ihre einfache Hemdbluse, die schwarzen Leggings. Sie war barfuß, hatte das Haar zu einem losen Knoten hochgebunden. Da war das Silbertablett mit Gebäck, Simon and Garfunkel sangen leise aus dem Bose-Lautsprecher. Das Baby steckte in einem weichen, weißen Schlafanzug. Ja, von außen betrachtet wirkte es sicher friedlich.
Das Mädchen konnte nicht ahnen, wie es in Elisabeths Kopf aussah. Das gefiel ihr.
»Ahh, was für süße Locken!«, sagte Sam.
Das sagten die meisten, wenn sie Gil zum ersten Mal sahen. Diese Worte erfüllten Elisabeth mit unangemessenem Stolz, als hätte sie ihn so gemacht.
Er war mit einem goldblonden Lockenschopf auf die Welt gekommen, der ihn von Anfang an zu etwas Besonderem machte. Krankenschwestern kamen in ihr Zimmer, nur um die Locken zu sehen.
Sie nannten Elisabeth Mom, Andrew war Dad.
Die Erste, die sie so genannt hatte, war nicht älter gewesen als Sam.
»Sie sollten drei Motrin nehmen, Mom«, hatte sie gesagt. »Mom, wenn Sie hochmüssen, drücken Sie einfach auf die Klingel. Bitte nicht selbst aufstehen!«
Elisabeth war noch so wirr gewesen, dass sie kurz überlegt hatte, ob das Mädchen tatsächlich ihre Tochter war.
Später erklärte Nomi ihr, dass die Schwestern das so machten, damit sie sich nicht die Namen sämtlicher Eltern merkten mussten, die sie nach achtundvierzig Stunden nie mehr wiedersehen würden. Elisabeth dachte sich, dass sie den frischgebackenen Eltern damit vielleicht auch helfen wollten, die Ereignisse der letzten Stunden zu verarbeiten und sich an ihre neuen Rollen zu gewöhnen.
»Was darf ich Ihnen anbieten, Sam?«, fragte sie jetzt. »Kaffee? Pellegrino?«
»Danke, nichts. Sie können mich gern duzen.«
Sam schlüpfte aus ihren Schuhen.
»Lassen Sie … lass die doch ruhig an!«, sagte Elisabeth, freute sich aber über die Geste. Keine von den anderen hatte daran gedacht.
»Könnte ich mir kurz die Hände waschen?«, fragte das Mädchen.
Elisabeth wies auf eine schmale Tür. »Da ist die Gästetoilette.«
Das Händewaschen dauerte eine gefühlte Ewigkeit. Es fühlte sich irgendwie übergriffig an, im Flur auf ihren Gast zu warten, deshalb setzte sich Elisabeth aufs Sofa.
Da schlug Gil die Augen auf.
»Hallo, mein Liebling«, flüsterte sie. »Hier ist eine Freundin, die dich kennenlernen möchte.«
Erst jetzt fiel ihr auf, dass Sam offenbar doch keine Britin war.
Als sie aus dem Bad kam, saß Gil auf Elisabeths Schoß, die großen, blauen Augen aufgerissen.
Sam seufzte.
»So ein hübscher Kerl!«, rief sie, und Elisabeth war ihr sofort verfallen.
»Bitte«, sagte sie, »setz dich doch und erzähl uns ein bisschen über dich. In deiner E-Mail hast du geschrieben, du hast als Kinderfrau in London gearbeitet? Deswegen dachte ich auch …« Sie lachte.
»Was?«, fragte Sam.
»Ich habe gedacht, dass du vielleicht einen britischen Akzent hättest.«
»Ach so. Nein. Tut mir leid. Ich hab nur den Sommer dort verbracht. Bei einer Familie mit achtzehn Monate alten Zwillingen und einem Neugeborenen. Lauter Jungs.«
»Du liebe Güte!«
»Eigentlich war es nur halb so wild«, sagte Sam. »Kinder habe ich schon immer gehütet. Ich bin die Älteste von vier Geschwistern und habe neunzehn jüngere Neffen.«
»Um Gottes willen!«
»Meine Mutter wollte nie, dass ich als Nanny arbeite, ich sollte Kellnerin werden, das sei anständiger. Aber ich arbeite für mein Leben gern mit Kindern.«
»Ich habe jahrelang gekellnert. Daran ist nichts Anständiges, glaub mir«, sagte Elisabeth lächelnd. Sie schob Sam das Tablett mit dem Gebäck hin. »Wie hat dir London gefallen? Ich fand es immer toll, war schon ein paarmal dort.«
»London ist klasse«, sagte Sam. »Mein Freund Clive wohnt dort. Er ist Brite. Ich hoffe, ich kann ihn dieses Jahr so oft wie möglich besuchen. Es ist teuer, aber seine Schwägerin arbeitet für British Airways, wenn wir über sie Standby fliegen, ist es billiger.«
»Studiert Clive auch?«
»Nein, er … hat schon einen Abschluss.«
Gern hätte Elisabeth weitergebohrt, aber Andrews Stimme mahnte sie. Grenzen respektieren!
»Und was studierst du?«, fragte sie stattdessen.
»Freie Kunst und Anglistik, im Doppelstudium. Mein Dad macht sich immer darüber lustig und behauptet, er weiß nicht, welcher Abschluss sinnloser ist. Er wollte, dass ich Wirtschaft studiere.«
»Ich habe schon mit vielen Anglisten gearbeitet«, sagte Elisabeth. »Aus denen ist auch was geworden. Mach dir keine Sorgen.«
»Was machen Sie?«, fragte Sam. »Wenn ich Sie das fragen darf?«
»Natürlich darfst du. Ich bin Journalistin. Zwölf Jahre lang habe ich bei der Times gearbeitet.«
»Oh, spannend!«
»Ja, das war es.«
Elisabeth erzählte ihr nicht, dass sie und die Hälfte ihrer Freunde sich vergangenes Jahr für eine Abfindung entschieden hatten, weil sie fürchten mussten, dass sie sechs Monate später arbeitslos gewesen wären.
»Und jetzt schreibe ich ein Buch«, fügte sie hinzu.
»Wahnsinn! Ihr erstes?«
»Mein drittes.«
»Wow!«
»Weißt du schon, was du nach dem Studium machen willst?«
Sam wirkte verlegen. »Ich male wahnsinnig gern, das mochte ich schon als Kind. Aber natürlich ist das kein Job.«
»Für manche schon«, sagte Elisabeth.
»Ich würde gern in einer Kunstgalerie arbeiten, vielleicht unterrichten«, sagte Sam. Sie richtete sich auf. »Entschuldigung. Ich wollte noch sagen, dass ich viel Erfahrung im Umgang mit Kindern habe. Ich habe einen Erste-Hilfe-Kurs absolviert und schon für mehrere Leute hier in der Stadt gearbeitet, die sehr zufrieden mit mir waren. Kinderhüten am Abend und am Wochenende, das habe ich während der Schulzeit zigmal gemacht.«
»Und wenn du drei volle Tage unter der Woche hier arbeitest, kannst du das mit dem Studium vereinbaren?«
»Ich bin im letzten Jahr«, sagte Sam. »Nicht besonders anstrengend. Außerdem habe ich bisher auch schon in der Mensa gearbeitet und meine Seminare entsprechend gewählt, bin das also gewohnt.«
»Sehr schön«, sagte Elisabeth. Sie hatte eine Liste mit Fragen, aber keine Ahnung, wo sie sie hingelegt hatte. Eigentlich sollte sie mehr Fragen stellen, das hatte sie vor lauter Plauderei ganz vergessen.
Sam sah sich um. »Wie lange wohnen Sie schon hier?«
»Seit einem Monat.«
Elisabeth und Andrew hatten vor zehn Jahren das erste Mal über einen Umzug aufs Land gesprochen, schon bei ihrem dritten Date. Sie hatten viele Häuser besichtigt und Lebensentwürfe anprobiert, die ihnen damals noch gar nicht passten — kleine Farmen am Hudson River, Kolonialstilhäuser in New Jersey, sogar Strandcottages in Maine hatten sie in Betracht gezogen, denn damals, Mitte Juli, hatten sie sich fast vorstellen können, dort das ganze Jahr über zu wohnen.
»Einen Makler sollte man nur beanspruchen, wenn man es ernst meint«, sagte ihre Schwiegermutter, neuerdings für die Rechte dieser Berufsgruppe engagiert.
Aber Elisabeth wusste selbst nie so richtig, ob sie es ernst meinten oder nicht. New Yorker jammerten gern über ihre Stadt: die Menschenmassen, die chronisch unpünktliche U-Bahn, die Hektik. Jeder normale Mensch würde woanders hinziehen. Man unterschied New Yorker nicht anhand ihrer Viertel, sondern anhand der Stadt, in die sie fliehen wollten: L. A. oder Portland oder Austin oder ihren ursprünglichen Heimatort. Aber jedes Mal, wenn jemand tatsächlich umzog, war sie geschockt. Ihre Freundin Rachel war in den Vorort von Cleveland gezogen, wo sie geboren wurde. Seitdem schwärmte sie oft von den Vorzügen ihrer neuen alten Heimat.
»Im Sommer ist jeden Freitag Bierfest im Botanischen Garten, da sitzen wir im Gras und probieren Craft-Beer von verschiedenen Brauereien«, hatte Rachel ihr schon mindestens fünfmal erzählt.
Es klang nett, aber wie oft konnte man im Botanischen Garten Bier trinken? Und was machte man danach?
Für Elisabeth und Andrew war das Leben in der Stadt immer nur eine Übergangslösung gewesen, obwohl sie beide zwanzig Jahre dort gewohnt hatten, länger als irgendwo sonst, länger sogar als an dem Ort, den sie Heimat nannten. Sie hatte sich immer gefragt, was sie schließlich zum Umzug bewegen würde. Ein Kind vermutlich. Aber Gil war nicht der Grund gewesen, sondern die Situation mit Andrews Vater. Und die Situation mit Andrew.
Oft wusste Elisabeth nicht, was sie eigentlich hier tat. 32 Laurel Street. So lange hatten sie nach dem perfekten Ort gesucht, und jetzt war sie hier gelandet, im Niemandsland.
Wenn sie jemand vor ihrem Umzug gefragt hatte, wohin es gehen sollte, hatte Andrew stets »Upstate« geantwortet.
»Aber nicht das coole Upstate«, hatte sie bei solchen Gelegenheiten fast zwanghaft hinzugefügt. »Nehmt den Ort, den ihr euch vorstellt, und dann nochmal dreihundertfünfzig Kilometer weiter.«
Wenigstens sah ihr Haus nicht so aus wie alle anderen im Viertel. Ihre Nachbarn hatten alte Häuser im Cape-Cod-Stil abgerissen und sich hässliche Klötze hingestellt, die den letzten Zentimeter ihres Grundstücks ausfüllten.
Ihr Haus war ein Original. Klein, aber hübsch. Eine glänzend rote Tür, Efeu rankte die weiße Holzfassade empor, die, wie die Maklerin ihr geraten hatte, alle vier bis fünf Jahre gestrichen werden sollte. Elisabeth und Andrew nickten abwesend — seit sie erwachsen waren, hatten sie immer nur in Apartments gewohnt und sich abgesehen vom Wechseln einer Glühbirne nie mit Renovierungen beschäftigt.
Gil streckte jetzt die Händchen nach Sam aus und krähte, er wollte offenbar mitreden.
»Darf ich?«, fragte Sam.
»Natürlich.«
Sie nahm ihn hoch und richtete das Wort an Gil, wie man es mit Kindern machte. »Ich sehe schon, dass ich es hier mit einem außergewöhnlich klugen Kerlchen zu tun habe, Gilbert«, sagte sie. »Wir haben sicher viel Spaß miteinander.«
Er umklammerte Sams Haarbüschel, und beide lachten.
Elisabeth strahlte. »Ach, du hast wirklich ein Händchen für ihn.«
»Er ist ja auch ein echter Sonnenschein.«
»Das ist er. Wir haben Glück.«
»Wollen Sie noch mehr Kinder?«, fragte Sam ganz nebenbei, den Blick noch auf Gil gerichtet.
Eine seltsame Frage für ein Vorstellungsgespräch. Aber Sam war noch jung und ahnte offenbar nicht, wie aufgeladen so eine Frage sein konnte. Und hatte sie sich nicht erst vor ein paar Tagen bei Andrew beklagt, wie unheimlich sie es fand, dass hier alle so heimlichtaten? In der Stadt hatte es sie gestört, dass die Leute ihr Leben zur Schau stellten. Sie stritten sich oder aßen zu Mittag oder zupften sich vor aller Augen in der Subway die Brauen. Aber ihre Nachbarn, die mit aufgesetztem Lächeln und pflichtschuldigem Winken aus der Tür direkt in ihre SUVs hasteten, waren weitaus schlimmer.
»Ich wollte immer nur eins«, sagte Elisabeth. »Mein Mann Andrew hätte am liebsten einen ganzen Stall voll. Mal sehen, was kommt.«
Klang das nicht unbeschwert? Sorglos? Bereit, alles Weitere dem Schicksal zu überlassen? Sie dachte an die beiden Embryos, die in einer Kryobank in Queens lagerten, eingefroren in Flüssigstickstoff.
Andrew hatte deswegen Alpträume.
Viermal im Jahr bekamen sie eine Rechnung über zweihundertzweiundsechzig Dollar von Weill Cornell. Die Lagerkosten waren immer gleich, egal, wie viele Embryos man besaß, daher stieß Elisabeth die Summe mit der in Klammern aufgeführten Zahl 2 regelmäßig sauer auf.
In den Anfängen, als In-vitro-Fertilisation für sie noch graue Theorie gewesen war, hatten sie in einem Artikel gelesen, dass im ganzen Land vermutlich mehr als eine Million eingefrorene Embryos ungenutzt lagerten. Paare, die auf diesem Weg mehrere Kinder gezeugt hatten, aber nur eines wollten, befanden sich in einer Art Schwebezustand, denn sie konnten das, was einmal ihr Kind werden könnte, nicht einfach vernichten, wollten es aber auch nicht austragen.
Andrew fand es unfair, potenzielles Leben zu zeugen und es dann einfach dort einzulagern. Sie hatte ihm schwören müssen, so etwas nie zu tun.
Kurz überlegte sie, Sam das alles zu erzählen, doch sie hielt sich zurück.
»Es ist Zeit für Gils nächste Mahlzeit. Ich hole sein Fläschchen«, sagte Elisabeth und erhob sich. »Ich stille ihn, füttere aber mit Flaschennahrung zu.«
Sie leierte die übliche Litanei herunter. »Meine Milch reicht nicht aus. Die ersten drei Monate habe ich vierzig verschiedene Kräuter eingenommen und mir einen Riesenstress gemacht. Drei Stillexpertinnen habe ich aufgesucht. Diesen widerlichen Tee getrunken, von dem mein Schweiß wie Ahornsirup gestunken hat. Jedes Mal nach dem Stillen abgepumpt, alle zwei Stunden, sogar mitten in der Nacht. Irgendwann habe ich beschlossen, Milchnahrung zuzufüttern, und dann war Ruhe.«
Ihre heftigen Schuldgefühle hatten sie damals selbst überrascht. Sogar jetzt vermied sie es noch, anderen Müttern davon zu erzählen.
»Ich habe mal gelesen, dass Charles Manson gestillt wurde«, sagte Sam munter. »Seitdem gehe ich davon aus, dass es völlig egal ist, ob man stillt oder die Flasche gibt.«
Elisabeth lächelte.
»Kann ich dir wirklich nichts anbieten? Ich habe Kaffee gekocht.«
»Kaffee wäre super, wenn es keine Umstände macht.«
»Kein bisschen!«