Am Ende jedes Wohnheimflurs führte eine kurze Treppe hinauf zu einem Absatz, an dem je vier Doppelzimmer lagen. »Podeste« wurden diese Absätze von allen genannt. Nur die älteren Semester durften in Podestzimmern wohnen, und auch nur sie wurden dorthin zum Vorglühen am Freitagabend eingeladen.
Heute Abend fand die Party auf Sams Podest statt. Isabella hatte in einem Mülleimer Sangria angesetzt, und der klebrig süße Duft erfüllte das gesamte Zimmer.
Diese Partys galten als große Sache, aber Sam war mit den Gedanken woanders. Um zehn würde Clives Flieger aus London landen.
Isabella hatte ihr für die Fahrt zum Flughafen ihr Auto angeboten, aber das war viel zu protzig. Also hatte sie Steph, die Basketballtrainerin, um den ramponierten Kleinbus angebettelt, mit dem das Team immer zu Auswärtsspielen fuhr. Dass sie noch nie zuvor einen Kleinbus gefahren hatte, behielt Sam für sich.
Schon die ganze Woche war sie nervös und aufgeregt gewesen. Seit Dienstag waren ihre Hände dauerverschwitzt und ihr Magen spielte verrückt. Unmöglich, sich Clive hier vorzustellen, inmitten ihrer Freundinnen. Wie Isabella gesagt hatte: »Du kannst nicht mit einem eins fünfundneunzig großen Briten in die Mensa spazieren und erwarten, dass die Leute nicht drüber reden.«
Auf dieses Gerede hätte Sam lieber verzichtet, aber Clives Ankunft konnte sie kaum erwarten. Er hatte ihr so gefehlt.
Nach dem Essen half Isabella ihr beim Schminken und Frisieren.
Dann war Sam mit Helfen an der Reihe. Es tat gut, ausnahmsweise mal an etwas anderes als Clive zu denken.
Sie holte ein Fläschchen mit einer klaren Flüssigkeit aus dem Mini-Kühlschrank und zog damit eine Spritze auf.
»Bereit?«, fragte sie.
»Bereit!«
Isabella zog ihr blaues Tanktop ein Stück hoch und exte mit der anderen Hand einen Tequila. Sam piekste ihr die Nadel wie einen Dartpfeil in den straffen Bauch.
Isabella verzog das Gesicht — ob wegen des Stichs oder wegen des Drinks, das wusste Sam nicht so genau.
Sie zählte bis fünf, zog die Nadel wieder heraus und tupfte den Einstich mit Alkohol ab.
Beim ersten Mal, vor drei Wochen, war ihnen die ganze Prozedur noch viel zu krass erschienen, und sie waren wie aufgescheuchte Hühner im Zimmer herumgesprungen.
Dann hatte Sam gesagt: »Los, wir ziehen das jetzt durch. Vertrau mir. Meine Mutter ist Krankenschwester.«
Isabella wollte ihre Eizellen einem Paar verkaufen, das in der Campuszeitung inseriert hatte. Die beiden hatten eine Spenderin mit braunem Haar, blauen Augen und einem Notendurchschnitt von mindestens 3,7 gesucht. Isabella erfüllte alle Vorgaben, auch wenn das Paar mit einem Blick auf ihre Zeugnisse hätte sehen können, das sie hauptsächlich Kurse in Filmwissenschaft besuchte.
Kennenlernen würde sie die beiden nie, die ganze Transaktion lief über eine Agentur, bei der Isabella auch Bilder aus verschiedenen Phasen ihres Lebens hatte einreichen müssen.
Sam hatte sie am Telefon gehört.
»Mommy, kannst du mir ein paar Babyfotos von mir mailen? Ich brauche die für einen Kurs.«
Sam war schleierhaft, weshalb Isabella so was tat. Sie war der reichste Mensch, den Sam kannte.
»Nicht ich bin reich, meine Eltern sind reich«, sagte Isabella oft, aber das ergab irgendwie keinen Sinn.
Sam meinte, wenn Isabella was dazuverdienen wolle, solle sie sich doch einen Job am Campus suchen.
Isabella wirkte entsetzt. »Da bräuchte ich ja ein Jahr, um zu verdienen, was ich so in einem Monat kriege! Außerdem geht’s mir gar nicht nur ums Geld. Ich will auch was zurückgeben. Mit anderen teilen. So wie Blut spenden, bloß halt ein größeres Opfer.«
Jedem, der lange genug zuhörte, erzählte Isabella, wie selbstlos sie doch war.
Im ersten Studienjahr waren Sam und sie per Zufall zu Mitbewohnerinnen bestimmt worden. Anfangs hatten sie einander nicht ausstehen können, aber als sie gefragt wurden, mit wem sie im zweiten Jahr wohnen wollten, blieben sie freiwillig zusammen. Früher hatte Sam Isabella bloß für eine nervige Drama-Queen gehalten, aber inzwischen war sie ihre nervige Drama-Queen geworden.
Vielleicht spendete sie ihre Eizellen ja aus demselben Grund, aus dem sie praktisch alles tat. Isabella musste ständig irgendwas Aufregendes, Extremes anstellen, um so ihren Alltagstrott zu vergessen. Sam rieb ihr das nie unter die Nase. Ihre Freundschaft beruhte auf gegenseitiger Akzeptanz. Sie unterstützten einander bei jeder noch so dämlichen Entscheidung. Darum verkniff Sam sich auch anzumerken, dass, wenn alles glatt liefe, ein Kind zur Welt käme, das zur Hälfte Isabellas wäre.
Isabella wiederum stellte niemals Sams Beziehung mit Clive infrage. Andere machten keinen Hehl aus ihrer Skepsis, entweder indem sie viel zu viele Fragen stellten oder indem sie das Thema Clive gleich ganz totschwiegen.
Isabella würde die kommenden vier Nächte bei Lexi und Ramona im Zimmer gegenüber schlafen. Ramona war sowieso nur selten da: Ihre Freundin hatte eine Einzimmerwohnung bei den Veganern in der Reed Street, und ihr Bett war immer frei. Trotzdem, das war wirklich nett von Isabella.
Sam hatte den ungestörten Nächten mit Clive zwar entgegengefiebert, aber jetzt, wo er praktisch vor der Tür stand, dachte sie, Isabella würde ihr doch ein bisschen fehlen. Genau wie mit Gil war das. Wenn sie auf den Kleinen aufpasste, wollte Sam immer nur, dass er endlich schlief, damit sie lernen oder fernsehen konnte. Doch sobald er das dann tat, wollte sie ihn am liebsten gleich wieder wecken, sehnte sich nach seiner Gesellschaft.
Viertel nach acht stand Isabella im Gedränge auf dem Flur und schöpfte Sangria in rote Plastikbecher — mit einer Kaffeetasse, auf der stand: WHAT WOULD BEYONCÉ DO?
Die Augenlider auf Halbmast wippte sie zur Musik. Immer, wenn sie sich unbeobachtet fühlte, nahm sie einen Schluck Sangria direkt aus der Schöpftasse.
Sam nippte Bier und sah ihr zu. Immer wieder schaute sie auf die Uhr, so als könnte sie tatsächlich Clives Ankunft vergessen.
Noch vor einem Jahr hatte sie sich, immer wenn sie die Musik von einer Vorglüh-Party hörte, gewünscht, sie wäre eingeladen. Jetzt war irgendwie die Luft raus. Es war ja doch nur jede Woche dasselbe: Gegen halb elf würden sie geschlossen zur eigentlichen Party im Erdgeschoss umziehen, die meist erheblich unlustiger war als das Vorglühen. Morgen würden sie spät aufwachen, verkatert oder immer noch bedudelt, und zur Mensa stapfen, um sich Bagels zu holen.
Seit dem Sommer in London kam es Sam nicht mehr normal vor, in einem Wohnheim voller nahezu identischer Zimmer zu wohnen, unterscheidbar nur anhand der Vorhänge oder einer geblümten Tagesdecke, die irgendeine Mutter ausgesucht hatte. Sie fand absurd, dass man ihr vorschrieb, was und wann sie essen sollte.
Problemlos konnte sie eine Stunde auf dem Beekman Market verbummeln, kleine Seifenstücke und silberne Tuben überteuerter Handcremes begutachten und in Gedanken das Haus einrichten, in dem sie eines Tages mit Clive leben wollte. Allerdings kaufte sie dort nie etwas. Auf einer Plastikduschablage sähe diese Seife albern aus. Und die Handcreme würden alle benutzen, die ins Zimmer kamen, während Sam in Gedanken mitrechnete, was sie das kostete.
Ihr Traumhaus sah genauso aus wie das, in dem sie die letzten Wochen das Kind gehütet hatte. Elisabeths Haus. Die lichtdurchfluteten, geschmackvoll eingerichteten Zimmer strahlten eine Ruhe aus, die von Elisabeth selbst zu kommen schien.
Sam hatte sich entschieden, dieses Jahr nicht mehr in der Mensa zu arbeiten. Einerseits natürlich, weil die Wochenendschichten sie darin einschränken würden, Clive zu sehen. Aber wenn sie ehrlich war, wollte sie auch mal das College-Leben genießen, ohne für ihre Freundinnen den Abwasch zu machen.
Ursprünglich hatte sie nur zwei Tage die Woche arbeiten wollen, aber Elisabeth brauchte sie an drei Tagen. Also hatte Sam ihren Zeitplan angepasst. Jetzt hatte sie dienstags und mittwochs Kurse von acht Uhr morgens bis sechs Uhr abends, aber das war es wert. Für jemanden wie Elisabeth arbeitete sie zum ersten Mal. Manchmal schenkte sie Sam und sich selbst einen Kaffee ein, ehe sie zur Arbeit ging, und unterhielt sich eine Viertelstunde mit ihr, als wäre Sam nicht bloß ein bezahltes Kindermädchen, sondern eine Freundin. Sie interessierte sich für Sams Kunst, für ihre Reisen, ihre Pläne.
Während der Arbeit tat Sam gern, als gehörten Haus und Baby ihr. Sie ging nach oben ans Regal im Flur, in dem Elisabeths Bücher als gebundene Ausgaben standen, neben ein paar Übersetzungen in andere Sprachen, und stellte sich vor, wie es wäre, so etwas erreicht zu haben. Unter anderem sicher auch erleichternd.
Besonders gern wusch sie sich die Hände in Elisabeths Badezimmer im Erdgeschoss mit den weichen, weißen Handtüchern und der Tapete voller übergroßer grüner Blätter. Die Handseife duftete nach Pfingstrosen. Wenn Sam sie benutzte, fühlte sie sich wie ein ganz anderer Mensch.
Sie fragte Elisabeth, wo sie die Seife gekauft hatte.
Das wisse sie gar nicht mehr, antwortete Elisabeth achselzuckend.
»In der Drogerie, glaub ich«, sagte sie.
So war sie eben — unbeschwert und ungekünstelt.
Elisabeth war hübsch, ohne etwas dafür tun zu müssen. Ein Strich in der Landschaft, jungenhafte Statur, genau die Figur, von der Sam ihr Leben lang geträumt hatte. Wenn von den beiden eine aussah, als hätte sie im letzten halben Jahr ein Kind zur Welt gebracht, dann Sam. Wenn sie doch nur einen Tag, eine Stunde lang so eine Frau sein könnte. Eine, die sich nicht die Jeans über den Bauch ziehen musste, wenn sie sich hinsetzte, und die, sofern sie überhaupt je joggen gehen sollte, nicht ihre würdelos wippenden Brüste erdulden musste.
Einmal, als sie mit Isabella in der Stadt war, hatte Sam Elisabeth in freier Wildbahn gesichtet. Isabella hatte Sams Blick bemerkt und gefragt: »Wer ist das?«
»Meine Chefin«, hatte Sam gesagt.
»Willst du Hallo sagen?«
»Nein.«
»Sieht ja nicht schlecht aus …«, sagte Isabella.
»Bitte schmeiß dich nicht an meinen Boss ran.«
»Wie alt ist sie eigentlich? So alt wie Clive?«
»Nein«, sagte Sam. »Ich weiß nicht. Eher älter, schätze ich. Sie ist verheiratet und hat ein Kind.«
»Meine Mutter hatte in Clives Alter schon eine Achtjährige«, erwiderte Isabella.
»Danke, das will ich gar nicht hören«, antwortete Sam.
Elisabeths Freunde schickten ihr ausgefallene Geschenke. Von einem Schriftstellerkollegen bekam sie Schokotrüffel aus einer Confiserie in Manhattan, zum Dank dafür, dass sie ihn ihrer Agentin vorgestellt hatte. Einmal kamen Blumen von ihrer besten Freundin, passend zugeschnitten und in einer gläsernen Vase arrangiert, einfach nur, weil Elisabeth einen schlechten Tag hatte. Ein riesiges Paket von einem Nobelkochversand hatte Elisabeth erst nach einer Woche aufgemacht.
Sogar ihre Eiswürfel waren die schönsten, die Sam jemals gesehen hatte. Sie waren ausgesprochen würfelig, nicht so milchige Halbkugeln, wie sie aus den Kühlschranktüren von Normalsterblichen ploppten.
Wenn Sam am Montagmorgen Gils Fläschchen aus dem Kühlschrank holte, standen in Klarsichtfolie verpackte Reste vom Abendessen von Sonntag darin — mit Zitrone gefülltes Hähnchen, rote Kartoffelspalten mit Dill. Bei diesem Anblick beneidete sie Elisabeth immer am meisten.
Bevor sie aufs College gegangen war, hatte ihre Mutter ihr etwas namens »Dinner for One« gekauft: eine Kiste blaues Keramikgeschirr, das nur aus vier Teilen bestand: ein großer und ein kleiner Teller, eine Schale, eine Tasse. In den letzten Jahren hatte Sam oft davon gegessen, jetzt stand alles weit hinten im Schrank. Irgendetwas daran fand sie inzwischen deprimierend.
Ihrer Erfahrung nach waren die meisten Leute in ihrem Alter viel näher an »Dinner for One« als an Sonntagshähnchen. Wenn man so darüber nachdachte, waren Mitbewohner schon was Komisches. Fremde, mit denen man nur gemeinsam hatte, dass auch sie sich keine Wohnung leisten konnten. Gern hätte Sam das alles übersprungen und sich irgendwo richtig niedergelassen.
Clive sprach oft davon, aufs Land zu ziehen. Ein kleines Haus mit einem Zimmer unterm Dach, in dem sie malen konnte. Kinder — nicht sofort, aber doch irgendwann. Das klang zugleich herrlich und beängstigend.
Als Sam mal einen benutzten Schwangerschaftstest im Gemeinschaftsbad fand, kam ihr der Gedanke, dass vermutlich niemand im gesamten Wohnheim auf ein positives Ergebnis hoffte. Sie wünschte sich, dass ihr Leben bereits an dem Punkt wäre, den sie in der Werbung immer zeigten: ein glückliches Paar, das vor Freude in die Luft sprang.
»Nimm mein schulterfreies Kleid, das schwarze!«, rief Isabella irgendwem zu und lenkte Sams Aufmerksamkeit zurück zur Party. »Kannst es behalten! Steht dir bestimmt super!«
Isabella war bereits betrunken. Dass sie ihre Sachen verschenkte, war ein untrügliches Zeichen. In ein, zwei Wochen würde sie ihren eigenen und Sams Schrank durchwühlen und sie fragen, ob sie das schwarze Kleid gesehen habe.
Ein paar Leute hatten für Pizza zusammengelegt. Sam nahm zwei Stücke mit Käse aus den auf ihrem Schreibtisch gestapelten Schachteln, legte sie auf einen Pappteller und brachte sie ihrer Freundin.
»Iss das«, sagte sie.
Isabella nahm zwei Bissen, dann stellte sie den Teller auf den Boden.
»Danke, Mom«, spottete sie. »Versprichst du mir, dass du dich immer um mich kümmerst?«
»Ja«, sagte Sam.
»Auch, wenn du Clive geheiratet hast und mit ihm fünf Kinder in England großziehst, und ich bin die Geliebte von irgendeinem Bonzen in Dubai?«
»Auch dann«, antwortete Sam.
Sie grinsten — vermutlich, dachte Sam, weil sie beide fanden, dass sich das ganz gut anhörte.
Isabella nahm Sams Kopf in die Hände. »Ich hab dich so lieb, dass es fast wehtut.«
Sam konnte förmlich spüren, wie das Fett von Isabellas Fingern ihr in die Poren drang.
»Ich dich auch«, sagte sie.
Um zehn heulte Isabella Rotz und Wasser.
Nichts Besonderes, wenn sie so viel getrunken hatte, doch Sam ärgerte sich darüber. Heute sollte sie mal ausflippen dürfen, wollte sie Zuspruch bekommen, statt ihn immer nur zu geben. Bald musste sie zum Flughafen.
Sie gingen ins Zimmer und schlossen die Tür.
»Was hast du denn?«, fragte Sam.
Darüber musste Isabella offenbar selbst erst mal nachdenken.
»Ich vermisse Darryl«, antwortete sie schließlich.
»Darryl?«
»Darren, mein ich.«
»Mit dem du im letzten Highschooljahr zusammen warst?«
»Schon seit Ende des vorletzten. Der Einzige, der mich je so akzeptiert hat, wie ich bin.«
Irgendwas musste Isabella in Sams Miene gesehen haben. »Ehrlich«, fügte sie hinzu.
»Ich glaub dir schon«, sagte Sam. »Auch wenn das leichter wäre, wenn du seinen Namen noch wüsstest.«
Isabella kräuselte die Lippen, überlegte, ob sie protestieren sollte. Dann lachte sie stattdessen.
An ihrem ersten Samstag am College hatte sie Darren betrogen und ihm am Telefon alles gebeichtet. Am Ende der Orientierungswochen waren sie bereits getrennt gewesen. Soweit Sam wusste, herrschte zwischen den beiden seither Funkstille.
»Ich ruf ihn an«, verkündete Isabella und zog ihr Handy aus der Tasche.
»Schlaf besser noch mal drüber«, riet Sam.
»Gut, dann ruf ich eben Toby an.«
Toby hatte sie in ihrem Auslandsjahr kennengelernt. Kurz vor ihrer Heimreise hatte er Schluss gemacht, um wieder mit seiner Ex zusammenzukommen, was die Frage aufwarf, ob er je getrennt gewesen war.
Einer der Nachteile eines Frauencolleges war, dass die Auswahl zumindest theoretisch verfügbarer Männer unerträglich klein war. Dadurch hielt man sie in der Fantasie länger lebendig, als jede normale Frau das sonst täte. Ein bisschen wie im Krieg oder im Gefängnis war das.
Vor Clive hatte Sam am College nur eine einzige Beziehung gehabt, mit Julian, einem lieben, aber seltsamen Kerl, der in der Unibibliothek arbeitete.
Julian war ein angehender Dichter, der am State College Literatur studierte — nur weil er dort keine Studiengebühren bezahlen musste, wie er immer wieder betonte. Neben seinem Job in der Bibliothek machte Julian drei Praktika: eins von zu Hause aus, bei einem Übersetzer in New York, eins bei einem unabhängigen Verlag hier in der Stadt und eins bei Ambit, der gemeinsamen Literaturzeitschrift der drei Colleges.
Außerdem erzählte er, er leite eine Schreibgruppe, und meinte, Sam solle doch mal vorbeikommen.
»Und wann schläfst du?«, fragte Sam.
Er lachte, aber sie hatte die Frage durchaus ernst gemeint.
Sam unterhielt sich zwar immer gern mit ihm in der Bibliothek, aber als er irgendwann nach ihrer Nummer fragte, erwischte sie das kalt.
»Aaah, der steht auf dich«, sagte Isabella damals.
»Ich aber nicht auf ihn«, erwiderte Sam. »Sein Haar sieht aus wie ein Putzschwamm, und er schielt die ganze Zeit auf andere.«
»Warum sollte er auch nicht?«, wandte Isabella ein. »Du interessierst dich ja sowieso nicht für ihn, kann dir doch egal sein.«
»Nein, das war wörtlich gemeint. Er schielt.«
»Oh.«
Wie sich herausstellte, lag Isabella richtig: Julian stand wirklich auf sie. Und Sam bemühte sich, das zu erwidern. Ein paarmal knutschten sie rum. Seine Zunge fühlte sich schleimig und irgendwie zu groß an. Wie eine Muschel, die versucht, aus ihrer Schale auszubrechen, sagte Sam zu Isabella. Von da an nannte Isabella ihn immer nur »das Weichtier«. Sam fand das zwar lustig, hatte deshalb aber auch ein schlechtes Gewissen.
Sie gingen essen und ins Kino. Er war genau die Art Mann, den sie eigentlich mögen sollte, und doch … Zu ihrem ersten Monatstag schrieb er ihr ein Gedicht. Sam fand es grauenhaft. Als er fragte, wie es ihr gefiel, sagte sie, es erinnere sie an T. S. Eliot. Die Enttäuschung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Vermutlich wollte er lieber ein Originalgenie sein.
Sie erklärte ihm daraufhin, sie wolle sich auf ihr Studium konzentrieren. Eine Weile flehte er sie an, wenn er betrunken war, es sich noch mal zu überlegen. Sam schrieb nie zurück.
Seither versteckte sie sich immer, wenn sie ihn in der Bibliothek sah. Anfangs hatte sie meistens oben gearbeitet, wegen der Sonne. Aber nach dieser Geschichte lernte sie lieber im Keller, weil er dort nie hinging.
Isabella warf sich auf ihr Bett.
Sie wollte unbedingt zurück zur Party und mit Rosie Simmons rummachen, einer älteren Studentin, die ein bisschen aussah wie ein junger Leonardo DiCaprio.
»Später«, sagte Sam.
»Disco-Nap!«, rief Isabella.
»Guter Plan. Aber zieh wenigstens die Schuhe aus.«
Vorsichtshalber schob Sam den Mülleimer in Reichweite.
Isabella nestelte an ihrer Jeans herum.
»Du siehst aus wie ein Vierzehnjähriger, der zum ersten Mal einem Mädchen die Hose auszieht«, stellte Sam fest. »Bloß dass es deine eigene Hose ist.«
Isabella stöhnte.
»Ich bin zu müde«, klagte sie. »Kannst du das bitte machen?«
»Du nervst«, erwiderte Sam, tat es aber trotzdem. An den Knöcheln blieb die Hose kurz hängen. »Mann, da braucht man ja ein Brecheisen. Schlafhose?«
Isabella schüttelte den Kopf. Wenig später war sie eingeschlafen, lag in Tanktop und Unterwäsche da wie in einer Werbung von American Apparel. Sam nahm die Decke, die immer gefaltet an ihrem Bettende lag, und breitete sie Isabella über die Beine — weniger wegen der Kälte, als um zu verhindern, dass Clive ihre unverschämt schlanken Schenkel zu sehen bekam, falls Isabella bei ihrer Rückkehr noch nicht wieder wach sein sollte.
Sam sah in den Spiegel. Ihr Magen schlug einen Purzelbaum.
»Mehr Lippenstift!«, forderte Isabella, ohne die Augen zu öffnen.