Der Kleinbus dröhnte wie eine Mondrakete auf der Startrampe.
Sam umklammerte das Lenkrad. Sie sah schon vor sich, wie sie mit der Klapperkiste auf halber Strecke liegenblieb, in ihrem kurzen Sommerkleid, das weder zur Tages- noch zur Jahreszeit passte. Sie hatte es nur an, weil Clive es so gern an ihr mochte.
Mit hämmerndem Herzen fuhr sie über den dunklen Highway. Irgendwo über ihr sauste Clive durch die Luft, kurz davor, zum ersten Mal auf amerikanischem Boden zu landen. Vor einem halben Jahr hatte sie nicht mal gewusst, dass es ihn gibt — jetzt war er »ihr Mensch«.
Irgendwann im zweiten Jahr hatten Sams Freundinnen plötzlich alle von ihren Auslandsaufenthalten im dritten Jahr gesprochen, als wären die schon immer eingeplant gewesen. Sam hatte so etwas nie auch nur erwogen. Lexi bewarb sich in Brasilien, Ramona wollte nach Nepal. Shannons Stipendium umfasste unter anderem die Kosten für ein ganzes Jahr Paris.
»Komm doch mit, Sam. Deine Beihilfe zahlen die bestimmt auch da weiter«, sagte Isabella, die nach London gehen würde und keinen Cent Beihilfe brauchte.
Aufgeregt surfte Sam durch die Websites von Unis in Schottland, Irland und Frankreich. Auf einer Infoveranstaltung im Auslandsamt des Colleges machte sie eifrig Notizen. Als die Rednerin sagte: »Sie müssen etwa zehn- bis fünfzehntausend Dollar zusätzliche Kosten einkalkulieren«, schlug Sam ihr Notizbuch zu. Sie würde garantiert nirgendwo hinfahren.
Ihre Eltern hatten gewollt, dass Sam in ihre Fußstapfen trat und ein staatliches College besuchte. In Sams Abschlussjahr würden sie drei Kinder gleichzeitig durchs Studium bringen müssen. Wenn Sam mehr wollte, musste sie selbst dafür aufkommen. Und aus Gründen, die sie immer noch nicht formulieren konnte, wollte sie mehr.
Am Ende blieben ihr Bruder und ihre Schwester näher an zu Hause und besuchten die Alma Mater ihrer Eltern. Brendan wusste noch nicht, was er machen wollte, Molly wollte Lehrerin werden. Sam fürchtete, ihre eigenen Ziele könnten im Vergleich dazu vermessen wirken.
Sie ergatterte ein kleines Stipendium und musste nebenbei jobben. Für den Rest nahm sie einen Kredit auf.
»Ich hoffe, dir ist wirklich klar, was das bedeutet«, sagte ihr Vater, als sie die Formulare unterschrieb. »Es tut mir leid. Ich wünschte, wir könnten mehr für dich tun.«
»Ihr habt total viel für mich getan«, erwiderte sie, und das war die Wahrheit. Auf keinen Fall sollte er das Gegenteil glauben.
Erst am College wurde ihr klar, dass sie nicht nur die Kosten für die Ausbildung hätte bedenken sollen, sondern auch an die für ein Leben unter Leuten, die sich diese Ausbildung problemlos leisten konnten. Wenn ihren Freundinnen das Angebot der Mensa nicht passte, gingen sie manchmal spontan Sushi essen. Sam ging nie mit. Aus Erfahrung wusste sie, dass Lexi und Isabella immer die ganze Speisekarte rauf und runter bestellten, und auch wenn sie selbst nur eine Miso-Suppe nahm, das billigste verfügbare Gericht, schlug beim Bezahlen immer jemand vor, die Rechnung einfach zu teilen.
Der Sommer nach dem zweiten Jahr kam ihr vor wie jeder andere. Sie schlief in ihrem alten Kinderzimmer mit der Ballettschuh-Tapete, ging am Wochenende babysitten und machte unter der Woche Zeitarbeit. Ihr längster Einsatz war bei einer Werbeagentur namens Fleischer Boone, wo sie hauptsächlich Anrufe annehmen und sich möglichst professionell mit »Fleischer Boone« melden musste.
Ungefähr ein Viertel der Anrufe waren Telefonstreiche ihrer zwölfjährigen Schwester Caitlin. »Fleischer Boone«, leierte Caitlin in übertriebenem Südstaatenakzent, dann legte sie schnell wieder auf, nur um gleich noch einmal anzurufen. »Fleischer Boone! Unser Hühnchen ist zum Fingerschlecken!«
Ihre spärliche Freizeit verbrachte Sam mit Maddie, ihrer besten Freundin aus der Highschool, die inzwischen Medizin an der Clemson studierte. Viel unbefangener als vor dem College durchstreiften sie die Straßen ihrer Heimatstadt, als unbeteiligte Beobachterinnen, zu Besuch aus einem fernen Land.
Im Juli hatte Maddie im Globe ein Inserat für Bedienungen bei einem Catering-Service entdeckt: zwanzig Dollar die Stunde. Gemeinsam absolvierten Sam und sie die Ausbildung bei eineiigen Zwillingsschwestern Mitte fünfzig im Partnerlook. Sie lernten vier verschiedene Serviermethoden — normal, fan, butler, silver service — und wie man korrekt Champagner ausschenkt.
Zuhause zog Sams Vater sie auf, wenn sie den Tisch deckte. »Nein, nicht so! Heute machen wir fan service.«
Im August brachen Sams Freundinnen zu ihren Auslandsaufenthalten auf. Per Social Media bekam Sam mit, was sie erlebten — Fotos von überwältigender Architektur und tollem Essen, Selfies mit neuen Freunden. Aber erst zurück auf dem Campus begriff sie wirklich, dass sie fort waren. Oder besser gesagt: dass sie jetzt allein war.
Sicher, im Wohnheim und in ihren Kursen gab es ein paar Mädchen, mit denen sie ab und zu kurz quatschte oder mal ins Kino ging. Aber ohne ihre Freundinnen war das College einfach nicht dasselbe.
Das Zimmer teilte Sam sich mit einer Kommilitonin, die lieber weiter College-Fußball spielte, als ins Ausland zu gehen. Sam bekam sie kaum zu sehen. Morgens ging sie trainieren, noch bevor Sam aufwachte, abends aß sie in der für Sportlerinnen länger geöffneten Mensa. Isabella fehlte Sam so sehr, dass sie manchmal einfach im leeren Zimmer saß und tat, als käme ihre Freundin gleich zur Tür herein.
»Wenigstens hast du jetzt Zeit zum Malen«, sagte ihre Mutter, und da hatte sie recht.
Sam verbrachte viele Stunden im Atelier. Manchmal ging sie sogar samstagabends hin, wenn sonst ganz sicher niemand da war. Trotzdem, lieber hätte sie Isabella zurückgehabt.
Im Übrigen ging sie öfter babysitten und übernahm doppelt so viele Mensaschichten wie in den ersten beiden Jahren. Sie bereitete das Essen vor, spülte ab und schleppte eimerweise Biomüll zu den Gärten hinter den Ställen, in denen ein paar der Studentinnen ihre Pferde untergebracht hatten.
Maria und Delmi, die beiden salvadorianischen Vollzeitkräfte in der Küche, hatte sie von Anfang an gemocht. Ohne ihre vertrauten Gesichter hätte Sam diese Zeit nicht überstanden.
Beide Frauen arbeiteten schon länger am College, als Sam auf der Welt war. Aber in Sams Augen war die Küche ganz allein Marias Reich.
Delmi hatte jede Menge Freundinnen, die in den anderen Wohnheimen arbeiteten. Ständig schauten sie vorbei und tuschelten mit ihr auf Spanisch. Delmi schuftete schwer, nahm sich aber immer gern Zeit für einen Plausch mit Sam. Einmal hatte Sam sie überrascht, als sie alleine in der Küche stand und leise einen Song von Bon Jovi in ihr Handy sang, um Konzerttickets im Radio zu gewinnen.
Maria strahlte eine ganz andere Autorität aus. Jeder Außenseiter, der irgendwas wollte — ein Lieferant mit einer Sackkarre voller Pakete oder eine Aushilfe aus einem anderen Wohnheim —, wandte sich instinktiv sofort an sie. Sie war ein zierliches Energiebündel, eine Art menschliche Sprungfeder. Hübsch, glänzend braunes Haar, muskulöse Oberarme, tat immer mehr, als man von ihr verlangte. Sie brachte Ordnung in die Speisekammer und sortierte die Rezepte alphabetisch. Jeden September merkte sie sich umgehend die Namen aller neuen Studentinnen.
Sams Mutter sprach oft anerkennend über Leute, die ihre Arbeit besonders gut machten, egal ob Kellner, Ärzte oder Kundendienstmitarbeiter.
»Nicht auf die Art der Arbeit kommt es an«, hatte sie ihren Kindern oft erklärt, »sondern darauf, wie gut man sie macht. In der Klinik erlebe ich das jeden Tag. Egal ob Chirurgin oder Pfleger, manche Leute geben immer alles und machen die Welt für alle ein Stück besser.«
Einmal hatte Sam das verlegen Maria erzählt und ihr gesagt, sie erinnere sie oft daran.
Unter all den studentischen Aushilfen in der Küche war Sam immer Marias Liebling gewesen. Als sie in ihrem ersten Jahr während der Arbeit mal vor Heimweh weinte, nahm Maria sie in den Arm, gab ihr ein paar Kekse und brachte sie zum Lachen. Dasselbe tat sie, als im zweiten Jahr Sams Großmutter starb. Sie bat Sam, eine Rose von der Trauerfeier mitzubringen, und ließ Rosenkranzperlen daraus anfertigen. Als Sam die einzige Matheprüfung bestand, die sie für ein Prädikatsexamen ablegen musste, belohnte Maria sie mit selbstgebackenem Käsekuchen.
Am Anfang des dritten Jahres, als Maria ihr den neuesten Zugang zur Küchentruppe vorstellte, musterte die Neue Sam und sagte: »Ich weiß eh schon, wer du bist. Du bist Tante Marias kleiner Liebling.«
Maria verdrehte die Augen. »Sam, das ist Gabriela, meine wahnsinnig charmante Nichte«, sagte sie.
Gabriela sah aus wie eine größere Version von Maria. In der Nase trug sie einen Diamantstecker. Wie Sam bald erfuhr, war sie dreiundzwanzig und hatte ein Baby, Josefine, eine pummelige Einjährige, deren Foto Maria neben die Wochenkarte über der Salatbar hängte.
Das Bild war als Mahnung für Gabriela gedacht. Maria beschwor sie unentwegt, sie solle ihre Zunge zügeln und erst tief durchatmen, bevor sie den Mund aufmachte.
Sämtliche studentischen Aushilfen in der Küche zitterten vor Gabriela — zu Anfang auch Sam. Gabriela machte keinen Hehl daraus, dass sie nichts für dämliche College-Girls übrig hatte, die sich aufführten wie die Schweine, weil sie davon ausgingen, dass schon jemand ihren Dreck wegräumen würde.
Jeden Tag vor dem Mittag- und Abendessen befüllte Gabriela sorgfältig die Stahlwannen in der Salatbar — die große mit dem Grünzeug, die vier am Ende mit den Salatsoßen und die kleineren mit Gurkenscheiben, Tomaten, Radieschen, Croutons, Karottenraspeln und dergleichen mehr. Zehn Minuten später war immer alles durcheinander. Grimmig brachte Gabriela es wieder in Ordnung, damit niemand meckerte, weil Thunfisch im Frischkäse war oder Joghurtsoße in der Vinaigrette. Dann stellte der nächste Schwung Salatfans erneut alles auf den Kopf, und Gabriela musste wieder ran. Wie Sisyphos mit seinem Stein.
Sam verstand ihren Ärger nur zu gut.
Als eine Abschlussstudentin aus Connecticut mal eine Pfütze Cola light unter dem Getränkespender hinterließ und Gabriela sagte: »Wischen die sich eigentlich die Ärsche noch selbst ab, oder bezahlen sie da auch einen dafür?«, freute Sam sich insgeheim.
Als eine Neue einmal etwas pampig Salz verlangte, pampte Gabriela zurück: »Du hast doch Beine in der Jogginghose, geh halt selber.«
Sam lachte laut auf. Gabriela sah sie an, als ob sie sie zum ersten Mal bemerkte. Und grinste.
»Ist doch wahr, oder?«, fragte sie auf dem Rückweg in die Küche.
»Klar«, sagte Sam. »Du sprichst alles aus, was ich mir andauernd verkneife. Du bist meine Heldin, Gabriela.«
»Nenn mich ruhig Gaby«, sagte sie.
Delmi und Maria, die das hörten, blickten erstaunt auf, sahen einander an und prusteten los.
»Was??«, blaffte Gaby.
Von da an quatschten und witzelten Gaby und Sam bei jeder gemeinsamen Schicht. Maria ermahnte sie zwar oft, aber immer mit einem Lächeln. Sie freute sich, dass die beiden sich angefreundet hatten.
»Sam ist in Ordnung«, sagte Maria einmal zu ihrer Nichte, und Sam erfüllte das mit Stolz.
Für ihre richtigen Freundinnen war Gaby jedoch kein Ersatz. Die beiden lagen einfach nicht ganz auf derselben Wellenlänge, sie mochten weder dieselbe Musik noch hatten sie sonst viel gemeinsam. Gaby war meistens ziemlich eingespannt — ein paar Abende die Woche arbeitete sie in der Küche eines Restaurants bei ihr um die Ecke, an den anderen musste sie nach Hause zu ihrer Tochter. Aber freitags nach der Arbeit spazierten Sam und sie meistens zusammen in die Stadt, um ihre Gehaltsschecks einzuzahlen. Sie bummelten an den Schaufenstern vorbei, tranken Kaffee und unterhielten sich. Es war schön, dafür jemanden zu haben.
Gaby sagte, was sie dachte, und pfiff darauf, wenn man sie deswegen nicht mochte. Sam fand das ein wenig furchteinflößend und absolut fantastisch. Sie merkte Gaby aber auch eine gewisse Traurigkeit an — zur Sprache kam die nie, schien aber durch, als Gaby erwähnte, viele ihrer Freunde hätten sie nach Josies Geburt einfach im Regen stehen lassen. Und als sie erzählte, sie sei nach der Highschool nicht sofort aufs College, weil ihr das damals unsinnig erschienen war. Stattdessen hatte sie in Läden und Restaurants gejobbt. Mit zwanzig, wenn die meisten ihre Ausbildung beendeten, hatte sie sich am Community College eingeschrieben, wollte Buchhalterin werden wie ihre Mutter. Sie schuftete tagsüber und büffelte abends. Doch nach drei Semestern wurde sie schwanger, und das war es dann gewesen. Beides war nicht drin.
Gaby liebte ihre Tochter abgöttisch. Ihre eigene Mutter fand sie zwar nervig, kontrollsüchtig und schwierig, war aber dankbar, dass sie sie aufgenommen hatte und ihr mit Josie aushalf, zusammen mit einer Cousine, die auf die Kleine aufpasste, wenn Gaby bei der Arbeit war.
Gaby verriet Sam allerlei Erstaunliches über die Frauen in der Küche: Tina zum Beispiel, die während Sams erstem Jahr ganz plötzlich gekündigt hatte, war erst fünfundvierzig, obwohl sie aussah wie sechzig; sie war schon viermal verheiratet gewesen und hatte das Sorgerecht für ihre drei Enkel, weil ihre Tochter an der Nadel hing. Delmis Mann hatte eine Affäre mit einer Frau aus ihrer Kirche gehabt. Delmi hatte ihm zwar verziehen, traute jetzt aber keiner Frau zwischen sechzehn und neunzig mehr über den Weg, die ihn auch nur ansah.
Gelegentliche Gesprächsflauten überbrückten Gaby und Sam mit Witzen über die Studentinnen. Falls daran etwas seltsam war, verdrängte Sam das. Natürlich war sie selbst »eine von denen«. Aber wenn Gaby sie so sähe, würde sie ja wohl nicht mit ihr darüber lästern.
Eines Nachmittags, sie hatten gerade dreihundert perfekte Kugeln Hühnchensalat in die Speisenwärmer gelöffelt, erzählte Sam — obwohl sie das vorher nie gestört hatte —, dass Lexi sie immer bat, ihr was von den besonders begehrten Sachen zur Seite zu stellen, wenn sie zu spät zum Essen kam. Oder wie Isabella, die Füße auf einen Stuhl gelegt, mal nach dem Abendessen mit einem Blick auf ihren schmutzigen Teller gesagt hatte: »Sam, könntest du? Du gehst ja eh in die Küche, oder?«
»Ich hätte ihr eine gescheuert«, schnaubte Gaby.
Sam fügte hinzu, dass Isabellas Mutter zwar nicht arbeitete, die Familie aber trotzdem einen Koch, eine Nanny und eine Haushälterin beschäftigte.
»Sie ist eben gewöhnt, dass man ihr alles hinterherträgt«, sagte sie. »Vor dem College hatte sie noch nie Wäsche gewaschen. Ich musste es ihr beibringen.«
»Das ist doch alles ein Witz hier«, antwortete Gaby. »Hast du dieses bescheuerte Banner am Tor gesehen? ›Vielfalt feiern‹? Zum Totlachen.«
Naja, dachte Sam, irgendwie war das College schon ziemlich vielfältig.
Der Campus war eine Offenbarung für sie gewesen: die Transmänner, die kahlgeschorenen Butch-Lesben, die Studentin, die sich in der ersten Sitzung ihres Atelierkurses gemeldet und selbstbewusst erklärt hatte, sie wolle bitte genderneutral angesprochen werden.
Viele Studentinnen kamen aus dem Ausland.
»Meine Freundin Shannon ist schwarz«, hätte Sam beinahe gesagt, »Lexi ist Koreanerin und Rosa von den Philippinen. Ihr Vater ist Diplomat.«
Aber sie ahnte, dass diese Beispiele Gaby letztlich nur irgendwie Recht gegeben hätten.
Stattdessen erzählte sie daher, dass Shannon in einem Eliteprogramm für Afroamerikaner war und sich dabei trotzdem manchmal als Quotenschwarze fühlte. Letztes Jahr hatte man sie um ein Foto für die Collegebroschüre gebeten. »Cool, dass die dich fragen«, hatte Sam gesagt, und Shannon hatte sie nur angesehen und erwidert: »Hm, woran das bloß liegen mag …«
Dann war da noch der Umstand, dass das College zwar Vielfalt feierte, aber niemand je über die vorwiegend nicht-weißen Frauen sprach, die das Essen machten und alles sauber hielten, damit die Studentinnen in Ruhe lernen und sich selbst verwirklichen konnten. Während die Putzkolonne fast ausschließlich aus Schwarzen bestand, waren nur vier Prozent der Studentinnen schwarz. In den Kursen sprach man zwar über Diskriminierung und soziale Ungleichheit, aber diese unbequeme Wahrheit vor der eigenen Nase sollten dennoch alle ignorieren.
Einmal, im November, lud Gaby Sam auf eine Party ein. Abgesehen vom Babysitten war Sam dabei zum ersten Mal bei jemandem zu Hause, der nichts mit dem College zu tun hatte. Das Haus war eine kleine Ranch am Ende einer Sackgasse, vor der ein Dutzend Autos parkte.
Sie tanzten und tranken jede Menge Schnaps. Sam flirtete mit Trevor, einem scharfen Feuerwehrmann, den Gaby aus der Highschool kannte. Später knutschte sie mit jemandem rum, den sie für Trevor hielt, bis Gaby ihr steckte, dass der seit einer halben Stunde weg war.
»Und wer ist das?«, fragte Sam und zeigte auf den Kerl, dessen Zunge sie gerade noch im Hals gehabt hatte.
Gaby zuckte nur lachend die Achseln.
Schon als Sam für Weihnachten nach Hause fuhr, graute es ihr davor, wieder zurück ans College zu müssen. Im Winter war die Gegend ganz besonders trostlos. Vor allem ohne Isabella, die mit dem Wasserkocher Ramen für sie beide machte, ohne Lexis heiße Schokolade mit Zimt und einem Schuss Rum. Es war, als müsste sie geduldig ihre Zeit absitzen, bis ihre Freundinnen zurück wären.
Ein wenig Missgunst regte sich in ihr. Wieso nur hatten es die anderen so leicht?
Ende Januar erzählte Isabella ihr beim Skypen: »Meine Eltern schenken mir zum Geburtstag eine Reise, egal wohin.«
»Wow, toll«, sagte Sam.
Sie hoffte, das würde ihre wahren Gefühle ausreichend verbergen. Lieber wäre ihr gewesen, Isabella hätte ihr das schriftlich mitgeteilt.
»Ich hab mich für London entschieden«, sagte Isabella.
»Ähm, da bist du doch schon«, erwiderte Sam.
»Weiß ich. Ist ja auch für dich.«
»Was? Äh, nein«, stammelte Sam. »Das kann ich nicht annehmen.«
»Du kommst für zehn Tage, in den Frühlingsferien. Praktischerweise genau meine Geburtstagswoche. Wohnen kannst du bei mir.«
Sams Mutter fand, sie solle annehmen.
»Dir ging’s so schlecht in letzter Zeit«, sagte sie.
»Quatsch«, entgegnete Sam.
Aber der Segen ihrer Mutter, die ihr immer eingebläut hatte, niemandem je etwas schuldig zu sein, am allerwenigsten ihren Freunden, war genau der Schubser, den Sam brauchte.
Im Flugzeug bestellte sie einen Gin Tonic, nur um zu sehen, was passierte. Der Flugbegleiter brachte ihn, ohne mit der Wimper zu zucken. Also trank sie noch zwei weitere. Sie sah sich eine romantische Komödie an und schaute aus dem Fenster auf die Wolken, schwor sich, nie die Begeisterung für diesen Anblick zu verlieren.
Isabella holte sie in Heathrow ab, in einem Auto mit Chauffeur. Sie hatte sich einen leichten britischen Akzent zugelegt und baute Wörter wie snog oder cheers in ihre Sätze ein.
Während der nächsten beiden Tage führte Isabella sie durch London. Früher war sie dort so oft mit ihren Eltern gewesen, dass die Pagen im Four Seasons sie mit Namen kannten. Sie tranken Tee im Brown’s. Sie besichtigten Buckingham Palace und behaupteten steif und fest, sie hätten Kate Middleton gesehen, obwohl sie genau wussten, dass sie es höchstwahrscheinlich nicht gewesen war. Sie schlenderten durch die Feinkostabteilung von Harrods und probierten Klamotten, die sie nie im Leben tragen würden. Stattdessen kauften sie Jeans im Top Shop. In einer Bar schnippte Isabella ihre AmEx auf den Tisch, noch bevor die Rechnung kam.
An Isabellas Geburtstag kam Shannon aus Paris. Sie sah abgemagert aus. Als Stipendiatin, sagte sie, bekäme sie zwar Verpflegungsgeld, ließe das Mittagessen aber meistens aus, um für eine Sonnenbrille von Chanel zu sparen. Irgendwie mondäner wirkte sie. Lernbegierig war sie immer schon gewesen. Zu Hause hatte sie meistens ihre alte Sporthose aus der Highschool getragen. Jetzt trug sie eine gut sitzende schwarze Jeans und dazu Stiefel von einem Designer, den Isabella auf den ersten Blick erkannte. Während die drei sich fertigmachten, tranken sie Champagner, den Isabellas Vater geschickt hatte. Dann gingen sie essen mit Isabellas neuem Freund Toby, der auf seinem Auslandsjahr aus Georgetown war.
»Das ist was Ernstes«, wisperte Isabella, als er zur Toilette ging. »Wir teilen uns einen Netflix-Account.«
Shannon sah Sam an und schüttelte belustigt den Kopf.
Die Party stieg in einer Bar namens The Zoo, direkt am Leicester Square. Mindestens hundert Leute waren da, um Isabella zu feiern. Wie hatte sie seit August nur so viele Freunde finden können?
Isabella führte Sam an der Hand herum. »Sam ist mein Geburtstagsgeschenk«, erzählte sie allen.
Dann bestellte sie für Sam und sich einen Drink namens GTW. Als Sam nach dem Inhalt fragte, wirkte Isabella geschockt über so viel Ahnungslosigkeit.
»Gin, Tequila und Wodka«, antwortete sie.
»Ach du Schande«, erwiderte Sam.
Nach einem halben Glas sagte sie, sie müsse mal aufs Klo.
»Ich komm mit!«, rief Isabella.
»Schon okay«, sagte Sam. »Bin gleich wieder da.«
So sehr sie sich auch freute, Isabella zu sehen, sie hatte ganz vergessen, wie anstrengend sie sein konnte.
Vor dem Klo standen gut zwei Dutzend Frauen Schlange, aber draußen, auf der anderen Straßenseite, hatte Sam einen McDonald’s gesehen. Ohne jemandem Bescheid zu geben, ging sie hinaus.
Auf dem Rückweg blickte sie an den verschnörkelten Fassaden empor und fragte sich, wie alt diese Gebäude sein mochten. Zum ersten Mal war sie im Ausland, ohne ihre Familie war sie vorher überhaupt noch nie verreist. Sam fühlte sich beschwingt wie seit Monaten nicht mehr.
Gedankenverloren krachte sie in irgendetwas Festes. Einen Mann.
»Jack the Ripper?«, fragte er.
»Wie bitte?«
Sam blickte auf. Er war groß und very british, schiefes Grinsen und igeliges Haar. Definitiv älter als sie, aber wie alt genau? Fünfundzwanzig?
»Bist du wegen der Tour hier? Jack the Ripper, um zehn?«
»Ah, nein«, sagte sie. »Ich bin eigentlich in der Bar da drüben.«
»Oh. Dann klang das grade wohl ein bisschen weird. Machst du hier Urlaub?«
»Ja.«
Er reichte ihr ein Flugblatt.
»Die beste Rundgang-Agentur der Stadt«, erklärte er. »Das sage nicht ich, das sagt Time Out.«
Sam bedankte sich und warf einen Blick auf das Angebot.
»Oh!«, rief sie. »Blitzkrieg: London blutrot!«
Er lachte. »Der fällt den Leuten sonst als Allerletztes auf. Hast du den Harry-Potter-Walk nicht gesehen? Oder die Downton-Abbey-Tour, wo man Lady Ediths Büro besuchen und auf ihrer Schreibmaschine tippen darf?«
Sam zuckte die Achseln. »Ich bin eben komisch.«
»Offensichtlich, ja«, sagte er anerkennend. »Ich heiße übrigens Clive.«
»Sam.«
Sie versuchte einzuschätzen, ob er mit ihr flirtete. So gutaussehende Typen taten das normalerweise nicht. Vielleicht musste man ja auch Attraktivität im Ausland umrechnen, so wie ein Pfund nicht einfach einen Dollar wert war, sondern einen Dollar fünfzig.
»Sieht nicht aus, als würde noch jemand kommen«, sagte er. »Und in einer Stunde muss ich sowieso schon wieder hier sein, für die Geister des viktorianischen Londons. Lust auf fünfzig Minuten Spazierengehen?«
Also doch. Er flirtete tatsächlich.
Sam war nüchtern genug, um zu wissen, dass es schon ein bisschen schräg war, einfach mit einem Fremden draufloszuspazieren, statt zurück zur Party zu gehen. Aber er war so süß! Und das würde eine tolle Story abgeben. Außerdem würde sie auf diese Art mal eine Stunde London nur für sich haben, nicht durchgeplant von Isabella.
Unterwegs wies Clive sie auf Sehenswürdigkeiten hin, als könnte er einfach nicht aus seiner Haut.
»Das ist St Paul’s«, sagte er. »1675 erbaut von Sir Christopher Wren.«
Und: »Das ist das Rathaus, wo die jungen Bräute jeden Nachmittag um zwei mit Reis beworfen werden.«
»Du weißt schon, dass ich dich nicht bezahle?«, witzelte Sam.
Er zeigte ihr die Überreste des Globe Theatre und einen Nachbau des Seglers, mit dem Sir Francis Drake vor vier Jahrhunderten die Welt umrundet hatte. Er führte sie durch enge Gassen, die angeblich schon Dickens inspiriert hatten.
»Woher weißt du das alles?«, fragte sie.
»Ich habe eben ein gutes Gedächtnis für Zahlen und Fakten«, antwortete er. »Und wenn mir mal nichts einfällt, denke ich mir einfach was aus.«
Sie grinste, war unsicher, ob er das ernst meinte.
»Quatsch«, sagte sie. »Hast du Geschichte studiert oder so?«
»Studieren ist nur was für Leute, denen man vorschreiben muss, was sie denken sollen«, erklärte er. »Ich hab einfach nur viel mitgekriegt.«
Kurz war Sam etwas enttäuscht, doch das war albern. Schließlich würde sie diesen Stadtführer, der sie mit den Worten »Jack the Ripper« angesprochen hatte, ja nicht heiraten. Sie sollte diese Stunde einfach genießen.
»Ich war schon ein Semester an der Uni«, fuhr er fort. »Aber so ein Prof wollte nicht akzeptieren, was ich im Kurs gesagt habe. Er hatte keine Lust auf Widerspruch und hat mir den Mund verboten. Da bin ich gegangen, für immer.«
Der Stolz in Clives Stimme machte deutlich, dass er glaubte, diesem Prof eins ausgewischt zu haben, dabei hatte er sich doch wohl nur um seine Ausbildung gebracht.
Er führte sie in ein nettes kleines Pub, dessen Barmann er kannte.
Clive bestellte sich ein großes Bier und ihr ein kleines. Sam war nicht ganz sicher, was sie davon halten sollte. Sie setzten sich an einen Ecktisch. Unter seiner Jacke trug Clive ein enges rotes T-Shirt zu seiner Jeans. Seine Oberarme waren muskulöser, als sie gedacht hätte.
Er erzählte, er sei in einer Kleinstadt drei Stunden nördlich von London aufgewachsen und habe ein paar Jahre in Spanien gelebt. Nachdem er dort seinen Job verloren hatte, war er nach England zurückgekehrt.
Sie sprachen über ihre Lieblingsromane. Als Sam zugab, dass sie noch nichts von Ian McEwan gelesen hatte, zog er ein Buch aus seinem Rucksack und gab es ihr.
»Sein neuestes«, erklärte er.
»Liest du das nicht noch?«, fragte sie.
»Doesn’t matter. Du brauchst es dringender.«
Beim Wort »matter« verschluckte er die beiden ts.
Das Buch war in Folie gebunden.
»Aus der Bibliothek?«, stutzte sie. »Und wenn du mich nie wiedersiehst? Dann musst du Strafe zahlen!«
»Tja, ich lebe eben gern am Limit«, feixte er.
Und dann küsste er sie. Sam fühlte sich wie vom Blitz getroffen. Als seine Lippen sich von ihren lösten, kam sie sich vor, als hätte sie gerade eine Yoga-Stunde absolviert und dann eine halbe Flasche Weißwein an einem Strand gekippt. Bis zur Willenlosigkeit entspannt. In ihrem ganzen Leben hatte niemand sie je so geküsst.
»Wow«, sagte sie.
Er lachte.
Als die Zeit zum Abschied kam, war Sam aufrichtig enttäuscht. Kurz überlegte sie, seinen nächsten Rundgang mitzumachen, doch, wie um sie von dieser Schnapsidee abzubringen, schrieb genau in diesem Moment Isabella: »Wo bist duuu?«
»War schön mit dir«, sagte Clive. »Schade, dass du nur eine Woche hier bist.«
»Zehn Tage«, korrigierte Sam.
Sie bat ihn um einen Stift und schrieb ihre Nummer auf die Rückseite eines seiner Flugblätter.
Clive steckte es in seine Jackentasche.
Isabella war ganz aus dem Häuschen, als Sam ihr Bericht erstattete. Sie wollte alle Einzelheiten hören.
»Und ausgerechnet an meinem Geburtstag!«, sagte sie. »War er denn heiß?«
»Superheiß.«
»Guter Akzent? Plummy?«
»Ich hab keine Ahnung, was das heißen soll.«
»Was macht er denn?«
»Stadtrundgänge.«
»Klar, aber was noch? Wo will er damit hin?«
»Nirgendwohin, glaub ich.«
Sam musste daran denken, wie Clive gesagt hatte, er mache lieber die Abendführungen, weil er dann bis Mittag ausschlafen konnte.
»Vielleicht ist er ja Comedian oder Schauspieler und macht das nur nebenbei«, überlegte Isabella. »Oder er will darüber schreiben. Oder die Agentur gehört ihm. Gehört sie ihm?«
»Nein, einem Freund. Der will wohl eine App für Rundgänge in allen großen Städten Europas entwickeln.«
»Klingt cool«, sagte Isabella. »Also was der Freund macht, mein ich.«
Achtundvierzig Stunden später hatte Clive sich noch immer nicht gemeldet.
Beim Gedanken daran, wie sie ihm ihre Nummer gegeben hatte, wäre Sam am liebsten im Erdboden versunken. Immer wieder ging sie das Gespräch durch. War schön mit dir, hatte er gesagt. Was natürlich hieß: Auf Nimmerwiedersehen. Er hatte weder um ihre Nummer gebeten, noch ihr seine angeboten.
Aber da war ja noch McEwan.
Vielleicht war ihm einfach klar, dass sie ein Buch aus der Bibliothek niemals einfach behalten würde.
Als er schließlich anrief, sagte er: »Ich hab grade Kleingeld für den Bus gesucht, und da hatte ich plötzlich deine Nummer in der Hand.«
»Ist das deine Art, mir zu sagen, dass du nicht aufhören kannst, an mich zu denken?«, fragte Sam.
Er lachte.
Sie unterhielten sich ein bisschen, dann musste Clive ganz plötzlich auflegen, ohne dass sie irgendetwas abgemacht hatten.
Enttäuscht, dass das schon alles war, schrieb Sam ihm kurz darauf: »Ich hab noch dein Buch.« Isabella erzählte sie das lieber nicht.
Ein paar Stunden später kam seine Antwort: »Morgen Abendessen?«
»Lass ihn zappeln«, riet Isabella. »Warte ein, zwei Tage.«
Sam wartete, solange sie es aushielt: siebzehn Minuten.
Überpünktlich kam sie zum Restaurant, in einem schwarzen Top und ihrer neuen Jeans, in der ihr Hintern super aussah, wie Isabella fand.
Clive wartete vor der Tür, in ein Taschenbuch versunken. Er trug dasselbe T-Shirt wie beim letzten Mal.
Er küsste sie zur Begrüßung — ein Kuss wie ein Beruhigungsmittel —, dann führte er sie in einen niedrigen Raum voller Leute, die alle durcheinanderredeten.
Sie bekamen einen Platz in einer Nische. Ohne Sam zu fragen, bestellte er eine Flasche Wein und ein paar Gerichte.
Er erzählte von den Geistesgrößen, die schon in diesem Raum gesessen hatten: Dickens, Twain und G. K. Chesterton.
Von Letzterem hatte Sam noch nie gehört, worüber Clive nur den Kopf schütteln konnte.
»Bringt man euch in Amerika denn gar nichts bei?«, fragte er.
Später bestellte er eine Nachspeise namens spotted dick, wobei er Sam mit hochgezogener Braue ansah, als hätte sie sich diesen Namen selber ausgedacht.
Als die Rechnung kam, fragte er: »Ähm, sagt ihr in Amerika auch: ›getrennte Kasse‹?«
Sam fühlte sich vor den Kopf gestoßen.
Aber war das nicht eigentlich sexistisch? Dann bezahlte er eben nicht für sie, na und? Hätte sie das vorher gewusst, hätte sie allerdings was Billigeres vorgeschlagen. Während sie ihre Karte zückte, rechnete sie durch, wie sie den Betrag in ihrem Budget wieder ausgleichen konnte.
Clive rutschte zu ihr, so dicht, dass sein Bein ihres berührte. Irgendwelche Chemikalien im Gehirn raubten ihr jede Vernunft. Am liebsten hätte sie sich sofort auf ihn gestürzt. Wäre in ihn hineingekrochen.
»Eine Frage«, sagte er. »Wie alt bist du eigentlich?«
»Was schätzt du denn?«
»Sechsundzwanzig?«, riet er.
Er klang zugleich hoffnungsvoll und skeptisch.
»Und du?«, fragte sie zurück.
»Zweiunddreißig.«
Sam war baff. Sie konnte sich doch nicht mit einem Zweiunddreißigjährigen einlassen. So alt war ihre jüngste Tante.
»Ich bin zwanzig.«
»Oh«, sagte er. »Ehrlich gesagt, ich war schon ein bisschen zögerlich, weil ich mir dachte, dass du ziemlich jung bist. Aber so jung auch wieder nicht.«
»Und jetzt?«, fragte sie.
»Das Vernünftigste wäre wohl, wir bleiben Freunde«, sagte er.
Noch am selben Abend gingen sie miteinander ins Bett. Am nächsten Morgen sah sie ihm beim Schlafen zu. Er war sehr wahrscheinlich der bestaussehende Mann, dem sie je so nah gewesen war. Schon vor dem Sex hatte sie ihn sehr gemocht, jetzt war sie süchtig nach ihm. Ob sich wohl jede Frau danach so fühlte?
Bisher hatte sie nur mit zwei Männern geschlafen. Ihr erstes Mal war mit Sanjeev, ihrem Highschool-Freund, gewesen, nach viel Hin und Her und reiflicher Überlegung. Als sie ans College gingen, waren Sanjeev und sie noch zusammen, aber schon im Oktober des ersten Jahres machte er Schluss. Sam soff sich daraufhin einen an und schleppte irgendeinen Kerl auf einer Party ab, um sich an Sanjeev zu rächen, dem das auch egal gewesen wäre, wenn er davon gewusst hätte, aber was solls.
Der Sex mit Clive war etwas völlig anderes. Er wusste genau, was er tat. War berauschend souverän.
Sam stand auf, ging zur Toilette und schlich dann auf Zehenspitzen durch die Wohnung. Im Wohnzimmer stapelten sich überall Bücher: auf dem Sims, dem Boden und auf jedem Zentimeter Sofatisch. Auf den Buchrücken standen Namen von Autoren, die sie kannte, aber nie gelesen hatte. Borges. Pynchon. Kafka. Amis.
Sie setzte sich aufs Sofa. Malte sich aus, hier zu wohnen.
Dann stieg sie wieder zu ihm ins Bett.
»Du bist zu alt für mich«, sagte sie, als Clive die Augen aufschlug.
»Ach ja?«
»Ich kann mir nicht vorstellen, mit jemandem über dreißig zusammen zu sein.«
»Dann ist’s ja gut, dass du nicht lange bleibst«, entgegnete er. »Sonst würde ich versuchen, dich vom Gegenteil zu überzeugen.«
»Ach ja? Und wie?«
»Naja, du bist eindeutig ziemlich reif für dein Alter. Ich dagegen bin vielleicht einen Tick zu unreif, so treffen wir uns in der Mitte. Irgendwas in der Art.«
»Klingt nach Katastrophe mit Ansage«, sagte sie.
Bis zu ihrer Abreise verbrachten sie jeden Abend und jede Nacht miteinander.
Während des Rests ihres dritten Collegejahrs skypten sie mindestens dreimal täglich. Sie schliefen mit den Laptops im Bett ein. Während er schon schlummerte, saß Sam noch lang am Schreibtisch. Sie sah ihm beim Schlafen zu und verspürte bisher ungekannte Sehnsucht. Morgens kam sie übernächtigt zur Arbeit in die Küche, und Gaby sagte grinsend: »Mann, dich hat’s echt erwischt, was?«
Als Clive, den sie erst fünfmal getroffen hatte, ihr sagte, dass er sie liebte, erwiderte sie das völlig selbstverständlich. Als er ihr vorschlug, den Sommer bei ihm zu verbringen, wusste sie schon, während sie »Das geht nicht« sagte, dass sie es doch tun würde.
»Wieso denn nicht?«, fragte er. »Mein Mitbewohner ist bis Ende Juli weg.«
»Ich muss doch Geld verdienen«, sagte sie.
»Wir finden hier was für dich«, erwiderte er. »Komm schon. Das wird spitze.«
Von Kindesbeinen an hatte Sam immer über alles endlos nachgedacht, immer das Vernünftige getan, aus Angst, sich sonst das Leben zu versauen. Aber diesmal ging es gar nicht um ihr Leben, sondern nur um einen Sommer.
Ihre Mutter war außer sich. Hinter der Wut, das wusste Sam, verbarg sich Angst. »Wenn du jetzt gehst, kommst du nie zurück«, sagte sie, »Du musst erst deinen Abschluss machen.«
»Klar komm ich zurück«, widersprach Sam.
»Wir kennen diesen Mann ja nicht mal«, wandte ihre Mutter ein. »Und du willst bei ihm einziehen?«
Sam hatte Mitleid mit ihr. Noch vor drei Jahren hatten ihre Eltern ihr verbieten können, die Tür zu schließen, wenn Sanjeev in ihrem Zimmer war, oder zu einer Party zu gehen, ohne dass sie mit den Eltern des Gastgebers gesprochen hatten. Jetzt war es ganz allein Sams Sache, welchen Ozean sie überqueren und bei wem sie einziehen wollte.
»Wir wohnen ja nicht richtig zusammen«, beschwichtigte sie. Sein Mitbewohner ist nicht da, das Zimmer ist frei, also —«
Den Rest durfte sich ihre Mutter selber denken.
Clive teilte sich eine Parterrewohnung in Walthamstow mit einem alten Freund namens Ian, von dessen Midlands-Akzent Sam nicht mal die Hälfte verstand. Während des ersten Monats von Sams Aufenthalt war er auf Ibiza. In dieser Zeit lebten Clive und sie zusammen wie ein Ehepaar. Sie kochten zusammen, tanzten in der Küche, liefen splitternackt herum, kuschelten auf dem Sofa und reichten einander Zeitungsteile hin und her.
Auf seinem Laptop zeigte Clive ihr seine liebsten britischen Comedy-Serien: Peep Show, Spaced und The Inbetweeners. Wenn er sie im Arm hielt, passte ihr Kopf perfekt unter sein Kinn.
In einem kleinen, ummauerten Garten hinter dem Haus hatte ein Vormieter Thymian und Oregano gepflanzt. Sam goss beide regelmäßig, pflückte die schönsten Triebe und fühlte sich erwachsen wie noch nie zuvor. Konnte man an einem anderen Ort wirklich einfach so ein neues Leben anfangen? Einmal klingelte eine Nachbarin und sagte: »Diese Zeitschrift war bei mir in der Post, aber ich glaube, sie ist für Ihren Mann.«
Sam war verdattert. Offenbar hielt diese Frau Clive und sie für ein Ehepaar. Erst vor einem Jahr hatte ein Nachbar ihrer Eltern sie noch mit ihrer Schwester Caitlin verwechselt, die damals zwölf gewesen war.
Unmöglich konnte sie ihre Gefühle für Clive von denen für diese Stadt trennen. Sam liebte beide. Walthamstow hätte sich von Isabellas London nicht stärker unterscheiden können. Zum ersten Mal fühlte Sam sich an einem Ort zu Hause, den Isabella nicht mal kannte. Sonst war das immer andersrum gewesen.
In der High Street gab es jede Woche einen Markt mit reihenweise Zelten voller Obst und Gemüse, Kleidern und Handtaschen, trommelgroßen Dosen mit Nüssen und Gewürzen. In ein und derselben Straße begegneten ihr Frauen in Burkas, Frauen in Saris und Frauen in zerrissenen Jeans. Rings um Sam herum herrschte manchmal ein Gewirr aus einem halben Dutzend Sprachen.
Alltägliche Aufgaben wurden in einem fremden Land zu Heldentaten, Kleinigkeiten, wie den richtigen Zug zu nehmen oder die lustigen Namen der Dinge im Supermarkt zu lernen, zu persönlichen Triumphen.
Sam besuchte sämtliche Museen. Die Stadt haute sie aus den Socken. Sie kam sich vor wie ein kleines Kind, das zum ersten Mal die Welt entdeckt. Manchmal nahm sie an Clives Touren teil und spielte die kokette Touristin.
Oft machte sie Fotos und malte die Motive dann zu Hause auf leere Postkarten ab. Dafür, einfach irgendwo eine Staffelei aufzustellen und unter fremden Blicken loszupinseln, war sie nie der Typ gewesen.
So malte sie eine alte Kirche in Hampstead, vernagelt, schmutzschwarz und verfallen, die Zeiger der Uhr ganz starr vor Rost. Sie malte die Obdachlosen, die unter dem Dachvorsprung schliefen, die vollgepackten roten Plastiktüten aufgereiht neben der Tür. Sie malte eine echte Britin in Hut und Pelzmantel, die einen Beagle Gassi führte, der einen geblümten Regenschirm im Maul trug. Sie malte das Schaufenster eines Schokoladengeschäfts und die Doppelstockbusse in der Oxford Street.
All diese Bilder schickte sie ihren Eltern.
Drei Wochen nach Sams Ankunft in London vermittelte ein Freund von Clive ihr einen Aushilfsjob in einer Kanzlei in Covent Garden. Sie sollte eine erkältete Sekretärin vertreten — nur einen Tag zwar, aber Clives Freund meinte, wenn sie sich gut schlüge, würde vielleicht mehr daraus.
So saß sie also einen Tag am Schreibtisch dieser Frau, gerahmte Fotos ihrer Kinder vor der Nase, und nahm Anrufe entgegen.
»Büro von Saint John Foster. Nein, tut mir leid, er ist gerade außer Haus.«
»Büro von Saint John Foster. Darf er Sie zurückrufen?«
Erst nach dem Mittagessen linste ihr Nebenmann über die Trennwand und sagte: »Übrigens, den Namen spricht man ›Sindschin‹ aus.«
Zu Hause erzählte Sam das Clive. Den restlichen Abend brachen sie darüber beide immer wieder plötzlich in schallendes Gelächter aus.
Ein anderer Bekannter von Clive verschaffte Sam ein Vorstellungsgespräch bei einer Agentur für Kindermädchen.
Sie füllte ein langes Bewerbungsformular aus, kreuzte Nein bei Fragen an wie: »Haben Sie schon mal aus Frust ein Baby geschüttelt?« oder »Mögen Sie Feuer?«
Die Frau von der Agentur erwähnte eine Familie ganz in der Nähe. Aus Toronto kam die und war nur zwei Monate im Land, weil der Vater hier beruflich zu tun hatte. Sie hatten zwei Jungs, Zwillinge, achtzehn Monate alt. Die Geburt des dritten Kinds stand kurz bevor, und jetzt hatte die Nanny aus heiterem Himmel gekündigt.
»Die Mutter ist … ein bisschen schwierig«, sagte die Frau von der Agentur. Sie hatte lila gefärbtes krauses Haar und mampfte Chips mit Garnelengeschmack aus einer kleinen Tüte, was Sam ziemlich eklig fand.
»Also, sagen wir besser: Die Mutter ist leicht überfordert. Hätten Sie morgen Zeit?«
Sam sagte Ja.
Als die Mutter Sam am nächsten Morgen die Tür öffnete, versteckten sich die Zwillinge hinter ihren Beinen.
»Ich heiße Allison«, sagte die Frau und streckte Sam die Hand hin.
Sam schüttelte sie, und ihr Blick fiel auf den Teppichboden. Wie konnte Allison den nur so weiß halten?
Sie traten in ein Wohnzimmer voll weißer Möbel.
Wenige Minuten später saß Sam mit den beiden Jungen auf dem Boden zwischen einem Haufen Bauklötze. Allison sah auf einem Sessel sitzend zu. Ihr Bauch hob sich so kugelrund von ihrem sonst so schlanken Körper ab, dass es fast aussah, als könnte sie jeden Augenblick einen Basketball unter ihrem Shirt hervorziehen.
»In Kanada habe ich eine Abteilung mit fünfzig Mitarbeitern geleitet«, erzählte sie. »Aber diese zwei kriege ich nicht unter Kontrolle.«
Sam schenkte ihr einen mitfühlenden Blick und fragte sich, wieso sie dann bloß noch ein drittes Kind wollte. »Ist ein schwieriges Alter«, sagte sie. Sie hatte bemerkt, dass Mütter das über jedes Alter sagten.
»Danke«, antwortete Allison. »Manchmal glaub ich, ich verliere den Verstand. Ich kann einfach nicht so mit Kindern. Nicht so wie Sie. Wie Sie da diesen Turm bauen … Das wäre mir nie eingefallen. Na ja. Sie wären vor allem für die Zwillinge da. Das neue Baby wäre meistens bei mir. Die beiden kriegen keinen Zucker, höchstens Obst. Und mir ist lieber, sie werden draußen nicht so schmutzig, weil —«
»Weil hier drin alles weiß ist«, sagte Sam, als hielte sie das für das Vernünftigste von der Welt.
»Genau.« Allison fiel hörbar ein Stein vom Herzen.
Während Sam noch überlegte, ob ihr die Stelle überhaupt gefiel, sagte Allison: »Ach, was die Bezahlung angeht«, und nannte dann einen Stundenlohn, der fast doppelt so hoch war wie bei Sams letztem Sommerjob.
Die Arbeit gab Sams Tagen Struktur und ihr das Gefühl, wirklich in London zu leben, nicht nur zu Besuch zu sein. Jeden Morgen schloss sie die Haustür auf und sah durch den Flur die Küche, wo die Zwillinge in ihren Hochstühlen aufs Frühstück warteten. Sie aßen immer das Gleiche: eine Scheibe Toast mit Cheddar, eine Scheibe Toast mit Marmelade, gleichmäßig geviertelt und gerecht geteilt.
Als Clives Mitbewohner Ian gegen Ende Juli wiederkam, fiel Sam auf, dass Clive und sie noch nie irgendwas mit anderen Leuten unternommen hatten.
Mit Ian wirkte die Wohnung völlig anders. Er hatte immer einen halbvollen Aschenbecher auf dem Sofatisch stehen und brachte gern streunende Katzen mit.
»Und nicht bloß Katzen«, sagte Clive. »Einmal hat er einen Fuchs hier angeschleppt.«
»Einen Fuchswelpen«, korrigierte Ian, als ob das alles änderte.
Es roch nach Männern und Zigaretten. Der Teppichboden war aus oranger Wolle. Die Küche war zu eng, die Spüle immer voll Geschirr. Clive und Ian spielten gern ein Spiel, bei dem einer der beiden einen Song auflegte und der andere den nächsten aufgrund eines Worts oder Motivs im ersten auswählen musste. Das konnten sie die ganze Nacht spielen, während Sam verkniffen lächelnd daneben saß, hoffte, Ian ginge endlich ins Bett, und sich vorkam wie die letzte Spaßbremse.
Wenn Clives Freunde zu Besuch kamen, wurde sie kleinlaut. Manche waren verheiratet, andere sogar geschieden. Sie hatten richtige Berufe, in der Werbung, PR oder IT. Auch ein Apotheker war dabei. Sam hegte den Verdacht, dass alle sie für eine totale Null hielten. Und zu ihrem Verdruss verhielt sie sich ihnen gegenüber auch genau wie eine und bekam kaum den Mund auf.
Clives Bruder Miles, seine Frau Nicola und ihre beiden Kinder fand sie jedoch spitze. Nicola war eine dieser Frauen, die ihre Geschlechtsgenossinnen vom Fleck weg mochte. »Klasse, Verstärkung für uns Frauen!«, sagte sie, mailte ihr Links über Schlussverkäufe in London und schrieb: »Wünschte, ich könnte mitkommen!«
Leider wohnten Miles und Nicola weit draußen auf dem Land, sodass Clive und sie die beiden nicht oft sahen.
Clives Mutter schüchterte Sam ein. Sie war fast schon eine alte Lady, mit schrumpligen Händen und schlohweißem Haar. Ein Blick von ihr genügte, und Sam lief so rot an, als hätte die Frau eine Kamera in Clives Schlafzimmer versteckt und wüsste haargenau, was sich dort abspielte.
Doch wenn sie alleine waren, war es magisch.
Clive zeigte ihr das London, das Touristen niemals zu Gesicht bekamen. Sie durchwanderten den Epping Forest. Der lag zwar nicht weit weg von den Hühnchen-Imbissen, Tiefkühlkostgeschäften und weggeworfenen Matratzen ihres Viertels, doch der Ausflug fühlte sich trotzdem an wie eine Flucht in ein Märchenland.
Hand in Hand spazierten sie entlang der Kanäle von Little Venice, und Clive zeigte ihr die weißen, stuckverzierten Herrenhäuser, in denen Annie Lennox, Paul McCartney und Sigmund Freund früher gewohnt hatten. Er fotografierte sie vor Richard Bransons Hausboot, dann aßen sie in einem schwimmenden Café Scones und tranken Tee.
Er reiste mit ihr nach Lissabon, Dubrovnik und Berlin: Städte, in denen sie billige Hotels fanden oder bei Freunden und Freundesfreunden unterkommen konnten. Gern hätte Sam auch klassischere Ziele wie Paris oder Rom bereist, aber Clive erklärte ihr, die seien völlig überteuert und hätten ihre besten Zeiten lange hinter sich.
»Wenn du vorm Eiffelturm stehst, sieht er auch nicht anders aus als auf den fünftausend Bildern, die du schon davon gesehen hast«, meinte er.
Jeden Tag staunte Sam aufs Neue darüber, wie ihr Leben sich entwickelt hatte.
Clive fand ihre Bilder großartig, hängte sie in der ganzen Wohnung auf.
Er zeigte ihr sämtliche Galerien. Am besten gefiel ihr die von Matilda Grey in Mayfair, die ganz den Werken von Frauen gewidmet war.
»Das ist mein Wohlfühlort«, verkündete Sam, und sie gingen immer wieder hin.
Einmal, als Clive bei der Arbeit war und Sam mit Isabella skypte, fragte Isabella: »Hat der denn überhaupt keine Fehler? Normalerweise lästern wir immer über die Typen, mit denen wir was haben, aber Clive klingt, als würde er nie irgendwas falsch machen.«
»Macht er auch nicht«, bestätigte Sam.
Im selben Moment musste sie zwar daran denken, was sie kürzlich entdeckt hatte, doch der Rede wert schien es ihr nicht. Sowieso hätte sie gar nicht erst so neugierig sein sollen. Diese schlechte Angewohnheit hatte sie schon, seit sie mit sieben Jahren Harriet, die kleine Detektivin gelesen hatte. Mehrmals hatte sie sich damals Ärger eingehandelt, weil sie im Tagebuch ihrer Schwester Molly gelesen hatte. In den seltenen Fällen, wo sie mal allein zu Hause gewesen war, hatte sie die Kommode ihrer Mutter durchsucht. Einmal fand sie darin eine alte Ausgabe von Freude am Sex, inklusive zehn Seiten Schwarzweiß-Fotos von nackten Männern und Frauen in diversen Stellungen. Sie schmuggelte das Buch in die Schule, zu Freude und Entsetzen ihrer Freundinnen.
Eines Abends sah sie Clive unbemerkt zu, wie er die Post durchging, das Gesicht über einen großen braunen Umschlag verzog und ihn ins oberste Fach seines Schranks stopfte. Sie sagte nichts, ging aber später nachsehen, während er einkaufen war. Er hatte den Umschlag noch nicht geöffnet. Im Absender stand »Gerichtskanzlei«. Vielleicht schuldete er jemandem Geld — Ian gegenüber hatte er manchmal gejammert, wie pleite er sei. Und einmal hatte sein Neffe Freddy losgeplappert: »Daddy sagt, Onkel Clive hat Riesenmist gebaut, als —«, aber Nicola hatte ihm schnell den Mund zugehalten.
Sam ging der Umschlag nicht mehr aus dem Kopf. Immer, wenn sie nachsah, lag er noch ungeöffnet da. Als sie sich endlich entschloss, ihn wie in einem alten Film mit Dampf zu öffnen, war er verschwunden.
Bald darauf durchsuchte sie Clives Mails nach Hinweisen. Das rief ihr ins Gedächtnis, dass er Nachrichten gern mit Stay Gold unterschrieb, was sie immer irritierte. Mails an sie beendete er inzwischen längst mit Küsse, sodass sie es verdrängt hatte.
Es gab einen Ordner namens »Laura«, der keine einzige Nachricht enthielt. Darüber zerbrach sich Sam noch nachts im Bett den Kopf.
Sie fragte Clive nach früheren Beziehungen, und er meinte, was Ernstes hätte er noch nie gehabt.
»Und du?«, fragte er zurück.
Sam erzählte ihm von den drei Jahren mit Sanjeev, von seinen Schwestern und Eltern, mit denen sie sich gut verstanden hatte und die ihr manchmal fehlten.
»Also auch nichts Ernstes«, stellte Clive fest. »Das war ja noch in der Highschool.«
Er sagte das, als wäre es schon hundert Jahren her gewesen, dabei waren es erst drei.
Am Morgen nachdem sie den »Laura«-Ordner gefunden hatte, sagte Sam gleich nach dem Aufwachen im Bett zu Clive: »Laura ist ein schöner Name. Falls ich mal eine Tochter habe, nenne ich sie vielleicht so. Laura. Schön, oder? Wie Laura Linney.«
Sie erwartete, dass er so etwas sagte wie: »Ich hatte mal eine Freundin, die so hieß.« Oder dass sie ihm wenigstens irgendeine Reaktion anmerkte.
Doch Clive sagte nur: »Ich hab zwar keine Ahnung, wer Laura Linney ist, aber klar, warum nicht.« Dann drückte er sie fest an sich und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen, während sie vor Entzücken quiekte.
Sie hatten täglich Sex, einmal mindestens, und irgendwie löste das alle Spannungen in Luft auf.
Abends picknickten sie meistens im Park. Auch wenn es nur Salat, Käsebrote und billigen Weißwein gab, war es doch romantisch, dort zusammen im Gras zu sitzen.
Über ihre Abreise dachte sie lieber nicht nach. Eigentlich war gar nicht vorstellbar, dass sie wieder zu ihrem Collegeleben zurück sollte, ohne ihn jede Nacht neben sich im Bett zu haben, ohne morgens dazu aufzuwachen, wie er unter der Dusche pfiff. Allein schon bei der Vorstellung, den Duft seiner Haut nicht mehr in der Nase zu haben, hätte sie heulen können. Wenn sie mit ihren Freundinnen über das kommende Jahr sprach, spürte sie deutlich, dass keine damit rechnete, dass Clive und sie zusammenblieben. Dann wollte sie ihn nur noch stärker festhalten. Sie dachte an die Warnung ihrer Mutter, sie würde nie zurückkehren. Ein Teil von ihr wollte tatsächlich lieber bleiben.
Eines Abends, gegen Ende des Sommers, zog Clive beim Biss in ein Baguette eine lustige Grimasse, und ihr kamen die Tränen.
»Was soll ich nur ohne dich machen?«, schluchzte sie.
»Heirate mich doch«, schlug er vor. »Dann musst du’s gar nicht erst rausfinden.«
Sam lachte durch ihre Tränen. »Meine Mutter bringt mich um, wenn ich meinen Abschluss nicht mache.«
»Neun Monate sind ja nicht lang«, sagte er. »Du ziehst das durch, dann kommst du wieder, und wir heiraten. Was meinst du?«
Sams Leben war immer einer klaren Richtung gefolgt. Jetzt erkannte sie, dass es dabei nicht bleiben musste. Dinge konnten sich verändern. Sollten sich sogar verändern.
»Okay«, sagte sie beschwingt — und mit einem etwas flauen Gefühl im Magen.
Er küsste sie und schob sie Richtung Bett.
Am folgenden Samstag kündigte Clive an, er wolle mit Sam einen Ring aussuchen gehen. In Gedanken sah sie ein Juweliergeschäft vor sich, in dem alle sich fragten, was Clive und sie dort verloren hatten. Sie stellte sich vor, wie Clive beim Anblick der Preise zusammenzuckte, so wie manchmal beim Blick auf eine Speisekarte.
»Die viele Fliegerei im nächsten Jahr wird ganz schön ins Geld gehen«, sagte sie. »Vielleicht warten wir mit dem Ring besser noch. Ehrlich gesagt, ich brauche gar nicht unbedingt einen.«
Clive lächelte. »Du bist ja ganz schön pragmatisch«, sagte er. »Na gut. Aber irgendwann kriegst du einen. Versprochen.«
Dass sie jetzt noch keinen bekam, erleichterte Sam. Über den Grund dafür wollte sie lieber nicht zu lange nachdenken.
Von da an stellte Clive sie überall als seine Verlobte vor. Sam erzählte ihren Freundinnen, sie sei »mehr oder weniger« verlobt. Ihren Eltern wollte sie das lieber nicht mitteilen, was wohl kein gutes Zeichen war. Mit Clive sprach sie nie über ihre Zweifel. Bei ihrem Abschied waren sie sich einig, dass sie sich bald wiedersehen würden.
Trotz aller Versprechungen war dann zu Hause ihr echtes Leben weitergegangen und hatte den Lack von der Träumerei gekratzt. Im Gegensatz zu ihr hatte Clive sein echtes Leben nie verlassen. Sam liebte Clive. Wirklich. Aber manchmal sah sie dennoch eine Zukunft vor sich, in der sie mit einem passenderen Partner verheiratet war. War das nur ihre Angst? Die Stimmen anderer in ihrem Kopf? Alle sagten immer, sie solle ihrem Bauchgefühl vertrauen, aber wenn sie darauf lauschte, hörte sie nicht das Geringste.