Als Clive schrieb, er sei gelandet, stand Sam bereits am Ausgang für die internationalen Flüge und fühlte sich, als müsse sie sich übergeben.
Als sie ihn dann sah, war sie nervös, wusste weder, wie sie dastehen, noch, was sie sagen sollte.
»Babe!«, rief er, kam auf sie zu und küsste sie ohne Umschweife, woran ja nichts verkehrt war, und doch fühlte Sam sich so unsicher wie beim ersten Treffen zweier Fremder vor einer arrangierten Hochzeit.
»Wie war der Flug?«, fragte sie steif, bemüht, sich ganz normal zu verhalten.
»Ganz okay«, sagte er und blickte sie fragend an. »Alles in Ordnung?«
»Klar«, sagte sie. »Ich freu mich so, dass du da bist.«
Im Kleinbus war irgendwie unausgesprochen klar, dass sie auf der Rückbank miteinander schlafen würden, mitten in dem geschäftigen Parkhaus. Sein blanker Hintern und die blassen Beine auf dem blauen Vinyl, seine Hose in den Kniekehlen. Sam saß in ihrem Sommerkleid auf ihm und sah durchs Rückfenster die vorbeieilenden Reisenden.
Hinterher ging es ihr besser. Ein Weilchen lagen sie einfach nebeneinander, und sie erzählte ihm von der Party und von Isabellas Zusammenbruch wegen eines Typen, dessen Namen sie nicht mal mehr wusste.
Während der Rückfahrt kommentierte er alles, was anders als in England war, so wie sie es dort am Anfang getan hatte.
Er erzählte von dem Buch, das er im Flugzeug angefangen hatte, eine Geschichte der Labour Party. Sam gab sich Mühe, seinen Ausführungen zu folgen, hatte aber keine Ahnung von den Hintergründen und handelnden Figuren. Wie schlau er doch war. Er sah gern Naturdokus und hatte immer ein Buch bei sich. War das amerikanische Bildungssystem eigentlich wirklich so toll? Clive war belesener als alle College-Absolventen, die sie kannte.
Manchmal log Sam, um Clive besser darzustellen. Sein offizieller Lebenslauf wurde ihm einfach nicht gerecht.
Im Wohnheim tobte die Party in der Mensa, und sie schob Clive rasch nach oben.
Das Podest war menschenleer, nur rote Plastikbecher und Pappteller lagen überall herum. Sam war erleichtert. Wenigstens heute Abend würde kein Haufen neugieriger, betrunkener Mädchen über sie herfallen.
Der Sangria-Mülleimer war umgestürzt, ein rotes Rinnsal sickerte in den grünen Teppich.
Sam machte ihre Zimmertür auf. Isabella war verschwunden, ihr Bett ordentlich gemacht.
»Hey, das kommt mir bekannt vor«, sagte Clive.
Sam stutzte, dann fielen ihr die Skype-Gespräche wieder ein.
»Bloß diese Seite des Zimmers hab ich noch nie gesehen«, stellte er fest.
Sie hatte sich vorgestellt, dass sie zusammen spazieren gehen würden, auch wenn es hier nicht viel zu sehen gab. Aber Clive war fix und fertig. Sie legten sich ins Bett, er nahm sie in den Arm und schlief sofort ein.
Sam blieb in seinem Armen liegen, atmete seinen vertrauten Seifenduft ein und konnte kaum fassen, dass er wirklich da war.
Normalerweise fragte sie sich um diese Zeit immer, was er gerade tat. Wahrscheinlich schlafen. An einem Samstag wäre er mit Freunden in einem Club, zum Tanzen. Sam war im Sommer nie mitgegangen. Oft war er erst um vier oder fünf Uhr morgens heimgekommen. Einmal hatte sie seinen Mitbewohner Ian gefragt, wie sie das so lang durchhielten. Ecstasy, Darling, hatte er geantwortet. Und als er ihre Miene sah, fügte er hinzu: Sorry, hab nicht dran gedacht, was für ein Unschuldslamm du bist.
Manchmal suchte Sam in den Internet-Rezensionen der Stadtrundgänge nach Leuten, die Clive erwähnten, bereute das hinterher aber jedes Mal.
Meine Freundinnen und ich haben die Gespenster-Tour schon dreimal gemacht, vor allem wegen dem heißen Tourguide, hatte eine Frau geschrieben.
Und eine andere: Sonntag haben wir die Highgate-Village-Tour gemacht. Kleine Gruppe. Interessanter Blick auf eine Gegend, von der ich gar nichts wusste. Mein Mann meint, der sexy Stadtführer hätte es mit den Fakten nicht so genau genommen, aber er war sicher nur eifersüchtig.
Sam stand auf und ging zu ihrem Schreibtisch. Sie schaltete die Lampe an und schnappte sich den Text, den sie für Kunstgeschichte lesen musste. Schön war das, sagte sie sich. Genau, was sie sich gewünscht hatte. Clive war da, und sie führte mit ihm ihr ganz normales Leben.
Sie versuchte, sich auf das Buch zu konzentrieren. Übers Wochenende hatten sie dreihundertfünfzig dicht bedruckte Seiten aufbekommen, unmöglich zu schaffen, aber Sam wusste, dass sie es irgendwie doch hinbekäme.
Vor dem College hatte sie eine staatliche Schule besucht. Die meisten Lehrer hatten sie gemocht, weil sie sich gut benahm und sie nicht auf die Probe stellte. Gute Noten schrieb sie mühelos. Und sie war bekannt für ihre Bilder, die regelmäßig den ersten Preis bei der Schulausstellung abräumten.
In der neunten Klasse hatte ihre beste Freundin Maddie eins von Sams Bildern — Segelboote in einem Hafen in Cape Cod — bei einem Nachwuchswettbewerb eingereicht, ausgerichtet von der New England Arts League. Sam gewann. Wurde in die Gouverneursvilla eingeladen. Bekam einen Scheck über dreihundert Dollar. Sie war Maddie unendlich dankbar, denn selbst wäre sie niemals angetreten. Seither nahm sie das Malen ernst.
Eine Weile hatte sie davon geträumt, eine richtige Malerin zu werden. Inzwischen wusste sie dank ihrer Profs und der Kommilitoninnen, dass sie dafür nicht gut genug war.
»Handwerklich gut, aber nicht sehr originell«, hatte ein Dozent ihr Abschlussprojekt im zweiten Jahr genannt. Und eine Mitstudentin, bei der Kritik im Kurs: »Ich weiß nicht, irgendwie denk ich dabei an … ein Hotelzimmer.«
Sam malte gern Landschaften und Obstschalen. Provokant waren ihre Bilder nie, was ihr irgendwie peinlich war. Aber sie war ja schließlich auch nicht provokant.
Die wissenschaftliche Arbeit war ihr anfangs schwergefallen. Das hatte sie nicht erwartet. Nachdem sie die einzige Drei ihres Lebens bekommen hatte, wurde ihr klar, dass sie sich mehr anstrengen musste, wenn sie mit Kommilitoninnen mithalten wollte, die Prep-Schools in Neuengland besucht und die Sommerferien in Europa verbracht hatten.
Mit der Zeit fand sie Spaß an der Wissenschaft und wurde ziemlich gut. Bisher hatte sie noch keinen Kurs verpasst. Im ersten Jahr hatte sie ausgerechnet, wie viel Geld sie am Ende würde zurückzahlen müssen, und die Summe durch die Credits geteilt, die sie für den Abschluss brauchte. Das Ergebnis teilte sie dann durch die Anzahl der einzelnen Sitzungen. War ihr mal danach, »Geschichte des europäischen Kunstgewerbes (1400—1800)« oder »Die Genese der modernen Bildkultur« zu schwänzen, erinnerte sie sich daran, dass sie damit siebenundfünfzig Dollar in den Orkus werfen würde.
Ihre Freundin Shannon weckte ihr Interesse an akademischen Auszeichnungen — Jahrgangsbestenplätze, Prädikate und Phi Beta Kappa. Dinge, an die Sam nie zuvor einen Gedanken verschwendet hatte, jetzt aber unbedingt erreichen wollte. Manchmal hatte sie das Gefühl, Shannon und sie stünden in Konkurrenz zueinander, aber auf produktive Weise. Wie Isabella es ausdrückte, würden sie sowieso beide gut in der Streber-Olympiade abschneiden, die Frage war nur, wer Silber und wer Gold gewann.
Isabella und Lexi nahmen sich regelmäßig einen Tag frei. »Heute tu ich mal was für meine geistige Gesundheit«, verkündete Isabella dann immer und schaltete vom Bett aus den Fernseher an.
Lexi war als Baby aus Korea adoptiert worden. Ihre Mutter war die vierte Frau ihres Vaters. Für sie war Lexi das einzige Kind, für ihren Vater das fünfte. Als Lexi in den Kindergarten kam, waren die beiden schon geschieden. Von da an lebte sie mit ihrer Mutter in einer zweistöckigen Luxuswohnung in Chicago, mit Blick auf den Lake Michigan. Ihre Mädchen-Highschool war genauso teuer gewesen wie das College.
»Die waren da alle entweder Ladendiebe oder magersüchtig«, hatte Lexi mal gesagt. »Total bescheuert.«
Sam fragte sich, was von beiden Lexi wohl gewesen sein mochte.
Isabella bildete in ihrer Familie die vierte Generation von Frauen, die aufs College gingen. Sie prahlte, sie wäre sogar aufgenommen worden, wenn sie während des Bewerbungsgesprächs die Bibliothek in Brand gesteckt hätte. Ihre Großmutter hatte dem Französisch-Department einen Lehrstuhl gestiftet. Sam war nicht ganz sicher, was das hieß, ob da irgendwo ein richtiger Stuhl mit einer Plakette drauf rumstand. Wahrscheinlich steckte mehr dahinter, aber sie traute sich nicht, nachzufragen.
Sam hatte man — davon ging sie wenigstens aus — wegen ihres Essays aufgenommen. Der handelte von Präsidentin Washington: von Shirley Washington, der College-Präsidentin. Schon beim Schreiben war Sam klar gewesen, dass das schwer an Speichelleckerei grenzte. Aber sie hatte ja nur die Wahrheit geschrieben: Als sie in der Highschool war, ging eine Rede von Präsidentin Washington viral. Darüber, dass sie als Erste in ihrer Familie ans College gedurft hatte, dass man das niemand verwehren sollte, dass alle Frauen eine erstklassige Ausbildung verdienten, unabhängig von Hautfarbe, Alter oder finanziellem Hintergrund. In Sam hatte diese Rede etwas wachgerüttelt.
Auf dem Campus hatte Sam schnell gemerkt, dass sie mit ihrer Bewunderung nicht allein war. Präsidentin Washington war ein Star. Über ein Lächeln von ihr oder ein Hallo im Vorbeigehen freute man sich wochenlang. Wenn sie in der Driscoll Hall vor den Studentinnen sprach, skandierten alle ihren Namen: Shir-ley! Shir-ley! Shir-ley! Sie stampften mit den Füßen, bis man glaubte, die Empore würde gleich zusammenbrechen.
Sam versuchte zu lesen, konnte dem Text aber nicht folgen. Immer wieder blickte sie zu Clive, wie um sich zu vergewissern, dass er tatsächlich da war.
In letzter Zeit hatte sie oft mit dem Gefühl gerungen, ihr Leben hier sei nur ein müder Abklatsch ihres echten Lebens mit ihm. Aber jetzt, wo er hier war, fühlte sie sich seltsam. Sie brauchte dringend frische Luft.
Auf dem Weg nach draußen kam sie durch die Mensa. Im Saal roch es nach Schweiß und Deospray. Bässe wummerten ihr durch Mark und Bein. Sie kam sich vor wie von einem anderen Planeten.
Tische und Stühle waren an die Wände gestapelt worden, um eine Tanzfläche freizuräumen, auf der Erstsemestlerinnen mit Typen flirteten, die behaupteten, sie gingen aufs State College, obwohl die Hälfte garantiert noch in der Highschool war.
Sams Freundinnen waren nirgends zu sehen. Wahrscheinlich gluckten sie in irgendeiner Ecke zusammen. Vor zwei, drei Jahren hätten ein paar von ihnen noch versucht, jemanden abzuschleppen, aber inzwischen wussten sie, dass das hier vergebens war. Sprach ein Kerl sie an, rückten sie nur dichter zusammen.
Zwei Bros lehnten an einem Tisch, diskutierten über irgendwas, schubsten sich ab und zu herum und verschütteten ihr Bier. Aus der Nähe sah Sam, dass der Kleinere, der in der braunen Jacke, dauernd mit einem Flaschenöffner über die Tischplatte kratzte.
»Hallo?«, blaffte sie. »Wir wohnen hier!«
Er sah sie an und steckte den Öffner weg.
»Sorry«, sagte er.
Sam war baff über ihre Direktheit. Beeindruckt geradezu. Sie freute sich darauf, Gaby davon zu erzählen.
Ihre Freundinnen aus der Küche würden das Chaos morgen wieder aufräumen müssen. Maria sagte oft, nicht einmal zwei Jungs großzuziehen hätte sie darauf vorbereitet, wie widerwärtig College-Girls sein konnten. Nach jeder Party war der Mensaboden vollgekotzt.
Jedes Frühjahr veranstaltete der ganze Campus eine Essensschlacht auf dem Vorplatz. Wer das hinterher sauber machte, fragte sich offenbar niemand. Sams Freundinnen, die machten das sauber, zusammen mit dem Personal der anderen Wohnheime. Sam bot stets ihre Hilfe an, wurde aber lächelnd weggeschickt.
Gaby, Maria und Delmi wohnten in Weaverville, gut vierzig Kilometer den Highway runter. Sam war dort noch nie gewesen. Jeden Tag fuhren die drei eine Stunde mit dem Bus zum Campus. Egal wie müde oder verkatert Sam bei der Frühschicht war, gejammert hätte sie vor ihnen nie. Immerhin musste sie nur aufstehen, sich waschen und die Treppe runterstapfen.
Als Sam in der Mensa angefangen hatte, waren die Mensafrauen meistens unter sich geblieben. Mit den Studentinnen sprachen sie nur, um ihnen Anweisungen zu geben. Aus irgendeinem Grund wollte Sam jedoch dazugehören. Sie lauschte, als die anderen über Delmis Bruder tuschelten, der sich auf dem Bau verletzt hatte.
»Mein Dad arbeitet auch auf dem Bau«, platzte sie hervor. »Er ist Bauarbeiter.«
Eigentlich war er selbständiger Handwerker.
»Ich bin die Erste aus meiner Familie, die auf so ein College geht«, fügte sie hinzu.
Sie wusste genau, was sie tat. Sie wollte sagen: Ich bin eine von euch, keine von denen. Ein bisschen bemüht, aber es ging auf. Von nun an schlossen sie sie ein. Sam durfte ihren Daiquiri-Mix und ihre Chicken-Nuggets in dem großen Tiefkühlschrank aufbewahren und bekam sogar einen eigenen Schlüssel, damit sie immer an ihre Sachen konnte.
Wenn vor dem Wochenende die Kühlschränke ausgeräumt wurden, packte Maria alle brauchbaren Reste für sich und Delmi ein. Manchmal lag ein drittes, in Folie gewickeltes Päckchen für Sam auf dem Tresen.
»Hab dir was von deiner Leibspeise aufgehoben«, sagte Maria dann und drückte ihr die Hand.
Sam saß auf der Treppe, ohne das Kommen und Gehen der Partygänger zu beachten.
Ramonas Volvo stand vor dem Gebäude. Sam erkannte ihn am dem leicht schiefen »OBAMA ’08«-Aufkleber an der Stoßstange. Obwohl Ramona im Jahr 2008 weder fahren noch wählen durfte, war es durchaus möglich, dass sie ihn selbst aufgeklebt hatte.
Sams Freundinnen bedauerten allesamt, dass sie nicht vier Jahre älter waren und an dieser historischen Wahl hatten teilnehmen können. Sam war fünfzehn gewesen. Sie erinnerte sich noch an das Hupkonzert und die Jubelrufe in ihrer ruhigen Vorstadtstraße. Shannon meinte, damals habe sie ihren Vater zum ersten Mal weinen gesehen. Ein Präsident, der aussah wie er, das hätte er nie für möglich gehalten. Und dann war es doch passiert.
2012 gingen sie alle gemeinsam zur Wahl. Sie fotografierten sich vor der Turnhalle der Schule, wo sie zum ersten Mal ihre Stimmen abgaben, ein Gruppenfoto wie von Schülerinnen vor dem Abschlussball. Ein bisschen aufregend war das schon, aber nicht mehr so dramatisch wie die Wahl davor. Die Umfragen verfolgten sie nur mit einem Auge. Der Sieger stand ja ohnehin schon fest.
Sam überlegte, Isabella zu schreiben und sie zu bitten, zu ihr rauszukommen. Isabella wusste immer etwas Nettes über Clive zu sagen, wenn auch nur Sam zuliebe. Auf Sams Frage, ob sie Clives Antrag vielleicht vorschnell angenommen hatte, hatte sie gesagt: »Einerseits: definitiv. Andererseits zählen sechs Monate mehr, wenn man zusammengewohnt hat. Das ist wie mit Hundejahren.«
Sam schrieb ihr nicht. Bestimmt wäre bald alles wieder normal. Besser, sie lieferte Isabella keine blöde Geschichte über Clive, die sie ihr später unter die Nase reiben konnte. Außerdem würde Isabella sie mit Sicherheit auf die Party schleifen wollen, was ihr wie Betrug an Clive erschienen wäre.
Nach etwa zehn Minuten überkam sie die alte Sehnsucht nach ihm. Sonst musste sie die immer leidend ertragen, aber diesmal war Clive ja nur ein paar Treppen entfernt.
Als sie zurück ins Zimmer kam, war er wach. Den Kopf auf den Ellbogen gestützt lag er da, grinste sie auf eine Weise an, die sie nur zu gut von ihm kannte.
Begehren durchzuckte sie.
»Wo warst du denn?«, wollte er wissen.
»Nur ein bisschen frische Luft schnappen. Ich dachte, du schläfst sicher durch bis morgen früh.«
»Nichts da. Bin wieder topfit. Los, wir gehen spazieren.«
Sam lächelte. »Echt?«
»Echt.«
Hand in Hand und lachend spazierten sie in die Stadt. Alle Geschäfte waren zu, nur der Nobelitaliener und das Lanchard’s hatten noch geöffnet, eine Bar, in der die Männer aus der Gegend rumhingen, Pool spielten, Sportfernsehen schauten, schüsselweise kaltes Popcorn futterten und heimlich auf dem Klo rauchten. Sam und ihre Freundinnen gingen auch öfter hin, aber nur, weil ein paar noch keine einundzwanzig waren und der Türsteher jeden noch so schlecht gefälschten Ausweis akzeptierte.
Sam und Clive setzten sich auf eine Bank vor der Post und unterhielten sich eng umschlungen. Es war wie immer, wenn sie allein waren, und Sam war wie betrunken vor Liebe.
Zurück im Wohnheim putzten sie sich gemeinsam die Zähne, jeweils einen Arm um die Taille des anderen geschlungen, wie albern das auch sein mochte. Sie hatten Sex in ihrem Bett, schauten eine alte Folge Frasier und knabberten die Schokokekse, die er mitgebracht hatte.
Beim Abspann rief Clive plötzlich: »Ach so! Ich hab dir ja was mitgebracht!«
Nackt stand er auf und kramte ein gebundenes Büchlein mit Rosen auf dem Umschlag aus seinem Koffer.
»Das meinte ich zwar nicht, aber es ist auch für dich«, erklärte er. »Hab ich bei Mum gefunden und dachte, du hast es wahrscheinlich nie gelesen, fändest es aber bestimmt gut. Ein fast perfekter Roman.«
Er reichte ihr das Buch.
Angel von Elizabeth Taylor.
Sie wollte nachfragen, doch Clive fiel ihr direkt etwas abfällig ins Wort: »Nein, nicht die Elizabeth Taylor.«
»Natürlich nicht«, sagte Sam.
»Der Name war ein Fluch für die Ärmste«, fuhr er fort. »Hätte sie diesen Mr. Taylor nicht geheiratet, wäre sie vielleicht auch nicht die unterschätzteste Autorin aller Zeiten geworden.«
Sam dachte über dieses merkwürdige Pech nach, und Clive stöberte weiter im Koffer.
Schließlich fand er eine Pappröhre und zog zwei Bögen Bastelpapier daraus hervor.
»Von Freddy und Sophie«, sagte er.
Sie hatte einen Regenbogen gemalt, er einen Vogel, und darunter hatten sie beide geschrieben: ICH HAB DICH LIEB, TANTE SAM.
»Ach, die beiden fehlen mir.«
Im Lauf des Sommers hatten Clives Bruder und Schwägerin sie zweimal mit den Kindern in London besucht. Beide Male zogen Nicola und Miles an einem Abend zu zweit los, während Sam und Clive mit Freddy und Sophie erst in den großen Spielzeugladen in der Regent Street und dann essen gingen. Im Gegensatz zu vielen anderen in ihren Familien hatten die Kinder keinerlei Vorbehalte gegen ihre Beziehung. Und Clive war so toll mit ihnen. Leicht konnte Sam sich in diesen Momenten ein langes, glückliches Leben mit ihm vorstellen.
»Die hänge ich morgen gleich auf«, sagte sie. »Und dann rufen wir die beiden über FaceTime an, ja?«
»Logo«, sagte er.
Kurz darauf schlief Sam ein, zufrieden wie seit Wochen nicht mehr.
Am nächsten Morgen weckten sie die unverkennbaren Geräusche von jemandem, der krampfhaft versucht, leise zu sein. Schubladen gingen auf und wieder zu, und als Sam die Augen aufschlug, sah sie Isabella ihre Kommode durchwühlen.
»Tut mir leid!«, flüsterte sie. »Gleich wieder weg. Ich such meine Kopfhörer. Hast du die gesehen?«
»Nein«, antwortete Sam und zog Clive die Decke über den nackten Rücken.
Es war natürlich klar, dass Isabella ab und zu ins Zimmer kommen musste, aber Sam war trotzdem genervt — Kopfhörer waren ja wohl nicht lebenswichtig.
»Wie war die erste Nacht?«, wisperte Isabella ziemlich laut. Ein Bühnenflüstern, sozusagen.
»Gut. Deine?«
»Nix Besonderes. Lexi hat sich mit so ’nem Verbindungstypen eine Flasche Goldschläger geteilt und hinterher wunderschöne Goldflöckchen gekotzt.«
»Mmm«, machte Sam.
Clive regte sich.
Sie hoffte, dass er einfach weiterschlief, doch er war plötzlich hellwach und sagte: »Oh, hi.«
»Hi«, antwortete Isabella. »Willkommen in Amerika!«
»Danke.«
In London hatten die beiden einander kaum gesehen. Eine Woche nach Sams Ankunft im Sommer war Isabella schon nach Hause geflogen. Richtig warm waren sie nie miteinander geworden, aber Sam zuliebe gaben sie sich Mühe.
Clive fischte seine Boxershorts vom Fußboden und streifte sie sich unter der Decke über.
Sam fand das alles irgendwie unanständig. Sie wünschte, Isabella hätte angeklopft oder Clive hätte sich schlafend gestellt, bis sie wieder weg war.
Als er aufstand und sagte: »Ich muss mal kurz aufs Klo«, rief Sam: »Hose nicht vergessen!«
Er sah sie schräg an. »Glaubst du, ich spaziere hier unten ohne über den Flur?«
Clive schnappte sich Jeans und T-Shirt vom Vorabend von einem Stuhl, zog beides an und ging pfeifend davon.
»Hat sich ja nicht schlecht gehalten für sein Alter«, stellte Isabella fest.
Sam warf ein Kissen nach ihr, zog sich die Decke bis zum Kinn. Darunter war sie splitternackt. Für ihre Freundinnen war Nacktheit keine große Sache. Isabella saß manchmal den ganzen Vormittag in BH und Unterhose rum wie eine Männerfantasie von Collegemädchen.
»Wollt ihr mit zum Frühstück?«, fragte sie.
»Nein«, erwiderte Sam schnell. Auf keinen Fall wollte sie Clive in die Mensa mitnehmen.
Isabella zuckte die Achseln. »Okay«, sagte sie, »dann bis später.«
Sam blieb einen Augenblick allein. Sie sah aus dem Fenster, wo die Autos die Main Street entlangfuhren, war sicher, dass die Leute hinterm Steuer ihre Leben allesamt besser auf der Reihe hatten, als es ihr jemals gelingen würde. Wie konnte man mit jemandem so glücklich sein und sich seiner im nächsten Augenblick so schämen? Sich gleichzeitig wie eine Frau fühlen und wie ein dummes Kind? Würde das je besser werden?
Ja, bestimmt, gab sie sich selbst die Antwort. Sobald sie nicht mehr hier in dieser Zwischenwelt lebte, wieder richtig mit ihm zusammen sein konnte.
Als Clive zurückkam, sagte sie: »Ich hab mir gedacht, wir frühstücken im Bett.«
»Find ich gut«, sagte er und nickte.
»Ich hole uns was aus der Mensa. Willst du ’nen Bagel? Eier? French Toast? Kartoffeln? Schinken?«
»Alles«, sagte er. »Aber vorher will ich noch was anderes mit dir im Bett machen.«
»Oh«, machte Sam und schob die Decke auf den Boden. »Bitte, tu dir keinen Zwang an.«
Während des folgenden Wochenendes dachte Sam oft an eine Zeile in einem von Gils Bilderbüchern: »Die Wände wurden die gesamte Welt.«
Sie blieben die ganze Zeit in ihrem Zimmer. Samstag und Sonntag verbrachten sie im Bett, meistens nackt, redeten, sahen Filme im Fernsehen und ließen keine fünf Sekunden die Finger voneinander, wie um die Tage und Wochen erzwungener Trennung wieder aufzuholen.
Am Samstag bestellten sie abends was beim Chinesen, sonst ging Sam — bevor es dort zu voll wurde — nach unten in die Mensa und füllte eine Tupperdose.
Als sie am Sonntagmorgen hereinhuschte und Kaffee holte, in der Hand die Dose voller Toast, Obst und Eier, zogen die Frauen in der Küche sie auf.
Im Speisesaal konnten die Studentinnen sich per Knopfdruck einen Kaffee ziehen, doch der war wässerig und bitter. Sam hatte sich damals in der Frühschicht an den guten Kaffee gewöhnt, den die Frauen von zu Hause mitbrachten und für sich selbst kochten. Den trank sie noch heute meistens.
»Brauchst wohl was zur Stärkung«, sagte Gaby mit Blick auf die volle Tupperdose.
»Jetzt zeig ihn uns doch mal«, forderte Delmi. »Oder hast du ihn da oben festgebunden?«
»Uuh, pervers«, witzelte Gaby.
Die Älteren lachten nicht. Entweder fanden sie den Witz geschmacklos, oder sie kapierten ihn bloß nicht.
»Ich will alles wissen«, fuhr Gaby fort, leiser, sodass nur Sam sie hörte. »Komm schon. Ich wohn mit einem Kleinkind im Gästezimmer meiner Mutter. Lass mich wenigstens durch dich was erleben!«
Sam lachte. »Na ja … wir lesen viel.«
»Ja, sicher«, feixte Gaby.
Anfangs hatte Sam ihre Wohnheimhöhle ja noch romantisch gefunden. Doch seit dem dritten Tag roch das ganze Zimmer nach Sex und Pizza. Clives offener Koffer und seine Schmutzwäsche bedeckten den kompletten Fußboden. Ständig stolperte sie über seine Sachen. Neben der Tür stapelten sich Teller, die Sam immer wegzubringen vergaß, so als könnte sie durch reines Wunschdenken den Zimmerservice kommen lassen.
Am Montagmorgen sah sie sich im Zimmer um und sagte: »Wollen wir heute mal was draußen unternehmen?«
Elisabeth hatte ihr für Clives Besuch freigegeben.
Sie beschlossen, eine Wanderung zu machen. Kurz vor Mittag packte sie in der Mensa ein Picknick in ihren Rucksack: Sandwiches und in Papierservietten eingeschlagene Kekse. Und zwei glänzend rote Äpfel.
Gaby sah ihr mit verschränkten Armen zu, wieder dasselbe Grinsen im Gesicht.
»Sei bloß still«, raunte Sam.
»Ich sag doch gar nichts! Du bist im Wachstum, du musst essen. Hast du alles zusammen fürs Mittagessen? Plastikbesteck? Salz und Pfeffer? Kondome?«
»Gaby!«, rief Sam aus.
Seltsam, dass sie im Bett Dinge mit Clive tun konnte, die sie eine Stunde später nicht mal einer Freundin gegenüber zugeben würde. Isabella würde sicher noch Details hören wollen, und Sam würde sie ihr höchstwahrscheinlich liefern, wäre dabei aber ganz bestimmt knallrot.
Mit dem Bus brauchten sie eine halbe Stunde zum Mount Huntington. Keine anspruchsvolle Wanderung, in einer Stunde war man oben. Sie ging hinter ihm, bemerkte, wie seine Muskeln sich bei jedem Schritt anspannten. Sie mochte seine langen, dünnen Beine.
Am Abend würde er zurück nach London müssen.
Vom Gipfel aus sah man über das gesamte Tal. Dort saßen sie und sprachen über nächstes Jahr, darüber, wie es wäre, jeden Morgen nebeneinander aufzuwachen. In der Ferne sah man die Stadt und das College. Ein Haufen Backsteinhäuser und geteerte Straßen, umgeben von Bäumen, deren Laub sich hier und da schon etwas herbstlich färbte.
Als Clive fort war, sagte Isabella: »Es kommt mir vor, als hätt ich dich seit einer Woche nicht gesehen.«
»Mir auch«, sagte Sam.
»Gestern Abend haben wir im Wohnzimmer ferngesehen. Alle wollten wissen, wo du steckst. Ich hab gesagt, du bist oben und beschäftigt mit Verliebtsein. Die dachten, du bist zu Hause, auf einer Beerdigung oder so. Niemand hat gewusst, dass Clive da war.«
Sam lachte.
»Warum habt ihr euch die ganze Zeit verkrochen?«, fragte Isabella. »Wolltest du ihn vor uns verstecken?«
»Quatsch«, erwiderte Sam.
Und fragte sich, ob sie vielleicht genau das getan hatte.