Halloween fiel auf einen Freitag.
Elisabeth hatte noch nie erlebt, dass Kinder verkleidet an ihre Tür kamen. Solche Sachen gehörten früher zu ihrer Traumvorstellung vom eigenen Heim. In einem Anfall von Enthusiasmus hatte sie schon zwei Wochen vorher Berge von Süßigkeiten gekauft. Teile davon hatten Andrew und sie sich bereits reingezogen.
Jetzt stand sie in der Küche und schüttete den Rest in zwei hölzerne Salatschüsseln. Sie mischte die Süßigkeiten mit den Händen, während Sam sie von ihrem Platz an der Kücheninsel aus beobachtete. Gil saß auf Sams Schoß, er war als Maus verkleidet. Ihre Nachbarin Pam hatte Elisabeth das Kostüm angeboten, es stammte von ihren Kindern: ein Anzug aus grauem Fleece mit Schwanz und einer Kapuze, an der flauschige rosa Öhrchen hingen. Elisabeth und Sam konnten es kaum erwarten, hatten dem Kleinen schon am Morgen den Anzug angezogen und ihm mit Eyeliner schwarze Barthaare auf die Wangen gemalt.
»Wir wollen ja nicht, dass die guten Sachen alle obendrauf liegen und die langweiligen Sachen ganz unten«, sagte Elisabeth jetzt. »Ich muss alles durchmischen, damit die Kinder sehen, dass sie eine Auswahl haben.«
»Du hast doch gar nichts Langweiliges!«, sagte Sam. »Ich habe mich immer gefragt, was das für Leute sind, die den Kindern Schokorosinen anbieten. Kinderhasser?«
In einer Viertelstunde würde Sam gehen. Wochenenden waren jetzt so völlig anders als früher — Elisabeth graute vor den Stunden ohne Sam, die lange Zeit ohne Kinderbetreuung. An Wochenenden bekam sie nichts auf die Reihe. Einzig auf den Sonntagabend freute sie sich, wenn sie mit Sam auf dem Sofa saß und quatschte. Oft waren das die einzigen Unterhaltungen, die sie die ganze Woche lang führte. Am Montag konnte sie es kaum erwarten, Sam ihr Kind in die Hand zu drücken, um endlich wieder ein bisschen Freiheit zu genießen.
Sie gestand Nomi, dass sie sich deswegen wie eine echte Rabenmutter vorkam.
Alle Mütter hassen das Wochenende, schrieb Nomi. Thank God it’s Monday!
Auf der Anrichte vibrierte Elisabeths Handy. Eine Nachricht von Faye: Schick 1 Foto von Gil im Kostüm, bitte! Schlechter Tag, die Bank hat wieder geschrieben. Oma braucht Aufmunterung.
Elisabeth schickte Faye ein paar von den ungefähr hundert Fotos, die sie vorher geschossen hatte und verdrängte ihre Schuldgefühle. Faye fragte sich bestimmt, warum Elisabeth nicht einfach zurückschrieb: Keine Sorge! Wir greifen euch unter die Arme.
Sie legte das Handy mit dem Display nach unten auf die Anrichte.
»Was hast du so vor heute Abend?«, fragte sie Sam.
»Kostümparty an der State. Isabella und ich haben uns als diese grusligen Zwillinge aus The Shining verkleidet. Aber in sexy. Ihre Idee.«
»Das wird bestimmt lustig.«
»Nein, ist wie jede andere Party auch, nur nackter. Irgendwie geht mir Halloween auf die Nerven. Ich finde es extrem sexistisch.«
»Hm«, sagte Elisabeth. Dieser Gedanke war ihr noch nie gekommen.
Vor Jahren hatte Andrew sie zu einer Halloweenparty eingeladen, das war ihre vierte oder fünfte Verabredung gewesen. Sie hatten sich mit einer Flasche Wein aufs Dach geschlichen, stundenlang gequatscht und völlig die Zeit vergessen. Als sie wieder runterkamen, war die Party vorbei. Die Gastgeber lagen schon lange im Bett.
Heute würde er vermutlich nach Feierabend noch arbeiten. Er wollte sich bei einer Ausschreibung in Denver bewerben. Wenn er mitmachen durfte, könnte er seine Erfindung vor einer Reihe von potenziellen Investoren präsentieren.
Elisabeth wäre mit Gil allein, würde an die Tür gehen, wenn es klingelte, und alle Hexen, Kobolde und Gespenster bewundern. Eigentlich hatte sie sich darauf gefreut, aber jetzt klang das alles ziemlich deprimierend. In Brooklyn ging Nomi heute mit den Kindern und Freunden auf die Park Slope Parade, danach zu einem großen Abendessen im neuen Restaurant an der Fourth Avenue.
»Isabella holt mich um fünf hier ab«, sagte Sam. »Wir lassen uns die Nägel machen. Oder besser sie. Ich gehe nur mit, weil es dort Kombucha gratis gibt.«
Kurz fühlte sich Elisabeth zurückgesetzt, weil sie nicht eingeladen war.
Dann mahnte sie sich zur Vernunft. Letzte Woche hatte sie nie mehr als zwei, drei Stunden am Stück geschlafen. Das verwirrte ihr offenbar die Sinne und machte sie emotional.
Kurz vor fünf klingelte es.
Elisabeth grinste wie ein Honigkuchenpferd.
»Die ersten Kinder!«, rief sie.
Mit der Salatschüssel in der Hand ging sie an die Tür. Sam folgte, Gilbert auf dem Arm.
Sams Mitbewohnerin stand auf dem Absatz, in Flipflops und Jeans und schwarzer Kabanjacke.
»Süßes oder Saures«, sagte sie, griff in die Schüssel und zog ein Mini-Snickers heraus.
»Isabella«, sagte Sam. »Ich hab doch gesagt, du sollst draußen warten.«
»Ich weiß, aber ich muss mal.«
»Elisabeth, du erinnerst dich an Isabella?«, fragte Sam.
»Hi!«, sagte Isabella. »Hätten Sie was dagegen, wenn ich mal schnell auf Ihre Toilette …«
Sie wirkte so selbstbewusst. Elisabeth konnte sich nicht erinnern, jemals so gewesen zu sein, sicherlich nicht in diesem Alter.
»Bitte?«, drängelte Isabella. »Toilette?«
Elisabeth hatte sie noch immer nicht hereingebeten.
»Oh! Ja. Einfach den Flur entlang.«
Als Isabella in der Toilette verschwunden war und die Tür hinter sich geschlossen hatte, flüsterte Sam: »Tut mir leid. So ist sie einfach. Auf mich hört sie nicht.«
»Wieso sollte dir das leidtun?«, fragte Elisabeth. »Ist doch kein Problem.«
Sie kehrten wieder in die Küche zurück. Elisabeth zog ihre Geldbörse aus der Handtasche und gab Sam den Lohn für die Woche. Das erinnerte sie stets an das mickrige Pensum, das sie in diesen bezahlten, kinderfreien Stunden geschafft hatte.
Bei dieser Geldübergabe verhielten sie sich immer irgendwie verschämt. Sam fühlte sich nicht wie eine Angestellte. Nur wenn sie am Freitag dieses schmale Geldbündel entgegennahm, wurde ihr wieder bewusst, dass sie hier arbeitete.
Nomi hatte wissen wollen, ob Sam auch Gils Wäsche wusch.
Das gehört zu den Aufgaben einer Nanny, hatte sie ergänzt.
So was würde ich nie von ihr verlangen, schrieb Elisabeth zurück.
Worauf Nomi ihr ein Smiley mit verdrehten Augen schickte.
Nomi beaufsichtigte ein Dutzend Leute, die unter ihr arbeiteten. Sie wusste genau, wie man den Ton angab. Elisabeth hatte noch nie auch nur eine Assistentin gehabt. Sie mochte nicht zu Hause sein, wenn jeden zweiten Samstag die Putzhilfe kam. Es kam ihr falsch vor, im Bademantel Kaffee zu schlürfen, während eine Fremde, deren Namen sie sich nicht merken konnte, ihr Klo putzte. Sie verabscheute die Art, wie ihre Mutter sich früher über ihre Haushaltshilfen und Gärtner geäußert hatte, als wäre sie was Besseres.
In Brooklyn hatte Elisabeth jahrelang beobachtet, wie schwarze Nannys weiße Kinder betreuten, und dabei immer ein schlechtes Gefühl gehabt, sie empfand es als problematisch und hatte sich geschworen, bei so was niemals mitzumachen. Eltern sein bedeutete allerdings oft, am Ende doch genau das Gegenteil von dem zu tun, zu sagen, zu verkörpern, was man sich vorgenommen hatte. Doch das, was Elisabeth sich mit Sam aufgebaut hatte, vermittelte ihr das Gefühl, es besser gemacht zu haben.
Isabella gesellte sich zu ihnen in die Küche. »Dieses Viertel ist ja total nett«, sagte sie.
»Finde ich auch«, sagte Sam. »Wozu sollte ich meinen Abend damit verbringen, von Frat-Boys im Piratenkostüm mit Roofies betäubt zu werden, wenn ich gemütlich hier sitzen und mich an süßen verkleideten Kindern erfreuen kann?«
»Das klingt ja nach ’ner Megaparty, auf die du da gehst«, sagte Elisabeth.
»Ich find’s einfach öde«, sagte Sam. »Und die Typen sind letztlich nur widerlich.«
»Fürs Protokoll: Öde findet sie sie erst, seit sie einen Freund hat und auf Partys nicht mehr mit anderen rummachen darf«, sagte Isabella.
»Wieso sind sie widerlich?«, fragte Elisabeth.
Sam seufzte. »Wir halten uns an gewisse Regeln — geh nie ohne eine Freundin aufs Klo, lass deine Freundin nie mit einem mitgehen, wenn sie zu betrunken wirkt. Lass dein Getränk nie unbeaufsichtigt und trink nie aus offenen Behältern, die herumgereicht werden. Akzeptiere nur Getränke direkt von der Bar.«
»Klingt vernünftig«, sagte Elisabeth.
»Ich würde mir wünschen, dass wir einfach nicht mehr auf Partys gehen, bei denen man erwarten muss, dass irgendwo im Gebäude ein Mädchen, das gerade nicht so gut aufpasst, vergewaltigt wird.«
»Spaßbremse«, sagte Isabella.
»Warum gehst du dann?«, fragte Elisabeth.
»Wenn nicht, krieg ich Mordsärger mit der hier.«
»Sie quatscht die ganze Zeit mit einem Freund, der in einer anderen Zeitzone wohnt«, sagte Isabella. »Das ist tragisch. Wir sind im letzten Collegejahr.«
»Siehst du? Also gut, auf zum Spaßhaben.«
»Bleibt ruhig noch ein bisschen, wenn ihr wollt. Oder habt ihr einen festen Termin im Nagelstudio?«
»Nein, da kann man einfach so hingehen«, sagte Isabella.
»Na, wie wär’s dann mit einem Glas Wein?«
»Klaro!«, sagte Isabella, bevor Sam antworten konnte.
Elisabeth versuchte, Sams Miene zu deuten.
»Nur, wenn ihr wollt. Ich will euch nicht aufhalten.«
Sam lächelte. »Glas Wein klingt klasse.«
Elisabeth öffnete eine Flasche Cabernet, ein Abschiedsgeschenk von Andrews ehemaligem Mitarbeiter. Sie schenkte drei Gläser ein, fast bis obenhin.
Sie prosteten einander zu. »Happy Halloween!«
Isabella trank einen herzhaften Schluck, dann knöpfte sie ihre Jacke auf. Sie war rank und schlank, doch ihr Bauch wölbte sich sichtbar. Sie sah aus wie im vierten Monat schwanger. Zu viel Bier?, fragte sich Elisabeth. Sie hatte Isabella kurz in der Bar gesehen, aber da war ihr nichts aufgefallen. Damals hatte sie allerdings auch gesessen.
Ungestümes Klopfen kündigte eine vierzig Kopf starke Truppe kostümierter Kinder an, die von ihren größtenteils ebenfalls verkleideten Eltern begleitet wurden. Nach der fünften Familie im Star-Wars-Motto sprach Isabella laut aus, was Elisabeth schon die ganze Zeit dachte: »Diese Mütter wollen unbedingt zeigen, dass sie noch was zu bieten haben, deshalb gehen sie als Prinzessin Leia, während ihre Kinder die Sturmtruppen geben müssen. Wissen diese Zwerge eigentlich, was Sturmtruppen sind?«
Elisabeth schenkte Wein nach und stellte einen Teller mit Käse und Crackern dazu, als Gegenmaßnahme zu den vielen Süßigkeiten, die sie sich bereits reingezogen hatten. Von dem vielen Zucker kribbelte ihr schon das Gesicht.
»Früher, in der Stadt«, sagte sie, »habe ich bei einer Frauenzeitschrift gearbeitet. Ich wohnte in einer Vierer-WG im fünften Stock in einem Wohnhaus ohne Fahrstuhl und verbrachte die meiste Zeit mit Reisekostenabrechnungen, aber ich durfte zu Heidi Klums Halloweenparty. Meine Chefin war krank und hat mir ihre Einladung gegeben.«
»Ich will alles hören, jede Einzelheit«, sagte Isabella.
»Heidi war als Lady Godiva verkleidet. Sie ist auf einem Pferd hereingeritten.«
»Ich hoffe, ich kann diese Geschichte nächstes Halloween toppen«, sagte Isabella. »Wenn ich nicht mehr in diesem Kuhkaff wohne. Oder meine Wampe los bin.« Sie legte sich die Hände auf den Bauch.
Elisabeth wusste nicht, was sie dazu sagen sollte.
»Normalerweise sehe ich nicht so aus«, fuhr Isabella fort. »Ich spende meine Eizellen und muss lauter Medikamente nehmen, damit sie so richtig riesig werden. Bei jedem Schritt habe ich das Gefühl, die schwappen in meinem Bauch rum. Echt eklig!«
Bevor Elisabeth noch ihre Frage formuliert hatte, sagte Isabella: »Muss schon wieder pinkeln. Gleich wieder da!« Sprach’s und war verschwunden.
»Sie ist …«, setzte Elisabeth an.
»Ich weiß«, sagte Sam, »das ist total verrückt.«
»Braucht sie Geld?«
»Nein. Sie sagt zwar ständig, dass sie Geldsorgen hat, aber ich kapier nicht, warum.«
»Niemand hat je das Gefühl, genug Geld zu haben«, sagte Elisabeth.
»Sie hat aber definitiv genug. Glaub mir. Ihr Dad ist der Präsident einer Bank oder so was.«
»Hat jemand versucht, sie davon abzuhalten?«
»Wenn Isabella sich für etwas entschieden hat, lässt man sie am besten machen, bis sie es von selbst kapiert«, sagte Sam.
»Sie spritzt sich das Zeug jeden Tag?«
»Nein, das mach ich.«
Auf einmal erwachte Elisabeths Mutterinstinkt. Wer beauftragte ein Mädchen in Isabellas Alter damit, Eizellen zu spenden? Warum hatte Sam das einfach mitgemacht und ihr kein Sterbenswörtchen gesagt?
Als Isabella sie bei ihrer Rückkehr fragte, ob sie glaubten, dass Heidi was an sich hatte machen lassen, sagte Elisabeth einfach: »Tu’s nicht.«
Isabella sah sie verwirrt an, »Ähm, was jetzt genau?«
»Deine Eizellen verkaufen.«
»Muss ich aber. Hab einen Vertrag unterschrieben.«
»Egal.«
»Ach ja?«
»Ja.«
Rechtlich betrachtet gehörten die Eizellen nur der Besitzerin. Das wusste Elisabeth noch von ihren Recherchen. Man kann niemanden zwingen, Teile seines Körpers zu verkaufen, selbst dann nicht, wenn diese Person einen Vertrag unterschrieben hat.
»Letzten Monat musste ich Progesteron, Östrogen, Gonal-F und Menopur nehmen«, sagte Isabella. »Die letzten beiden sind Medikamente.«
»Ich weiß«, sagte Elisabeth. »Gil ist durch künstliche Befruchtung entstanden. Ich musste so was auch einnehmen.«
»Echt?«, fragte Sam.
»Damit ihr’s wisst: Die ganze Chose sollte nur einen Monat dauern«, sagte Isabella, »aber wie’s aussieht, hat der Doc die Präparate falsch dosiert, weil ich nicht so viele Follikel produziert habe wie erwartet. Also haben sie diesen Monat die Dosierung erhöht, und zack, jetzt bin ich kugelrund.«
»Hyperstimulation«, sagte Elisabeth. »Diesmal haben sie dir zu viel verabreicht.«
»Aber alles sieht gut aus. Ich kriege doppelt so viel wie vereinbart, weil es schon so lange läuft. Es ist fast vorbei. Am Dienstag werden die Eizellen entnommen.«
»Das passiert unter Narkose«, sagte Elisabeth.
»Ich weiß. Gott sei Dank.«
Vollkommen cool. Elisabeth hätte sie am liebsten geschüttelt.
»Wissen deine Eltern davon?«
»Natürlich nicht.«
»Das ist eine große Sache«, sagte Elisabeth. »Irgendwo da draußen wird dein Kind aufwachsen.«
»Nicht mein Kind, meine Eizelle«, erklärte Isabella, als hätte Elisabeth was Wichtiges übersehen. »Und das Paar … die beiden sind so süß! Kim und Tim. Ihre Namen reimen sich. Wie süß ist das bitte? Ich will ihnen helfen. Sie haben es verdient.«
Elisabeth wandte sich an Sam, aber die zuckte nur die Achseln.
»Bitte überleg es dir noch mal«, sagte sie. »Eines Tages wirst du es bereuen. Das Geld ist es nicht wert, glaub mir.«
Isabella kam ihr vor wie jemand, die alles mit einem Lachen abtat. Aber einen kurzen Moment lang meinte Elisabeth in ihrer Miene eine Veränderung zu erkennen. Als hätte sie etwas verstanden. Hoffentlich war sie zu ihr durchgedrungen.
»Wie lange hast du das mit der Befruchtung gemacht?«, fragte Sam leise.
»Ein Jahr.«
»War es schlimm?«
»Einerseits ja, andererseits nein«, sagte Elisabeth. »Die Monate, wenn es nicht geklappt hatte, obwohl ich mich mit nichts anderem mehr beschäftigt habe, ja, das war schrecklich. Ich habe eine Menge absurdes Zeug gemacht, nur damit es endlich passiert.«
»Was denn zum Beispiel?«, fragte Sam.
Zusätzlich zu den ganzen Injektionen hatte sie ein tägliches Ritual, das sich aus ärztlichen Empfehlungen und willkürlich zusammengewürfelten Tipps von Freundinnen und irgendwelchen Frauen aus dem Internet zusammensetzte, dazu Meditation, Baby-Aspirin, Eisenpräparate, Brühe aus Markknochen, Granatapfelsaft, sechs Tassen Himbeerblättertee, gefolgt von sechs Tassen Brennnesseltee. Sie ging zur Akupunktur. Der Erste behandelte sie sanft wie in einem Wellnesshotel, der nächste meinte, je schmerzhafter, desto besser, und jagte ihr durch dicke Nadeln Strom in den Bauch. Auf Fayes Zuraten hin hatte Elisabeth während einer Geschäftsreise nach Montreal den Mont Royal erklommen, wo sie sich im Sankt-Josephs-Oratorium ein spezielles Öl besorgte, mit dem sie, die eigentlich Atheistin war, sich Abend für Abend ihren Bauch einrieb.
Sam und Isabella hatten keine Ahnung, wie verzweifelt man wurde, wenn man sich nach etwas sehnt, das nicht in Erfüllung zu gehen scheint. Wie sollte sie diesen Mädchen erklären, dass man in so einer Situation mehr als bereit war, sich für dreihundert Dollar die Vagina bedampfen zu lassen, weil man hoffte, dass sich diese Behandlung als Zaubermittel herausstellen und man endlich schwanger werden würde? Die Antwort: Gar nicht, denn für solche Informationen waren sie noch nicht bereit.
Elisabeth war sogar zu einer Maya-Bauchmassage gegangen. Ihre Enttäuschung über den Namen der Masseuse konnte sie kaum verbergen — sie hieß tatsächlich Rochelle Moskowitz. Für den Preis hatte sie eine waschechte Maya erwartet. Die Massage selbst war alles andere als entspannt gewesen. Rochelle wirkte an jenem Tag gehetzt, die Behandlung begann mit einer Viertelstunde Verspätung. Rochelle wies Elisabeth an, sich ein Nest aus Federn und Felsen vorzustellen. Aber sie musste die ganze Zeit daran denken, dass ihre Kollegin Pearl jetzt allein im Restaurant auf sie warte.
Als Rochelle fragte, ob Elisabeth jetzt ihre Freundin treffen wollte, antwortete sie: »Ja!«, schwer beeindruckt von den hellseherischen Fähigkeiten dieser Frau.
Rochelle ergriff Elisabeths Hand und strich damit über ihr Schambein. Erst da wurde ihr klar, dass Rochelle mit »deine Freundin« ihre Gebärmutter gemeint hatte.
»Ihr seid beide alt genug, um Kinder zu bekommen«, sagte Elisabeth jetzt zu Isabella und Sam. »Ich bin in einem Alter, in dem es viele Frauen auch tatsächlich tun. Aber das bedeutet nicht, dass ihr eure Eizellen verkaufen solltet. Diese ganze Angelegenheit ist emotional und moralisch ganz schön vertrackt, sogar dann, wenn man seine eigenen Kinder austrägt.«
»Wieso?«, fragte Isabella.
»In meinen Fall gibt es zwei Embryos, die ich nicht verwendet habe. Ich will keine Kinder mehr. Aber dieses eine wollte ich so sehr, dass ich Andrew versprochen habe, bei der IVF keinen meiner Embryos vernichten zu lassen. Er ist katholisch erzogen, keine Ahnung, ob er deshalb so strikt dagegen ist. Er meint, es hätte was damit zu tun, dass er Einzelkind ist. Er wisse, wie das ist. Er will, dass Gil Geschwister hat.«
Was tat sie da? Sie hätte das nicht ausplaudern dürfen. Andrew wäre entsetzt, wenn er das wüsste.
»Und was habt ihr beiden sonst noch geplant fürs Wochenende?«, fragte sie, um sich wieder auf neutralen Boden zu bewegen.
»Morgen Abend feiert eine Freundin Geburtstag«, sagte Isabella, »und Sonntag ist Party im Wohnheim, weil Montag keine Kurse stattfinden. Wir feiern Lucretia Chesnutt.«
»Wer ist das?«
»Lucretia Chesnutt war die erste Schwarze, die einen Collegeabschluss gemacht hat«, sagte Sam. »Die Schule feiert jedes Jahr ihren Geburtstag. Es gibt Paneldiskussionen und Gastvorträge rund um das Thema Diversität.«
Sie klang stolz.
»Soll ich dir an dem Tag freigeben, damit du hingehen kannst?«, fragte Elisabeth, hoffte aber insgeheim, dass Sam ablehnen würde.
»Nein«, sagte Sam. »Das passt schon so. Danke trotzdem.«
»Sicher?«
»Niemand geht zu den Diskussionen«, sagte Isabella. »Normalerweise gehen wir an dem Tag shoppen.«
»Ich bin hingegangen!«, sagte Sam.
»Interessiert mich nicht so, das Ganze«, sagte Isabella. »Das ist so ›Schaut her, wie toll wir sind! Inklusion ist unser Ding‹. Einmal im Jahr. Echt jetzt?«
»Nicht nur einmal im Jahr«, entgegnete Sam. »Was ist mit den Stipendien?«
»Ja, klar«, sagte Isabella. »Das College hat ein Programm für schwarze Collegestudentinnen, die in der Highschool Spitzennoten hatten. Die Lucretia-Chesnutt-Stipendiatinnen. Das sind krasse Überflieger. Die kriegen alles umsonst. Aber dafür werden sie bei allen besonderen Anlässen von der Schule vorgeführt — das ist so schräg.«
»Ich finde es inspirierend«, sagte Sam.
Isabella zog eine Grimasse, und Elisabeth erkannte, dass sie nicht so aufrichtig und unvoreingenommen war wie Sam.
»Ein Stipendium für Eliteschüler bringt keinerlei echte, strukturelle Veränderung«, sagte Isabella. »Bildungsungerechtigkeit, Zugang zu Testvorbereitungen. Nur die allerbesten werden gefördert. Was ist mit allen anderen, die vielleicht an einer schlechten Highschool sind? Verdienen die keine Förderung?«
»Ich hab das Gefühl, du plapperst die ganze Zeit nach, was Shannon sagt«, meinte Sam. »Shannon ist unsere Freundin, sie hat so ein Stipendium bekommen.«
Elisabeth nickte. »Aha, verstehe.«
»Nichts plappere ich nach. Ich habe einfach dieselbe Meinung wie sie«, sagte Isabella.
»Wieso sollte man jemanden, der hervorragende akademische Leistungen erbringt, nicht dafür belohnen?«, fragte Sam. »Ich bin nicht mit Leuten aufgewachsen, die auf Colleges wie dieses hier gegangen sind. Ich hatte keinen Nachhilfelehrer wie du und Lexi. Wenn ich die Rede von Präsidentin Washington nicht im Internet gesehen hätte, hätte ich mich nie beworben.«
Sam sah zu Elisabeth. »Unsere Präsidentin Washington hat diese absolut fantastische Rede gehalten: ›Wenn Frauen die Welt regieren würden‹. Man kann sie sich auf YouTube ansehen. Ich habe sie bestimmt schon hundertmal angeschaut.«
»Sam ist schwer in unsere Collegepräsidentin verliebt, falls es dir noch nicht aufgefallen ist«, sagte Isabella.
Es war absurd, aber auch irgendwie rührend, dass sie die Frau Präsidentin nannten. Als wäre sie tatsächlich ein Staatsoberhaupt.
»Und was würde ihrer Meinung nach anders laufen, wenn Frauen an der Macht wären?«, fragte Elisabeth.
»Alles«, sagte Sam.
Elisabeth schnaubte.
»Glaubst du das nicht?«
»Ich glaube, es geht um Macht. Und um die individuelle Persönlichkeit. Frauen könnten genauso böse und korrupt sein wie Männer. Sie hatten nur noch nicht so viel Gelegenheit, sich zu beweisen, historisch betrachtet.«
»Aber du bist doch Feministin?«
»Ich weiß nicht mehr, was das genau bedeutet. Mit dem Label verkaufen sie jetzt sogar Seife.«
Beide Mädchen starrten sie an. Elisabeth kam sich vor wie die größte Zynikerin unter der Sonne.
»Aber ja, ich bin Feministin. Natürlich bin ich das«, fügte sie rasch hinzu. »Ich sollte lieber den Mund halten. Dank Schlafentzug trete ich in alle Fettnäpfchen.«
Sie wandte sich Isabella zu. »Gil macht gerade eine schlimme Phase durch. Wachstumsschub. Er ist die ganze Nacht wach und total anstrengend, aber es heißt, am Ende hat er neue Fähigkeiten erlernt. Ich glaube allerdings, das ist ein Ammenmärchen, das sie den Müttern erzählen, damit sie nicht durchdrehen.«
»Steht dein Mann nicht mal mit ihm auf?«, fragte Isabella.
»Isa!«, mahnte Sam.
»Morgens und abends wechseln wir uns ab, aber in der Nacht wacht Andrew gar nicht erst auf. Er hört das Schreien nicht. Keine Ahnung, wie das geht, aber er schwört, dass es so ist.«
»Was, wenn du ihn auch nicht schreien hörst?«, fragte Isabella.
»Aber das tue ich leider. Ich wache sogar schon vorher auf, weil ich weiß, dass er gleich schreit.«
»Was, wenn du erstmal wartest? Nicht gleich aus dem Bett springst. Was würde dann passieren?«
Elisabeth konnte sich nicht vorstellen, einfach dazuliegen und abzuwarten, bis Gils Schreien so laut wäre, dass auch Andrew davon aufwachte, aber die Vorstellung entlockte ihr ein Lächeln.
Da ging die Hintertür auf. Andrew kam in die Küche.
Sie kicherten los wie Zehnjährige bei einer Übernachtung.
»Was?«, fragte er. »Ahhh! Schau dir das Mäuschen an!«
Andrew hob Gil aus der Babywippe, die auf der Anrichte stand.
»Ist das nicht ein bisschen gefährlich?«, fragte er.
Nichts regte Elisabeth so sehr auf wie diese Situation: Er kam hier reingeschneit und musste sie als Erstes für irgendwas kritisieren, was sie in seiner Abwesenheit mit dem Baby gemacht hatte.
Sie hatte schon eine passende Antwort parat, hielt aber lieber den Mund.
Andrew beäugte die Schüsseln mit Süßigkeiten. Nur noch ein paar Schokoriegel waren übrig. Sie hatte vergessen, ihm welche zur Seite zu legen.
»Die Kinder haben alles weggefuttert«, sagte sie.
Elisabeth sah, wie er die zerknüllte Silberfolie ins Visier nahm, in einem unverkennbaren Haufen neben der leeren Weinflasche auf dem Tisch.
»Aha«, sagte er.
»Hoppla, schon viertel nach sechs!«, rief Sam. »Wir müssen los, sonst hat der Nagelsalon zu.«
Elisabeth brachte sie zur Tür.
»Danke, dass ihr mir Gesellschaft geleistet habt«, sagte sie. »Viel Spaß heute Abend.«
Überraschenderweise fiel ihr Isabella zum Abschied um den Hals.
»Denke bitte über meinen Rat nach«, sagte Elisabeth.
»Okay«, sagte Isabella. »Und du über meinen.« Sie warf einen Blick in die Küche, wo Andrew saß.
Elisabeth sah ihnen hinterher, wie sie über den Rasen auf Isabellas Auto zuliefen, ein blauer Audi.
Debbie von gegenüber hatte vor ihrem Haus eine aufblasbare schwarze Katze aufgestellt. Sie war gut und gerne drei Meter hoch und überragte die Fenster im Erdgeschoss. An den Büschen hingen künstliche Spinnweben, orange blinkende Lichterketten wanden sich um die Terrassenpfeiler. Vorhin hatte sie noch acht ausgehöhlte, zur Grimasse geschnitzte, innen beleuchtete Kürbisse aufgestellt, zwei auf jeder Stufe, und jedes Mal, wenn jemand vorbeikam, erscholl grässliches Gelächter aus einem Geräuschgenerator. Elisabeth hatte zuvor noch niemanden getroffen, der sich für Halloween so ins Zeug legte. Gott sei ihnen gnädig, wenn Weihnachten kam.
Letzte Woche hatte sie Debbies Haus zum ersten Mal betreten, der Buchclub hatte sich diesmal bei ihr getroffen. Es ging um Frühstück bei Tiffany’s, das sie ausgewählt hatten, weil es nicht so lang war wie Die geheime Geschichte und es außerdem einen Film dazu gab, den man sich ansehen könnte, falls man mal eine Lesepause brauchte, wie Karen es ausdrückte.
Diese Versammlung lief zahmer ab als die letzte, denn Debbies Gatte war zu Hause. Sie hatten sich an ihrem Esstisch versammelt, aßen Rohkost und Baba Ghanoush und tranken billigen Wein. Hin und wieder kam eines von Debbies Kindern reingetrottet und wedelte mit der Fernbedienung, womit sie ihr wohl bedeuteten, dass sie umschalten sollte.
Irgendwann fragte Elisabeth: »Hat eigentlich jemand von Gwen gehört?«
Allgemeines Kopfschütteln.
»Da fällt mir ein«, sagte Karen, »Josh hat erzählt, sie hätte Christopher gezwungen, mit ihr nach Hongkong zu fliegen, weil er einer Studentin zu tief in die Augen geschaut hat — oder wohl eher in den Ausschnitt.«
»Widerlich«, sagte Stephanie.
»Ich will alles wissen!«, rief Debbie. »Los, pikante Details!«
»Ja!«, riefen die anderen.
Mit großer Wollust machten sie sich über das Gerücht her.
Elisabeth wünschte, sie hätte das Thema nie zur Sprache gebracht. Sie fragte sich, ob an dem Gerücht etwas dran war. Unmöglich, sich Gwen mit so einem Kerl vorzustellen.
»Mehr weiß ich nicht«, sagte Karen. »Josh hat mir das unter dem Siegel der Verschwiegenheit erzählt, also bitte nicht weitersagen.«
Du selbst hast es gerade praktisch in die Welt posaunt!, dachte Elisabeth, hielt aber den Mund.
Als sie jetzt die Haustür schließen wollte, fiel ihr auf dem Gehweg eine Frau in ihrem Alter auf, auch sie war als Prinzessin Leia verkleidet — braune Perücke, enges weißes Kleid mit Schlitz bis zum Schambereich, dazu hohe weiße Lederstiefel. Sie ging im Star-Wars-Kostüm mit ihrem Hund Gassi.
Elisabeth dachte an Isabellas Worte.
Grinsend kehrte sie zurück in die Küche. Sie würde es gleich Andrew erzählen.
»Willst du immer noch Burger braten?«, fragte sie munter. Erst da bemerkte sie, dass er die leere Weinflasche in der Hand hielt.
»Wie hat der geschmeckt?«, fragte er.
»Ganz gut.«
»Das hier war ein Cabernet für hundert Dollar«, sagte er.
»Nein! Hundert Dollar?«
»Jepp.«
Seine Wut war offensichtlich, obwohl er sich bemühte, ganz entspannt zu klingen.
»Tut mir leid«, sagte sie. »War der für einen besonderen Anlass gedacht?«
»Nein, aber … es ist eine Sache, wenn es nur Sam ist, ein Glas zum Essen, aber findest du’s richtig, wenn die jungen Mädchen sich in deinem Beisein betrinken? Sind sie überhaupt schon alt genug?«
»Niemand hat sich betrunken«, sagte Elisabeth.
»Wirklich? Da hatte ich aber einen anderen Eindruck. So wie ihr gekichert habt, als ich reinkam.«
»So hört es sich eben an, wenn Leute Spaß haben, Andrew«, entgegnete Elisabeth. »Tut mir leid, wenn wir dir damit zu nahe getreten sind.«
Sie nahm ihm das Baby vom Arm und ging nach oben.
An der Tür klingelte es noch drei Mal, aber niemand ging hin.
Nachdem Elisabeth Gil gebadet hatte, brachte sie ihn ins Bett. Dann verzog sie sich ins Fernsehzimmer und schaltete den Apparat ein. Eigentlich hatte sie Hunger und wollte zu Abend essen, aber ihre Sturheit hielt sie zurück. Erst müsste Andrew sich bei ihr entschuldigen.
Ihre Gedanken kreisten um Isabella. Sie musste sie von ihrem Vorhaben abbringen. Sie stellte sich die Frau vor, die auf die Eizellen wartete und sie vielleicht wegen ihr jetzt nicht bekommen würde. Elisabeth fragte sich, wer sie wohl war, wo sie wohnte, wie lange sie es schon versuchte.
Sie selbst hatte in der Zeit zwischen Ende zwanzig und Anfang dreißig mit der Entscheidung gerungen, ob sie überhaupt Kinder wollte oder nicht. Jahrelang hatte sie darauf gewartet, dass ihre Hormone überschießen würden und sie statt von Ängsten und Sorgen nur noch vom Kinderwunsch getrieben sein möge. Irgendwann wusste sie nicht mehr, welche Antwort die richtige war, aber rechnen konnte sie durchaus. Keine Entscheidung zu treffen führte nur dazu, dass das Zeitfenster immer enger wurde. Würde sie sich dafür entscheiden, gäbe es dann kein Fenster mehr.
Doch wie oft hatte sie sich im Leben für etwas entschieden, nur damit sie hinterher nichts bedauern musste?
Ihr Ringen zog sich so lange hin, dass sie irgendwann glaubte, sie müsste nur diesen Teil überwinden, danach wäre alles leichter. Um sie herum waren alle schwanger, hatten gerade ein Kind bekommen oder beides. Nomis Sohn Alex war bereits auf der Welt, sie wollte noch ein zweites.
Eines Morgens wurde Elisabeth von ihrem vibrierenden Handy geweckt. Nomi hatte ihr ein Bild von drei Schwangerschaftstests geschickt, darunter stand: Man kann es kaum erkennen, aber ich glaube, ich sehe da zwei Striche. Du??? Oder ist das eine Verdunstungslinie? (Die oberen beiden Tests sind von mir. Ich habe Brian gebeten, auf den dritten zu pinkeln, zum Vergleich.)
Sie zeigte Andrew das Foto.
»Nomi glaubt, sie ist wieder schwanger, aber sie fragt sich, ob der zweite Strich vielleicht eine Verdunstungslinie ist«, sagte Elisabeth.
»Was ist eine Verdunstungslinie?«, fragte er.
Als Elisabeth beschlossen hatte, die Pille abzusetzen, hatte sie ein seltsames Glücksgefühl erfasst. Sie war so ruhig wie nie zuvor. Zum ersten Mal prallte alles von ihr ab. Es ging nicht mehr nur um sie. Sie kam sich vor wie in Watte gepackt. Ein kostbares, zerbrechliches Objekt.
Ihre erste Fehlgeburt war entsetzlich, aber sie kannte viele, denen es ähnlich ergangen war. Nach der zweiten hatte sie Angst, es nochmal zu versuchen, weil sie fürchtete, dass ein weiterer Verlust sie zerstören würde. Nach dem dritten Mal schlug Elisabeths Frauenärztin ein paar Tests vor, die schließlich Probleme mit den Chromosomen nachwiesen. Sie überwies sie an einen Endokrinologen an der Upper East Side.
Normalerweise musste man zwei Monate auf einen Termin warten, aber seine Sprechstundenhilfe meinte, Elisabeth habe Glück. Sie hatte an einem Mittwoch angerufen, und zufällig hatte eine andere Patientin ihren Termin am Freitag abgesagt.
»Wir haben so ein Glück!«, sagte sie zu Andrew.
Was man so für Glück hält, kann sich schnell ändern, dachte sie.
Der Arzt schlug ihnen vor, es mit IVF zu versuchen, die Embryos untersuchen zu lassen und nur die gesunden zu verwenden.
»Sie sind fünfunddreißig, nicht fünfundzwanzig«, wiederholte er dreimal innerhalb von zehn Minuten. Als könnte ihr das entfallen sein.
Obwohl sie keinen Untersuchungstermin vereinbart hatten, schickte er Elisabeth direkt im Anschluss an sein Verkaufsgespräch in den Nebenraum zum Ultraschall.
»Wollen wir das?«, fragte sie Andrew. »Soll ich einen Ultraschall machen lassen?«
Ein paar Minuten später ging es los.
»Die Gebärmutterschleimhaut ist etwas dünn«, sagte der Arzt, während er mit dem stabförmigen Gerät in ihrem Inneren herumbohrte. »Ihre Schleimhaut ist das Holiday Inn, okay? Ich will aber das Four Seasons. Keine Sorge, wir machen das schon kuschelig.«
Er ratterte eine Liste herunter, lauter Posten, es hörte sich an wie ein Einkaufszettel. Progesteroninjektionen, Viagrazäpfchen.
Man nahm ihr und Andrew Blut ab, sie saßen einander in separaten Kabinen gegenüber. Das schlimmste Date, das sie je erlebt hatten. Danach genehmigten sie sich einige Bierchen im Irish Pub gegenüber. Sie fragte sich, wie viele unschöne Unterhaltungen sich dort wohl schon abgespielt hatten.
An jenem Abend war sie mit Nomi beim Thai in der Smith Street essen gegangen.
Elisabeth trug die Mappe vom Arzt unterm Arm. Sie legte sie auf den Tisch.
Nomi bestellte Pad Kee Mao mit extra Tofu. Sie war in der achten Woche schwanger und versuchte, als Vegetarierin so viel Protein wie möglich zu sich zu nehmen.
Als Elisabeth die Mappe aufschlug und sich dafür entschuldigte, sie damit zu belasten, erwiderte Nomi: »Schlechte Nachrichten sind nicht ansteckend.«
Weil sie so eine gute Freundin war, fragte sie Elisabeth, ob es sie belaste, dass Nomi nun schon zum zweiten Mal schwanger war. Elisabeth erklärte, sie wolle auf keinen Fall so jemand werden, der auf das Glück ihrer Freundinnen neidisch war. Doch das war sie leider dennoch — auf Nomi, auf ihre gemeinsame Freundin Lauren, die gerade ihr drittes Kind bekommen hatte, durch Zufall gezeugt, ohne Vorfälle geboren.
Zu Hause tauchte sie in die Tiefen des Internets ab, um zu recherchieren, was genau IVF für sie bedeuten würde. Der Arzt hatte es ihnen zwar schon erklärt, aber Elisabeth wollte es schwarz auf weiß lesen, alles auf einer Seite. Täglich werden Ihnen vier verschiedene Hormonpräparate injiziert, jeden zweiten Tag wird man Ihnen Blut entnehmen, und es erfolgt eine transvaginale Ultraschalluntersuchung, nach drei Wochen werden Ihnen unter Narkose die gereiften Eizellen aus den Eibläschen in Ihrem Eierstock entnommen. Währenddessen ejakuliert Ihr Partner in einem Nebenraum in einen Behälter.
Was perfekt zeigte, woran es haperte mit der Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen.
Mitten in der Nacht suchte sie im Internet.
Bekomme ich von IVF Krebs? Möglich. Vielleicht. Wovon bekam man den nicht?
Sie bildete sich ein, dass Kinder, die durch künstliche Befruchtung entstanden waren, abnormal aussahen. Sie mailte sich Fotos von Säuglingen, Erfolgsgeschichten von verschiedenen Familienplanungswebsites. Am Morgen hielt sie sie Andrew unter die Nase und fragte ihn: »Findest du, die sehen echt aus?«
Einmal vervollständigte Google ihren gerade eingetippten Halbsatz Haben IVF-Babys … mit … eine Seele?, woraufhin sie tief in ein katholisches Familienplanungs-Forum abtauchte.
In einem anderen Forum behauptete eine Frau, dass die Erfolgsrate für IVF statistisch betrachtet beim sechsten Mal am höchsten liege. Wenn sie das Ganze sechsmal durchziehen müsste, würde sie einfach abhauen, dachte Elisabeth daraufhin. In den Untergrund abtauchen würde sie. Einsiedlerin werden.
Aber in der Not frisst der Teufel bekanntlich Fliegen. Früher, als sie noch nicht mal wusste, was IVF eigentlich genau war, hatte sie keinerlei Verständnis gehabt für diese babygeilen Paare, die unbedingt leibliche Kinder haben wollten. Warum adoptierten sie nicht einfach eins?, hatte sie damals gesagt. Wenn uns das passiert, na, dann adoptieren wir eben.
Eines Abends gestand sie ihren Freundinnen beim Drink, dass sie sich nur noch in Internetforen rumtrieb. Wie sich herausstellte, war sie nicht die Einzige. Jede suchte irgendwas. Man fand sich über die verschiedenen Interessensgebiete zusammen, sei es, dass man gern kochte, zur Berufsgruppe der Anwälte gehörte oder vor dreißig Jahren dieselbe Schule besucht hatte. Hier trafen sich die Frauen von heute. Hier tauschten sie ihre intimsten Geheimnisse aus.
Elisabeths Freundin Amy besuchte die Foren, weil sie ihre Stiefkinder verabscheute. Nie hätte sie von sich gedacht, dass sie mal so empfinden würde. Ihre Kollegin Maisy tummelte sich in einer Internetgruppe für lesbische Frauen. Sie selbst würden niemals etwas posten, aber sie lasen mit. Immer weiter. Bücher lasen sie längst nicht mehr.
Als Nomi in der neunten Woche zum Ultraschall ging, stellte man keinen Herzschlag mehr fest. Sie musste ein Medikament nehmen, das eine Fehlgeburt auslösen würde. Sie war nervös, denn Betroffene hatten im Internet von großen Schmerzen und hohem Blutverlust geschrieben. Eine Frau hatte sogar als Warnung gepostet: Es könnte sein, dass man noch die Augen des Babys sieht!
Elisabeth besuchte Nomi zu Hause und spielte mit Alex, dem Dreijährigen, und seinen Rennautos. Nomi bekam Krämpfe. Es konnte bis zu vier Tage dauern, bis das Medikament wirkte. Die Ärztin verschrieb ihr zwanzig Tabletten, hoffte aber, dass Nomi nicht alle bräuchte.
Elisabeth kochte für sie Mittagessen, dann sorgte sie dafür, dass Alex und Nomi ein bisschen schliefen.
Wieder zu Hause versuchte sie zu schreiben. Aber sie war nicht bei der Sache. In den folgenden zwei Tagen stand sie Nomi bei, während das Baby, oder die Vorstellung eines Babys, ihren Körper verließ. Sie ging zum Bio-Kinderladen an der Court Street und kaufte drei sündhaft teure Garnituren für Freundinnen, die gerade entbunden hatten oder kurz davorstanden. Sie bestellte die Hormone, die Andrew ihr jeden Abend spritzen sollte, in der Hoffnung, dass in ihr bald ein eigenes Kind heranwachsen würde.
Drei Wochen später stand Elisabeth aufgedunsen und von Hormonen geschüttelt auf der jährlichen Weihnachtsfeier im Büro ihrer Agentin. Den ganzen Tag hatte sie sich wie Scrooge gefühlt, aber bei dieser kleinen Feier bekam sie eigentlich immer gute Laune. Danach zogen ein paar von ihnen weiter in eine Bar. Sie versammelten sich an einem Tisch und tranken Whiskey. Ein ehemaliger Kollege von der Times erzählte gerade, dass die etwa fünfzigjährige Krimiautorin, die gerade auf einen jungen Hipster eingeredet habe, weil dieser auf dem Fahrrad keinen Helm trug, jetzt vor der Bar stand und rauchte.
»Jeder hat seine Laster«, sagte der Hipster.
Kurz danach setzte sich eine Praktikantin aus der Agentur zu Elisabeth und erzählte ihr von ihrer Liebe zu Büchern. Im nächsten Atemzug teilte sie ihr mit, dass sie Französische Bulldoggen rettete. Diese Rasse sei dermaßen krankheitsanfällig, dass eine Fortpflanzung nur über künstliche Befruchtung stattfinden könne.
»Wenn du nicht von selbst schwanger wirst, sagt dir die Natur, dass du dich nicht fortpflanzen solltest«, meinte das Mädchen und trank ihr Bier.
Es tat so weh.
Sie redet nicht von dir, machte Elisabeth sich klar und rang sich ein Lächeln ab.
Ihre Freundinnen hatten die Pille abgesetzt und maßen regelmäßig ihre Basaltemperatur. Sie wollten schwanger werden. Und trotzdem brachen viele von ihnen in Tränen aus, als ihr Test positiv war. Es ging ihnen auf einmal zu schnell. Sie waren noch nicht bereit. Noch eine Sache, die ihr die IVF raubte — das Recht, ambivalente Gefühle zu haben. Wieso sollte man sich dieser Tortur unterziehen, wenn man nicht sicher war? Aber sie war nicht sicher. Und fragte sich, wie vielen es hier im neongrell beleuchteten Wartezimmer wohl genauso ging.
Andrew nahm die Sache wie alles andere auch. Ganz gelassen. Zumindest hatte es den Anschein. Bei den Injektionen und den traurigen frühmorgendlichen Blutuntersuchungen lachten sie, obwohl sie gelesen hatte, dass sich Paare nach erfolgloser IVF fast immer scheiden ließen. Zuerst empfand Elisabeth fast ein wenig Selbstzufriedenheit, weil sie so gut mit der Sache klarkamen. Aber dann folgten die Verluste. Die ihn offenbar nicht so hart trafen wie sie, ein Umstand, der sie zornig machte. Je mehr Abgänge sie erlebte, je mehr Hormone man in sie hineinpumpte, desto besser konnte sie nachvollziehen, dass Beziehungen daran zerbrachen.
Ein paarmal hätte sie fast aufgegeben, aber IVF hatte dasselbe Suchtpotenzial wie Glücksspiele. Nächstes Mal musste es doch klappen!
Auch in einem weiteren Aspekt ähnelte IVF der Glücksspielsucht. Sie hatten doppelt so viel dafür ausgegeben, als sie eigentlich abgemacht hatten. Sie hatten sich eine Grenze gesetzt, diese jedoch bald überschritten, und danach die zweite und sogar die dritte. Elisabeth kannte Leute, die für ihre IVF-Behandlung einen Kredit aufgenommen hatten. In der Klinik lagen Broschüren für eine eigene IVF-Kreditkarte aus.
Nach einem Jahr hatte sie das Gefühl, zwischen dem Empfängnisprozess und ihrem Kinderwunsch bestehe keinerlei Verbindung mehr, und sie war sich nicht mehr sicher, ob sie überhaupt Mutter werden wollte oder es ihr nur noch darum ging, einen Sieg zu erringen. Doch eines Nachmittags auf dem Weg nach Hause saß sie in der nicht besonders überfüllten Linie F einem besonders süßen Kerlchen gegenüber. Er trug eine Bärchenmütze.
»Wie alt?«, fragte sie.
»Sechs Monate«, antwortete die Mutter.
Beide grinsten. Alle grinsten, die Frau zwei Plätze weiter, sogar der junge Mann, der hinter seiner Zeitung hervorlugte. Sie hatten sich Hals über Kopf in dieses kleine Wesen verliebt und dieses Gefühl war so stark, dass sie deswegen sogar Sympathie füreinander empfanden.
Obwohl sie alle wussten, wie schwierig das Menschsein war, schienen sie im tiefsten Inneren auch das Besondere, Wunderbare daran zu erkennen. Wieso sonst erfüllte sie die Existenz eines neuen Erdenbürgers mit solcher Freude?
Erst als Elisabeth im vierten Monat war, begann sie ihre Schwangerschaft zu akzeptieren. Vorher hatte sie immer gesagt: Falls ich schwanger bin, und sowohl Andrew als auch Nomi hatten sie korrigiert: Du bist schwanger.
Auch Nomi war damals erneut schwanger, sie stand jedoch schon kurz vor der Entbindung.
Nun durfte sich Elisabeth endlich in den positiven Foren tummeln, wo sich werdende Mütter über Babynamen austauschten. Sie posteten ganze Listen, diese Frauen, die Wildfremde um ihre Meinung baten. Einmal machte Elisabeth einen Screenshot und schickte ihn an Andrew. Der Forumsbeitrag lautete: Hilfe!!! Kann mich nicht entscheiden! Max oder Lucas oder Sebastian oder Harry oder Thor?
»Wie heißen die Jungs in Alex’ Klasse?«, fragte sie Nomi.
Nomi zählte sie an den Fingern ab. »Jax, Zev, Cruz, Dune, Bo, Blue.«
Elisabeth verzog das Gesicht. »Das sind keine Namen, das sind Laute.«
Als sie im achten Monat war, lud Nomi sie zur Gruppe BK Mamas ein, ein Initiationsritus für Mütter in Brooklyn. Nomi meinte, die Gruppe wäre super für günstige Secondhand-Babykleidung, das Meiste sei kaum oder gar nicht benutzt. Aber das Beste daran sei der Austausch, die Dramen, die irren Auswüchse.
»Wozu die ganze Aufregung?«, fragte Elisabeth.
»Wirst schon sehen«, antwortete Nomi.
Gil kam an einem perfekten Tag auf die Welt, der Himmel war strahlend blau.
Elisabeth reagierte mit schöner Regelmäßigkeit völlig unangemessen auf wichtige Lebensereignisse, daher war sie dankbar dafür, dass sie dieses Mal ausnahmsweise vor Glück platzte. Nicht nur war ihr Wunsch endlich in Erfüllung gegangen, es war auch so viel besser, als sie es sich je erträumt hatte.
Die Liebe überraschte sie. Jedes Mal, wenn sie ihr Kind betrachtete, durchzuckte sie die erschreckende Erkenntnis, dass sie dieses Gefühl um ein Haar nie erlebt hätte.
Andrew klopfte an die Tür.
Elisabeth erhob sich von der Couch im Fernsehzimmer und ließ ihn rein. Er hielt zwei Teller in der Hand, hatte Cheeseburger gemacht, mit karamellisierten Zwiebeln, Avocado und Süßkartoffelpommes, ihr Leibgericht.
Sie setzten sich.
Er stellte die Teller auf den Tisch und schnappte sich die Fernbedienung.
»Das duftet köstlich«, sagte Elisabeth.
»Es tut mir leid«, sagte er. »Ich hatte einen beschissenen Tag auf der Arbeit. Manchmal vergesse ich, wie es für dich sein muss, den ganzen Tag allein mit dem Baby.«
»Ist schon gut. Entschuldigung, dass wir den Wein ausgetrunken haben.«
»Was schaust du da?«
Die vorherige Sendung war gerade vorbei, jetzt lief eine, die sie nicht ausstehen konnte. Statt um die Suche nach günstigen Strandhäusern ging es um ein Thema, das sie so richtig auf die Palme brachte.
Tiny House Deluxe.
»Du kannst umschalten«, sagte sie.
»Warum? Ich weiß doch, dass dich diese Sendung insgeheim total fasziniert. Steh einfach dazu!«
Dieses rund fünfzehn Quadratmeter große Schmuckstück am Rande von Indianapolis für nur fünfundachtzigtausend Dollar ist ein echtes Schnäppchen …, sagte ein Sprecher aus dem Off.
»Würde man das nicht auch für ein normales Haus am Stadtrand von Indianapolis bezahlen?«, fragte sie.
Bob und Alice haben diese antike Truhe bei einer Haushaltsauflösung ergattert. Bei ihnen erfüllt sie gleich zwei Funktionen: als elegante Toilette für ihre vier Katzen und als Sitzmöglichkeit für Gäste.
»Bitte«, flehte sie. »Mach, dass es aufhört!«
Sie streckte sich nach der Fernbedienung, und Andrew zog sie an sich, um sie zu küssen. Elisabeth fiel ihm in die Arme.
Sie lagen eng aneinander gekuschelt auf dem Sofa, während Andrew sich durchs Programm zappte.
»Ich hab dich sehr lieb«, sagte Andrew.
»Ich dich auch«, sagte Elisabeth.
Um zwanzig nach zwei erwachte sie. Kurz danach begann Gil zu schreien.
Sie schreckte hoch, besann sich kurz, ließ sich langsam wieder in die Kissen sinken und zählte im Stillen bis hundert. Bei achtundneunzig rührte sich Andrew langsam.
Sie lauschte seinen Schritten, als er in Richtung Wiege schlappte.
»Was ist denn los, kleiner Mann? Willst du dein Fläschchen?«, fragte er.
Sie hörte, wie er das Flurlicht anknipste, dann Andrews Flüstern, als er Gil nach unten trug.
Elisabeth drehte sich um und kuschelte sich mit einem breiten Grinsen ins Kissen.