Elisabeth war eindeutig sauer, dass Andrew, ohne sie zu fragen, eine Hochzeitseinladung von einem Arbeitskollegen angenommen hatte, den er nicht mal richtig kannte.
Der Bräutigam hatte seine Braut erst drei Monate zuvor kennengelernt, auf einer Website namens GeekLove.
»Und es soll jeder selber was zum Büfett beitragen«, empörte sich Elisabeth. »Bei einer Hochzeit!«
Sam fand, das klang eigentlich ganz nett, behielt das allerdings für sich.
Noch genervter war Elisabeth davon, dass Andrew seine Eltern gebeten hatte, solange Gil zu hüten.
»Du würdest mir einen Riesengefallen tun, wenn du auch hinfahren und ein Auge auf ihn haben könntest«, bat sie Sam. »Ich traue denen nicht so ganz mit ihm. Ich behaupte einfach, ich hätte dich vorher schon gefragt und du bräuchtest das Geld und dass ich dir nicht absagen wollte, aber sie natürlich das letzte Wort bei allem haben.«
»Okay.«
»Aber Sam«, fügte Elisabeth hinzu. »In Wahrheit hast du das letzte Wort.«
So kam es, dass Sam an einem Samstagnachmittag um eins bei Andrews Eltern war. Andrew und Elisabeth setzten sie und Gil auf dem Weg zur Hochzeit dort ab.
»Meine Mutter will sicher alles selber machen«, sagte Andrew im Auto. »Du hast bestimmt kaum was zu tun.«
Elisabeth warf Sam einen Blick im Rückspiegel zu und schüttelte den Kopf.
Nachdem Andrew und Elisabeth weg waren, saß Sam eine Stunde mit den Großeltern im Wohnzimmer und sah zu, wie Gil auf einer Decke auf dem Fußboden herumrollte. Ein großer schwarzer Hund mit weißen Flecken unter den Augen beschnüffelte den Kleinen pausenlos und leckte ihm übers Gesicht. Als Sam mit einem Laut andeutete, dass ihr das nicht geheuer war, sagte Andrews Mutter Faye: »Keine Angst, der tut nichts.«
Elisabeth würde das sicher nicht gefallen, aber Sam konnte ja schlecht mit der Großmutter deswegen streiten.
Das ganze Haus war für Thanksgiving geschmückt. An der Haustür hingen getrocknete Stängel gelber und roter Mais, »Hershey’s Kisses«-Schokodrops ergossen sich aus einem Weidenfüllhorn über das Spitzendeckchen auf dem Couchtisch. Das exakte Gegenteil von Elisabeths Deko-Stil. Ihr Haus passte sich nicht den Jahreszeiten an. Nie im Leben würde sie Weihnachtsschmuck als Ohrringe tragen oder einen Pulli, auf dem ein dicker Kürbis prangte.
Faye schon. Sie war Grundschullehrerin und brach bei jedem Glucksen von Gil in helle Verzückung aus. Anfangs schien es Sam, als hätte Elisabeth ihre Schwiegermutter unterschätzt. Doch als es Zeit für ein Fläschchen und eine frische Windel war, sagte Faye: »Gut, wir lassen Sie dann mal machen, ich habe noch zu tun.«
Sie hatten den Laufstall im Gästezimmer aufgestellt. Dorthin ging Sam mit dem Kleinen und machte hinter sich die Tür zu.
Wenig später hörte sie Faye darüber klagen, dass sie da war.
»Wir haben ihren Mann großgezogen, aber ihren Sohn vertraut sie uns nicht mal ein paar Stunden an. Wie geht das denn bitte zusammen?«, zischte sie.
»Pst, leise«, sagte Andrews Vater George.
Sam wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte. Hätte Faye Anstalten gemacht, sich um Gil zu kümmern, hätte sie ihr nicht im Weg gestanden. So aber wechselte Sam ihm nun die Windel, gab ihm sein Fläschchen, sang ihm fünf Minuten etwas vor, und er schlief ein. Vermutlich war er erschöpft von all der Aufmerksamkeit und der ungewohnten Umgebung. Sam legte ihn in den Laufstall und ging zur Tür, besann sich dann aber eines Besseren. Was sollte sie da draußen schon tun? Also setzte sie sich auf das Bett, in dem vermutlich nie jemand schlief. Unter ihrem Gewicht sackte es ein und quietschte.
Sam scrollte auf ihrem Handy herum, aber das wurde ihr schnell langweilig. Ihr Vater und ihr Bruder hatten vierzehn Nachrichten über die New England Patriots ausgetauscht. In der Familiengruppe, obwohl sich da sonst niemand für Football interessierte.
Sie hatte den Roman dabei, den Clive ihr geschenkt hatte: Angel. Clive fragte andauernd, ob sie schon damit angefangen hatte. Hatte sie nicht. Einmal hatte Elisabeth das Buch aus ihrer Tasche ragen sehen und verkündet, wie sehr sie es mochte. Sams Antwort war gelogen, jedes Wort von Clive geklaut: »Ich auch! Eins meiner Lieblingsbücher. Das ist so ungerecht, dass Elizabeth Taylor wegen ihres Namens nie die Anerkennung kriegte, die sie verdient.«
»Genau!«, stimmte Elisabeth zu. »Das fand ich auch immer!«
Sam hatte ein paar Unitexte dabei, aber die waren in ihrer Büchertasche, die sie bei ihrer Jacke in der Diele gelassen hatte. Sie war sowieso nicht in Stimmung. Vor zwei Tagen war Shannon in ihr Zimmer gestürmt, um ihr den Brief zu zeigen, in dem stand, dass man sie für Phi Beta Kappa ausgewählt hatte. Shannon war sicher gewesen, dass auch Sam einen bekommen hatte. Die aber versuchte nur, ihre Enttäuschung zu verbergen. Sie erkundigte sich bei ihrem Studienberater, wieso man sie nicht aufgenommen hatte. Ihr Notenschnitt war genauso gut wie der von Shannon, und sie war sicher, alle nötigen Kurse besucht zu haben. Der Berater meinte, es läge vermutlich an irgendwelchen anderen Voraussetzungen, und versprach, der Sache nachzugehen.
Immer dieser Druck, die Beste zu sein, alles richtig zu machen. Sam bewunderte Elisabeth dafür, wie entspannt sie mit solchen Dingen umging. Daran wollte Sam sich ein Vorbild nehmen. Wenn Elisabeth erzählte, wie sie früher gekellnert hatte, um sich das Schreiben zu finanzieren, klang das immer nach einem großen Spaß. Alles, was Sam belastete — Schulden, schlechte Jobaussichten —, hatte Elisabeth längst hinter sich gelassen, und sie war sicher, Sam könnte das auch tun.
Wenn der Druck zu groß wurde, suchte Sam Zuflucht in Clives Plänen für sie beide. Sie stellte sich das Landhaus vor, von dem er immer sprach. Malte sich aus, wie sie selbst Brot backte. Außer Clive hätte sie das nie jemandem anvertraut.
Sam sah sich im Zimmer um. Hinter der Tür hingen ein paar dunkle Anzüge, noch in der Plastikhülle der Reinigung. In den Ecken blätterte die Blümchentapete ab.
Einer ihrer Dozenten hatte mal gesagt, er mache sich Sorgen um die Zukunft der Kunst, weil diese Generation nicht mehr richtig hinsah, ihre Umgebung — Licht, Raum und Formen — nicht beachtete. Sam war seitdem fest entschlossen, diese Behauptung zu widerlegen.
Bei ihrer Ankunft hier war sie angenehm überrascht gewesen, dass Andrew in einem Haus wie diesem aufgewachsen war. Das Elternhaus konnte mehr über einen Menschen verraten als tagelange Gespräche.
Auch Sam war in so einem Haus aufgewachsen: völlig in Ordnung, aber nicht aufwändig eingerichtet. Es war nicht besonders hell, der beigefarbene Teppichboden war alt und fleckig, die Möbel passten nicht zusammen. Im Wohnzimmer standen ein Fernsehsessel, ein dick gepolstertes Sofa im Paisleymuster und der größte Fernseher, den Sam jemals gesehen hatte.
Das Gästezimmer war zugleich Arbeitszimmer. Ein schwerer, viel zu großer Holzschreibtisch stand unter dem Fenster, davor ein überzähliger Küchenstuhl. Auf dem Tisch stapelten sich ein paar Dutzend prall gefüllte Ordner, die Wand daneben war vollgeklebt mit Post-its.
Sam verspürte ein vertrautes Kribbeln. Das hatte sie immer, kurz bevor sie ihre Nase irgendwo reinsteckte. Der Schreibtisch zog sie magisch an, und sie spitzte die Ohren, ob jemand draußen vor der Tür war.
Eigentlich wollte sie sich das ja abgewöhnen, auch wenn sie noch manchmal nachschaute, was Isabella an ihrem Laptop gemacht hatte, sobald die in der Dusche war. Isabella benutzte Google wie eine Kristallkugel. Neulich, kurz nach dem Gespräch mit Elisabeth, hatte sie gegoogelt: Werde ich bereuen, meine Eizellen verkauft zu haben?
Was immer sie gefunden hatte, war wohl überzeugend gewesen, denn als sie aus der Dusche kam, wollte sie mit Sam spazieren gehen. Sie schenkte ihnen beiden einen Tasse Tequila ein, das einzige alkoholische Getränk, das sie im Zimmer hatte, dann packte sie ihre Spritzen und Hormone in eine Tüte und schleuderte sie im Vorbeigehen in einen Teich, ohne auch nur langsamer zu werden.
Die Fruchtbarkeitsklinik schickte ihr eine Rechnung über zweitausend Dollar mit dem Vermerk, Isabella müsse wegen Vertragsbruchs die entstandenen Kosten tragen. Isabella rief ihren Vater an. »Daddy, ich brauch zweitausend Dollar. Nein, du musst nicht wissen, wofür.«
Kinder hüten war immer eine prima Gelegenheit zum Schnüffeln gewesen. Wenn eine neue Nanny ins Haus kam, räumten die Leute immer erst auf, aber wenn sie sich an sie gewöhnt hatten, ließen sie alles offen rumliegen. Tabletten, Rechnungen, wütende Briefe, Reizwäsche.
Sam hatte sich geschworen, bei Elisabeth nicht zu spionieren. Zweimal war sie in ihr Schlafzimmer gegangen, hatte aber sofort kehrtgemacht. Allerdings hatte sie sich nicht verkneifen können, in die braune Papiertüte zu spicken, die sie unter dem Waschbecken im Bad gefunden hatte, als sie eine neue Klorolle aus dem Schrank darunter holen wollte. Die Tüte enthielt zehn daumendicke Maxi-Binden, eine Dose antiseptisches Eisspray und vier übergroße Einmal-Unterhosen — alles Dinge, die Frauen nach einer Geburt brauchten. Es schien unglaublich, dass eine elegante Frau wie Elisabeth so eine Erniedrigung erdulden musste. Doch wie der Tod machte wohl auch eine Entbindung keine Standesunterschiede.
Sam kannte diese Dinge aus London. Da waren sie nicht in einer Papiertüte versteckt gewesen, sondern hatten offen auf dem Esstisch gelegen. Hier war sie erst angekommen, als alles schon seit Monaten erledigt gewesen war. Dort hatte sie mittendrin gesteckt.
Am Tag, an dem Allison ihr Baby zur Welt brachte, saßen die achtzehn Monate alten Zwillinge morgens in ihren Schlafanzügen auf der Treppe vor dem Haus, als Sam zur Arbeit kam. Sie nahm sie mit hinein. Allisons Mann Joe stand in der Küche und glotzte ratlos eine Schachtel Weetabix in seiner Hand an, als könnte sie jeden Moment explodieren.
Gut, dieser spezielle Mann war einfach ein Trottel. Aber in solchen Situationen waren Männer nie zu etwas zu gebrauchen, so viel hatte Sam verstanden. Sobald Allison aus der Klinik zurück war, schlugen die Doula und die Nachtschwester bei ihr auf. Sam hatte Allison nie in weniger als Chinos und Rollkragen gesehen. Jetzt war diese Doula kaum dreißig Sekunden da, und schon knöpfte Allison mitten in der Küche ihr Hemd auf und tauchte ihre Brustwarzen in Shotgläser mit warmem Salzwasser, die die andere ihr hinhielt.
Fast hätte Sam etwas gesagt, als die Doula Allison ins Bad nachlief. Sie wollte sie warnen, ihr zu verstehen geben, dass Allison sie augenblicklich feuern würde, wenn sie das täte. Aber es ging zu schnell. Die Tür ging auf und wieder zu, und Sam sah nur kurz Allisons nackte Knie.
Sie saß auf der Toilette.
Ach du Schande.
Sam lauschte an der Tür.
»Das ist eine gekühlte Maxi-Binde, eingelegt in Zaubernussextrakt«, sagte die Doula. »Tun Sie die in ihren Schlüpfer, ist gut gegen die Schmerzen.«
»Sie sind wirklich Gold wert«, schnurrte Allison. »Ich habe grade stark geblutet. Schauen Sie mal, ist das normal? Ist mir da eine Naht geplatzt?«
Die Doula gab ihr Wassermelone und Petersilie zu essen, gegen die geschwollenen Knöchel, und Allison schluckte alles wie ein artiges Kind.
Auch Tipps für den Umgang mit dem Baby hatte die Doula parat, und die versuchte Sam sich zu merken. Wenn man einem Neugeborenen den kleinen Finger in den Mund steckt, hört es auf zu schreien. Wenn man es eng genug puckt, schläft es dreimal so lang wie sonst.
Jetzt, in George und Fayes Gästezimmer, schlug Sam einen grünen Ordner auf. Er enthielt ein Sammelsurium an Zeitungsmeldungen, teils ausgeschnitten und teils ausgedruckt. Sie überflog die Schlagzeilen.
SELBSTMORD EINES FAHRERS ZEIGT SCHATTENSEITE DER GIG-ECONOMY
SÄGEN AM GESUNDHEITSSYSTEM
IMMER MEHR KINDER AUS DER MITTELKLASSE AN COMMUNITY COLLEGES
DAS ENDE DES AMERIKANISCHEN TRAUMS
In allen Artikeln fanden sich Unterstreichungen, Hervorhebungen und handschriftliche Anmerkungen.
Im Ordner darunter lag ein gelber Schreibblock, jede Zeile vollgeschrieben. Oben auf der ersten Seite stand MEINE GESCHICHTE (für Lizzy).
Sam fing an zu lesen:
ANMERKUNGEN ZUM HOHLEN BAUM: Obwohl es mit Amerika scheinbar immer weiter aufwärts geht, ist all die Unterstützung der vergangenen Jahrzehnte futsch.
Bruchstückhaft kennst du das ja alles schon. Aber ich wollte es doch mal aufschreiben, falls du doch ein Buch draus machen willst …
Die meisten Männer in meiner Position wären längst nicht mehr selbst gefahren. Ich schon. Als die Firma noch lief, hielt ich jeden Donnerstag ein Gespräch mit der Belegschaft ab, zu dem ich Kaffee und Donuts mitbrachte. Außer dieser einen Stunde saß ich immer am Steuer. Täglich mindestens zwölf Stunden. Das fand ich großartig.
Aber der Reihe nach: Nach der Highschool habe ich erst mal in der Papierfabrik gearbeitet, so wie alle, die ich kannte. Als die Fabrik dichtgemacht hat, war ich achtundzwanzig, vier Jahre verheiratet und hatte ein zwei Jahre altes Kind. Ich fing an Taxi zu fahren und hatte noch diverse andere Jobs: im Lager bei Elmers Eisenwaren, Saisonarbeit bei der Post vor Weihnachten, alles Mögliche. Ich habe Umzüge gemacht, war Sommer-Hausmeister an der Middle School und manchmal Elektriker (ohne richtige Ausbildung, aber danach hat zum Glück nie einer gefragt.)
Das Taxi teilte ich mir mit drei anderen. Es war weiß und stank nach Zigaretten. Dann, ich war inzwischen einunddreißig, habe ich zwei Frauen am Flughafen abgeholt. Ganz in Schwarz und typisch New York (nicht böse gemeint). Sie waren spindeldürr und ließen ihre Sonnenbrillen auch im Taxi auf, obwohl es regnete. Eine blaffte eine Adresse, ohne auch nur Hallo zu sagen, dann haben sie beide getan, als wär ich gar nicht da, als würde das Auto von alleine fahren.
»Die Taxis hier sind eine Katastrophe«, sagte die eine. »Haben die in diesem Nest noch nie von Chauffeurdiensten gehört? Limousinen? Jemand, der ein Schild mit deinem Namen hochhält und einem die Koffer trägt? Eine ordentliche Klimaanlage? Kann doch nicht so schwer sein.«
Das Trinkgeld war lausig, aber dafür verdanke ich den beiden die Idee, die unsere Familie die nächsten fünfunddreißig Jahre über Wasser halten sollte. Ich habe gespart, einen gebrauchten Lincoln gekauft. Ich ließ Visitenkarten drucken, mit meiner Privatnummer drauf, und bat die besseren Hotels und Restaurants im Umkreis von fünfundsiebzig Kilometern, einen Stapel am Empfang hinterlegen zu dürfen.
Faye machte in der Küche die Telefonzentrale. »Riley’s Car Service. Wir bringen Sie ans Ziel.« Du kannst dir vorstellen, wie toll sie das fand.
Nach ein paar Jahren machte sich das Ganze bezahlt. Ich hatte Stammkunden, Firmen, die exklusiv mit mir zusammenarbeiteten. Ich habe den kleinen Laden in der Stadt gemietet, mehr Autos gekauft, Leute angestellt. Von da an hatte ich immer mindestens vier Fahrer, einen Teilzeitbuchhalter und eine Telefonistin.
Wie es ausging, weißt du ja. Vor zweieinhalb Jahren fahre ich zum Flughafen und halte vor Terminal B, und da sehe ich Rocky, einen meiner Fahrer, der seinen freien Tag hat. In Jeans steht er vor dem offenen Kofferraum seines alten Toyotas. Ich hab gehupt und gewinkt, bin näher rangefahren. Machte einen Witz darüber, dass er auch in seiner Freizeit fährt.
Dann sah ich das Paar auf dem Rücksitz. Die beiden stiegen aus, der Mann nahm zwei Koffer aus dem Kofferraum und drückte Rocky Geld in die Hand.
Freunde von ihm vielleicht? Oder Verwandte? Aber warum dann das Geld?
Wahrscheinlich für Benzin, fiel mir dann ein.
Ich dachte nicht weiter drüber nach, bis ich Rocky ein paar Tage später zufällig an der Waschanlage traf.
Er sagte: »Also, Boss, ich weiß, dass Sie wissen, was ich mache. Aber den Lincoln hab ich dafür nie benutzt!«
Den Lincoln? Wofür? Das mit dem Flughafen hatte ich längst vergessen.
Mir schossen Bilder von Drogendeals und Bankraub durch den Kopf. Ich fragte, was er meinte. Er verzog das Gesicht und sagte. »An meinen freien Tagen fahre ich für Uber.«
»Uber?«, sagte ich. »Was soll das denn sein?«
Rocky klärte mich auf, und ich fand das in Ordnung. Es störte mich nicht, wenn meine Leute nebenher was anderes machten. Und dieses Uber, dieser Internet-Quatsch, wo jeder fahren konnte, ohne Lizenz, ohne Erfahrung, einfach nur in Jeans und mit dem eigenen Auto? Für unsere Kundschaft konnte das kaum etwas sein. Ich sagte Rocky, Uber sei mir schnurzegal.
Er war überrascht, bedankte sich. Er meinte, er würde da gut verdienen — zu gut, um es nicht zu machen.
»Wie viel denn?«
Es waren drei Dollar mehr, als ich ihm zahlte.
Ein paar Monate später, als ich all meine Fahrer, den Buchhalter und die Telefonistin schon hatte entlassen müssen, zahlte Uber seinen Leuten keinen Scheißdreck mehr (entschuldige den Ausdruck). Aber die Fahrgäste fanden es wahnsinnig praktisch, und was anderes kam für sie nicht mehr infrage.
Wie du weißt, hab ich die Firma auf dem Papier noch eine Weile erhalten. Lächerlich. Ich war der einzige Fahrer, und auch ich war höchstens halb ausgebucht.
Da meinte Faye, ich sollte doch auch für Uber fahren. Wenn du sie nicht besiegen kannst, schließ dich ihnen eben an, so was in der Art.
Zugegeben, ich war wütend auf sie, obwohl ich darüber selbst schon nachgedacht hatte.
Die Zeit verging, das Geld blieb aus, also gab ich nach.
Mein allererster Fahrgast für Uber war Victor Winslow, der Chef einer Versicherung in Albany. Victor wohnt an der Westküste. Fünfzehn Jahre vorher hatte er mich als offiziellen Chauffeurdienst seiner Firma in unserer Gegend unter Vertrag genommen. Ich hab ihm einen guten Preis gemacht und ihn immer persönlich gefahren, wenn er in der Stadt war.
»George«, sagte er, als er mich sah. »Das ist aber schön.«
»Ja«, sagte ich. Und dann kein Wort mehr.
Auch bei Uber mache ich immer noch alles so wie früher — Anzug, Minzbonbons, das volle Programm. Als ich im Rückspiegel sah, wie Victor sich zwei Flaschen von dem guten Mineralwasser reingierte, musste ich mich richtig am Lenkrad festklammern, um ihm keine reinzuhauen.
Nach jeder Fahrt für Uber muss ich den Fahrgast bewerten, mit ein bis fünf Sternen und einem kurzen Kommentar, wenn ich möchte. Der Fahrgast macht das auch. Wird ein Fahrgast schlecht bewertet, findet er schwerer einen Fahrer.
Für den guten alten Victor schrieb ich: Ein Stern — NICHT FAHREN. Fahrgast war betrunken und aggressiv.
Sam musste laut lachen.
Das Baby regte sich kurz, war aber gleich wieder ruhig.
Als sie sich wieder dem Block zuwandte, klopfte es leise an der Tür.
Sam klappte den Ordner zu und setzte sich schnell wieder auf die Bettkante. Die Tür öffnete sich einen Spalt breit und George flüsterte: »Möchten Sie vielleicht was essen?«
Sie sah ihn an.
»Gern«, sagte sie. »Ich mach nur schnell das Babyfon an, dann komme ich.«
»Ich warte in der Küche. Sandwiches mit Pute und Emmentaler?«
»Klingt super.«
Als Sam in die Küche kam, stand George am Tresen und strich Senf und Mayonnaise auf weiße Brotscheiben. Im Hintergrund lief das Radio mit den Nachrichten.
»Gil hat Sie wirklich gern«, sagte George.
»Er ist so ein liebes Kind«, erwiderte sie.
»Stimmt. Aber Sie können auch gut mit ihm. Sieht man. Sie kommen bestimmt aus einer großen Familie.«
»Ich hab drei jüngere Geschwister«, bestätigte sie.
»Bei Faye waren sie auch zu viert«, sagte er.
»Wo ist Faye eigentlich?«
»Bei der Maklerin, austüfteln, wie sich diese Bude hier preiswert aufpolieren lässt. Haben Andrew und Elisabeth erzählt, dass wir verkaufen?«
»Nein«, sagte Sam.
Ob das wohl damit zu tun hatte, dass George seinen Job verloren hatte? Jetzt fiel ihr wieder ein, dass Elisabeth gesagt hatte, George und Faye seien mittellos. Was genau bedeutete das eigentlich?
»Gleich nach dem großen Truthahnfest kommt der alte Schuppen auf den Markt«, fuhr George fort. »Bei mir ist das noch nicht so richtig angekommen, aber Faye ist entschlossen. Allerdings kauft in der Gegend derzeit niemand, also kann das wohl noch dauern.«
Er trug die Sandwiches auf den Tisch.
»Möchten Sie eine Cola oder so?«, fragte er.
»Danke, grade nicht«, sagte sie.
George riss eine große Tüte Chips auf, legte sie zwischen die Teller und setzte sich Sam gegenüber.
Er fragte, woher sie kam, was sie studierte und was ihr Vater beruflich machte.
»Samantha O’Connell«, sagte er. »Stramm irisch-katholisch, nehme ich an?«
Abgesehen von Weihnachten war Sam seit drei Jahren nicht in der Kirche gewesen. Dennoch sagte sie Ja.
»Wir haben Andrew christlich erzogen. Kommunion, Firmung, volles Programm. Sind Sie religiös?«
»Eigentlich nicht.«
»Ja, er auch nicht.«
»Meine Eltern aber. Ich respektiere das sehr, wenn jemand religiös ist.«
Es gab Menschen — viele, vielleicht sogar die meisten —, die gefestigte Persönlichkeiten hatten, die sich immer gleich benahmen, egal ob gegenüber ihrem Bruder oder dem Präsidenten. Sam beneidete diese Menschen. Sie selbst war immer ein Chamäleon gewesen, das sich automatisch anpasste, um anzukommen. Hätte George gesagt, er glaube nicht an Gott, hätte sie all die Gründe aufgezählt, aus denen sie nicht in die Kirche ging.
»Schön«, sagte George. Dann schüttelte er den Kopf. »Entschuldigen Sie das Kreuzverhör. Ich hatte mal einen Chauffeurdienst, da hab ich den ganzen Tag mit meinen Fahrgästen gesprochen. Alles Mögliche hab ich die gefragt. Wenn jemand nicht reden wollte, hab ich das sofort gemerkt und respektiert. Aber die meisten wollten wenigstens ein bisschen plaudern. Und manchmal auch ihr Herz ausschütten.«
»Das wäre was für mich«, sagte Sam, ohne darüber nachzudenken, ob das dämlich oder herablassend klang.
»Ich chauffiere immer noch Leute, aber nicht mehr so wie früher.«
Sie nickte. Er klang wehmütig, fand sie, aber vielleicht bildete sie sich das auch nur ein.
»Wie ist das so an einer Mädchenschule?«, wollte er wissen. »Kann man da überhaupt einen anständigen Mann kennenlernen? Gott, ich kann förmlich hören, wie Faye sagt, ich soll nicht so neugierig sein.«
Isabella hätte ihn sofort korrigiert: Das ist keine Mädchenschule, sondern ein Frauencollege.
»Ich hab einen Freund«, sagte Sam. »In London allerdings.«
»London in England?«
»Genau.«
»Und wie macht ihr das?«
Er war offenbar ehrlich interessiert, was ihn ihr sympathisch machte.
»Es ist nicht leicht«, sagte sie. »Er fehlt mir sehr. Aber wir telefonieren und schreiben Briefe.«
»Briefe!«, rief George aus. »Das ist aber schön!«
»Er kann das viel besser als ich. Meistens skypen wir oder sprechen über Snapchat. Und wir sehen uns öfter, als man meinen könnte. Seine Schwägerin arbeitet bei einer Fluggesellschaft, da kriegen wir Spezialpreise. Anfang Oktober war er zu Besuch, am Valentinstag kommt er auch. Und in den Winterferien fliege ich nach London.«
Sie kam sich irgendwie cool dabei vor, so etwas zu sagen. In den vergangenen Jahren waren immer nur ihre Freundinnen in den Ferien verreist. Sam war höchstens zu ihren Eltern gefahren. Als in ihrem ersten Studienjahr alle braungebrannt aus den Winterferien zurückgekommen waren, hatte sie bloß gestaunt, wie viele ihrer Kommilitoninnen offenbar aus Florida stammten.
An langen Wochenenden traf Isabella manchmal irgendwo ihre Freundinnen aus dem Internat. Mehr als einmal hatte sie Sam anvertraut, dass sie die nicht mal besonders mochte, weil sie fies und oberflächlich sein konnten und nie für sie da gewesen waren, wenn sie sie gebraucht hätte. »Du bist wahrscheinlich meine erste richtige Freundin«, hatte sie gesagt.
Allerdings hatten ihre alten Klassenkameradinnen ein ähnliches Reisebudget wie sie, also fuhr Isabella weiterhin mit ihnen in Hotels, die Sams Eltern sich niemals hätten leisten können, ganz zu schweigen von Sam selbst.
»Mit dem Taxi zwischen Campus und Flughafen hin und her zu fahren, ist nicht billig«, merkte George an. »Haben Sie ein Auto?«
»Nein. Ich hatte mal eins. Bessie. Ein siebzehn Jahre alter Cutlass Supreme, der vorher meiner Großtante Dot gehört hatte.«
»Ein Cutlass, nicht schlecht«, sagte George.
»Mom meinte immer, er fährt sich wie ein alter Panzer. Sie hätten mich das Ding mal seitwärts einparken sehen sollen. Mit der Zeit konnte ich das richtig gut. Aber letztes Jahr hat Bessie offiziell das Zeitliche gesegnet, in der Obhut meines Bruders.«
»O nein.«
»Ich hab geheult«, sagte Sam. »Jedenfalls: Bei Clives letztem Besuch hab ich mir den Kleinbus einer Freundin geliehen.«
»Ich sag Ihnen was. Wenn er das nächste Mal kommt, hol ich ihn mit dem Lincoln ab, gratis natürlich.«
»Ach, das ist doch nicht nötig«, sagte sie.
»Für die beste Freundin meines Enkels? Und ob!«
Sam grinste. »Danke. Das ist echt nett.«
Im Radio sprach eine Frau über die erdrückenden Schulden der Studierenden im ganzen Land. Sie erzählte von Randy, einem Mann über dreißig, der deshalb noch bei seinen Eltern wohnte.
»Ich hoffe, dieser Mist trifft Sie nicht auch«, sagte George.
»Die erdrückenden Schulden schon«, erwiderte Sam. »Aber das mit den Eltern nicht. Einmal ausgezogen, immer ausgezogen, darauf bestehen sie strikt.«
»Klug von ihnen«, sagte George. »Ich weiß nicht, wie irgendwer das überhaupt noch alles schafft. Die einfachen Leute haben einfach keine Chance mehr.«
Sam dachte an die beschämte Miene ihres Vaters, als er beim Gespräch über ihre Studienkredite gesagt hatte: »Ich wünschte, wir könnten mehr für dich tun.«
»Ich weiß, was Sie meinen«, sagte sie.
»Gut, dass Gil jemanden wie Sie hat«, stellte George fest. »Hat Elisabeth Ihnen mal vom Hohlen Baum erzählt?«
Irgendwie kam Sam das bekannt vor. Sie musste kurz überlegen. Dann fiel es ihr wieder ein: In Georges Schreibblock hatte sie den Begriff gesehen.
»Nein«, sagte sie, »ich glaube nicht.«
Die Sandwiches waren aufgegessen, und George räumte die Teller weg. Er nahm zwei Eis am Stiel aus dem Froster und reichte Sam eines davon.
»Das ist so meine private Theorie über die ganze Misere«, erklärte er.
Er wollte offenbar, dass sie nachhakte.
»Und worum geht’s da?«, fragte sie daher. Sie wickelte das Eis aus und biss hinein. Die dünne Schokohülle knackte befriedigend.
»Ach, ich könnte Ihnen eine Million Beispiele nennen«, sagte George. »Ich sammle alles. Vielleicht haben Sie ja die Ordner im Arbeitszimmer bemerkt.«
Wusste er etwa, was sie da drin getrieben hatte? Wollte er ihr das auf diese Weise zu verstehen geben?
Sam schwieg, beugte sich nur interessiert vor.
George ließ die Beweise rattern:
»Faye hat eine Rechnung für einen Bluttest gekriegt. Sechstausend Dollar. Bloß ein Fehler der Versicherung, aber sie versucht jetzt schon seit Wochen, das zu klären. Nie erreicht sie jemanden, kommt einfach nicht weiter. Und neulich rief ihre Schwester völlig aufgelöst hier an, weil sie eine Hypothek aufnehmen wollte und der Bankmensch meinte, bei Leuten mit niedrigem Einkommen sei das nicht so leicht. Betsy war fuchsteufelswild. ›Seit wann gehöre ich nicht mehr zur Mittelschicht? Und warum hat mir keiner Bescheid gesagt?‹ Mein Bruder war Gefängnisaufseher. Als die Gefängnisse privatisiert wurden, ist er rausgeflogen. Dann wurde er wieder eingestellt, mit weniger Gehalt und ohne Rentenansprüche.«
Sam musste an ihre Freundinnen in der Mensaküche denken. Fast hätte sie davon erzählt, aber George war noch nicht fertig.
Er erzählte, dass er sich oft mit den jungen Mexikanern in der Waschanlage unterhielt. Eines Tages hatte einer von ihnen gefehlt, und George hatte sich nach ihm erkundigt. Er sei krank geworden, meinten die anderen, von den Abgasen. Ohne Versicherung oder Lohnfortzahlung. Diese Leute bekamen nur den halben Mindestlohn, was nur legal war, weil man Trinkgelder mit einrechnete, die ihnen nie jemand gab.
Seit ein paar Monaten ging George zu einem Diskussionskreis besorgter Bürger.
»Das hilft«, erklärte er. »Die kapieren, was los ist. Nachdem meine Firma den Bach runterging, fühlte ich mich wie ein Versager. Dann durchschaute ich das Muster. Jetzt weiß ich, dass sich das eigentliche Versagen auf viel höherer Ebene abspielt. Die wollen nur, dass wir das für unser eigenes Problem halten. Dass wir uns wie Nieten vorkommen. Nieten wehren sich nämlich nicht.«
Sam wurde ganz heiß, weil ihr etwas aus ihrer Kindheit wieder einfiel: Brendan, Molly und sie auf dem Rücksitz des Kombis ihrer Mutter, unterwegs, um ihren Vater vom Zug abzuholen. Und ihre Mutter am Steuer, die sagte: »Ihr müsst auf der Rückfahrt gleich besonders brav sein. Dad hat heute einen blauen Brief gekriegt.«
Es war einer dieser Momente gewesen, in denen ein Erwachsener zu sehr mit den eigenen Sorgen kämpft, um sich kindgerecht auszudrücken. Die drei hatten keine Ahnung, was ein blauer Brief war, sahen ihrer Mutter aber an, dass es nichts Gutes bedeutete. Als ihr Vater ins Auto stieg, war er überhaupt nicht so vergnügt wie sonst. Wie versteinert saß er da. Sam machte das Angst. Ihren Geschwistern auch. Molly fing an zu weinen, und Brendan funkelte sie deswegen böse an.
Am nächsten Morgen blieb ihr Vater im Bett. Ihre Mutter sagte, sie dürften keinem erzählen, was los war.
»Hat Dad was angestellt?«, fragte Brendan.
»Natürlich nicht«, sagte ihre Mutter.
Sam war klar, wieso er das gefragt hatte. Es lag einfach so viel Scham in der Luft.
»Ich finde die gut, Ihre Theorie«, sagte sie jetzt zu George. »Und Sie haben also einen richtigen Diskussionskreis zu dem Thema?«
»Na ja, eigentlich geht es da nicht direkt um den Hohlen Baum. Die anderen diskutieren schon seit Jahren. Aber irgendwie läuft es früher oder später immer auf den Hohlen Baum raus.«
»Klingt interessant.«
»Kommen Sie doch mal vorbei. Wir alten Säcke könnten ein bisschen frisches Blut ganz gut gebrauchen.«
»Gern«, sagte Sam. »Das mach ich.«
»Unser nächstes Treffen ist morgen in einer Woche«, sagte George. »Ich hol Sie ab.«
Die Hochzeit sei ein einziges Desaster gewesen, klagte Elisabeth auf der Heimfahrt im Auto. Es hatte weder genug Stühle noch Eiswürfel gegeben, alle Getränke waren lauwarm. Und dem Vater des Bräutigams war bei seiner Rede der Name der Braut erst nicht mehr eingefallen.
»Außerdem hat Andrew es nicht für nötig gehalten, mich vorzuwarnen, dass die Gruftis sind!«
»Erstens heißt das Goths, und zweitens sind sie keine«, erwiderte Andrew. »Die tragen bloß gern Schwarz.«
»Ja, sogar auf ihrer Hochzeit«, schnaubte Elisabeth.
»Gut, die Netzstrumpfhosen und das Ding, das die Braut auf dem Kopf hatte, waren schon schräg«, räumte er ein. »Was sollte das denn darstellen, einen toten Vogel?«
Elisabeth und Andrew lachten.
»Aus der Reihe: ›Fragen, die niemand auf seiner Hochzeit hören will‹.«
»Haha, stimmt«, sagte Andrew.
»Meinst du, wenn die sich in zwei Jahren scheiden lassen, kriegen wir unseren Servierteller zurück?«, fragte Elisabeth.
»Du bist fies«, erwiderte Andrew leicht pikiert.
»War ja nur Spaß.«
Sam sah Gil an und machte große Augen.
»Na ja, wenigstens der Kuchen war lecker«, sagte Elisabeth. »Ich hab zwei Stücke gegessen. Zu Hause gehe ich sofort joggen.«
Sam erzählte ihnen von ihrem Gespräch mit George und seiner Einladung zum Diskussionskreis.
»Du liebe Zeit, der hat sie doch nicht alle«, sagte Elisabeth. »Du musst da natürlich nicht hin. Stimmt’s, Andrew?«
»Ich sage Dad, dass du nicht kommst«, versicherte Andrew. »Tut mir leid, dass er dich da reinziehen wollte.«
»Ich geh aber gern hin«, erwiderte Sam. »Das mit dem Hohlen Baum fand ich ziemlich interessant.«
Elisabeth drehte sich um. »Ernsthaft?«, fragte sie.
»Ja. Findet ihr nicht, dass er recht hat?«
»Klar hat er recht. Das System ist böse, der kleine Mann wird verarscht«, antwortete Elisabeth gelangweilt. »Die älteste Geschichte der Welt.«
Das war nicht ganz das, was George gesagt hatte. Sam fand schon, dass an der Sache mehr dran war.
»Es ist nur … Na ja, er hat plötzlich gemerkt, dass es in der Welt nicht ganz gerecht zugeht, und jetzt erwartet er, dass alle das genauso ernst nehmen wie er. Wer nicht auf die Straße geht oder zu seinem Diskussionskreis kommt, ist sofort mitschuldig«, sagte Elisabeth. »Dabei ist das Ganze viel komplizierter.«
Sie verstummten. Sam dachte an George. Daran, wie gut das mit dem Hohlen Baum auf alles passte, was Gaby von Barney Reardon erzählt hatte.
Gerade, als sie Elisabeth und Andrew davon berichten wollte, fiel ihr siedend heiß ein, welcher Tag heute war: der zweite Samstag im November. Sie hatte völlig die Geburtstagsparty für Gabys Tochter verschwitzt.
Wie hatte sie das nur vergessen können, obwohl Gaby und Maria seit Wochen kaum über irgendetwas anderes gesprochen hatten? Brauchten sie einen Clown, oder waren Clowns zu gruselig, wie Gaby fand? Kuchen kaufen oder selber backen? Ballons in Rosa oder Lila? Am Ende hatten sie sich für beides entschieden.
Maria hatte allen ein Handyfoto von dem rosa Kleidchen gezeigt, das sie Josie für die Party gekauft hatte, und den rosa Partyhut mit der großen Glitter-Zwei darauf.
Sam griff sofort zum Handy, nur um festzustellen, dass die letzten drei Nachrichten im Thread von Gaby stammten und sie nicht darauf geantwortet hatte.
Bist du da?, lautete die erste. Die zweite, mit Gabys Adresse, musste kurz auf die Einladung zur Party gefolgt sein. Die dritte enthielt eine lange Geschichte über einen Typ, mit dem Gaby zweimal ausgegangen war. Sam erinnerte sich dunkel, wie die Nachricht spätabends aufgeploppt war und sie sie beim Skypen mit Clive überflogen hatte. Eigentlich hatte sie gleich am nächsten Tag antworten wollen, aber es war eben immer so viel los in letzter Zeit.
Jetzt schrieb sie: OMG, heute war ja Josies Party! Musste leider arbeiten. Tut mir wirklich leid. Wie wars? Schick mir doch mal ein paar Bilder!
Sam sah, dass Gaby die Nachricht gelesen hatte. Immer wieder blickte sie auf ihr Handy, hoffte auf eine Antwort. Nichts. Sam stellte den Klingelton lauter.
Beim Absetzen vor dem Wohnheim dankten Elisabeth und Andrew ihr überschwänglich.
»Du bist die Beste«, sagte Elisabeth. »Was würden wir nur ohne dich machen?«
Nein, bin ich nicht, hätte Sam am liebsten erwidert, ich bin ein Arschloch. Stattdessen lächelte sie bloß und sagte: »Jederzeit.«
Eigentlich hatte sie vorgehabt, sich im Bett den Judy-Garland-Marathon auf dem Filmklassikersender anzusehen. Als sie Isabella das vor ihrem Aufbruch am Morgen gesagt hatte, hatte die geantwortet: »Du kleine Draufgängerin! Ich bin leider raus, Lexi und ich gehen doch auf das Konzert an der State.«
Sie hatten auch Sam gefragt, aber die Tickets kosteten siebzig Dollar.
»Ich lad dich ein«, hatte Isabella gesagt. »Sieh’s als vorgezogenes Weihnachtsgeschenk.«
Nur zu gern würde Sam solche Angebote annehmen. Stattdessen hatte sie sich mit der Aussicht getröstet, das Zimmer einen Abend lang für sich zu haben.
Doch als sie jetzt die Tür aufmachte, hockten auf ihrem Bett drei Typen mit gegelten Haaren, und Isabella saß an ihrem Schreibtisch auf dem Schoß eines vierten, den sie erst seit einer Woche kannte. Der Stripper-Hiwi.
So hatten sie ihn immer genannt. Seinen echten Namen wusste Sam nicht mehr. Er war Türsteher in einer Bar in der Nähe des State College. Letzten Donnerstag war er auf einer Geburtstagsparty im Gemeinschaftsraum des Wohnheims aufgetaucht, zusammen mit einem in Tarnfarben bemalten Stripper. Zu zwanzigst hatten sie im Kreis gesessen, Wodka getrunken und gekreischt, wenn der Stripper ihnen zu nahe kam. Er stand in der Mitte, ließ die Hüften zu »Born in the U. S. A.« kreisen und riss sich Kleidungsstücke vom Leib, bis nur noch ein G-String in den Farben der amerikanischen Flagge übrig war. Trotz dieses Spektakels hatten viele nur Augen für den heißen Typen, der mit verschränkten Armen in Jeans und grauem T-Shirt in der Tür stand.
Isabella lud ihn hinterher auf einen Drink in ihr Zimmer ein. Er meinte, bei der Arbeit würde er nie trinken, aber einen Tee nähme er gern. Sie kochte ihm einen, und während der folgenden zwei Stunden nippte er Kamillentee und erzählte ihnen seine Lebensgeschichte.
Sein Freund, der Stripper, sagte er, sei kürzlich vom wütenden Freund einer Kundin verprügelt worden und wollte jetzt nicht mehr allein auftreten. Mit dem Strippen aufzuhören, kam für ihn nicht infrage. Er brauchte das Geld für sein Online-Studium in Strafrecht.
»Sind diese Online-Unis nicht bloß Abzocke?«, fragte Isabella.
Der Stripper-Hiwi zuckte auf eine Art die Achseln, bei der Sam sich fragte, ob er überhaupt verstand, was Isabella meinte.
Isabella und sie tranken immer mehr Wodka. Als Isabella anfing, dem Typen am Ohr herumzulecken, schnappte Sam sich ein Kopfkissen und verzog sich nach nebenan zu Lexi und Ramona.
Den Stripper-Hiwi wiederzusehen, hatte sie nicht erwartet. Doch da saß er nun und hatte, wie Sam erst jetzt bemerkte, je eine riesige Bierflasche an die Hände getapt. Ja, sie alle hatten Flaschen an den Händen.
»Sam«, rief Isabella. »Hast du schon mal Edward mit den Literhänden gespielt? Komm, mach mit!«
Sam stand reglos in der Tür.
»Könntet ihr bitte von meinem Bett aufstehen?«, sagte sie.
»Die ist ja ’ne richtige Spaßbombe«, höhnte einer der Typen.
»Schnauze«, sagte Isabella. »Sie wohnt hier.«
Sam vermisste Clive. Wie gern wäre sie jetzt bei ihm in London gewesen, hätte sich auf dem Sofa an ihn gekuschelt und mit ihm ferngesehen.
»Ich dachte, ihr geht auf das Konzert«, sagte sie.
»Lexi ist zu verkatert«, erklärte Isabella. »Und ich hatte keinen Bock auf Trubel. Ah, verdammt. Dein Filmmarathon. Total vergessen. Kannst du unten schauen, im Gemeinschaftsraum? Wir haben grade Pizza bestellt.«
Sam trat rückwärts aus dem Zimmer und knallte die Tür zu. Dann blieb sie mit klopfendem Herzen stehen. Im Zimmer flüsterte jemand irgendwas und alle lachten. Einen Augenblick lang war sie voller Hass auf Isabella.
Aber es war ja nicht ihre Schuld. Diese Wohnsituation war einfach unnatürlich. Sam hielt das nicht mehr aus. Sie dachte an George, an seine Ordner, seinen Diskussionskreis. Endlich würde sie mal wieder Leute außerhalb ihrer Blase kennenlernen.
Da kam eine Nachricht von Gaby.
Kein Ding.
Sam starrte auf ihr Handy, hoffte, Gaby würde noch mehr schreiben. Doch das tat sie nicht.
Sam fühlte sich elend. Sie tippte eine weitschweifige Entschuldigung und löschte sie wieder. Stattdessen antwortete sie einfach nur mit einem Herz.
Sie ging nach draußen und entlang der Main Street bis zur Ecke Laurel. Zwanzig Minuten stand sie dort, bis Elisabeths Verandalicht anging und ihre zierliche Gestalt auf der Treppe auftauchte und losjoggte.
Bis zur Straßenecke brauchte Elisabeth etwa fünfundvierzig Sekunden. Erst lief sie an Sam vorbei, doch dann machte sie kehrt.
»Hi!«, rief sie. »Was machst du denn hier?«
»Hi«, antwortete Sam so nonchalant sie konnte. »Ich gehe nur spazieren.«
Dann brach sie in Tränen aus.
»Sam!«, sagte Elisabeth und nahm sie in den Arm. »Was hast du denn?«
»Ach nichts. Es ist albern.«
»Warte kurz«, erwiderte Elisabeth. »Ich bin gleich zurück, dann gehen wir was essen.«
»Nein, nein«, wehrte Sam ab. »Du wolltest joggen. Ich will dich nicht stören.«
Doch Elisabeths Angebot war genau, was sie sich erhofft hatte.
»Wir könnten mal das Casa Roma ausprobieren, diesen Italiener«, schlug Elisabeth vor. »Soll ganz gut sein, warst du da schon mal?«
»Noch nie.«
In ein Restaurant wie das Casa Roma ging man höchstens mit den Eltern, wenn die zu Besuch waren.
»Das ist echt nett von dir«, sagte Sam. »Ist das auch wirklich okay?«
»Klar. Andrew kann gut ein bisschen Zeit allein mit Gil vertragen, und ich hab nichts dagegen, ausnahmsweise mal auszugehen.«
Eine Stunde später hatten sie eine Flasche Wein geleert und bestellten noch ein Glas zum Hauptgericht.
»Eine zweite Flasche wäre wohl doch übertrieben«, stellte Elisabeth fest.
»Als ich klein war, durften wir nie was zu trinken bestellen«, erzählte Sam. »Ich komme mir noch heute maßlos dabei vor, selbst wenn’s bloß eine Cola ist. Als könnte meine Mutter plötzlich hinter einem Vorhang hervorspringen und schreien: ›Trink gefälligst Wasser!‹«
Elisabeth lächelte: »Kommt mir bekannt vor.«
Sam nahm das Hühnchen Parmigiana. Etwas so Köstliches hatte sie noch nie gegessen.
Sie schob sich gerade einen großen Bissen in den Mund, als Elisabeth fragte: »Ist Clive deine erste Liebe?«
Sam schüttelte kauend den Kopf und schluckte das Fleisch hinunter. »Das war Sanjeev, auf der Highschool. Als er Schluss gemacht hat, dachte ich, das überleb ich nicht. Wirklich. Ich lag nur eingeigelt auf dem Fußboden. Habe tagelang nichts gegessen. Den Appetit hat mir sonst im ganzen Leben niemals irgendwas verdorben.«
Zum letzten Mal gesehen hatte sie ihn unmittelbar vor der Reise zu Isabella nach London. Da hatte sie erst seit Kurzem nicht mehr jeden Tag an ihn gedacht, und plötzlich schlug er per Mail vor, essen zu gehen. Sie merkte schnell, dass sie ihn gar nicht mehr so toll fand — er prahlte viel, und sein Haar war viel zu strubbelig geworden. Aber als er sie zum Abschied umarmte, roch er noch genau wie früher. Sie setzte sich ins Auto und weinte. Doch als sie Clive kennenlernte, war sie von all dem befreit.
»Inzwischen macht mich das fast neidisch«, sagte Elisabeth. »Ich kenne das auch, ich weiß, wie schlimm es ist. Aber die Tiefe dieser Verzweiflung ist auch irgendwie großartig. Die Intensität der Liebe.«
»Dann war Andrew also nicht deine erste Liebe?«, schloss Sam. Sie wickelte Spaghetti auf die Gabel, fürchtete dann aber, das könnte kindisch sein. Sie fühlte sich pudelwohl und kultiviert dabei, dieses Gespräch bei Kerzenschein an einem Tisch mit weißer Decke zu führen.
»Nein, nein«, sagte Elisabeth. »Das war Jacob. Ich war verrückt nach ihm — und sicher, wir würden für immer zusammenbleiben.«
»Und dann?«, fragte Sam.
»Hat mein Vater mit seiner Mutter geschlafen.«
Sam war sprachlos. Darauf wäre sie im Leben nicht gekommen.
»Jacob hat deswegen Schluss gemacht. Die Ehe seiner Eltern ging in die Brüche. Schlimm war das.«
»O Gott«, sagte Sam.
»Seine Mutter dachte, mein Vater würde sie heiraten. Darum hat sie ihrem Mann alles gebeichtet. Als mein Vater sie abservierte, hat sie versucht, sich umzubringen. Danach wollte Jacob mit mir nichts mehr zu tun haben.«
»Das ist ja furchtbar.«
»Ja, das war es. Wir haben da bereits zusammengewohnt.«
»Und wusste deine Mom Bescheid?«
»Ja. Aber das waren eben die üblichen kranken Spielchen meiner Eltern. Ich wollte kein Wort mehr mit meinem Vater sprechen, und sie meinte bloß, ich solle nicht so egozentrisch sein, das hätte mit mir doch gar nichts zu tun.«
»Wie schrecklich«, sagte Sam. »Das tut mir leid.«
»Mein Vater war immer schon ein Frauenheld. Aber ich glaube, das hat er nur gemacht, um Jacob und mich auseinanderzubringen. Er konnte Jacob nicht leiden, wollte ihn loswerden. Und mein Vater muss immer seinen Willen kriegen.«
»Was hatte er denn gegen ihn?«
»Jacob war Musiker. Tätowiert, lange Haare, das volle Programm. Nicht grade, was meine Eltern sich vorstellten, aber genau darauf stand ich damals.«
»Und als du mit Andrew zusammenkamst, waren sie da froh? Er wirkt wie der perfekte Schwiegersohn.«
Sam fragte sich, ob Elisabeth sich deshalb für ihn entschieden hatte, doch die schüttelte den Kopf.
»Als ich ihnen von Andrew erzählt habe, waren wir schon verheiratet. Ihr Segen hätte höchstens gegen ihn gesprochen. Aber ich war bereit. Bereit für einen netten, zuverlässigen Mann, der mich gut behandelte, der klug war und gefestigt. Du wirst sehen, in ein paar Jahren haben deine Freundinnen auch die Nase voll von bad boys. Mit der Zeit werden die langweilig.«
»Hat sich dein Vater je entschuldigt?«
»Natürlich nicht, so was kann er gar nicht. Meine Schwester Charlotte ist die Einzige in meiner Familie, die wirklich begriffen hat, wie abartig das alles war. Während der drei Jahre, die ich nicht mit ihm sprach, hatte sie auch keinen Kontakt zu ihm. Dann hatte er einen Herzinfarkt. Der beendete die Funkstille. Trotzdem halten Charlotte und ich unsere Eltern noch heute auf Abstand. Mein Vater würde sich nur zu gern wieder bei uns einschmeicheln, aber wir lassen das nicht zu.«
Das hatte sie also damals mit »halb zerstritten« gemeint.
»Ich glaube, meine Eltern mögen Clive nicht besonders«, sagte Sam. »Die meinen, wir hätten niemals genug Geld zum Leben — ich frisch vom College, er mit seinem Job.«
»Andrew und mir ging es damals genauso«, entgegnete Elisabeth. »Wir standen ganz allein da, aber wir haben es geschafft. Und das wirst du auch, wenn du es willst.«
Der Rat aus eigener Erfahrung war tröstlich. Es war, als säße Sam mit einer älteren, weiseren Version ihrer selbst zusammen. Und Elisabeth gefiel sich offensichtlich als Ratgeberin, als Stimme der Vernunft.
Als die Rechnung kam, ließ Elisabeth Sam sie nicht mal anfassen.
»Nicht zu glauben, wie billig das hier ist«, staunte sie. »Im Vergleich zu New York praktisch umsonst.«
Georges Diskussionskreis traf sich in der ruhigen Einkaufsstraße der Stadt, wo Faye und er wohnten. Jeder dritte Laden war verrammelt. Die Tierarztpraxis war für immer geschlossen, der frühere Buchladen ebenfalls. Auf dem Schaufenster unter dem Schild DONAHUE’S SHOES klebte ein knallrosa Plakat:
Danke für sechs wunderbare Jahrzehnte, stand handschriftlich darauf. Wir waren gerne für Sie da.
»Für die haben wir hart gekämpft«, sagte George im Vorübergehen. »Haben Leute zusammengetrommelt, um gegen Online-Shopping zu demonstrieren. Sogar einen Boykott-Tag haben wir organisiert. Über fünfzig Leute haben unterschrieben. Aber am Ende blieb dem armen Hal nichts übrig, als zu schließen.«
Gleich neben dem ehemaligen Schuhgeschäft lag Lindy’s Bakery. George drückte die Tür auf und ein Glöckchen bimmelte.
Drin standen vier Tische, drei davon frei.
Am vierten saßen drei alte Männer und eine korpulente Frau mit Schürze vor weißen Kaffeebechern.
»Ich hab euch jemanden mitgebracht«, verkündete George. »Das ist Sam — sie will unser Durchschnittsalter auf einhundertundzwei senken. Sam, das sind Herbert Benson, Diego Ramirez, Jim Brewer und Miss Lindy Rose, die Besitzerin dieses schönen Etablissements.«
Sam hatte mindestens fünfzehn, zwanzig Leute erwartet. Ein Rednerpult und Stuhlreihen. Offenbar waren diese Männer aber schon alles. Und vielleicht Lindy — Sam war nicht ganz sicher, ob sie dazugehörte oder sich nur ausruhte, weil im Laden sowieso nichts los war.
Auf dem Weg waren sie an einem Starbucks vorbeigekommen, und George hatte gesagt: »Ich werde nie begreifen, wie ein dermaßen charmefreier Laden so erfolgreich werden konnte.«
Charme versprühte Lindy’s Bakery auch nicht. Faserplatten an der Decke, Linoleum auf dem Boden und eine kleine Glasvitrine neben der Kasse, Inhalt: eine Rosinenschnecke, ein Marmeladendonut, drei Brötchen. »Kaffee?«, fragte Lindy und stand auf.
»Gern, danke«, sagte Sam.
»Für mich bitte koffeinfrei«, sagte George.
Sie setzten sich zu den anderen und plauderten ein paar Minuten. Dann verlas Diego die Tagesordnung: Herbert sollte von den Lehrergehältern in den städtischen Schulen berichten. Im Anschluss würden sie zwei Artikel diskutieren, die Jim aus der Zeitung kopiert hatte.
»Und zum Schluss sollten wir noch über die Demo vor dem Rathaus nächste Woche sprechen«, ergänzte Diego. »Ich hab endlich den Knilch von der Gazette erreicht. Er meinte, er würde versuchen zu kommen.«
Die anderen nickten anerkennend.
»›Versuchen‹«, fuhr Diego fort. »Weil er ja sooo wichtig ist. Seit zwei Jahren aus dem College und hält sich schon für Bob Woodward.«
»Sie müssen wissen, Sam, bei unseren Demos machen nie sehr viele mit«, erklärte Herbert. »Wir, ein, zwei Ehefrauen und, wenn wir Glück haben, noch ein paar Nachbarn und Freunde. Aber immerhin, wir tun was.«
»Kündigen Sie die Demos online an?«, fragte sie. »Auf Facebook oder so?«
Die Männer sahen sie ausdruckslos an. Keiner der vier war auf Facebook.
»Ich könnte eine Seite einrichten«, bot Sam an. »Die könnten die Leute und Geschäfte dann auf ihren eigenen Seiten teilen.«
»Hast du eine Facebook-Seite, Lindy?«, rief Herbert so laut und plötzlich, dass Sam erschrak.
»Na klar!«, rief sie aus der Küche zurück.
Sie unterhielten sich zwei Stunden lang. Manches war recht interessant, aber zwischendurch driftete Sam immer wieder ab, passte erst wieder auf, wenn einer lauter wurde, um einem Argument Geltung zu verschaffen.
Als alle ihre Jacken anzogen und sich verabschiedeten, fragte Jim, ob Sam nächste Woche wiederkäme. Sie sagte Ja, obwohl ihr sofort diverse bessere Zeitvertreibe einfielen: lernen, schlafen, mit ihren Freundinnen abhängen.
»Da haben wir einen Gastredner«, sagte Jim. »Könnte heftig werden, seien Sie gewarnt.«
Im Laufe der folgenden Woche dachte Sam immer wieder darüber nach, wer dieser Gastredner wohl sein würde. Sie fragte Elisabeth, doch die hatte keinen Schimmer, was bei Georges Treffen abging.
Am nächsten Sonntag holte George sie ab. Sie genoss die Zeit zu zweit im Auto mit ihm. Auf merkwürdige Weise erinnerte er sie an zu Hause. Er fuhr zwanzig Minuten zum Wohnheim und von dort wieder zurück zu Lindy’s, obwohl die Bäckerei nur drei Blocks von seinem Haus entfernt war. Später fuhr er Sam zurück. Eine Menge Fahrerei, aber er sagte, das mache ihm nichts aus.
»Faye ist nicht gewohnt, dass ich so viel zu Hause bin«, erklärte er. »Die freut sich, wenn sie ihre Ruhe hat.«
Der Gastredner entpuppte sich als Rednerin, eine Frau mit modischer Bob-Frisur, in elegantem Hosenanzug und gemustertem Halstuch. Sie sprach ruhig und bestimmt über das Drogenproblem in der Gemeinde und den mangelhaften Einsatz der örtlichen Behörden. Sam hörte gebannt zu, während die Frau davon berichtete, wie sich Pharmaunternehmen mit ebenjenen Medikamenten eine goldene Nase verdienten, die zu der für viele junge Menschen tödlichen Opioidsucht führten.
Was dann kam, hatte Sam nicht erwartet. Die Rednerin reichte ein Foto einer hübschen, blonden Frau herum, die lächelnd Kerzen auf einem Kuchen ausblies.
»Meine Tochter Julia«, sagte sie. »An ihrem letzten Geburtstag. Sie wurde einunddreißig.«
Sie erzählte von ihrer Tochter, von ihrer Liebe zum Reiten, ihrem Einsatz für herrenlose Hunde und ihrer Begeisterung für Country-Musik. Schilderte, wie sie nach einem Autounfall abhängig von Schmerzmitteln geworden war. Wie sie den Unfall überlebt hatte, die Tabletten aber nicht.
Als sie endete, meldete sich Sam zu ihrer eigenen Überraschung als Erste zu Wort.
»Mein Onkel Pete, der jüngste Bruder meiner Mutter, ist seit ein paar Jahren süchtig nach Oxycontin«, sagte sie. »Gegen seine Rückenschmerzen hat er das genommen, dann kam er nicht mehr davon los. Ein prima Kerl. Nie würde man den für einen Drogensüchtigen halten. Er hat drei Kinder.«
Ihre Eltern würden so etwas nie jemandem erzählen, der nicht zur Familie gehörte, aber Sam fühlte sich hier sicher. Sie dachte daran, wie George gesagt hatte, dass dem Einzelnen die Schuld für etwas gegeben wurde, hinter dem in Wahrheit viel mehr steckte.
Die Frau nickte. »Es kann jeden treffen«, sagte sie.
»Mein Beileid wegen Ihrer Tochter«, sagte Sam.
George nickte, ein bisschen wie ein stolzer Vater.
»Nächste Woche demonstrieren wir vor dem Rathaus«, verkündete Jim. »Am besten verpflichten wir uns alle, noch ein, zwei Leute mitzubringen. Sam, könnten Sie das online posten, wie Sie meinten?«
Sam sagte zu.
Sie teilte die Veranstaltung auf den Facebookseiten aller Städte der Umgebung und bat die Campus-Zeitung, sie auf ihrer Website anzukündigen. Je mehr Stellen sie ansprach, desto besser, denn sie wollte den alten Männern zeigen, wie viele Leute sie mobilisieren konnte. Sie druckte sogar Flugblätter, hängte sie an Bäumen und in Seminarräumen auf, an Schwarzen Brettern und im Postamt. Per E-Mail bat sie um Unterstützung der Feminist Alliance, der Hochschul-Demokraten und der Dial Tones, der zweitbeliebtesten A-cappella-Gruppe am College.
Sam hoffte, dass auch wirklich jemand kommen würde. Auf keinen Fall wollte sie George enttäuschen.
Als sie eines Dienstags zu ihrem Kurs in britischer Lyrik in der Martin Hall hatte gehen wollen, waren gerade dutzende Studentinnen aus dem Gebäude geströmt.
»Was ist los? Feueralarm?«, fragte sie eine.
»Nein«, sagte die. »Ein Walkout.«
»Ach so? Worum geht’s denn?«
Die andere zuckte die Achseln. »Keine Ahnung.«
Im letzten Jahr hatte eine ehemalige Außenministerin die Abschlussrede gehalten. Als sie die Bühne betrat, stand die halbe Abschlussklasse auf und wandte ihr den Rücken zu. Sam hatte nie ganz verstanden, wieso.
In den letzten drei Monaten hatte Sam dreimal mit ihren Kommilitoninnen demonstriert. Zweimal, weil junge Schwarze in weit entfernten Bundesstaaten von der Polizei getötet worden waren, einmal gegen den Klimawandel.
Aber Demos außerhalb des Campus waren ein anderes Paar Schuhe. Studierende mischten sich nur äußerst selten unter das gemeine Volk aus der Umgebung.
Auf dem Weg zur Demo sagte Sam: »Die Reaktion war leider etwas verhaltener, als ich gehofft hatte.«
»Macht nichts«, sagte George. »Sie haben’s versucht, nur darauf kommt es an. Wir können froh sein, dass wir Sie haben.«
Am Ende standen dreiundzwanzig Menschen vor dem Rathaus, elf davon Studentinnen aus Sams College. Eine davon war Isabella, die nur mitgekommen war, weil Sam ihr versprochen hatte, hinterher mit ihr in der Kneipe um die Ecke ein paar Bierchen zu trinken, aber Sam war dennoch beflügelt. Diese elf Studentinnen waren dreißig Kilometer angereist, und das nur, weil sie ihrem Aufruf gefolgt waren.
Die Mutter der jungen Opioid-Toten war auch gekommen, das Foto ihrer Tochter als Print auf ihrem T-Shirt. Im Kerzenlicht auf dem Bild sah sie aus wie ein Engel.
Drei Mitglieder der Dial Tones sangen Joan Baez.
Lindy verteilte Bagels.
George wirkte zufrieden, fand, das könne sich doch sehen lassen. Sam fragte sich, ob es ihm etwas ausmachte, dass Faye nicht dabei war.
Andrew kam auf dem Weg von der Arbeit vorbei, meinte aber, er müsse nach Hause und Elisabeth helfen.
»Sie wollte eigentlich auch kommen, aber na ja, der Kleine …«, sagte er.
Sam musste daran denken, wie Elisabeth mal gesagt hatte: »Ein Baby ist die weltbeste Ausrede für alle unangenehmen Verpflichtungen.«
Sie sah Andrew nach, als er zum Wagen ging.
Diego tippte ihr an die Schulter. »Das ist Benjamin Ross, der Reporter, von dem ich erzählt habe«, sagte er. »Sam ist das jüngste Mitglied unserer Gruppe.«
Sam lächelte den Reporter an.
Benjamin Ross war beinahe gutaussehend. Schwarzes, gewelltes Haar, dunkler Teint, schwarze Lederjacke — eigentlich das ganze Paket, aber irgendetwas störte. Vielleicht dieses Grinsen, wie besserwisserisch er dreinschaute, noch ehe er den Mund aufmachte.
»Du bist also verantwortlich dafür, dass hier heute so viel los ist«, sagte er.
Sam war nicht ganz sicher, ob er das sarkastisch meinte.
»Wie kamst du denn zu der Gruppe?«, fragte er, inzwischen lächelnd.
»Ich passe auf George Rileys Enkel auf.«
»Verstehe«, sagte er. »Die sind schon ’ne Nummer, diese rebellischen Rentner. Jede Woche haben sie eine neue Story für mich. Ob ich will oder nicht.«
Wie alt mochte er wohl sein? Sicher nicht viel älter als Sam — Diego hatte ja gesagt, er sei erst seit zwei Jahren mit dem College fertig. Und doch trat er so selbstsicher auf, als wäre er schon deutlich älter.
Er wollte wissen, was und wo Sam studierte, wo sie herkam, doch für die Antworten schien er sich gar nicht zu interessieren. Ständig blickte er an ihr vorbei, als suche er nach jemand Besserem.
Sam konnte ihn nicht leiden, und trotzdem hatte seit Clive niemand sie je dermaßen angezogen. Ging das überhaupt, das man jemanden attraktiv fand, von dem man spürte, wie verachtenswert er war? Da drüben unterhielt sich Isabella mit Jim und Herbert. Zu gern hätte sie das jetzt mit ihr besprochen.
Benjamin fragte, was sie nach ihrem Abschluss vorhatte, wollte aber eigentlich nur selbst erzählen, dass er sich für ein Graduiertenprogramm beworben hatte. Er hoffte auf die Northwestern.
Zumindest auf dem Papier war er genau die Sorte Mann, die jeder ihr gewünscht hätte. Richtiges Alter, richtiger Beruf, angemessen ehrgeizig. Es könnte alles so einfach sein. Sam stellte sich vor, wie sie an Weihnachten ihren Verwandten sagte: Ich suche grade einen Job in Chicago. Wir werden da wohnen, während Ben seinen Master macht.
Kurz darauf sagte der echte Benjamin: »Na ja, war nett, dich kennenzulernen«, und eilte davon, auf einen zügig gehenden Mann im Anzug zu.
Die Demo war ein voller Erfolg: Der Stadtrat entschied wie erhofft.
Hinterher lud Georges Diskussionskreis Sam und Isabella zur Feier des Tages auf ein Steak ein. Das Restaurant war düster, mit blutroten Wänden und Lederstühlen mit hohen Rückenlehnen. Ein Hort der Männlichkeit und so ganz anders, als die Läden, die Sam normalerweise besuchte.
Dort, noch ganz beflügelt neben George am Tisch sitzend, erwähnte sie dann ihre Freundinnen aus der Mensa, erzählte von den Schikanen ihres nicht mehr ganz so neuen Chefs Barney Reardon.
»Die sind alle wirklich toll. Ihr würdet euch bestimmt verstehen«, sagte Sam. »Die sind genau wie wir. Ich würde gern was für sie tun. Mir ist heute aufgefallen, dass die Leute am College immer gegen schlimme Dinge protestieren, die weit entfernt passieren. Dabei könnten wir uns für die Frauen aus unserer unmittelbaren Umgebung einsetzen und die Probleme anprangern, die ihnen täglich das Leben schwer machen. Warum tun wir das nicht?«
»Guter Gedanke«, sagte George. »Am besten fragst du sie mal, wie du für sie eintreten kannst. Kann sicher nicht schaden, wenn sich ein paar Studierende für sie einsetzen. Bestimmte Dinge könntet ihr vielleicht leichter fordern als sie.«
»Präsidentin Washington weiß vermutlich gar nicht, was da abläuft«, sagte Sam.
»Präsidentin Washington?«
»Die Präsidentin des Colleges. Sie ist in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, spricht immer über Gleichheit, Vielfalt und Frauenrechte. Das gilt ja wohl nicht nur für Studentinnen, oder? Wir könnten ein Teach-in vor ihrem Büro abhalten. Oder Unterschriften sammeln.«
»Klar«, sagte George.
Sam konnte Präsidentin Washingtons berühmte Rede auswendig. In Gedanken sprach sie sich ein paar Zeilen vor wie ein Gebet.
Würden Frauen die Welt beherrschen, müsste kein Kind der Welt mehr Hunger leiden.
Würden Frauen die Welt beherrschen, würden wir einander zuhören — und wissen, dass das oft schon die Lösung bringt.
Würden Frauen die Welt beherrschen, würden wir die Wahrheit hochhalten, auch wenn sie manchmal schwer zu ertragen ist.
Sam hatte eine Vision: Präsidentin Washington, wie sie Gaby ein Stipendium anbietet, Gaby, wie sie die Abschlussrede hält und Sam dafür dankt, den Stein ins Rollen gebracht zu haben.
Obwohl Sam mit Präsidentin Washington noch nie ein Wort gewechselt hatte, war ihr doch, als würde sie sie kennen. Immer, wenn sie an dem großen Backsteinhaus mitten auf dem Campus vorbeikam, fühlte sie sich richtig geborgen, so als wäre da eine Erwachsene, die auf sie alle aufpasste.
Am nächsten Morgen beim Frühstück, im Schlafanzug, erzählte Sam Gaby von der Demo und ihrer Idee.
Gaby trug Jeans und Schürze, war gerade dabei, Saftkrüge nachzufüllen.
»Ich lege meine Hand dafür ins Feuer, dass Präsidentin Washington auf eurer Seite wäre«, sagte Sam.
»Warum? Die arbeitet ja nicht für uns, sondern für die Firma«, erwiderte Gaby.
»Welche Firma?«, fragte Sam.
»Na, das College.«
So hatte Sam die Hochschule noch nie gesehen.
»Das könnte wirklich was nützen«, beharrte sie. »Vertrau mir. Wir können nicht zulassen, dass so ein Kerl hier aufkreuzt und euch Frauen ungestraft ausbeutet. Barney Reardon muss zur Rechenschaft gezogen werden.«
»Du hast ’nen Knall«, sagte Gaby, allerdings mit einem Lächeln, was Sam etwas beruhigte.
Seit Josies Geburtstag war Gaby ziemlich frostig gewesen. Maria hatte sie erzählt, Sam sei krank gewesen. Aber Sams Dank für diese Lüge wehrte sie ab. »Das hab ich meiner Tante zuliebe gesagt, nicht deinetwegen«, hatte sie betont.
Sam hatte versucht, es wiedergutzumachen. Sie kaufte Josie ein schönes Geschenk — ein Zelt in Rosa und Lila, das man ganz klein zusammenfalten konnte. Sie lud Gaby zum Mittagessen ein, damit sie endlich mal wieder richtig quatschen konnten. Beim Essen lachten sie viel. Gaby erzählte von einem Katastrophendate mit einem Kerl, den sie von ihrem Restaurantjob kannte, Sam erzählte, dass sie neuerdings mit einem Haufen alter Männer abhing.
Inzwischen hatte Gaby ihr offenbar verziehen, was Sam erleichterte. Sie ertrug es nicht, wenn jemand ihr böse war, vor allem jemand wie Gaby, die ihre Wut nicht einfach überspielte wie die meisten Frauen.
Eine verschlafen dreinschauende Studentin schlurfte ans Büfett, um sich Saft aus einem frisch gefüllten Krug in eines dieser kleinen Gläser zu schenken, die Sam immer ans Sommerferienlager erinnerten. In einer Hand hielt sie das Glas, in der anderen den Krug.
Sam wusste genau, wie schwer der volle Krug war. Sie wollte etwas sagen, doch da hatte die andere schon die Kontrolle verloren und das Glas lief über.
»Mann«, fluchte Gaby leise.
»Oje, tut mir leid«, sagte die Studentin.
Unsicher blickte sie sich um, dann griff sie sich ein paar Papierservietten und verteilte sie über der Sauerei. Die kleinen Vierecke lösten sich in der Pfütze auf.
»Nein, nicht so!«, rief Gaby. »Das — ach, ich mach schon.«
Sie zog einen Lappen aus der Tasche und wischte den Saft auf.
Mit hochrotem Kopf ging die Studentin an ihren Tisch.
»Meine Fresse, kann irgendwer diesen Gören mal ein bisschen Hirn verpassen? Ehrlich, das sind doch ausnahmslos Idioten hier«, motzte Gaby.
Ähnliches hatten Sam und Gaby bei der gemeinsamen Arbeit vor einem Jahr oft von sich gegeben, aber diesmal klang es irgendwie fieser als sonst. Ausnahmslos. Ob Gaby doch noch sauer war wegen der Party? Sam hätte gern nachgefragt, tat aber stattdessen, als fände sie es lustig. Miteinander zu lachen tat gut, selbst wenn der Anlass nicht sehr nett war.
»Also, sprichst du mit Maria über meine Idee?«, fragte Sam. »Wenn sie Ja sagt, ist Delmi sicher auch dabei und holt ihre Freundinnen an Bord.«
Gaby verdrehte die Augen. »Maria macht da garantiert nicht mit.«
»Wieso denn nicht?«
»Sie hat sich eben damit abgefunden, wie es ist. Sie meint, wenn man ersetzbar ist, soll man keine Forderungen stellen. So läuft’s nun mal.«
Sam hatte da eine andere Meinung. Gaby war nur wieder pessimistisch, wie üblich.
»Ich seh dir an, wie’s in dir rattert, Sam«, sagte Gaby. »Weißt du, Maria hat einen Cousin auf einer Rinderfarm, der besamt da Kühe. Im Vergleich dazu ist das hier das Paradies.«
Sam verzog das Gesicht.
»Na ja. Um sieben hab ich Feierabend, falls du Lust auf ein Bier hast«, schlug Gaby vor.
»Das wär schön, aber um sieben skype ich jetzt unter der Woche immer mit Clive. Ein Ritual sozusagen. Wenn’s später wird, ist er am nächsten Tag ein Zombie.«
»Okay«, sagte Gaby, sichtlich genervt.
»Ja, ich weiß«, sagte Sam. »Tut mir leid.«
Diesen Gesichtsausdruck kannte sie bereits von Isabella, Lexi und Shannon. Keine von ihnen verstand, wieso sie bereit war, einen Abend mit ihren Freundinnen für ein Skypegespräch mit ihrer Fernbeziehung zu opfern. Clive seinerseits schmollte jedes Mal, wenn sie nicht sofort parat stand oder ein Wochenende mit ihm absagte, weil sie für eine Prüfung lernen musste oder etwas anderes vorhatte. Was sie auch tat, irgendwer fühlte sich immer zurückgesetzt. In zwei Hälften hätte sie sich teilen müssen, und überall zugleich sein.
Für die Abendessen bei Elisabeth und die Sitzungen des Diskussionskreises hatten ihre Freundinnen noch weniger Verständnis. Letztes Jahr hatte Sam noch zig Abende und Wochenenden allein verbracht, ohne irgendwas zu unternehmen. Dieses Jahr kam es ihr vor, als hätte der Tag nie genug Stunden. Irgendwie war das Leben immer so. Entweder zu viel oder zu wenig.
Andere Erwartungen ließ sie einfach ganz unter den Tisch fallen. Seit Wochen hatte sie sich nicht mehr bei ihren Großeltern gemeldet, obwohl ihre Mutter bei jedem Gespräch sagte: »Die würden sich so freuen, von dir zu hören.«
»Morgen bin ich um vier hier fertig und habe eine Stunde frei, bevor ich ins Restaurant muss«, versuchte Gaby es noch mal.
»Mist, da bin ich schon mit Isabella verabredet«, sagte Sam. »Tut mir leid. Irgendwie kommen wir in letzter Zeit nicht zusammen.«
»Schon gut«, winkte Gaby ab. »Ich frag einfach nicht mehr. Du bist die mit dem vollen Terminkalender, melde du dich einfach, wenn du mal Zeit hast.«
Sam versuchte, die Schuldgefühle zu verdrängen.
»Mach ich«, versprach sie. »Bald.«
Beim Essen am Sonntagabend erwähnte Elisabeth die Demo mit keinem Wort.
Sie sprachen über andere Themen. Den Tod von Mike Nichols, zum Beispiel, und darüber, wie toll sie alle Die Reifeprüfung fanden.
Zum Nachtisch hatte Andrew Apfeltarte gebacken. Er schnitt den Kuchen an, und Sam das Thema Gaby.
»Eine Freundin aus meinem alten Job am Campus«, erklärte sie. »Sie hat eine zwei Jahre alte Tochter.«
»Sie studiert mit einem zweijährigen Kind?«, staunte Elisabeth.
»Nein, nein, sie arbeitet da nur.«
Sam erzählte ihnen dasselbe, was sie schon George erzählt hatte, über die Frauen in der Mensa und ihre Überlegungen, wie man ihnen helfen könnte.
»Du hast ein Herz aus Gold, Sam«, sagte Elisabeth.
»Ihr könnt euch sicher denken, woran mich das alles erinnert, oder?«, fragte Sam.
»Woran denn?«
»An den Hohlen Baum! Ein perfektes Beispiel.«
»O Gott«, stöhnte Elisabeth. »George hat dich echt eingewickelt.«
»Dad meinte, sie hätten es dir zu verdanken, dass so viele Leute vor dem Rathaus waren«, sagte Andrew. »Er meint, man müsste dich klonen.«
»Klar, weil sie sich seine Weltuntergangspredigten anhört«, spottete Elisabeth. »Hauptsache, du weißt, dass du das nicht für uns tun musst, Sam. Wir bezahlen dich nur als Babysitter für Gil, nicht für George.«
Sam wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Eigentlich dachte sie, um Fragen der Bezahlung ginge es zwischen ihnen längst nicht mehr.